Die Staufer und Italien Drei Innovationsregionen im mittelalterlichen

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Alfried Wieczorek
Bernd Schneidmüller
Stefan Weinfurter (Hrsg.)
Die Staufer
und Italien
Drei Innovationsregionen
im mittelalterlichen Europa
Band 1
Essays
\
<ll Qb
395
Martin Kintzinger
Macht des Wissens:
Die Universitäten Bologna und Neapel
1. Wissen, Innovation, Region, Macht
W
issen" ist heute zu einem erstrangigen Schlagwort in
der öffentlichen Diskussion geworden. Es wird in Zu"
ammenhang von schulischer wie universitärer Bildung
und von funktionaler Ausbildung wie beruflicher Qualifikation
zitiert. Nicht selten wird es mit dem programmatischen Anspruch
zusammengedacht, dass optimiertes Wissen für die Zukunftsfähigkeit der Gesellschaft notwendig sei. Wissen ist damit stets in einen
zugeschriebenen Bedeutungsdualismus
hineingestellt: zwischen
allgemeinen Wissenshorizonten,
Tradition und Erfahrung einerseits, aktuellem Spezialwissen und notwendig praktisch nutzbarer
Kenntnis andererseits.
Diese Feststellungen gelten wie für die gegenwärtige so auch für
die mittelalterliche Realität Europas. Indessen sind unsere Begriffe
nur der heutigen, nicht auch einer vormodernen Realität entnommen. Es gibt unterschiedliche Wortprägungen
aus der Zeit, die
das Gemeinte beschreiben, indem sie es zugleich bewerten. Man
unterschied im Mittelalter zwischen erstrebenswertem,
gottgewolltem oder nützlichem Wissen und solchem, das als schädlich
und unnütz galt. Ähnlich unterschied man zwischen einer Erneuerung, die als Reform frühere Idealvorstellungen wieder beleben
wollte und einer solchen, die als Modernismus die Grundlagen
der Tradition willkürlich verließ. Ein Gelehrter (eruditus) war
derjenige, der die gelehrte Tradition des Wissens beherrschte und
daraus Nutzen für die Gegenwart ziehen konnte. Weil er sich damit nach der Überzeugung seiner Zeit durch gelehrtes Wissen der
Weisheit Gottes anzunähern vermochte (auch wenn er sie nie erreichen konnte), so galt er selbst als Weiser (sapiens). Gerade für
das Wissen und die Wissenden war ein weites Wortfeld ausgeprägt worden.
Als Wissen kann (und soll im Folgenden) jede durch lernenden
Erwerb und erfahrungsbedingte
Einübung verdichtete Kenntnis
verstanden werden, die den Wissenden zu besonderer Kompetenz in der Gesellschaft seiner Zeit qualifiziert. In der deutschen
Gegenwartssprache ist der Begriff des Wissenden allerdings kaum
eingeführt, anders als etwa im Französischen, das die Gens de savoir
kennt, über deren mittelalterliche Repräsentanten der Pariser Historiker Jacques Verger 1997 ein instruktives Buch geschrieben hat.'
Die wissensmäßige, zugleich funktionale und damit auch soziale
Elite innerhalb dieser Personengruppe stellen die Gelehrten (im
Französischen die Savants) dar, so insbesondere die graduierten
Absolventen von Universitätsstudien.
Die Geschichte des Wissens im Mittelalter ist im Laufe einer
langen Forschungsentwicklung
beschrieben worden, früher als
Bildungs-, dann genauer als Wissenschaftsgeschichte oder als Geschichte von wissenschaftlichen Disziplinen, des methodischen
Denkens, der Universitäten und der Gelehrten, zuletzt als Geschichte einer Wissensgesellschaft im Mittelalter.?
Dagegen steht die Untersuchung von Innovation (ursprünglich
ein Ansatz der Ökonomie) mit den Methoden der historischen
Kulturwissenschaften noch am Anfang und ist insbesondere in der
Mittelalterforschung
bislang kaum thematisiert worden. Eine aktuelle einschlägige Studie behandelt die Innovationen und Innovationsregionen in der mittelalterlichen Universitätsgeschichte und
ist von dem Berner Historiker Rainer C. Schwinges 2001 vorgelegt
worden.> In der Adaptation auf die Erkenntnishorizonte
der Mittelalterforschung ist im interdisziplinären Diskurs neuerdings die
frühere Annahme eines solitären Innovators zugunsten des Innovationspotenrials wissensbasierter Akteure relativiert worden. Vergers
Gens de savoir und die Gesamtheit der Universitätsangehörigen jener Zeit könnten hier genannt sein. Entscheidend für die Zuordnung von Exempla wird indes die in der Ökonomie entwickelte
Definition sein, wonach eine Innovation dann vorliegt, wenn aus
einer Erfindung (Invention) eine dauerhaft wirksame Veränderung
folgt.
In den historischen Kulturwissenschaften ist während der letzten Jahre die Raumperspektive ein zunehmend wichtiger Parameter geworden. Nicht zufällig behandelt einer der beiden jüngsten
Aufsatzbände zum Thema der Innovation die "Innovationsräume". Dabei werden Räume als reale, raumzeitlich fassbare, aber
auch als konstruierte Räume verstanden und es wird nach dem
Konstruktcharakter
historisch überlieferter Raumordnungen
und Raumvorstellungen gefragt. Ein Entwicklungsraum (oder als
kulturelle Einheit gefasst eine Entwicklungsregion)
ist zweifellos
beeinflusst, vielleicht auch geprägt von Zentren politischer Herrschaft, nicht aber mit diesen identisch. Im europäischen Mittelalter lassen sich derartige Entwicklungsregionen
beispielsweise
anhand von Verdichtungen des Handelsverkehrs oder kultureller
Transferprozesse fassen. Beides war vor allem in Regionen mit be-
396
VI. Verwandlungen des Stauferreichs
sonderer Präsenz von Städten der Fall. Entwicklungsregionen
des
Mittelalters sind zumeist Regionen bzw. Räume von Urbanität,
womit die erfolgreiche Entwicklung von Städten als Rechtskörperschafien, als Handelsplatz und Wirtschaftsstandort,
als Ort
(alternativer) sozialer Ordnungen und als Zentrum der Verdichtung und des Transfers von Kulturtätigkeit und Kulturbeziehungen bezeichnet ist."
