X. Die fahrlässige Tötung, § 222 StGB – zugleich Exkurs zur Fahrlässigkeitsstrafbarkeit Anwendung von in dubio pro reo und damit Verurteilung „jedenfalls“ wegen Fahrlässigkeitsdeliktsmöglich Literatur: Kühl: § 17; W/B: Rn. 655 ff.; Kudlich, PdW AT, Fälle 161 – 178. Drei verschiedene Stufen der Fahrlässigkeit (hinsichtlich ihrer Intensität. wobei für Tatbestand meist1 unbeachtlich ist, welche Form vorliegt): Fahrlässige Verursachung des Todes eines Menschen Tatobjekt und Voraussetzungen des „Tötens“ wie bei § 212 StGB leichte Fahrlässigkeit Hauptprobleme aus dem AT ( allgemeine Fahrlässigkeitsdogmatik) Leichtfertigkeit (entspricht ungefähr „grober Fahrlässigkeit“ des Zivilrechts) 1. Einordnung und Prüfungsschema a) Verhältnis zum Vorsatzdelikt Ausgangspunkt: § 15 StGB: grds. nur Strafbarkeit vorsätzlichen Handelns, wenn nicht Fahrlässigkeitexplizit angeordnet ist wichtige Beispiele: §§ 222, 229 StGB, aber etwa auch § 163 StGB sowie verschiedene Vorsatz-Fahrlässigkeitskombinationen Dogmatische Einordnung: nach früher h.M. Vorsatz und Fahrlässigkeit nur als zwei mögliche Schuldformen auch äußerlich in jeder Hinsicht korrektes Verhalten könnte Tatbestand eines Fahrlässigkeitsdelikts erfüllen Bsp.: A verabredet sich mit seiner Freundin F um 16.00 Uhr zu einem Rendezvous am Waldrand. F ist bereits um 15.57 Uhr da und wird um 15.59 Uhr von einem Meteoriten erschlagen. heute h.M.: Fahrlässigkeitsdelikt als zweite, eigenständige Verbrechensform weitere Prüfungselemente über Erfolgsverursachung hinaus gleichwohl Annahme eines Stufen- oder Auffangverhältnisses zwischen Vorsatz und Fahrlässigkeit Prof. Dr. Hans Kudlich „normale Fahrlässigkeit“ Exkurs: Im Zusammenhang mit dem Fahrlässigkeitsdelikt bietet es sich an, das Stichwort des „erfolgsqualifizierten Delikts“ schon einmal zu erwähnen: Diese sind dadurch gekennzeichnet, dass eine Strafschärfung eintritt, wenn als Folge eines als solchen schon strafbaren Verhaltens (des sog. Grunddelikts) ein besonderer Erfolg verursacht wird (regelmäßig der Tod eines Menschen2 oder eine schwere Gesundheitsschädigung3). § 18 StGB bestimmt für diese Delikte, dass die schwerere Strafe den Täter oder Teilnehmer nur trifft, „wenn ihm hinsichtlich dieser Folge wenigstens Fahrlässigkeit zur Last fällt“. Die erfolgsqualifizierten Delikte stellen mithin eine Kombination aus dem vorsätzlich begangenen Grunddelikt und dem mindestens fahrlässig verursachten qualifizierenden Erfolg dar. Dabei ergibt sich schon aus dem Wortlaut des § 18 StGB, dass die Fahrlässigkeit nur die „Untergrenze“ ist, dass also das erfolgsqualifizierte Delikt auch erfüllt Etwas anderes gilt nur, wenn das Gesetz Leichtfertigkeit fordert, was insbesondere bei einer Reihe von erfolgsqualifizierten Delikten der Fall ist (vgl. z.B. § 251 StGB). 2 So etwa in den §§ 176b, 178, 239a III, 251, 306c ua (wenigstens leichtfertige Verursachung des Todes) bzw. 221 III, 227, 235 V, 239 IV (fahrlässige Todesverursachung). 3 So in § 226 StGB (wo einzelne schwere Körperverletzungen abschließend aufgezählt sind) bzw. §§ 221 II Nr. 2, 239 III Nr. 2, 306b I, 308 II, 315b III Nr. 2 StGB ua (wo der Begriff der schweren Gesundheitsschädigung verwendet wird, der durch das 6. StrRG in vielen Fällen der Erfolgsqualifikation eingefügt wurde und welcher neben den in § 226 StGB aufgezählten Verletzungen solche Folgen erfasst, die ihrer Intensität nach vergleichbar, dort aber nicht explizit genannt sind). 