Sehr geehrte Damen und Herren, in den letzten Jahrzehnten hat der französische Literaturwissenschaftler Renè Girard, eine Theorie entwickelt, die der Innsbrucker Dogmatiker Raymund Schwager für die Theologie nutzbar gemacht hat. Dabei zeigt sich immer deutlicher, dass sich diese Theorie in der Realität stets neu belegen lässt. Girard hat bei manchen Dichtern folgenden Mechanismus dargestellt gefunden: Die Menschen können nicht friedlich nebeneinander her leben, sondern es kommt auf Grund von Rivalitäten, Neid und Eifersucht immer wieder zu Konflikten. Die Ursache dafür sieht Girard im so genannten mimetischen Begehren gemäß dem Anderen. Darunter versteht er die Tatsache, dass die Menschen sich nicht am eigenen Begehren orientieren, sondern das begehren, was der Andere begehrt. Dadurch entstehen für ein Objekt zwei Interessenten. Daraus resultiert notwendigerweise Rivalität. Girard hat ferner beobachtet, dass sich alle archaischen Naturreligionen vor der Gewalt, die aus dem Rivalität-erzeugenden Begehren entspringt, schützen, und zwar durch das versöhnende Opfer. Dieses Opfer besteht darin, dass sich plötzlich die Gewalttätigkeit aller auf ein Mitglied der Gesellschaft konzentriert. Dieses wird einmütig von allen ausgestoßen, meist ermordet. Durch diesen Ausschluss des Einen kommt es zum Frieden in der Gesellschaft. Die Versöhnung ist durch das Opfer zustande gekommen. Girard sieht dieses Opfer am Beginn jeder Kultur, und nennt es somit Gründungsopfer. Treten in der Gesellschaft wieder Gewalttätigkeiten auf, die deren Bestand bedrohen, wird das Gründungsopfer durch Ritualopfer wiederholt. Dieses Opfer wird zugleich als sehr böse, da Kristallisationspunkt aller Gewalt, sowie durch seine Frieden bringende Wirkung als sehr gut erlebt. Diese Kombination von sehr gut und sehr böse wird mit dem lateinischen Begriff „sacer“ = „heilig“ erfasst. Die ausgestoßenen Opfer werden in den Mythen vergöttlicht. Da man einen Gott aber nicht als böse bezeichnen kann, und ihn schon gar nicht ermorden darf, wird der Gründungsmord dieser Gesellschaften vertuscht. Tatsache ist aber immer, dass in allen Mythen das Opfer böse und die Verfolger gut sind. Die Götter sind letztlich nie etwas anderes als ermordete Sündenböcke. Lediglich in der jüdischchristlichen Tradition wird gezeigt, dass die Opfer unschuldig und die Verfolger böse sind. 1 Was bedeutet dies nun für unser Leben? Begehren gemäß dem Andren. Das Begehren gemäß dem Anderen besteht darin, dass man es vorzieht, dem Begehren eines Anderen zu folgen und das eigene, spontane Begehren zu missachten. Spielen Kinder zusammen, und ein Kind konzentriert sich ganz besonders auf ein einziges Objekt, so wird dieses Begehren nachgemacht und die anderen Kinder beginnen, um das besonders begehrte Objekt des einen Kindes zu streiten. Man findet also bei dieser Art von Nachahmung immer folgenden Mechanismus: Ein oder mehrere Subjekte orientieren sich am Begehren eines Vorbildes. Sie widmen ihr Begehren dadurch demselben Objekt wie das Vorbild. Auf Grund der Tatsache, dass für ein Objekt zwei oder mehr Kontrahenten vorhanden sind, wird das Vorbild gleichzeitig als Wegweiser wie als Hindernis erlebt. Ein Vorbild, das man auf der einen Seite bewundert, und über das man auf der anderen Seite zornig ist, hasst man. Hass ist somit eine Mischung aus Ablehnung und Bewunderung. Erobert man jedoch das Objekt, so tritt nie Befriedigung ein, man umarmt vielmehr jedes Mal die Leere. Das heißt, man ist enttäuscht, man findet im Objekt nicht das, was man eigentlich gesucht hat. Was geschieht nun weiter? Man wendet sich immer mehr jenen Vorbildern zu, die das je größere Hindernis vor das Objekt legen, und dies in der irrigen Ansicht, dass mit der Größe des Hindernisses die Wahrscheinlichkeit zunimmt, den „Schatz“ zu finden, und einmal nicht enttäuscht zu werden. Was liegt dieser Geisteshaltung zugrunde? Ist dieses Verhalten