Seit Beginn der europäischen Universitären im frühen 12.Jahrhundert und bis zur heutigen Gegenwart sind Universitäten stets
in urbanen Räumen entstanden und entwickelt worden. Die Universitäten waren immer in einer Stadt lokalisiert, ohne doch dieser
Stadt zugehörig zu sein. Sie waren niemals städtische Institutionen,
sondern von Beginn an eigene Rechtskörperschaften innerhalb der
Rechtsordnung einer Stadt. Krisen und Spannungen waren darin
angelegt und führten vielfach zu Konflikten. Die drei Regionen
sraufischen Wirkens, die in der Ausstellung präsentiert werden sollen - der Rhein-Main-Neckar-Raum,
Oberitalien und Sizilien sind ihrerseits durch urbane Räume geprägt, und innerhalb derer
finden sich drei Universitäten von herausragender Bedeutung Heidelberg, Bologna und Neapel-, von denen die beiden letzten
Gründungen der Stauferzeit sind.
Zugleich sollen die drei erwähnten Regionen als Räume der
(staufischen Macht- und) Herrschaftsverdichtung
verstanden
werden. Damit ist zuletzt der Zusammenhang von Macht und
Wissen zu überdenken. Wie Macht und Wissen eigenwillige und
spannungsreiche
Verbindungen eingehen können, ist bis heute bekannt. Dass Macht aufWissen angewiesen ist, dürfte nicht
umstritten sein. Inwieweit Macht sich aber Wissen zu Diensten
machen und, vor allem, ob Wissen sich der Macht zu diesem
Zweck anbieten dürfe, wird hingegen eher kontrovers beurteilt.
Vorrangig ist nach den wissensbasierten Akteuren zu fragen, denjenigen also, die Macht einerseits und Wissen andererseits tragen
und formen und jene, derer sie sich dabei bedienen. Königliche
wie fürstliche oder bischöfliche Herren und städtische Räte kommen damit ebenso in den Horizont wie das Milieu der Wissenden
und diese keineswegs nur als Ausführende oder auf obrigkeitliche
Politik Reagierende, sondern als im eigenen Interesse selbstorganisiert und aktiv Handelnde. Die Entstehung und Entwicklung von
Universitäten innerhalb der urbanen Zentren von Innovationsregionen stellt sich als komplexer Prozess der Kommunikation und
des Konflikts zwischen unterschiedlichen
Interessen und ihren
Vertretern dar.
2. Universitätsgeschichte
zwischen Region
und Urbanität
Nicht vor 1348 konnte die erste Universität im Reich nördlich der
Alpen eingerichtet werden. Der seit zweijahren amtierende deutsche König Karl IV. (1316-1378)
gründete sie in Prag. Allerdings
nahm er die Gründung nicht als deutscher König vor (oder etwa
im Vorausgriff auf seine spätere Kaiserkrönung). Vielmehr legte er
Wert darauf. als böhmischer Landesherr die Universität in seiner
Residenzstadt zu stiften, damit seine dortigen Untertanen nicht
länger zu Studienzwecken nach Italien reisen müssten. Gleich-
zeitig konnte er so der Neigung böhmischer Studienabsolventen
entgegenwirken, am Ort ihrer Studien in der Ferne zu bleiben und
nicht zurückzukehren. Wenn sie hingegen in Prag studiert hatten,
konnte sie der König anschließend unmittelbar in seinen Dienst
nehmen. Vor allem Juristen waren gefragt und insbesondere solche,
die das römische Recht studiert hatten, die Legisten. Folgerichtig
war die Universität Prag zunächst als Juristenstudium eingerichtet
worden.
Von wenigen Ausnahmen abgesehen, wurden die europäischen
Universitäten des weiteren 14. und des 15.Jahrhunderts ebenfalls
von Fürsten gegründet, stets erklärtermaßen mit denselben Absichten, wie sie in Prag 1348 benannt worden waren. Dies galt
auch für die Universität Wien 1365, eine Gründung des Herzogs von Österreich. In der heutigen Chronologie der Universitätsgründungen gilt Prag als die erste Universität auf dem Boden
des Heiligen Römischen Reichs, Wien als die erste innerhalb des
deutschen Reichs. Unmittelbar angeregt durch seinen Kontakt
zu Kaiser Kar! IV. gründete als nächstes der Herzog von der Pfalz
die Universität Heidelberg 1386.5 Gegenüber den west- und südeuropäischen Ländern zeigte das Reich in der Geschichte seiner
Universitätsgründungen
allerdings unübersehbar einen auffälligen Entwicklungsrückstand.