1 Strafrecht BT I WS 2004/2005 S. 11 ist, wenn dem Täter ein „Mehr“ zur Last fällt, er also (bedingt) vorsätzlich handelt. Um die erhöhte Strafdrohung der erfolgsqualifizierten Delikte gegenüber der Idealkonkurrenz zwischen dem vorsätzlichen Grunddelikt und der fahrlässig verursachten Folge zu rechtfertigen,4 wird als ungeschriebenes Merkmal der erfolgsqualifizierten Delikte – mit unterschiedlichen Formulierungen und auch sachlichen Abweichungen im Einzelnen – gefordert, dass zwischen dem Grunddelikt und dem Eintritt des qualifizierenden Erfolges über die Kausalität hinaus ein zusätzlicher Zusammenhang besteht:5 Dabei ist dem insbesondere in der Rechtsprechung teilweise verwandten Begriff der „Unmittelbarkeit“, der auf eine „engere Kausalbeziehung“ hindeutet, derjenige des „tatbestandsspezifischen Gefahrzusammenhangs“ vorzuziehen. Es geht nämlich weniger um eine enge oder weite bzw. vielgliedrige Kausalkette, sondern um den Schutzzweck der Norm unter Berücksichtigung der konkreten Verhaltensweise bei der Tatbestandsbegehung.6 Deshalb kann dieses Erfordernis auch als Unter- oder als Spezialfall der objektiven Zurechnung verstanden werden.7 In der Sache wird also dem Umstand Rechnung getragen, dass ein dem erhöhten Strafmaß entsprechender erhöhter Unrechts- und Schuldgehalt nur besteht, wenn sich im Eintritt der schweren Folge gerade die Gefahr des Grunddelikts in seiner konkreten Durchführung realisiert. Für das erfolgsqualifizierte Delikt ist daher für den Einzeltäter folgendes Prüfungsschema denkbar: 1. Tatbestand 2. Rechtswidrigkeit 3. Schuld 4. Erfolgsqualifikation a) Eintritt der schweren Folge b) Tatbestandsspezfischer Gefahrzusammenhang c) Mindestens Fahrlässigkeit, § 18 StGB b) Das Prüfungsschema des Fahrlässigkeitsdelikts Vorbemerkung: stärkere Unterscheidung der in unterschiedlichen Lehrbüchern genannten Schemata als beim Vorsatzdelikt Unterschiede aber teilweise stärker terminologischer als wirklich inhaltlicher Natur Vorschlag eines Prüfungsschemas Tatbestand Rechtswidrigkeit Schuld Erfolgseintritt Objektive Zurechnung Handlung und Kausalität objektive Sorgfaltspflichtverletzung Voraussicht oder objektive Vorhersehbarkeit des Erfolges Allg. Voraussetzungen (insb. Schuldfähigkeit) Subjektive Sorgfaltspflichtverletzung Subjektive Vorhersehbarkeit Keine Unzumutbarkeit Evtl. besondere Schuldmerkmale Vgl etwa das Strafmaß des § 227 (Freiheitsstrafe von 3 bis 15 Jahren, vgl § 38 II) mit dem der §§ 223, 222, 52 (Geldstrafe oder Freiheitsstrafe bis zu 5 Jahren). 5 Vgl nur Schönke/Schröder-Cramer, § 18 Rn 4; Tröndle/Fischer , § 227 Rn 2; ausführlicher zum erforderlichen Zusammenhang Sowada Jura 1994, 643 ff 6 Deutlich Roxin AT I, § 10 Rn 114, 117 7 Vgl Roxin AT I, § 10 Rn 114 ff. 4 Prof. Dr. Hans Kudlich Strafrecht BT I WS 2004/2005 S. 12 einfachster Fall (nach h.M.): Bestimmung von Sorgfaltspflichten aus entsprechenden Vorgaben, die sich unmittel- oder mittelbar aus Gesetz ergeben 2. Insbesondere: Objektive Sorgfaltspflichtverletzung und objektive Zurechnung Bspe.: (1) Wer etwa die gesetzlich in der StVO oder durch ein Verkehrsschild angeordneten Höchstgeschwindigkeiten im Straßenverkehr überschreitet, handelt sorgfaltswidrig. Ebenso, wer