Pol-Int "Vati blieb im Krieg". Vaterlosigkeit als generationelle Erfahrung im 20. Jahrhundert ; Deutschland und Polen Beitrag vom: 30.10.2014 Rezension von Dr. Stephan Scholz Redaktionell betreut von Tim Buchen Schon seit einiger Zeit beschäftigt die ‚Generation der Kriegskinder’ die deutsche Öffentlichkeit. Im Zuge einer neuen Hinwendung zu den deutschen Kriegsopfern und des inflationären medialen Einsatzes von Zeitzeugen sind seit der Jahrtausendwende die Erinnerungen derer in den Blick gekommen, die den Zweiten Weltkrieg als Kinder erlebt haben, sich heute im Rentenalter befinden und auf ihr Leben resümierend zurückblicken. Symbolisieren die ‚Kriegskinder’ aufgrund ihrer vorausgesetzten individuellen Unschuld schon per se einen Opferstatus, gilt dies um so mehr für solche Kinder, die persönliche Verluste erleiden mussten. Ca. 2,5 Millionen deutsche Kinder verloren im Zweiten Weltkrieg ihre Väter, die als Wehrmachtssoldaten ums Leben kamen. War die kriegsbedingte Vaterlosigkeit, wie Lu Seegers konstatiert, über Jahrzehnte ein weitgehend privatisiertes Thema, besitzt sie heute als vermeintlich spezifische Generationenerfahrung im öffentlichen Diskurs der Bundesrepublik eine hohe Präsenz. Schnell ist dabei von einer massenhaften traumatischen Erfahrung die Rede, die lange kaum Aufmerksamkeit erhalten habe, daher von den Betroffenen nur unzureichend verarbeitet worden sei und sie daher in ihrer individuellen Entwicklung beeinträchtigt habe. Lu Seegers dekonstruiert diese gleichermaßen psychologisierte wie ‚generationalisierte’ Sichtweise in ihrer Habilitationsschrift auf vielfältige Weise. Indem Seegers den Blick auf die „gesellschaftliche Kontextbezogenheit der Erfahrung und Deutung der Vaterlosigkeit“ (27) lenkt, kann sie überzeugend zeigen, dass öffentliche Deutungsangebote für die individuelle Verarbeitung immer eine große Rolle gespielt haben und auch heute noch spielen. Im ersten Teil der Arbeit entfaltet sie den diesbezüglichen deutschen Diskurs nicht nur für die Nachkriegszeit, sondern auch seine Prägungen durch den Diskurs der Zwischenkriegszeit. Im weiteren Verlauf differenziert Seegers das Generationsparadigma vor allem durch die Erweiterung durch soziale und geschlechtliche Aspekte. So kann sie nachweisen, dass der gegenwärtige deutsche Kriegskinder-Diskurs in erheblichem Maße westdeutsch, männlich und akademisch geprägt ist. Davon abweichende ostdeutsche, weibliche und nichtakademische Deutungsweisen, die hier erstmals gleichermaßen untersucht werden, relativieren den dominierenden Diskurs erheblich und verweisen auf die Bedeutung nicht nur von Sagbarkeitsregeln, sondern auch von Zugangsmöglichkeiten zu öffentlichen Sprecherpositionen. Die Grundlage der Analyse bilden 30 lebensgeschichtliche Interviews, die je zur Hälfte mit west- und ostdeutschen Interviewpartnern geführt wurden. Dabei zeigen sich deutliche Unterschiede in der Sicht auf die eigene kriegsbedingte Vaterlosigkeit, die eng mit der Sozialisation und den äußeren Bedingungen in der BRD und der DDR zusammenhängen. Deutlich wird auch, dass für Ostdeutsche der Bruch von 1989 lebensgeschichtlich als sehr viel einschneidender empfunden wird, als die kriegsbedingte Vaterlosigkeit, die für Westdeutsche nicht zuletzt aufgrund medial vermittelter Deutungsweisen zu einem wesentlichen Interpretament ihrer Lebensgeschichte geworden ist. Eine zusätzliche Relativierung erhält das Generationenparadigma durch den Vergleich mit Polen, wo über 1 Million Kinder im Krieg ihren Vater verloren haben. Der vorgenommene Vergleich über die nationalen Grenzen hinweg muss besonders positiv hervorgehoben werden. Er ist nach wie vor alles andere als selbstverständlich und auch von forschungspraktischen Hürden begleitet. Seegers hat zehn Interviews mit polnischen Gesprächspartnern geführt, die der Generation der ‚Kriegskinder’ angehören und ihre Väter im Krieg verloren haben. Hier zeigt sich noch eklatanter, dass für den Verlust des Vaters im Krieg nicht per se von einer generationsbildenden Erfahrung gesprochen werden kann, die sich individuell ähnlich ausgewirkt hätte. Die polnischen Interviews machen vielmehr deutlich, dass der gegenwärtige Kriegskinder-Diskurs ein spezifisch deutscher ist. Polen empfinden und definieren sich dagegen nicht aufgrund des Verlustes ihres Vaters als ‚Kriegskinder’. Der persönliche Verlust ist in ihrer Erinnerung auch sehr viel stärker von weiteren Gewalterfahrungen während ihrer Kindheit unter deutscher und sowjetischer Besatzung begleitet, die deutsche Interviewpartner nicht machen mussten. Sicherlich spielt auch für die individuelle lebensgeschichtliche Deutung der polnischen Gesprächspartner der öffentliche Diskurs eine große Rolle, in dem zwar gegenwärtig etwa über die Rolle von Kindersoldaten im polnischen Widerstand kontrovers diskutiert wird, die kriegsbedingte Vaterlosigkeit als generationsbildendes Moment aber kaum von Bedeutung ist. Man mag bedauern, dass das Verhältnis zwischen deutschen und polnischen Interviews schon allein vom Umfang her ein asymmetrischeres ist als der Titel des Buches suggeriert, und der polnische Diskurs auch wegen sprachlicher Barrieren weniger kenntnisreich Berücksichtigung findet. Der Blick auf Polen erscheint vom Ansatz, von seiner Durchführung und vom Ergebnis her vornehmlich als ein Korrektiv eines in der Regel weitgehend selbstbezogenen deutschen Diskurses. Das ist aber schon viel, bringt einen erheblichen Erkenntnisgewinn und wäre zahlreichen anderen Arbeiten sehr zu wünschen. Zitierweise: Stephan Scholz: Rezension zu: Lu Seegers: "Vati blieb im Krieg". Vaterlosigkeit als generationelle Erfahrung im 20. Jahrhundert ; Deutschland und Polen, 2013, in: https://www.pol-int.org/de/publikationen/vati-blieb-im-kriegvaterlosigkeit-als-generationelle#r783.