den Menschen bewusst? Zur ersten Frage: Wenn Menschen auf das, was sie von sich aus begehren, nicht achten und den Willen von Anderen bevorzugen, so steckt dahinter die Einstellung, dass sie sich selbst die Erkenntnisfähigkeit, das für sie Richtige zu begehren, nicht zutrauen. Den Anderen trauen sie diese Fähigkeit jedoch zu. Diese Einstellung ist unbegründet und stimmt natürlich nicht. Sie ist ein Wahn. Die meisten Menschen leben aber danach. Spätestens dann, wenn sie merken, dass sie an ein Hindernis rennen, müssten sie erkennen, dass der Andere ihnen 2 keineswegs absichtlich als Vorbild dient, sondern, dass sie selbst sich dies ausgesucht haben. Der Andere will einfach das Seine behalten, und ist keinesfalls gegen das Subjekt böswillig eingestellt. Dies erkennen die Menschen aber nicht. Die zweite Frage: Was ist den Menschen überhaupt bewusst? Wenn eine Mutter ihr Kind mit einem Brei füttert und das Kind will nicht essen und alles Zureden hilft nichts, dann stellt die Mutter sich so an, dass sie das Kind glauben macht, sie selber würde den Brei begehren und essen wollen. Und dann isst das Kind. Das Kind kopiert also das Begehren eines Anderen, in diesem Fall der Mutter. Dieses Geschehen ist der Mutter klar, und trotzdem ist es ihr nicht wirklich bewusst. Alle Menschen sehen bei anderen diese Mechanismen, halten sie für allgemein menschlich, begreifen sie jedoch nicht. Aber im Grunde wissen sie nicht, was sie tun. Aus dieser Einstellung folgt, dass die Menschen ein ganz eigentümliches Ich erhalten. Nachdem sie all ihr Begehren an dem Begehren von Anderen und zwar immer mächtigeren Anderen ausrichten, so wird auch ihr Selbsterlebnis das sein, wie sie von den Anderen gesehen, anerkannt oder missachtet werden. Man nennt dies das Ansehen in den Augen der Anderen. Je mehr angesehen, beachtet jemand ist, desto stärker ist sein Ich-Erlebnis und umgekehrt. Man hat somit die Freiheit der eigenen Entscheidung dessen, was man begehren soll und was nicht, an mächtige Andere abgegeben. Man lässt sich von ihnen führen. Man ist also nicht mehr Herr im eigenen Haus. Man hat aber auch kein eigenes Ich, sondern das eigene Selbst ist der Schnittpunkt der mehr oder weniger großen Aufmerksamkeiten anderer Menschen, das Ansehen in den Augen der Anderen. Wie alle Erfolge des nachgeahmten Begehrens ist auch das Ansehen bei den Anderen nie von Erfüllung gekrönt, sondern führt immer zu Enttäuschung und Frustration. Es bleibt stets eine Leere zurück. Prinzipiell ist zu sagen, dass Nachahmen für den Menschen lebensnotwendig ist, also nicht von vornherein etwas Negatives darstellt. Wir können nur leben, indem wir nachahmen. Wir lernen durch Nachahmen, da uns das Instinktverhalten der Tiere abhanden gekommen ist. Allerdings ist das ein offenes Nachahmen. Es wird uns gezeigt: Dies oder jenes sollen wir tun, dies oder jenes sollen wir nachahmen, aber immer so, dass wir dabei wir selbst bleiben, dass 3 wir frei bleiben, ja oder nein sagen können. Das wäre normales geistiges Wachstum: Das Fremde nehmen und ins Eigene umarbeiten, und ein eigenes Selbst immer größer werden lassen. Bei der Nachahmung des Begehrens Anderer hingegen ist nur die Rede von einer falschen Nachahmung. Das ist eine nicht offene, vom Anderen nicht gewollte Nachahmung eines Begehrens eines Anderen, die ihn als böses Hindernis, also als Rivalen erleben lässt. Feindliche Geschwister Ahmt ein Subjekt das Begehren eines Vorbildes nach, dann will es sich dessen begehrtes Objekt aneignen. Dann stellt sich das Vorbild sofort als Hindernis in den Weg. Dadurch wird das nachgeahmte Begehren wieder gesteigert. Aber auch das Vorbild erlebt jetzt im Subjekt einen Rivalen und kopiert vermehrt dessen Begehren auf sein eigenes Objekt wodurch er wiederum zum größeren Hindernis wird. Dies führt wiederum zur Steigerung des Begehrens des Subjekts und so fort. So steigern sich beide gegenseitig stetig in die