entgegen den gesetzlichen Regelungen die Vorfahrt missachtet. (2) Das Gleiche gilt für denjenigen, der bei der Produktion von Nahrungsmitteln die gesetzlich zulässigen Höchstwerte für bestimmte gesundheitlich bedenkliche Inhaltsstoffe oder beim Betrieb einer Anlage die durch die Genehmigung zugelassenen Emissionsgrenzen überschreitet. a) Sorgfaltspflichtverletzung Einordnung: äußerst knappe gesetzliche Vorgaben, die nur verlangen, dass Täter „fahrlässig“ einen bestimmten Erfolg herbei- (fahrlässige Tötung oder Körperverletzung) bzw. eine bestimmte Handlung durchführt (fahrlässig betrunken fahren oder falsch schwören) Begründung des Fahrlässigkeitsvorwurfs nach h.M. bei Vorliegen einer Sorgfaltspflichtverletzung Sorgfaltspflichtverletzung als zentrales Element des Fahrlässigkeitsdelikts Begründung von (potentiell verletzten) Sorgfaltspflichten: jedenfalls nicht aus Fahrlässigkeitstatbeständen selbst Klausurhinweis: Falsch wäre in der Klausur insbesondere die Argumentation, aus einem bestimmten Fahrlässigkeitsdelikt ergebe sich die Sorgfaltspflicht, das darin genannte Rechtsgut nicht zu verletzten (also z.B. aus § 222 StGB die Sorgfaltspflicht niemanden zu töten, so dass die Todesverursachung zeige, dass diese Pflicht verletzt worden sei). Denn dann wäre das verantwortungsbegrenzende und gerade das Fahrlässigkeitsdelikt kennzeichnende Merkmal der Sorgfaltspflichtverletzung immer dann erfüllt, wenn es zu einem Taterfolg i.S.d. Rechtsgutsverletzung kommt, und würde damit im Ergebnis leer laufen. M.a.W.: Der Täter handelt nicht fahrlässig, weil er einen Menschen getötet hat, sondern nur wenn er bei dieser Todesverursachung gegen eine nicht unmittelbar aus § 222 StGB zu entnehmenden Sorgfaltspflicht verstoßen hat! Prof. Dr. Hans Kudlich Klausurhinweis: Beachten Sie dreierlei: (1) Wenn in den genannten Fällen die gesetzlichen Vorgaben eingehalten werden, so spricht zwar viel, aber nicht immer alles für ein sorgfaltsgemäßes Verhalten. Bsp.: Wer in der Stadt mit 50 km/h fährt, kann u.U. sorgfaltswidrig handeln, wenn für ihn deutlich sichtbar eine Gruppe von Kindern auf dem Gehsteig Ball spielt. (2) Umgekehrt wird oft betont, dass die Verletzung entsprechender Sondernormen nur ein (wenngleich wichtiges) Indiz für das Vorliegen einer Sorgfaltspflichtverletzung sind. Wie intensiv man das betonen (und in welchem Maße man einen möglicherweise davon abweichenden Sorgfaltsmaßstab diskutieren muss), hängt davon ab, wie gravierend der Verstoß war (Bsp.: Ist der Täter in der Tempo-30Zone gerade mal 31 km/h oder ab 65 km/h gefahren?). (3) Bei der Prüfung der objektiven Zurechnung (vgl. u.) kann im Einzelfall problematisch sein, ob der Schutzzweck der verletzten gesetzlichen Sorgfaltsnorm gerade auch die eingetretenen Schäden verhindern soll. Strafrecht BT I WS 2004/2005 S. 13 Mord nicht zurückschrecken würde, wird (zumindest) eine Sorgfaltspflichtverletzung nahe liegen, wenn dieser Mann den Bäcker am nächsten Tag – ohne nochmals seine Frau zu erwähnen – bittet, in die (dem Bäcker bekannte) Lieblingstorte seiner Frau doch das mitgebrachte Rattengift einzubacken. Dagegen ist es sicher nicht sorgfaltspflichtwidrig, wenn der Bäcker dem Mann nur ein paar Brötchen verkauft, obwohl der Mann diese natürlich auch selbst mit einem Gift versehen und dann seiner Frau servieren