Hier mag man tatsächlich von einem
Süd-Nord-Gefälle sprechen.f
Diese Feststellung gilt für die Situation im Spätmittelalter wie
auch für diejenige zwischen dem 11. und 13.Jahrhundert. Für die
Regierungszeit Kaiser Friedrichs 11.(1194 - 1250) in Sizilien ist das
Süd-Nord-Entwicklungsgefälle jetzt, 2010, von Gundula Grebner
am Beispiel der unterschiedlichen
Formate hofgebundener Wissenskultur aufgezeigt worden? Näherhin wird dabei nach dem
Transfer mathematischen Wissens aus den Kulturen des Orients
und anderen Wissensbeständen gefragt, die am Hof Friedrichs geschätzt und gefördert wurden, aber nicht unmittelbar mit universitärer Vermittlung verbunden waren. Dennoch seien derartige Inhalte von "intellektuelle[n] Praktiken" durchdrungen worden, die
"dem universitären Umgang mit Wissen" entlehnt gewesen seien."
Jedenfalls am Hof des Königs von Sizilien in der Zeit Friedrichs 11.
ist das zeitgenössische wissenschafillche und universitäre Wissen in
Inhalten und Methoden rezipiert worden."
In seiner Zeit reichte an Friedrich lediglich König Alfons X.,
der Weise, von Kastilien und Leon (1221-1284)
heran, der bei
der Doppelwahl von 1257 kurzzeitig die deutsche Krone beanspruchen konnte. Alfons forderte die kastilische Literatur, die Geschichtsschreibung und die Kodifizierung des Rechts, wirkte selbst
als Autor literarischer und wissenschaftlicher Texte, förderte eine
bedeutende Übersetzerschule in Toledo und erhob die bestehende
Schule von Salamanca 1254 in den Rang einer Universitär.l?
Wissenschaften zu fördern hieß seit Jahrhunderten, Orte ihrer
Pflege und Vermittlung zu gründen und auszustatten. Am Anfang
aber stand ein völlig anderes Geschehen. Bereits seit dem frühen
12.Jahrhundert begannen aus teils weit älteren Schulen (für verschiedene Disziplinen und gelehrte oder auch praktische Wissensbestände) sogenannte Hohe Schulen hervorzugehen, die sukzessive
dem institutionellen Zugriff der Kirche entwuchsen und nach einer
Phase der Verselbständigung in frühe Formen von Universitäten
übergingen. Solche Vorgänge fanden vielerorts statt, als geradezu
autonome Formen der Selbstorganisation, die durchaus gegen die
Macht des Wissens: Die Universitäten Bologna und Neapel
Martin Kintzinger
Universitätsgründungen vor 1300
Anerkennung
als Universität
• Cambridge
Oxford.
•
eindeutig
o zweifelhaft
.Paris
Angers.
Toulouse.
.Orleans
.Arezzo
• Montpelller
.$ie~
OPalencia
• Valladolid
.Salamanca
Rom.
(studium curae)
Neapel
•
OSaIerno
• Lissabon
OStwHla
o
etablierten Ordnungen und Institutionen, jedenfalls ohne deren
Billigung abliefen.
Fürstliche Förderer konnten einen solchen Prozess der Verselbständigung neuer Formen von Wissenschaft und Wissensvermittlung gleichzeitig oder später durch Privilegierungen wirksam
(oft sogar notwendig) unterstützen und sich zugleich den eigenen
Nutzen durch Zugriff auf oder Anwerbung von Wissenden sichern, die in solchen Schulen und Universitäten ausgebildet worden waren. Dass ein Fürst einen On der Wissenschaft von sich aus
stiftet und gründet, aus moderner Sicht vielleicht die naheliegendere Variante, war während der mittelalterlichen Anfänge der Universitätsgeschichte aber erst der zweite Schritt. Oberitalien und
Sizilien als Entwicklungsräume der frühen Universitätsgeschichte
bieten für beide Formen der Förderung geradezu paradigmatische
Beispielfälle: Bologna und Neapel. Sie zeigen, dass in den staufischen Innovationsregionen des Südens sowohl aus der Selbstorganisation von innen als auch durch steuernden Eingriff von außen
richtungweisende Impulse gegeben wurden. Die Innovation lag in
beiden Fällen in der Entstehung und Etablierung einer Universität
als On der Wissenschaft mit hohem gesellschaftlichem Nutzungspotential.
Höfe und Orte der Wissenschaft gingen im Rahmen der geschilderten Prozesse eine durch Interessenkonvergenz
geprägte,
ungewohnte Verbindung ein und gaben damit innovativen Regionen Kontur. Zugleich ließen sich in dieser Zeit die wissen-
300km
schaftliche Arbeit von Gelehrten und ihre Wissensvermittlung an
Schüler und Studenten noch kaum voneinander trennen: Schulen
und frühe Universitäten waren nur ansatzweise institutionalisiert.
Entscheidend für ihr Funktionieren waren die Personalitat des
Verfahrens von Wissenschaft und Unterricht und die personellen
Netzwerke zwischen Lehrern und Schülern.
Aus der Sicht der Schüler und der Höfe, die gelehrte Absolventen suchten, war der Ort der Wissenschaft und Lehre weniger
als Institution interessant und auch nicht über die Stadt, in der er
sich befand, sondern über Ansehen und Leistung jener Lehrer, um
deretwillen die Schüler genau diesen Ort aufgesucht hatten. Auch
Lehrerpersönlichkeiten
konnten so den Ruf einer Innovationsregion begründen und stärken.
Eine Karte der wissenschaftlichen
Innovationsregionen
des
l3.Jahrhundens
müsste neben Sizilien und Oberitalien auch den
Zentralraum der iberischen Halbinsel, die Mitte und den Süden
Frankreichs sowie den Süden Englands umfassen. Sie wäre weitgehend deckungsgleich mit der Karte der Universitäten um 1300
(Abb.L).
