Die zahnärztliche Anamnese aus analytischer Sicht

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Die zahnärztliche Anamnese aus analytischer Sicht
Hans-Joachim Demmel
Zahnärztl. Mitt. 80 (1990) 494
Wenn wir betonen, dass auch Erkrankungen, die sich im Kopf-Kiefer-Bereich ausbilden, aus psychosomatischer Sicht zu betrachten sind, so ist hiermit nicht die generelle Psychologisierung der Zahnmedizin gemeint, sehr wohl aber die Überzeugung, dass der kranke Mensch nur in seiner ganzen
Gestalt, auch als soziales Wesen, zu betrachten ist. Im Sinne des Komplementaritätsprinzips sind die
Anteile somatischer und psychischer Genese einer Krankheit zu bestimmen und deren Zusammenwirken. Wir stellen uns nicht die Frage, ob psychosomatisches Denken in die zahnärztliche Praxis integriert werden sollte, sondern nur die Frage, wie, wann und in welchem Umfang. Die Literatur ist voll von
Ratschlägen und Anweisungen, wie somatische Befunde bei Krankheiten im orofazialen Bereich erhoben und eingeordnet werden können. Äusserst rar aber sind zahnmedizinische Publikationen zum
Problem, wie nun der psychische Anteil durch Befunderhebung zu diagnostizieren ist, und diese Anteile integrativ zu betrachten sind.
Es besteht in der allgemeinen Medizin kein Zweifel, dass psychologische Befunde nur über eine
Sammlung von Informationen durch das Gespräch mit dem Patienten bzw. durch seine Befragung und
Beobachtung gewonnen werden können. Diese Befunderhebung wird allgemein als (psychologische,
psychoanalytische, psychosomatische, verhaltenstherapeutische u.s.f) Anamnese bezeichnet.
Gibt es eine spezielle psychosomatische Anamnese für die zahnärztliche Praxis?
Es gibt einige somatische Befunde, die nur im orofazialen Bereich strukturbedingt vorkommen. Der
psychologische Befund ist aber stets ein allgemeiner, ein den ganzen Menschen betreffender Befund.
Eine spezielle, zahnärztliche Untersuchungsmethode, die psychischen Anteile an einer Krankheit bestimmt, kann es also nicht geben. Vorausgesetzt wir stimmen darin überein, dass eine somatische
Ausschlussdiagnostik keine akzeptable Methode zur Beurteilung der Psychogenie einer Krankheit
darstellt. Es werden sich im Ablauf durch spezielle Bedingungen der zahnärztlichen Diagnostik zwar
Besonderheiten ergeben, doch bleibt die Anamnese in ihrem inhaltlichen Konzept in allen Fachgebieten der Medizin gleich. Dieses Konzept wird bestimmt durch die psychologische Schule, das psychologische Paradigma des Untersuchers. Grundlage der folgenden Darstellung ist die psychoanalytische
d.h. psychodynamische Psychosomatik.
Das bio-psycho-soziale Konzept
Der Zahnarzt befasst sich nicht isoliert z.B. mit einem kranken Zahn, sondern mit dem einzelnen Patienten mit einer Symptomatik im Bereich der Zähne. Er muss versuchen, die Ursachen des Leidens
dieses Patienten aufzuklären und nicht nur die der lokal auftretenden Krankheit an sich. Hierbei ist die
rein additive Beurteilung der verschiedenen somatischen, psychischen und sozialen Faktoren sicher
unzureichend, da sie die Emergenz verkennt. Dem Umstand, dass ein Ergebnis nicht die Summe der
Subsysteme ist, kann man nur durch ein integratives Vorgehen bei der Patientenuntersuchung ge-
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recht werden. ADLER und HEMMELER (1989) ersetzen daher den Begriff "psychosomatisch" durch
"bio-psycho-sozial", weil der Begriff "psychosomatisch" die Kausalkette -psychische Ursache/somatische Folge- suggeriert und damit die irreführende Vereinfachung der vielfältigen Wechselbeziehungen der Subsysteme darstellt. Dieser Begriff kann leider dennoch nicht verhindern, dass er
im Sinne der bis heute in der Medizin weitgehend vorherrschenden reduktionistischen, additiven
Denkweise interpretiert wird. Das bio-psycho-soziale Konzept beinhaltet aber die entscheidende Aussage, dass "der Organismus hierarchisch aus Systemen aufgebaut" ist, "die von den Atomen, Molekülen, Zellen, Geweben, Organen, Organsystemen, dem Nervensystem, der Person, der ZweiPersonenbeziehung, der Familie, der Gemeinde, bis zur Kultur und Subkultur reichen, wobei jedes
System ein dynamisches Ganzes ist, das mit untergeordneten, parallel gelagerten und übergeordneten Systemen in Wechselbeziehung steht (cit: ADLER, HEMMELER, 1989)".Durch diese Aussage
wird deutlich, welchen Inhalt es auch bei der zahnärztlichen, psychosomatischen Anamnese zu erfassen gilt.