könnte. Sollte man aber jede Möglichkeit der deliktischen Verwendung seiner beruflichen Leistung mit berücksichtigen, würde der soziale Verkehr zum Erliegen kommen. Gepflogenheiten bestimmter Verkehrskreise, die zwar nicht zu Gesetzen geworden sind, innerhalb bestimmter Lebensbereiche das Verhalten aber auch mehr oder weniger klar steuern sollen Bspe. hierfür wären etwa die von der FIS aufgestellten Regeln für das Verhalten auf Skipisten, die unter Jägern bekannten Grundsätze waidmännischen Verhaltens, die leges artis bzw. professionis eines bestimmten Berufsstandes (z.B. die Standards der ärztlichen Kunst im medizinischen Bereich) o.ä. Klausurhinweis: Sollte es erforderlich werden, mit solchen Standards zu argumentieren, müssten sie regelmäßig in der Klausur mitgeteilt werden – denn man kann nicht davon ausgehen, dass Sie all dieses Gepflogenheiten kennen. Und anders als die gesetzlichen Sorgfaltspflichten können Sie sie auch nicht im Gesetz finden. Maß der anzuwendenden Sorgfalt: Berücksichtigung von Sonderfertigkeiten: „Auffangformel“: Verhalten eines sorgfältigen (d.h. nicht nachlässigen, aber auch nicht „krankhaft übervorsichtigen“), besonnenen Durchschnittsbürgers in konkreter Situation des Täters ( weniger empirische, als normative Bewertung!) Maßstab aus Interessenabwägung zwischen Maß und Wahrscheinlichkeit einer Gefahr einerseits und drohender Beeinträchtigung des sozialen Verkehrs andererseits Bspe.: (1) Zur Bedeutung von Gefahrwahrscheinlichkeit und Gefahrengröße: (a) Wie sorgfältig Materialien, die auf einem Baugerüst liegen, um eingebaut zu werden, gesichert werden müssen, hängt davon ab, ob es sich um eine „einsame“ Baustelle handelt, auf der sich normalerweise niemand unter dem Gerüst aufhält, oder ob es die Sanierung eines Geschäftshauses in der Innenstadt ist, wo auf dem Gehweg unter dem Gerüst ständig große Menschenmassen unterwegs sind. (b) Auch auf einem Baugerüst auf der zweitgenannten Baustelle, unter dem zahlreiche Passanten durchlaufen, wird es einen Unterschied machen, ob gerade mit kleinen zurechtgeschnittenen Schaumstoffstücken für Dämmzwecke hantiert wird, die –selbst wenn sie herunterfallen würden – niemanden verletzen würden, oder aber mit schweren Metallplatten für die Außenverkleidung, die einen getroffenen Passanten auf der Straße mit großer Wahrscheinlichkeit sofort töten würden. (2) Zur Abwägung mit der allgemeinen Handlungsfreiheit: Wenn ein Mann im Bäckerladen beiläufig erzählt, dass er seine Frau loswerden möchte und auch vor einem Prof. Dr. Hans Kudlich Strafrecht BT I WS 2004/2005 unterdurchschnittliche Fähigkeiten oder Kenntnisse für objektiven Sorgfaltsanforderungen unbeachtlich arg.: objektivierte Beurteilung des Verhaltens durch die Rechtsordnung, noch nicht persönliche Vorwerfbarkeit; nicht individuell-herabgestufter Maßstab dient Rechtsgüterschutz, ohne soziales Leben wesentlich zu beeinträchtigen möglicherweise aber Strafbarkeit auf Prüfungsstufe der Schuld (individuelle Sorgfaltspflichtverletzung) ausgeschlossen; dabei dann aber „Übernahmeverschulden“ zu berücksichtigen Bsp.: Ist eine Standardoperation durchzuführen, kann sich der diensthabende Facharzt für Chirurgie nicht darauf berufen, dass er ein besonders schlechter Operateur ist, kein Blut sehen kann und deswegen der Operation nicht gewachsen