Dass sämtliche Universitäten in Städten angesiedelt waren, bestätigt sich in der Chronologie ihrer Entstehungen einmal mehr:
Paris, Bologna und Oxford, die frühesten europäischen Universitäten im 12.Jahrhundert wie auch jene 16 Universitaren, die zwischen Vicenza 1204 und Montpellier 1289 im 13.Jahrhundert gegründet wurden, sowie die 26 Gründungen des 14. und die 32 des
397
398
VI. Verwandlungen des Stauferreichs
Handschrift, der man diese aufwendig gestaltete Miniatur einfügte,
ein Statutenbuch der Universität Bologna, das unter anderem die
Satzungen der Universität und ihre erhaltenen Rechtsverleihungen dokumentiert. Die bildliehe Darstellung illustriert eine Gründungslegende, die mithilfe eines gefälschten Privilegs, angeblich
aus spätantiker Zeit, in der Mitte des 13.Jahrhunderts entworfen
worden war und seither nacherzählt wurde.l!
Tatsächlich nachweisbar sind die ersten Spuren einer organisierten Gemeinschaft von Lehrenden und Lernenden in Bologna erst
1155. Als Friedrich I. auf dem Weg zu seiner Kaiserkrönung in Rom
Bologna erreichte, traten die dortigen seolares (was sowohl Schüler
als auch Gelehrte und insofern Lehrer heißen kann) an ihn heran
und legten ihm eine in Gedichtform gefasste Bittschrift vor. Sie bezeichneten sich selbst als jene, die ein Studium durchführen wollten (studium exercere uolentes, was allgemein das Bemühen um - in
diesem Fall- die Wissenschaft meinte), zu diesem Zweck nach Bologna ziehen und sich dort aufhalten müssten. Von dem künftigen
Kaiser erbaten sie nun eine Schutzzusage, damit sie aufihren Wegen
nach und von Bologna und in der Stadt selbst (stantes nee euntes nee
redeuntes) gegen die Übergriffe Dritter geschützt seien.16
15.Jahrhunderts waren allesamt in einer Stadt angesiedelt.'! Dass
Urbanität ein zentrales Element bei der Universitätsentstehung
war - vor allem weil die Städte Rechtssicherheit und alltagspraktische Infrastruktur boten - ist seit langem bekannt. Im Umkehrschluss hat man die erstaunliche und schnell wachsende Prosperität
der mitteleuropäischen Städte und die urbane Kultur seit der Zeit
um 1000 auch mit der Erfolgsgeschichte der zur selben Zeit entstehenden Universität erklärt.
3. Bologna und Neapel und die zwei Wege
der Universitätsentstehung
Die Anfänge der Universität Bologna stehen für das erste der hier
skizzierten Entwicklungsmodelle,
die Selbstorganisation
- und
liegen deshalb im Dunkeln. Was genau wann geschah, als Angehörige von vorhandenen Schulen sich zu einer größeren, mehr oder
weniger geschlossenen Einheit fügten, hat keinen Niederschlag in
schriftlichen Aufzeichnungen gefunden und ist daher nicht mehr
nachvollziehbar. Paris und Bologna führen sich gleichermaßen auf
Anfänge im späten I1.Jahrhundert
zurück und können zahlreiche spätere Privilegierungen, nicht aber eine Gründungsurkunde
vorwcisen.P
Nur aus moderner Sicht ist in diesem Befund ein Problem zu
sehen, weil man gern Gewissheit hat und Ereignisse genau datieren
möchte. Mittelalterliches Denken war etwas anders organisiert:
Als vornehmste Legitimation bestehender Zustände galt die Tatsache, dass es sie schon lange gab und sie aus der Tradition hergeleitet waren. Je länger eine Einrichtung bestand, desto mehr Ansehen
konnte sie beanspruchen, und für diese Argumentation mochte es
sogar günstig sein, wenn die eigenen Anfänge im Dunkeln lagen.
Dann datierte man sie in längst vergangene, "unvordenkliche" Zeiten zurück. Der Phantasie waren hier kaum Grenzen gesetzt, so
dass zahlreiche spätere Institutionen sich mit betonter Selbstverständlichkeit etwa als Gründung Karls des Großen ausgaben. Auch
Orte der Wissenschaft erhoben diesen Anspruch. Andere führten
sich auf spätantike Kaiser zurück, so den für seine Förderung der
Rechte gerühmten Kaiser Justinian aus dem 6.Jahrhundert oder
sogar die legendarische Figur des Königs Arrus, der angeblich in
der derselben Zeit gelebt haben soll.13
Auch in Bologna verfuhr man so. In einer undatierten Handschriftenillumination
vermutlich aus dem späten IS.Jahrhundert
ist dargestellt, wie ein Kaiser und ein Papst - wahrscheinlich Theodosius 11.(401-450), auch er ein wirksamer Initiator von Rechtssammlungen und Förderer einer bedeutenden, später vielfach als
frühe Universität bezeichneten gelehrten Schule in Konstantinopel sowie ein zeitgenössischer (?) Papst - Privilegien an die Universität Bologna verleihen. Die Urkunde des Kaisers nimmt der
heilige Petronius, in der Zeit des Theodosius Bischof von Bologna
und später zum Patron der Stadt erhoben, in Empfang. Wie üblich
in der Kunst der Zeit, sind die Personen in Kleidung und Habitus
als Menschen des späten Mittelalters gezeigt (Abb. 2).