Form der Anamnese
Es gibt verschiedene Formen der psychosomatischen Befunderhebung. Die scheinbar einfachste
Form ist die Sammlung relevanter Daten durch Fragebögen. Sie engt das Resultat der Erhebung auf
den Umfang des Fragebogens ein. Die spontane Reaktion des Patienten auf die gestellte Frage bleibt
unberücksichtigt. Der Patient hat in der Regel keine Möglichkeit der individuellen Variation der Antwort. Der Zahnarzt hat keine Möglichkeit unmittelbar auf die Äusserung (Wort und Verhalten) des Patienten einzugehen. Aus analytischer Sicht ist diese Form der Befunderhebung sehr unbefriedigend.
Sie ist wohl insbesondere von in der Interviewtechnik kaum ausgebildeten Zahnärzten bevorzugt und
ergibt nur begrenzt psychoanalytisch verwertbare Ergebnisse. Eine Bedeutung hat sie allenfalls für
statistische Erhebungen, Relevanz auch nur, wenn der Fragebogen durch ein Interview ergänzt wird.
Im völligen Gegensatz dazu steht das freie Interview. Es kann dazu führen, dass durch "grenzenloses
Verständnis" das Gespräch erstirbt, da nur noch gefühlt wird. Die Gefahr ist gross, dass für die Diagnose relevante Angaben nicht zur Sprache kommen. Das freie Interview kann eigentlich nur vom sehr
erfahrenen Psychoanalytiker in der Psychotherapie gewagt werden, da er bewusst oder unbewusst
dennoch strukturieren wird (ARGELANDER, 1983; BALINT, 1980; HOFFMANN et al., 1984). Es eignet sich kaum zum psychosomatischen Erstinterview. Hier muss auch berücksichtigt werden, dass
dem Zahnarzt für die Erhebung der Anamnese in der Regel nur eine sehr begrenzte Zeit zur Verfügung steht.
Eine Lösung für diese Schwierigkeiten bietet das strukturierte Interview, in das auch die Erhebung der
somatischen Befunde integriert ist. Dieser Anamneseform liegt ein genaues Konzept zugrunde. Das
heisst aber nicht, dass die Krankengeschichte nach einem fest abgefassten Schema abgehandelt
wird, sozusagen ein Fragebogen mündlich vorgelegt wird. Vielmehr wird durch offene Fragen der Patient angeregt, seine Gedanken zu diesen Fragen ausführlich darzustellen, spontan zu berichten und
so ein Bild seiner individuellen Wirklichkeit zu geben. Der Behandler folgt den Assoziationen des Patienten und strukturiert das Gespräch, wenn er mehr Angaben zum gerade vom Patienten angeschnittenen Thema benötigt, oder wenn er eine Assoziation des Patienten nutzt, um auf ein anderes für die
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Anamnese bedeutsame Thema überzugehen. So wird er nicht linearprogredient vorgehen, sondern
zirkulär. Im Laufe der Untersuchung werden so alle relevanten Daten erfasst werden können, ohne
dass das psychosomatische Interview einem Verhör gleichen muss. Dies würde den Patienten auch
entmündigen und verschliessen, und das kann wohl kaum das Ziel des Zahnarztes sein. Erst am Ende der Untersuchung ordnet der Zahnarzt für seine Unterlagen die erhobenen Daten zur Krankengeschichte. Hierfür ist ein Formblatt sehr hilfreich.
Die bio-psycho-soziale Anamnese
Für die Anamneseerhebung haben ADLER und HEMMELER (1989) ein Konzept entworfen, das auf
den Arbeiten von ENGEL (1977) basiert. Es ermöglicht dem Untersucher, die notwendigen Angaben
im Laufe des Gesprächs zu sammeln und abschliessend zur Krankengeschichte zu ordnen. Das Interview gliedert sich in zehn Abschnitte, wobei die Reihenfolge nur durch die Interaktion zwischen Arzt
und Patient bestimmt wird und häufig in Teilschritten erfolgt. Die Liste der Abschnitte dient nur der
Erinnerung des Untersuchers, um im Sinne zu behalten, welche Daten noch nicht gesammelt worden
sind.