ist. Wäre der Chirurg aber besonders unerfahren, könnte er insoweit schuldlos handeln, wenn ihm die Einhaltung der objektiven Sorgfalt eines Operateur subjektiv nicht möglich war (keine subjektive Sorgfaltspflichtverletzung). Allerdings kann ihm u.U. vorgeworfen werden, dann überhaupt die Operation durchgeführt zu haben; also: Hat er sie allein übernommen, weil er „mal sehen wollte, wie es so ist, wenn man operiert“, ist dieses Verhalten objektiv und subjektiv pflichtwidrig; musste er dagegen auf freiem Feld eine Notoperation durchführen, damit überhaupt noch eine Rettungschance für das schwerverletzte Opfer besteht, wird man keinen objektiven Sorgfaltspflichtverstoß darin sehen, alles zu versuchen, was der Rettung dienen kann. S. 14 überdurchschnittliche Kenntnisse in der konkreten Situation nach h.M. stets zu berücksichtigen; nach M.M. dagegen nur solche Kenntnisse, die zu erlangen der Täter verpflichtet gewesen wäre (nicht „irgendein Autofahrer“, sondern „geübte Autofahrer“; nicht „irgendein Arzt“, sondern „ein guter Chirurg“ usw.) Bedeutung des Vertrauensgrundsatzes Bsp.:8 Ein Biologiestudent arbeitet als Aushilfskellner und entdeckt in einem exotischen Salat eine seltene giftige Frucht, die ihm nur auf Grund seiner im Studium erworbenen besonderen Kenntnisse bekannt ist. Wenn er nun den Salat dennoch serviert, kommt eine Strafbarkeit nur in Betracht, wenn ihn auch in seiner Rolle als Kellner das davon völlig unabhängige (und hier sogar nur Experten zugängliche) Wissen aus seiner Rolle als Biologiestudent „belastet“. Denn man wird von einem Kellner, zumal von einem Aushilfskellner, nicht verlangen können, dass er über vertiefte Kenntnisse in der Botanik exotischer Pflanzen verfügt. Aspekt zur Begrenzung und Konturierung von Sorgfaltspflichten Inhalt: wer sich selbst grundsätzlich sorgfaltsgemäß verhält, darf darauf vertrauen darf, dass auch andere dies tun historische Wurzel: Straßenverkehr Bsp.: Wer mit vorschriftsgemäßer Geschwindigkeit eine Ortsstraße entlang fährt, darf darauf vertrauen, dass grundsätzlich kein Fußgänger ohne zu schauen auf die Straße stürmt – einem solchen (vorstellbaren, aber eben nicht einzubeziehenden) Verhalten muss man seinen Fahrstil grundsätzlich nicht anpassen. überdurchschnittliche Fertigkeiten: nach h.M. im Interesse des Rechtsgüterschutzes ebenfalls zu berücksichtigen; nach M.M. soll dagegen besonders „tüchtiger“ Täter nicht „benachteiligt“ werden weitere Anwendungsbereich: Arbeitsteilung (z.B.: Chirurg darf sich grds. darauf verlassen, dass Anästhesist ordnungsgemäß narkotisiert) und nach Teilen der Lit. noch darüber hinaus immer, wenn „sich im sozialen Leben die Verhaltensweisen mehrerer Personen berühren“11 Bsp.: Bei einer dringenden Notoperation in einem kleinen Krankenhaus kommt ein Opfer auf den Operationstisch, das an sich nur von drei Spezialisten an Universitätskliniken in Deutschland gerettet werden könnte, da die Operation so schwierig und die Lage so kritisch ist. Zufällig ist an dem Krankenhaus der junge, aber außergewöhnlich talentierte Oberarzt A, der sich noch dazu gerade für solche Fälle besonders interessiert und sich privat noch weitergebildet hat. Er hätte die Fähigkeiten, das Opfer zu retten, macht aber einen Fehler. Dieser war für ihn vermeidbar, wäre aber außer ihm und den drei o.g. Spezialisten jedem Klinikchef in Deutschland mit großer Sicherheit auch unterlaufen. Soll A nun dafür bestraft werden, dass er Außergewöhnliches leisten könnte? Und: wäre es vielleicht ein Unterschied, wenn ein Patient in einem ebenso schweren, aber weniger dringenden Fall gerade einen der drei o.g. Spezialisten aufsucht, weil man ihm sagte, dass dieser ihn retten könnte?9 Zusammengefasst: „Es ist (…) nach ‚unten’ zu generalisieren, nach ‚oben’ zu individualisieren.