Auf der unteren Bildhälfte findet sich die entwickelte Universität selbst, repräsentiert durch das Kollegium der Doktoren {den
Professorentitel führte man erst später ein).14 Folgerichtig war die
Als Friedrich dreijahre später, nach erfolgreicher Kaiserkrönung,
wieder in Bologna war, ließ er eine Urkunde ausfertigen, die dem
damaligen Verlangen der Gelehrten entsprach. Er maß ihr so weitgehende Bedeutung zu, dass er sie in die Sammlung der kaiserlichen
Rechtsverordnungen aufnehmen ließ. Nach ihrem ersten Wort wird
sie als Auchentica "Habita" bezeichnet. Darin erklärt der Kaiser, dass
er die zu Studienzwecken wandernden Scholaren (causa studiorum
peregrinantur seolar{esj), die wegen ihrer Liebe zur Wissenschaft
vor Ort Fremde geworden seien (amore scientle facti exules), unter
seinen Schutz stelle: Sie sollten fortan vor jeder Art der Nachstellung sicher sein und durften sich im Konfliktfall einem ihrer Lehrer
(magister) als Richter unrersrellen.l? Aus späteren Berichten wissen
wir, dass Lehrende und Lernende aufihrer Wanderschaft und in der
Stadt seither vielfach genauso wenig gesichert waren wie zuvor. Eine
solche kaiserliche Rechtsverleihung zu erhalten, war eine Sache,
ihre Geltung durchzusetzen, eine andere. Universitätsgeschichtlich
bedeutsam ist aber, dass die bestehende Gemeinschaft der seolares,
ohne dass irgend Näheres über sie zu erfahren ist, als Gemeinschaft
angesprochen war, der eine Schutzzusage und Rechtskompetenzen
verliehen wurden. Sie wurde damit zur Rechtskörperschaft erklärt.
Als solche war sie mit ihren Angehörigen dem üblichen Instanzenzug der Rechtsprechung entzogen, nicht mehr zwangsläufig der Jurisdiktionsgewalt des Ortsbischofs oder seiner Funktionsträger unterstellt, sondern berechtigt, sich bei Bedarf einen eigenen Richter
aus den Reihen der Lehrenden zu wählen.
Auch der Kaiser vollzog damit einen innovativen Akt. Was aber
Bologna als Ort einer Innovationsregion erkennen lässt, war die
Vorgeschichte: Die Existenz einer offenbar nicht wenige Personen
aus verschiedenen Regionen Italiens und Europas umfassenden
Gruppe von Rechtskundigen, die sich in der Sammlung, Auslegung und lehrenden Vermittlung des gelehrten Rechts etabliert
2
Fiktive Szene der Übergabe von Gründungsprivilegien für die Universität Bologna
durch Kaiser Theodosius 11. und einen Papst in einem Statuten- und Matrikelbuch
des Collegio dei dottori, giudici e awocati von 1467, Bologna, Archivio di Stato, Cod.
min.40, fol. 1r
Macht des Wissens: Die Universitäten Bologna und Neapel
Martin Kintzinger
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400
VI. Verwandlungen
des Stauferreichs
hatten. Sie waren sehr wahrscheinlich deshalb von weither nach
Bologna gekommen (weshalb sie Schutz auf den Wegen benötigen), weil sie von dem Ruf der dortigen Rechtsschulen gehört hatten, dort lernen und vielleicht vor Ort bleiben oder das Gelernte
wieder mit in ihre Herkunftsregionen nehmen wollten. Die Rede
davon, dass die Untertanen nordalpiner Reiche zum Studium nach
Italien zögen, wie sie in späteren Generationen üblich und zur Begründung eigener Universitätsgründungen
herangezogen wurde,
kam also nicht von ungefähr, Bologna blieb das Zentrum, doch
schon bald kamen weitere Universitäten in Oberitalien hinzu,
die unter jeweils eigenen Umständen, aber auf der Grundlage eines Gründungsaktes entstanden, so etwa Arezzo 1215 und Padua
1222 oder Siena 1245.18
Ganz ähnlich verlief die Entwicklung in Paris und vermutlich
ungefähr gleichzeitig. Innovation bedeutet zumeist nicht, etwas
völlig Neues zu installieren, sondern eine neue, nützliche und zukunftsweisende Entwicklung in der eigenen Zeit aufzunehmen, sich
anzueignen, sie strukturell zu integrieren und selbst weiterzuentwickeln. Es gibt viele Unterschiede zwischen den Anfangen der Universitäten in Paris und Bologna, insbesondere dass in Paris die vier
Fakultäten der Artes, der Theologie, der Medizin und der Rechtswissenschaften gelehrt wurden, in Bologna hingegen nur die Rechte. Was beide gemeinsam hatten, war die Teilhabe an der aktuellen
wissenschaftlichen Methode ihrer Zeit, der seit dem beginnenden
12.Jahrhundert aufkommenden {Früh-)Scholastik. Wenn tatsächlich die vorhandenen Schulen älter waren, hier wie dort, dann haben
sie diese Methode nicht selbst entworfen, sondern übernommen,
weil sie ihrer wissenschaftlichen Arbeit nützlich war oder (modern
gesprochen) weil sie deren Innovationspotential erkannten. Zu Beginn des 12.Jahrhunderts setzte in Bologna nachweislich die wissenschaftliche Bearbeitung des überlieferten gelehrten Rechts ein,
zunächst des römischen (oder Kaiserrechts, der Legistik), dann seit
dem ersten Drittel des Jahrhunderts auch des kirchlichen Rechts
(der Kanonistik), mit den Methoden der Scholastik. Im Kern bestand diese Methode darin, Autoritätentexte nicht mehr vorrangig
zu rezipieren, sondern sie mit logisch deduzierten, kritischen Fragen zu konfrontieren, um durch das argumentative Abwägen von
Für und Wider zu Entscheidungen oder Kompromissen finden zu
können.Im Ursprung ein Verfahren der Philosophie, also der Artisten, wurde die scholastische Methode bald auf die Theologie angewandt und sod ann auf die Rechtswissenschaft.