1.
Vorstellen und Begrüssen:
In der Zahnarztpraxis weiss der Patient in der Regel wer ihn untersuchen wird. Doch auch hier ist es
ein Gebot der Höflichkeit, beim ersten Kontakt den Patienten erkennen zu lassen, dass er auch wirklich den Zahnarzt vor sich hat, von dem er untersucht werden wollte. In Kliniken oder Praxisgemeinschaften ist dieser Schritt aber unerlässlich, um eine persönliche, vertrauensvolle Atmosphäre herstellen zu können. So nebensächlich dieser erste Punkt erscheinen mag, so wichtig ist er.
2.
Gestalten einer günstigen Situation:
Ein Patient, der unbequem sitzt, nicht weiss, wie viel Zeit der Zahnarzt für ihn hat, der durch Geräusche oder das Kommen und Gehen von anderen Mitarbeitern der Praxis gestört ist, der im Unklaren
ist, was überhaupt mit ihm passieren soll, ist wohl kaum der beste Gesprächspartner für eine psychosomatische Anamnese. Da wir auch aus dem Verhalten des Patienten diagnostische Schlüsse ziehen,
wäre es irreführend, dies durch eine ungünstige Situation zu beeinflussen.
3.
Landkarte der Beschwerden:
Dieser Schritt soll einen Überblick schaffen über die bio-psycho-soziale Situation des Patienten. Er
wird eingeleitet mit der offenen Frage "Wie fühlen Sie sich jetzt?". Sie ermöglicht dem Patienten selbst
zu bestimmen, ob er zuerst von seiner körperlichen oder psychischen Verfassung sprechen möchte.
Er wird angeregt, aktiv zu sein. Der Patient soll merken, dass der Untersucher sich nicht nur für seine
körperlichen Symptome interessiert. Erfasst werden eine Skizze der Beschwerden, die Stimmung, das
Verhalten, der Stil der Darstellung, das Erkennen der sozialen Situation, aber auch die eigenen Gefühle des Untersuchers bei der Begegnung mit diesem Kranken. Diese Landkarte der Beschwerden
ist bestimmend für das weitere Vorgehen.
4.
Jetziges Leiden:
Der Zahnarzt wird ausbildungsbedingt nicht alle Leiden, die im Verlauf des bisherigen Gespräches
erwähnt wurden, eingehend erfassen können. Er wird sich auf die orofazialen Erkrankungen be-
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schränken , aber überblickmässig auch die anderen Erkrankungen erfassen müssen, damit Zusammenhänge erkennbar werden.
Die Anamnese des jetzigen Leidens umfasst folgende Punkte:
4.1 Zeitliches Auftreten
4.2 Qualität
4.3 Intensität
4.4 Lokalisation und Ausstrahlung
4.5 Begleitzeichen
4.6 intensivierende und lindernde Faktoren
4.7 Umstände
Bei der Frage nach der Symptomqualität (4.2) ist es entscheidend, dass dem Patienten die eigene
Wortwahl überlassen bleibt. Eine Hilfestellung seitens des Untersuchers darf nicht suggestiv sein.
Dies verfälscht das Untersuchungsergebnis. Eher sollte der Patient ermutigt werden, auch ungewöhnliche Begriffe seines eigenen Wortschatzes zu verwenden. Die Aussage dieser Begriffe ist erheblich,
doch müssen sie manchmal hinterfragt werden, damit der Untersucher nicht nur seine eigenen Assoziationen als Grundlage zur Diagnostik benutzt. Genauso muss nachgefragt werden, wenn der Patient
z.B. medizinische Fachausdrücke verwendet. Diese entsprechen sicher nicht seinem Empfinden, sondern sind oft nur das Ergebnis einer Vorerfahrung mit anderen Ärzten oder der Kenntnis populärwissenschaftlicher Medien.
Die Fragen nach der Intensität der Beschwerden (4.3) sind entsprechend denen nach der Qualität zu
stellen. Hier kommt es auch auf die Stärke und das Ausmass von Funktionseinbussen an. Besondere
Beachtung ist bei diesem Teil der Anamnese auf das Verhalten des Patienten bei der Schilderung der
Beschwerdeintensität zu geben.
Lokalisation und Ausstrahlung der Beschwerden (4.4) sind wichtige Kriterien für die Differentialdiagnostik. Entsprechen die Schilderungen anatomischen und physiologischen Gegebenheiten, so ist
eine somatische Genese mit eventuell psychogener Beteiligung am Krankheitsbild wahrscheinlich.