Höhe. Man nennt dies das Verhalten feindlicher Geschwister. Es soll durch einige Beispiele erklärt werden. Der Sadist Nach Girard ist ein Sadist ein Mensch, der die Rolle des mächtigen Vorbildes übernimmt und dabei die Hoffnung hegt, dass auf diese Weise Macht und Ansehen des Vorbildes auf ihn übergingen. Ein Sadist ist also immer ein Schauspieler, der die Rolle des Mächtigen spielt und hofft, dass er für den gehalten wird, den er spielt bzw. dass er wird, was er spielt. Nachdem sein Ich aber im Ansehen der Anderen besteht, laufen beide Sichtweisen auf dasselbe hinaus. Dies kann man auch durch einige Beispiele erhärten. Der Masochist Der Masochist ist ein Mensch, der erkannt hat, dass er weder als feindlicher Bruder oder Schwester, noch als Sadist noch sonst als Nachahmer fremden Begehrens je eine Erfüllung 4 oder eine Wertsteigerung in sich erfährt. Deshalb wendet er sich einem übermächtigen Vorbild, das er nie wird überwinden können, zu. Er tut dies in der Hoffnung, dass dort der Schatz begraben sei. Er klammert sich an diesen Übermächtigen, klagt über dessen Bosheit und hofft, dass dessen Macht, Ansehen und Gewalt nach Art einer Osmose auf hin überginge. Auch dies lässt sich durch Beispiele belegen. Wie leben nun solche Menschen, die sich am Begehren Anderer ausrichten, miteinander? Jedermann strebt den je Mächtigern zu und will in ihre Nähe kommen bzw. will so werden wie diese. Es entsteht also eine Bewegung von unten außen nach innen oben, zu den Mächtigen hin. Allein durch diese Bewegung entsteht das Bild eines Kegels, den man leichter noch als Kreis modellieren kann. Ganz innen oben sind die Mächtigsten, ganz außen unten sind die Schwächsten. Umgeben ist der Kreis von einem Rand gegenüber jenen, die überhaupt nicht dazugehören. In der Vorstellung der Kreismitglieder kommt das Hinausstürzen über den Rand, der Ausschluss aus dem Kreis, dem Tod gleich. Stabilisiert werden diese Kreise auf der einen Seite durch Kämpfe mit anderen Kreisen. Diese Kämpfe solidarisieren die einzelnen Mitglieder so miteinander, dass momentan die gegenseitigen Konflikte vergessen werden und es zu einer Einheit und damit zu einer Festigkeit der Kreise kommt. Der Hauptfaktor, der den Kreis stabilisiert, ist jedoch das versöhnende Opfer. Die Auflösung dieser Mechanismen durch Gott. Im Gegensatz zu den Mythen stellt die Bibel das Opfer von Anbeginn an als unschuldig dar. Dies beginnt mit der Isaak- und Josephs-Erzählung und endet bei Jesus Christus. Die falsche mimetische Nachahmung wird von der Bibel als Lüge und der Opferkult als Mord entlarvt. Besonders dargestellt wie diese richtige Sichtweise in den Psalmen und bei den Propheten. Eine der wichtigsten Erzählungen dazu ist jedoch die Erwählung des Volkes Israel, wie sie bei der Episode mit dem brennenden Dornbusch und dem Herausführen aus Ägypten im Buch Exodus dargestellt ist. Die Israeliten waren ein Sklavenvolk in einem mächtigen Kreis, im Maat der Ägypter. Der lebendige Gott erweist sich als einer, der sich dieses verlorenen 5 Haufens annimmt und ihn gegen alle Kreisgesetze in die Freiheit der Kinder Gottes führt. Diese Linie setzt sich konsequent bis zu Jesus hin fort. Jesus führt uns folgendermaßen aus dem Nachahmen gemäß dem Anderen hinaus: Jesus bietet sich dem Mensch als besonderes Vorbild an. Dies besteht darin, dass er nichts aus sich selbst heraus tut oder seinen eigenen Willen zu verwirklichen sucht, sondern sich immer nach dem orientiert, was der Vater, also Gott, will und in ihm bewirkt. Dieses Verhalten wird dem Menschen als nachahmenswert hingestellt. Darin besteht die Nachfolge Jesus, dass jeder in sich Gott und dessen Gedanken zu erkennen sucht und sich bemüht, Gottes Willen in sich selbst zu befolgen. Dadurch wird der Mensch nicht mehr fremd bestimmt sondern gelangt in seine eigene Einmaligkeit und kann daher nicht mit einem anderen rivalisieren. Jene Stellen in den Evangelien, die