“10 Alternativ: formal sowohl „nach oben als auch nach unten“ zu generalisieren, allerdings mit differenzierender Maßstabsfigur Nach Jakobs, Kaufmann-GS, S. 271, 273. In dieser letzten Abwandlung könnte man davon sprechen, dass für bestimmte Spezialisten „besondere Maßfiguren“ gelten müssen, vgl. Roxin, AT I, § 24 Rn. 49. 10 Vgl. Roxin, AT I, § 24 Rn. 50; ähnlich etwa Schönke/Schröder-Cramer/Sternberg-Lieben, § 15 Rn. 139 ff. Anwendungsfall des (bzw. vielleicht besser: Sachgrund für das) erlaubte(n) Risiko(s) Grenze: „triftiger Anlass zum Nichtvertrauen“ ( „Reaktivierung der höheren Sorgfaltspflichten) Bsp.: Wenn in dem o.g. Autofahrerfall Kinder mit einem Ball nahe der Straße spielen oder wenn an einer roten Fußgängerampel ein Junge kurz vor Schulbeginn hastig rennend und ohne aufzublicken auf die Fahrbahn zuläuft, besteht Anlass, sich darauf vorzubereiten, dass die Kinder bzw. der Junge entgegen den Verkehrsregeln die Straße unversehens und plötzlich betreten könnten. Kritik an Konzept / Begriff der Sorgfaltspflichtverletzung in Teilen der Lit.: 8 9 Prof. Dr. Hans Kudlich 11 Vgl. Stratenwerth, AT, § 15 Rn. 66 a.E. Strafrecht BT I WS 2004/2005 S. 15 Klausurhinweis: Es geht im Folgenden weniger darum, diese Frage in einer Klausurlösung zu thematisieren: Sie können dort – und sogar in einer Hausarbeit – m.E. ohne vertiefte Diskussion auf das Merkmal der Sorgfaltspflichtverletzung zurückgreifen. Die folgenden Ausführungen sollen Ihnen zum einen etwas Hintergrundinformation liefern, helfen zum anderen aber vielleicht auch das Problem der Fahrlässigkeitsstrafbarkeit auf dem Boden der h.M. besser zu verstehen. Denn m.E. geht es vielfach eher um terminologische Unterschiede; außerdem werden bestimmte, durchaus auch für die h.M. wichtige Aspekte von abweichenden Ansätzen besonders klar herausgestellt. b) Die objektive Zurechnung beim Fahrlässigkeitsdelikt Zusätzliches Korrektiv über Kausalzusammenhang zwischen Handlung und Erfolg hinaus Bedeutung sogar größer als beim Vorsatzdelikt, da Vorsatz als zusätzliches Korrektiv (Stichwort: Irrtum über den Kausalverlauf) nicht zur Verfügung steht Eine ganze Reihe von Beispielen, die üblicherweise bei der objektiven Zurechnung genannt werden, spielen eigentlich bei Fahrlässigkeitsdelikten eine größere Rolle. So wird es etwa in den als „Retterfälle“ bezeichneten Konstellationen, in denen jemand ein Gebäude anzündet und ein Retter durch den Brand ums Leben kommt, zumeist um die Strafbarkeit wegen eines Fahrlässigkeitsdelikts (§ 222 oder § 306c StGB) gehen. Wichtige Fallgruppen beim Fahrlässigkeitsdelikt fehlender Pflichtwidrigkeitszusammenhang Ansatzpunkte der Kritik (z.B. Jakobs / Roxin) Ausschluss der objektiven Zurechnung, wenn Erfolg auch bei hypothetischem rechtmäßigem Alternativverhalten eingetreten wäre Prüfungspunkt der Sorgfaltspflichtverletzung nicht