Es ging bei solcher methodischen Durchdringung wissenschaftlicher Arbeit keineswegs nur um eine theoretische Herausforderung. Was die Scholastik innerhalb der Rechtswissenschaft
so
erfolgreich machte, war die forensische Srrategie argumentativer
Logik, derer sich die Legisten im Dienst ihrer Auftraggeber bedienten, um deren Interessen berechenbar und nachhaltig durchzusetzen. Allmählich verbreitete sich an den Höfen, in der Kirche
und auch in den Städten (in Oberitalien früher als im übrigen
Europa) die Einsicht, dass man zur Wahrung der eigenen politischen, administrativen, wirtschaftlichen oder sonstigen Interessen
des Rates und Dienstes gelehrter Legisten und Kanonisten nicht
mehr entbehren könne. Ein zuvor in dieser Form unbekannter
Arbeitsmarkt entstand, bei dem die Nachfrage nach rechtsgelehrten Spezialisten dem Angebot an Absolventen von den Orten der
Rechtsgelehrsamkeit, den Universitäten, gegenüberstand. Der ein-
zigartige RufBolognas im hohen und späten Mittelalter gründete
auf diesen Umständen und führte zu regem Besuch der Universität
durch Studenten aus ganz Europa.
In der Frühphase der Universität behielten die entsprechenden
Einrichtungen allerdings noch ihre Bezeichnung als Rechtschulen ;
der Universitätsbegriff wurde erst später auf sie angewandt. Wie
erwähnt, waren die frühen Universitäten wie die früheren und
zeitgleichen Schulen noch keine organisierten Institutionen, sondern personal gefügte, nur wenige Personen umfassende Verbände
von Lehrern und ihren Schülern. Wenn an einem Ort der Wissenschaft von "Schulen" gesprochen werden kann, dann ist von dem
Vorhandensein mehrerer solcher Verbände auszugehen. In ihren
Anfangen während des frühen 12.Jahrhunderts wird sich die Universität Bologna in dieser Form dargestellt haben. So sind auch die
Namen von bekannten Lehrern zu verstehen, die als bedeutende
Kommentatoren des Rechts galten. Ihren Unterricht suchten die
Studenten in Bologna, um von ihnen und ihren methodischen
Arbeiten zu lernen. Ein Lehrer namens Pepo soll bereits im späten 11.Jahrhundert in Bologna gewirkt haben, von dem man aber
wenig mehr weiß, als Lobpreisungen aus späterer Zeit berichten.
Insbesondere der zwischen 1116 und 1140 in Bologna lehrende
Irnerius fand zu bleibender Berühmtheit. Er war es, der eine logisch-kritische Fragetechnik auf die überlieferten Rechtstexte anwandte, die der Methode der Frühscholastik entsprach. Die seit
dem 6.Jahrhundert ständig erweiterte Sammlung des Kaiserrechts
wurde mit den Kommentaren (Glossen) des Irnerius der wissenschaftlichen Interpretation erschlossen. In der Bologneser Zeit des
Irnerius - ob durch sein Wirken angeregt, lässt sich nicht mehr
sagen - entstand schließlich die von Beginn an denselben methodischen Prämissen verpflichtete Sammlung des Kirchenrechts, die
der Rechtsgelehrte Gratian (gest. 1160) um 1140 in Bologna initiierte. Er trug aus Rechtsurteilen der Päpste und Konzilien, aus
den Schriften der Bibel sowie der Kirchenväter und einer Vielzahl
anderer Textgattungen zusammen, was sich bis dahin als rechtsrelevante Überlieferung der Kirche angesammelt hatte, und fügte
es in seine bis heute als Decretum Gratiani bezeichnete Zusammenstellung. Wie die Sammlung des Kaiserrechts so wurde auch
diejenige des Kirchenrechts fortan beständig (und letztere sogar
bis zur Gegenwart) fortgeführt: Die beiden großen lateinischen
Rechtssammlungen der mittelalterlichen Welt waren entstanden
und sie sind untrennbar mit der scholastischen Methode und mit
der Universität Bologna verbunden.
Diese Innovation wirkte im besten Sinne universal, weil das
Kaiser- oder römische Recht und das Kirchenrecht sowie die wissenschaftlichen Disziplinen ihrer Erforschung - die Leges bzw. die
Legistik und die Dekretalen bzw. die Kanonistik - in der gesamten
christianisierten Welt (und teilweise darüber hinaus) rezipiert und
auf praktisch sämtliche gesellschaftlichen Realitätsbereiche angewandt wurden. Ihre Entstehung verdankte dieser Umstand letztlich dem Entwicklungspotential
der selbstorganisierten
Rechtsgelehrten von Bologna und ihrer Anwendung der scholastischen
Methode auf die Rechtswissenschaft. Die Wirkung jenes gelehrten
Rechts aber verdankte sich der Inanspruchnahme durch weltliche
wie geistliche, fürstliche wie kommunale Obrigkeiten. Sie förderten die Rezeption des gelehrten Rechts, indem sie universitär
gebildete Juristen anstellten, neue Universitäten mit juristischen
Macht des Wissens: Die Universitäten Bologna und Neapel
Fakultäten gründeten und ihre Herrschaft mithilfe des gelehrten
Rechts (neu) organisierten. Dass die Juristen und insbesondere
die Gelehrten des römischen Rechts, die Legisten, darüber eine
beispiellose Karriere durchliefen und die Rechtswissenschaften
bald als "einträgliche Wissenschaften" (scientiae lucrativae) galten,
ergab sich geradezu zwangsläufig: "Die Bologneser Rechtswissenschaft verdankt ihre große Ausstrahlung ihrer Brauchbarkeir'"?