Widersprechen sie unseren Kenntnissen der Anatomie und Physiologie, so sind psychische Ursachen
anzunehmen.
Der nächste Abschnitt (4.5) der Untersuchung ist mit der Frage "Spüren Sie gleichzeitig noch andere
Beschwerden?" einzuleiten. Die Beurteilung dieser Frage kann manchmal die Kompetenz des Zahnarztes überschreiten. Sie ist dennoch immer zu stellen. Im Zweifel über die diagnostische Abklärung
sind diese Angaben des Patienten im Überweisungsbericht besonders zu vermerken.
Intensivierende oder lindernde Faktoren (4.6) können wichtige Hinweise geben zur Differenzierung
zwischen somatischer oder psychischer Genese einer Erkrankung. Intrapsychisch bedingte Symptome folgen in ihrer Ausgestaltung Phantasien und Ideen im Gegensatz zu anatomischen und physiologischen Gegebenheiten.
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Als letzter Punkt der Anamnese der jetzigen Beschwerden ist die Frage nach den Umständen (4.7),
unter denen die Beschwerden auftreten, zu stellen.
Die Anamnese des jetzigen Leidens ermöglicht in vielen Fällen bereits eine vorläufige Diagnose. Voraussetzung ist ein Interview mit offenen Fragen. Selbst das notwendige Präzisieren von Daten sollte
nicht dazu verführen, suggestiv zu fragen.
Der Zahnarzt muss aus der Gesprächssituation entscheiden, ob es sinnvoll ist, jetzt die anamnestischen Befunde durch eine körperliche Untersuchung zu ergänzen. Aus eigener Erfahrung unterbricht
eine solche Untersuchung aber die Gesprächssituation zu sehr. Es erscheint besser, die körperliche
Untersuchung an den Schluss der Anamnese zu verlegen oder noch besser, sie in einer nächsten
Sitzung durchzuführen. Dies hat auch den Vorteil, dass dem Untersucher beim Studium der Aufzeichnung der Anamnese klar werden kann, was, wie und in welchem Umfang er körperlich untersuchen
muss.
5.
Persönliche Anamnese
Frühere Erkrankungen sind wichtig für das Verständnis. Sie können im Zusammenhang mit dem jetzigen Leiden stehen, Hinweise geben auf besonders belastende Lebenssituationen, die individuelle
Reaktionsweise und das Umgehen mit dem Kranksein. Manchmal wird bei diesem Teil der Anamnese
auch deutlich, dass der Patient nicht unter einer Vielzahl verschiedener Krankheiten leidet, sondern es
sich eher um den unterschiedlichen, somatischen Ausdruck einer Erkrankung handelt.
6.
Familienanamnese
Die familiäre Situation und Krankheiten von Familienangehörigen und wichtigen Bezugspersonen
können zeigen, dass z.B. eine Krankheit einer Bezugsperson kopiert wird, oder der Patient befürchtet,
seine Symptomatik dem Leiden einer solchen Person zuordnen zu müssen, ein ähnliches Schicksal
befürchtet.
7.
Psychische Entwicklung
Im Verlauf des Interviews werden die Hinweise auf die persönliche, psychische Entwicklung genutzt,
um das Bild zu vervollständigen. Die psychogene Mitbeteiligung an der Entstehung einer Krankheit ist
nur aus der psychischen Entwicklung und der Ausbildung des Selbst zu verstehen. Es erscheint auch
äusserst wichtig die Abwehrmechanismen zu erkennen und diagnostisch für die psychische Entwicklung zu berücksichtigen (KÖNIG, 1997).
8.
Soziales
Die Lebensumstände sind von entscheidender Bedeutung für Krankheit, Therapieentscheidung, Heilungsverlauf und Prognose. Oft sind diese Beziehungen schwierig darzustellen in der kurzen Zeit, die
für ein Erstgespräch zur Verfügung steht. Doch sollte nicht versäumt werden, über die sozialen Umstände ein Überblick zu gewinnen.
9.
Systemanamnese
Zum Abschluss der Untersuchung werden noch notwendige Einzeldaten erhoben, die in den bisherigen Schritten nicht oder unzureichend erwähnt wurden, und deren Vervollständigung den Gesprächsablauf unnötig gestört hätten. Es ist aber wichtig auch in diesem Abschnitt den bisherigen Stil der Anamneseerhebung beizubehalten und nicht unter Zeitnot zu geschlossenen Fragen überzugehen.
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10.