erforderlich Maßstab zu unscharf Bezeichnung „Sorgfaltspflichtverletzung“ normlogisch unrichtig, da „es bei der Fahrlässigkeit – wie beim Vorsatz – keine andere Pflicht als die sich aus der Norm ergebende Pflicht“ gebe „und nur gegen diese Pflicht (...) verstoßen“ werde12 Bsp.:13 Der Leiter einer Pinselfabrik gibt seinen Arbeitern chinesische Ziegenhaare zur Verarbeitung aus, ohne diese vorher vorschriftsgemäß desinfizieren zu lassen. Ein Arbeiter verstirbt im Anschluss an Milzbrand, der durch Bazillen auf den Ziegenhaaren hervorgerufen wurde. Stellt sich hier heraus, dass die vorgeschriebenen Desinfektionen den tödlichen Bazillus mit Sicherheit nicht abgetötet hätten, da es sich um eine in Europa noch unbekannte Sorte handelte, wäre der Erfolg auch bei rechtmäßigem Alternativverhalten eingetreten. alternative Konzepte / Begrifflichkeiten (die allerdings m.E. keinen großen Fortschritt bringen): str., wenn nicht sicher feststeht, ob Erfolg bei pflichtgemäßem Verhalten eingetreten wäre nach in Lit. vertretener Risikoerhöhungslehre14 gleichwohl Strafbarkeit; arg. der h.M.: drohende Aushöhlung des Grundsatzes in dubio pro reo; Verfremdung des Charakters als Verletzungsdelikt Überschreitung des erlaubten Risikos (Jakobs) Gleichsetzung mit objektive Zurechnung (Roxin) bloßes Abstellen auf Erkennbarkeit (Schroeder) oder „Anlass zur Vorsicht / zum Misstrauen“ (Duttge) Nach RGSt 63, 211 (abgewandelt) Grundlegend Roxin, ZStW 74 (1962), 411 ff.; zahlreiche Vertreter sind aufgezählt bei Roxin, AT I, § 11 Rn. 78, dort Fußn. 144. 13 Vgl. Jakobs, AT, Abschn. 9 Rn. 6 (gemeint ist mit „der Norm“ wohl das jeweilige Fahrlässigkeitsdelikt). 12 Prof. Dr. Hans Kudlich 14 Strafrecht BT I WS 2004/2005 S. 16 Bsp.:15 Lkw-Fahrer T überholte den Radfahrer O, ohne den nach der StVO vorgeschriebenen Seitenabstand von 1 – 1,50 m einzuhalten. Während des Überholvorganges geriet der stark alkoholisierte O unter die Hinterreifen des Anhängers, weil er in Folge einer alkoholbedingten Kurzschlussreaktion des Fahrrad nach links zog. Es wurde festgestellt, dass wegen der Alkoholisierung des O der Unfall mit hoher Wahrscheinlichkeit mit dem gleichen Ausgang auch eingetreten wäre, wenn T den Abstand eingehalten hätte. Nach Ansicht des BGH scheidet § 222 StGB aus, da nicht feststellbar sein (in dubio pro reo!), dass nicht der gleiche Erfolg eingetreten wäre, wenn sich der Täter rechtlich einwandfrei verhalten hätte. Die Vertreter der Risikoerhöhungslehre würden dagegen zu einer Strafbarkeit kommen 3. Insbesondere: Rechtswidrigkeit und Schuld beim Fahrlässigkeitsdelikt Grundsatz: Geltung der allgemeinen Regeln zu Rechtswidrigkeit und Schuld; aber einige zusätzliche Besonderheiten a) Rechtswidrigkeit Als Rechtfertigungs- (also z.B. Notwehr- oder Notstands-) Handlungen insbesondere solche Erfolge gerechtfertigt, die auch vorsätzlich hätten herbeigeführt werden dürfen Klausurhinweis: Machen Sie sich zweierlei klar: Zum einen, dass der Streit um die Risikoerhöhungslehre dann von vorneherein keine Rolle spielt, wenn sich aus dem Sachverhalt ergibt, dass der Erfolg auf jeden Fall auch bei ordnungsgemäßem Verhalten eingetreten wäre – in diesen Fällen müssen Sie das Problem also nicht vertiefen; zum anderen dass auf Grund der vorgebrachten Argumente und des Meinungsstandes in der Literatur in der