Parallel zur methodischen Innovation an den Rechtsschulen
entstanden in deren unmittelbarem Umfeld besondere Schulen für
die Vermittlung der Notariatskunst (Ars notariae) und der Briefstellerei (Ars dictandi). Kanzleiorganisation
und administrative
Effektivierungvon Herrschaft, im 12. und 13.Jahrhundert ein erstrangiges Thema an den europäischen Höfen wie in den aufkommenden urbanen Zentren, fand in Bologna ebenfalls das benötigte
kompetente Personal. Schließlich gelang im l3.Jahrhundert,
also
noch zur Zeit der Staufer, in Bologna der Durchbruch einer neuen
methodischen Lehre der Medizin, die später stark nachgefragt war
und große Wirkung hatte.
Die Geschichte der Universität Neapel hingegen ist von Beginn
an untrennbar mit dem Gestaltungswillen eines Herrschers verbunden, Kaiser Friedrichs 11., bzw. mit dessen Regentschaft im Königreich Sizilien seit 1208. Als historischer Kern hinter den Mythen
um Friedrich zeichnet sich eine intellektuell ungewöhnlich offene
und interessierte Persönlichkeit ab, die auch wissenschaftliches
Schriftgut, Denkansätze und Experimente rezipierte und als Autor und "Forscher" selbst mirgestaltere. Vor allem mathemanschnaturwissenschaftliche
Fragestellungen fanden sein Interesse. In
Sizilien, besonders am Ort seiner Jugendjahre, in Palermo, konnte
er in wiederum singulärer Weise neben der lateinischen auch die
griechische christliche Kultur sowie Einflüsse der arabischen Kultur kennenlernen und aufnehmen. An seinem Hof rief er später einen Kreis von christlichen, muslimischen und jüdischen Gelehrten
zusammen, deren Dialoge und Werke von bedeutendem wissenschaftlichem Rang waren. Bis heute umstritten ist aber, inwieweit
Friedrich nicht nur Initiator und Förderer, sondern auch selbst
Teilnehmer an deren Arbeit war.20 In dem von ihm selbst verfassten
Buch über die Jagd mit Vögeln bezeichnete sich Friedrich als Forscher (inquisitor) und Liebhaber der Weisheit (sapientie amator).21
Systematisch oder enzyklopädisch waren seine Neugier und sein
wissenschaftliches Interesse aber offenkundig nicht. Der Biograph
Hubert Houben fasste den weiten Horizont seiner Interessen in
die Bezeichnung als "Jäger und Intellektueller".22
Zu den verbindenden Linien zwischen den vielfältigen, persönlichen Interessengebieten Friedrichs gehört die praktische Nutzbarkeit wissenschaftlicher Erkenntnis. Aus seiner Einsicht in die
Bedeutung der Medizin folgte die Regelung deren fachlicher Ausbildung an der Universität Salerno in den frühen zwanziger Jahren
des 13.Jahrhunderts und die erste förmliche Approbationsordnung
für praktizierende Apotheker und Ärzte 1231 und 1241. Nach der
Aussage eines arabischen Chronisten ließ Friedrich in Lucera eine
Einrichtung gründen, an der Fragen der Naturwissenschaften
erforscht werden sollten.P
Auch Friedrichs Hinwendung zum gelehrten Recht erklärt sich
aus der Absicht des praktischen Nutzens für seine Herrschaft. In
seiner Zeit hatte sich ein Ringen zwischen Vertretern des römischen und des kanonischen Rechts um den Einfluss auf die welt-
I
Martin Kintzinger
liehe Gesetzgebung ergeben.>' Friedrich ließ auch hier einen Kreis
von Gelehrten zusammenkommen und von ihnen ein grundlegendes Gesetzeswerk erarbeiten, das die rechtlich-administrative
Gestaltung der Herrschaft im Königreich Sizilien auf eine gesicherte
Grundlage stellen sollte. Als Konstitutionen von Melfi 1231 veröffentlicht, später vielfach erweitert und verändert, darf das Ergebnis jener im Auftrag des Königs erfolgten gelehrten Arbeit als
eine frühe Form von politisch-rechtlicher Verfassungsordnung im
Mittelalter gelten. Andernorts kaum in dieser Bedeutung erkannt
und (vielleicht wegen der massiven, antistaufischen Propaganda der
päpstlichen Kurie) kaum rezipiert, belegen die Konstitutionen eindrucksvoll die Stellung des Königreichs Sizilien unter Friedrich H.
als Innovationsregion im damaligen Europa.
Ähnliches ließe sich zur Gründung der Universität Neapel bereits 1224 sagen, die allerdings in den anderen Reichen von den
Zeitgenossen und Nachlebenden
ebenso wenig (und vielleicht
aus denselben Gründen wie bei den Konstitutionen
von Melfi)
als vorbildgebend erkannt, jedenfalls nicht als solches zitiert wurde. Gründungsurkunden
für Universitäten des l3. bis 15.Jahrhunderts verwiesen gewöhnlich darauf, dass sie eine Einrichtung
nach dem Vorbild der Pariser Universität schaffen wollten. Neapel wurde nicht als Bezugspunkt genannt. Dennoch hätte es sich
institutionengeschichtlich
genau genommen eher für eine solche
Herleitung angeboten, denn Paris war wie Bologna selbstorganisiert entstanden, Neapel hingegen, wie sämtliche fürstlichen
Gründungen des späteren Mittelalters, durch einen herrscherlichen Gründungsakt. Die Universität Neapel Friedrichs H., die bis
heute seinen Namen trägt, war die erste landesherrliche (zudem
ohne kirchliche Beteiligung entstandene) Universitätsgründung
überhaupt, denn die erklärte Absicht ihres Gründers bestand darin, gelehrte "Beamte" für den königlichen Dienst und die Effektivierung der herrscherliehen Administration im Königreich Sizilien auszubilden, sie ausschließlich aus den Untertanen des eigenen
Reichs zu rekrutieren und ihnen den Besuch anderer Universitaten zu untersagen."