Fragen und Pläne
Es ist notwendig, dem Patienten durch die Frage "Haben Sie noch Fragen an mich? Haben wir noch
etwas vergessen?" die Möglichkeit zu geben, die Anamnese aus seiner Sicht zu vervollständigen.
Dieser Schritt muss immer am Schluss einer jeden Sitzung stehen, auch wenn die Untersuchung mehr
als eine Sitzung beansprucht. Die folgende Sitzung soll mit der Frage eingeleitet werden, was dem
Patienten in der Folge der letzten Begegnung für Gedanken und Einfälle gekommen sind. Zum Abschluss gehört auch die Frage an den Patienten, welche eigenen Vorstellungen er über mögliche Erklärungen für sein Leiden hat. Diese eigenen Vorstellungen sind aus analytischer Sicht sehr bedeutsam für die Diagnose.
Spezielle Bedingungen
Im Gegensatz zum ärztlichen Sprechzimmer wird das Sprechzimmer des Zahnarztes immer auch an
dessen eigentliche behandelnde Tätigkeit erinnern. Es gehört zur Schaffung einer günstigen Situation,
das Setting so zu gestalten , dass der Patient bequem im Behandlungsstuhl sitzt, der Untersucher auf
Armeslänge Distanz hält und etwa in gleicher Augenhöhe ihm gegenübersitzt, wenn zahnärztliche
Instrumente möglichst nicht im Blickfeld sind, und der Patient nicht durch die Geräte eingeengt ist. Ein
besonderes "Sprechzimmer" ist nicht unbedingt nötig. Ziel der psychosomatischen Zahnmedizin sollte
sein, dass die Erstuntersuchung von einer Person durchgeführt wird. Sollten Untersuchungen durch
Spezialisten - ob psychologischer oder somatischer Art - zur Diagnostik notwendig werden, so sollte
die Notwendigkeit dem Patienten auch einsichtig werden können.
Nicht jeder Patient einer zahnärztlichen Praxis wird mit einer derart umfangreichen Anamnese untersucht werden müssen. Da aber auch hinter banal erscheinenden Leiden sich oft mehr verbirgt, sollte
der Untersucher keine vorschnellen Urteile fällen. Zumindest die Schritte 1 bis 4 und eine orientierende biografische Anamnese sind in jedem Falle zur ersten differentialdiagnostischen Abklärung notwendig. Bei manchen Patienten wird dem Zahnarzt schon nach kurzer Untersuchung klar, dass die
diagnostische Abklärung und Behandlung den Rahmen einer Zahnarztpraxis oder den seiner Ausbildung überschreitet. Hier wird er sich auf die Schritte und den Umfang der Untersuchung beschränken,
die ihm zur begründeten Überweisung ausreichen, und dem Patienten eine Compliance ermöglicht.
Es muss dringend davor gewarnt werden, mit dem Patienten Themenkreise anzusprechen, für die der
Untersucher aus- und weiterbildungsmässig psychoanalytisch nicht befähigt ist. Es ist für den Patienten leichter einzusehen, dass die Kompetenz des Zahnarztes Grenzen hat, und deshalb eine Überweisung zum Spezialisten ratsam ist, als enttäuscht wahrzunehmen, dass die Öffnung im Gespräch
sinnlos war, da der Zahnarzt mehr versprochen hat, als er halten konnte. Es würde so mehr verdorben
als geholfen - dem Patienten und dem Ansehen der Praxis. Mehr Wissen um den analytischen Ansatz
in der psychosomatischen Zahnheilkunde gibt die Chance, vom reduktionistischen Denken Abschied
zu nehmen und den Menschen Patient nicht mehr als funktionsgestörte Maschine zu betrachten.
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Literatur:
Adler, R. und W. Hemmeler: Praxis und Theorie der Anamnese.
G.Fischer Verlag, Stuttgart, New York 1989.
Argelander, H.: Das Erstinterview in der Psychotherapie.
Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1983.
Balint, M.: Der Arzt, sein Patient und die Krankheit.
Klett-Cotta, Stuttgart 1980.
Engel, G.L. und W.L. Morgan: Der klinische Zugang zum Patienten.
Verlag Hans Huber, Bern 1977.
Hoffmann, S.O. und G. Hochapfel: Einführung in die Neurosenlehre und Psychosomatische Medizin.
Schattauer, Stuttgart, New York 1984.
König, K.: Abwehrmechanismen
Vanderhoek & Ruprecht, Göttingen 1997.
Korrespondenzadresse:
Dr. H.-J. Demmel, Auerbacher Str. 2, 14193 Berlin
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