Klausur beide Ansichten ohne Weiteres vertretbar sind – es kommt also darauf an, was Sie mehr überzeugt und was Sie meinen, besser begründen zu können. fehlender Schutzzweckzusammenhang Bsp.: T fuhr mit seinem Wagen mit 120 km/h über eine Landstraße, auf der eine Höchstgeschwindigkeit von 80 km/h galt. In der nächsten Stadt bremste er auf die vorgeschriebenen 50 km/h ab; plötzlich lief die kleine O so rasch auf die Fahrbahn, dass T nicht mehr bremsen konnte. O verstarb. Staatsanwalt S meinte, wenn T auf der Landstraße langsamer gefahren wäre, hätte O die Straße schon längst überquert gehabt, bis T an die Unfallstelle gekommen wäre. Der Pflichtwidrigkeitszusammenhang kann zwar tatsächlich bejaht werden; allerdings soll ein Tempolimit außerorts nicht die spätere Ankunftszeit an irgendeiner Stelle beeinflussen, sondern die Bremsmöglichkeit des Fahrers (und Ausweichmöglichkeiten der anderen Verkehrsteilnehmer bei Eintritt einer „kritischen Situation“) sicherstellen. 15 T wird von O, der ihn töten möchte, mit einem Messer angegriffen. Als er das Messer schon in seinen Hals eindringen fühlt, kann T kann gerade noch einen Stein greifen. Er möchte ihn O auf die Schulter schlagen, trifft ihn aber versehentlich am Kopf. O ist tot. sich als Realisierung einer Gefahr darstellen, die vom Rechtfertigungsgrund gedeckt war. Bsp.: T wird vom körperlich unterlegenen O angegriffen. Um ihn nicht schwerer verletzen zu müssen, stößt er ihn heftig von sich. O stürzt mit dem Kopf unglücklich auf einen Stein und ist tot. Alternative Konstruktion: „was gerechtfertigt ist, kann schon nicht objektiv pflichtwidrig sein“ bei Fahrlässigkeitsdelikten ist Fehlen des subjektiven Rechtfertigungselementes unschädlich b) Schuld Modifikationen gegenüber den allgemeinen Grundsätzen: allgemeine Unzumutbarkeit normgemäßen Verhaltens als Entschuldigungsgrund ernsthaft diskutiert insbesondere bei nur unbewusster Fahrlässigkeit potentielles Unrechtsbewusstsein ausreichend Zusätzliche Prüfungspunkte: subjektive Vorhersehbarkeit des Erfolges und subjektive Pflichtwidrigkeit Nach BGHSt 11, 1. Prof. Dr. Hans Kudlich Strafrecht BT I WS 2004/2005 S. 17 Klausurhinweis: Denken Sie aber beim Ausschluss der Schuld wegen des Fehlens einer subjektiven Sorgfaltspflichtverletzung an den oben16 bereits erwähnten Aspekt des „Übernahmeverschuldens“. Ein solches kann vorliegen, wenn der Täter sich erst gar nicht in eine Situation hätte begeben dürfen, der er auf Grund seiner unterdurchschnittlichen Fähigkeiten nicht gewachsen ist. Vertiefende Hinweise zu den Tötungsdelikten: Engländer, Die Teilnahme an Mord und Totschlag, JA 2004, 410 ff. ders., Selbsttötung in mittelbarer Täterschaft, Jura 2004, 234 ff. Küper, „Heimtücke“ als Mordmerkmal - Probleme und Strukturen; JuS 2000, 740 ff. Küpper, Der Täter als "Werkzeug" des Opfers?, JuS 2004, 757 ff. Mitsch, Grundfälle zu den Tötungsdelikten, JuS 1995, 787 ff.; JuS 1996, 121 ff. Otto, Die Mordmerkmale in der höchstrichterlichen Rechtsprechung, Jura 1994, 141 ff. ders., Die strafrechtliche Problematik der Sterbehilfe Sternberg-Lieben/Fisch, Der neue Tatbestand der (Gefahr-)Aussetzung (§ 221 StGB n.F.), Jura 1999, 45 ff. 16 Vgl. o. zur Frage nach Objektivierung oder Individualisierung des Sorgfaltsmaßstabes. Prof. Dr. Hans Kudlich Strafrecht BT I WS 2004/2005 S. 18