Die Universität Neapel wird allerdings bis heute gewöhnlich
nicht unter den Orten der Wissenschaft genannt, zu denen Bologna ebenso selbstverständlich gezählt wird, und die Gründung
der Universität Neapel durch Friedrich n. wird im Rahmen seiner territorialpolitischen
und adrninistrativen Maßnahmen behandelt, nicht im Zusammenhang seiner wissenschaftlichen Interessen.P Der Biograph Wolfgang Stürner hat 2000 die einzige
aktuelle deutschsprachige Abhandlung zur Universitätsgründung
Friedrichs veröffentlicht. Er betont, dass es sehr wahrscheinlich
keine fest eingerichteten Schulen gegeben habe, an die die Universität hätte anschließen können, und dass Friedrich etwa mit
programmatischen
Überlegungen zu einem Stipendienangebot
und zu einer angemessenen Besoldung der Lehrenden ungewöhnliche (moderne) Wege beschritten habe. Überraschenderweise
und trotz aktueller politischer Spannungen verwies er offiziell auf
das Vorbild Bolognas. Er bezog sich damit auf das Privileg seines
Großvaters, Kaiser Friedrichs I., von 1158 für die dortigen Scolares. Die Universität Neapel kann deshalb als "Neubeginn von
Grund auf, [... ] ein Produkt allein des herrscherliehen Willens"
verstanden werden. Gerade darin und insofern als Vorläufer der
späteren territorialfürsdichen
Landesuniversitäten wirkte Neapel
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VI. Verwandlungen
des Stauferreichs
wiederum vorbildgebend für die wenig späteren Gründungen einer päpstlichen Universität in Rom und der Universirärspolirik
Alfons' von Kastilien.
Anders als Bologna ist aber Neapel sehr wahrscheinlich nicht in
den Rang einer eigenständigen Rechtskörperschaft erhoben worden,27 Auch in Neapel waren namhafte Gelehrte des römischen
wie des kanonischen Rechts und auch der Aries tätig, die der Universität einen Ruf als angesehener Ort der Wissenschaft sicherten.
Insoweit waren die Anforderungen der Wissenschaft und der herrscherliehe Anspruch auf Ausbildung von Verwaltungs- und Rechtsfachleuten vereinbar. Hingegen scheint aber Friedrich ein Studium
der Theologie nicht vorgesehen und das Studium der Medizin an
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VERGER 1997.
KINTZINGER 2003b; KINTZINGER 2009.
S. 290-299; FRIED 2003a; BURKE 2001.
SCHWINGES/MESSERU/MÜNGER 2001;
GRASSHOFF/SCHWINGES 2008; SCHWINGES
2001. S. 31-44.
SCHROER 2006. S.227 -231.
SALERNO1991. S. 146 - 153; zu Prag KINTZINGER2003a. S.422f.
KEHNEL2010,S.265.
GREBNER 2010. S.220-229; vgl. GREBNER/
FRIED 2008.
GREBNER 2010. 5.229.
Vgl. MENZEL 2003. S. 342 - 359.
HERBERS 2006. S.216£. u.ö.
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der renommierten Schule in Salerno belassen zu haben. Unweit
von Neapel gelegen, trug auch Salerno zur Bedeutung Süditaliens
als universitätsgeschichtliche Innovationsregion erheblich bei.
Wie Bologna in Oberitalien von anderen prosperierenden
Kommunen und späteren Universitätsstandorten
umgeben war,
so stand auch Neapel als urbanes Zentrum in Süditalien nicht allein. Der dortigen Universität kam der Rang einer eigenwilligen,
in ihrer Zeit auffälligen, wenn auch urn so mehr zukunftsweisenden
Institution zu. Bei allen erheblichen Unterschieden zwischen beiden Räumen werden sie beide unbestritten in der Geschichte der
Wissenschaft und der Universität im 12. bzw. 13.Jahrhundert als
Innovationsregionen gelten dürfen.
Die Zahlenangaben sollen lediglich die ungefahren Größenverhältnisse verdeutlichen und
erheben keinen Anspruch aufVollständigkeit.
Übernommen aus: CARDINI/FuMAGALLO
BEONIO-BROCCHIERI 1991, S.230f.
KINTZINGER 2009. S. 291- 299.
Vgl. REXROTH 1998. S.13 - 48.
Vgl. die Beiträge des Sammelbandes: SCHÖPFER
PFAFFEN/SCHWINGES 2007.
WEIMAR 1983. Sp, 37S.
Begegnung Kaiser Friedrichs I.mit Professoren
und Studenten in Bologna (1155). in: RÜTHING
1973.5.32 - 34. hier 5.33.
Die Authentica »Habita" Kaiser Friedrichs I.
(November 1158). in: Ebd .• S. 34.
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MÜLLER 2008. S.423; VERGER 1993, S. 59.
WEIMAR 1983. Sp, 375.
HOUBEN 2008. S.146 - 150.
Ebd .•S. 144.
Ebd .•S. 140.
Ebd .• S. 148.
STÜRNER 1996. S.2f.
STÜRNER 2000, S.47 - 57. bes. S.48f.. das folgende Zitat S. 49; RÜEGG 1993a, S. 35; vgl.
FRIEDL 200S.
HOUBEN 2008. S.42 f. Der thematisch überaus
instruktive Katalogband: Ausst.-Kat. Oldenburg
2008 enthält keinen eigenen Artikel zur Universitätsgründung.
STÜRNER 2000. S.49 - 51; NARDI 1993, S. 95.
Zugehörige Unterlagen
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