zeigen, dass Gott ein Vater ist, der seine Sonne scheinen lässt über Gute und Böse, der Unkraut zusammen mit dem Weizen hochkommen lässt, zeigen gemeinsam mit der Bergpredigt, wie wir mit Ärgernissen umgehen sollen. Unter Ärgernissen versteht die Bibel das Verhalten, das aus der Nachahmung des fremden Begehrens entsteht. Diesen Weg ist Jesus selbst konsequent gegangen. Er hat sich von seinen Widersachern töten lassen, ohne in irgendeiner Weise zurückzuschlagen oder sich zu rächen. Die Bibel berichtet davon, wie sich alle um und gegen Jesus zusammen scharen und dass sich letztlich wie bei einem Opfer, bei einem Sündenbock, Einmütigkeit einstellt. Das Volk, das erst für Jesus war, lässt sich umstimmen und schreit mit der Führungsschicht ‚kreuzige ihn’. Herodes und Pilatus werden Freunde, ein Jünger verrät ihn, einer verleugnet ihn und die übrigen suchen das Weite. Jesus wird also einmütig ans Kreuz geschlagen, und wenn nichts Besonderes passiert wäre, wäre aus ihm und seinem Tod genauso ein Mythos geworden, wie bei vielen anderen auch. Dass dem nicht so war, liegt daran, dass hier der reale Gott in die Geschichte der Menschen eingegriffen hat. Dadurch, dass er Jesus von den Toten auferweckt hat, hat Gott gezeigt, dass er das Opfer der Menschen nicht annimmt, sondern Jesus ins Leben zurück schickt. Es zeigt sich, dass er wirklich lebt, sich anfassen lässt und dass er mit seinen Jüngern isst. Anstatt den Jüngern etwas nachzutragen, begrüßt er sie mit den Worten ‚Friede sei mit euch’ und überträgt ihnen den Heiligen Geist. Das Eingehen der Menschen auf dieses Angebot Gottes würde ihm die Erlösung bringen. 6 Wenn also die Frage, warum sich die Menschen nicht erlösen lassen, gestellt wird, so kann man sie ganz einfach damit beantworten, dass die Menschen sich darauf versteifen in ihrem Begehren gemäß dem Anderen zum Ziel zu kommen. Der mächtige Andere ist aber Gott. Sie sehen Gott als übermächtiges Vorbild an, das sie im Grunde hassen. Sie wollen letztlich so werden wie Gott. Welche Konsequenzen ergeben sich aus dem bisher Gesagten? Wenn man die beschriebenen Mechanismen an anderen Menschen feststellt, dann ist dies ein Zeichen, dass man selber darin verhaftet ist. Der einzige sinnvolle Weg heraus ist, dass man das Begehren gemäß dem Anderen bei sich selbst erkennt. Weiters sollte man für Opfer hellhörig werden. Prinzipiell ist zu sagen, dass das mimetische Begehren gemäß dem Anderen mit dem Opferkult zusammen in allen Bereichen des privaten und öffentlichen Lebens anzutreffen ist. Der Weg heraus ist aber nie allgemein zu lösen sondern immer nur für jeden Einzelnen persönlich. Letztlich geht es um eine Bekehrung. Egal, welcher Konfession oder überhaupt einer Konfession einer angehört oder nicht, bleibt ihm die Auseinandersetzung mit dem Evangelium und der Person Jesu Christi nicht erspart. Eine andere Auflösung des Begehrens gemäß dem Anderen und des Opferkultsystems gibt es nicht. So einer erkannt hat, dass er in diesen Mechanismen verhaftet ist, geht es nun darum, dass er nun daran geht, sein eigenes Inneres zu erforschen, seine Einmaligkeit als Gedanken Gottes zu erfassen. Zuvor sind aber noch einige Schritte vonnöten. In dieser wahnhaften Welt haben die Menschen in ihrer Vergangenheit eine Fülle unrechter Taten begangen oder erlitten. Die Folgen davon haften am Menschen fest. Diese Bindungen sollten durch Versöhnungsschritte gelöst werden. Es gilt, sich mit den Mitmenschen zu versöhnen. Man sollte um Verzeihung bitten und verzeihen. Und es ist ganz wichtig, sich mit den Vorfahren und den Nachkommen aktiv auseinander zusetzen und zu versöhnen. Und Versöhnung ist nur möglich, wenn die Menschen sich alle als Kinder eines Vaters verstehen. Erst dann, wenn man versöhnt ist, kann man daran herangehen ein eigenes Selbst in Vernetzung mit den Nächsten schrittweise mit Hilfe der Evangelien aufzubauen. Wien, 06.April 2005 Klaus Bolzano 7 8