VG München, Urteil v. 02.11.2016 – M 5 K 15.50260 Titel: Dublin III-Verfahren (Überstellungsfrist) Normenketten: AsylG § 27a, § 34a Dublin III-VO Art. 29 Abs. 2 S. 1 Leitsatz: Ist die Bundesrepublik Deutschland wegen Ablaufs der Überstellungsfrist für die Bearbeitung des Asylantrags ausschließlich zuständig geworden und ist eine Überstellung in einen anderen Mitgliedoder Vertragsstaat nicht (mehr) möglich, ist die Ablehnung des Asylantrags als unzulässig rechtswidrig. (redaktioneller Leitsatz) Schlagworte: Abschiebung, Dublin-Verfahren, Überstellungsfrist Tenor I. Der Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom ... Februar 2015 wird aufgehoben. II. Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens. Gerichtskosten werden nicht erhoben. III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht der Kläger vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet. Tatbestand Der am ... ... 1992 geborene Kläger ist eritreischer Staatsangehöriger. Am 1. Oktober 2014 stellte der Kläger beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) einen Asylantrag. Bei seiner Anhörung gab er an, er habe sich vor seiner Einreise in das Bundesgebiet in Italien aufgehalten und dort auch einen Asylantrag gestellt. Es ergab sich ein Eurodac-Treffer für Italien (IT...). Am 25. November 2014 richtete das Bundesamt ein Übernahmeersuchen an Italien. Mit Schreiben vom 10. Dezember 2014 erklärte sich Italien (Ministero dell’Interno) zur Rückübernahme des Antragstellers bereit. Mit Bescheid vom ... Februar 2015 lehnte das Bundesamt den Asylantrag des Klägers als unzulässig ab und ordnete die Abschiebung nach Italien an. Der Bescheid wurde der Klagepartei am 5. März 2015 zugestellt. Am 12. März 2015 hat der Kläger durch seinen Bevollmächtigten einen Eilantrag gestellt (M 5 S 15.50261) sowie Klage erhoben und beantragt, den Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom ... Februar 2015, zugestellt am 5. März 2015, aufzuheben. Der Eilantrag wurde mit Beschluss vom 8. Mai 2015, dem Kläger zugestellt am 12. Mai 2015, abgelehnt. Die Klagepartei teilte mit Schreiben vom 10. November 2015 mit, dass sich der Kläger immer noch in der Bundesrepublik Deutschland befinde. Die Überstellungsfrist sei damit abgelaufen. Auf mündliche Verhandlung werde verzichtet. Die Beklagte hat mit genereller Prozesserklärung vom 2. Februar 2016 auf mündliche Verhandlung verzichtet. Eine Äußerung der Beklagten erfolgte nicht. Bezüglich weiterer Einzelheiten wird auf die Gerichts- und vorgelegten Behördenakten Bezug genommen. Entscheidungsgründe Die Klage, die im Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entschieden werden konnte (§ 101 Abs. 2 VwGO), ist zulässig und begründet. Der angefochtene Bescheid des Bundesamtes vom ... Februar 2015 erweist sich im maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (§ 77 Abs. 1 Satz 2 AsylG) als rechtswidrig und den Kläger in seinen Rechten verletzend (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Die Ablehnung des Asylantrags als unzulässig in Ziffer 1. des angefochtenen Bescheides ist mit Ablauf der in Art. 29 Abs. 1 Dublin-III-VO geregelten Überstellungsfrist wegen des damit verbundenen Übergangs der Zuständigkeit auf den ersuchten Mitgliedstaat (Art. 29 Abs. 2 Dublin-III-VO) rechtswidrig geworden. Die nach der Dublin-III-VO einzuhaltende Überstellungsfrist beträgt sechs Monate (Art. 29 Abs. 1 Satz 1 Dublin-III-VO). Sie begann spätestens mit der Zustellung des ablehnenden Beschlusses im Eilverfahren (M 5 S 15.50261) an das Bundesamt am 13. Mai 2015 und endete sechs Monate später, ohne dass der Kläger nach Italien abgeschoben wurde. Damit endete gem. Art. 29 Abs. 2 Satz 1 Dublin-III-VO aber auch die Zuständigkeit Italiens und die Zuständigkeit für den Asylantrag ging auf die Beklagte über mit der Folge, dass der Asylantrag des Klägers nicht mehr nach § 27 a AsylG wegen Unzuständigkeit der Beklagten unzulässig ist. Zwar dienen die Fristbestimmungen der Dublin-III-VO einer zeitnahen Feststellung des zuständigen Mitgliedstaats und einer zügigen Überstellung an diesen, ohne aber den Klägern einen Anspruch auf die Prüfung des Asylantrags durch einen bestimmten Mitgliedstaat zu gewähren. Die Bestimmungen der Dublin-II-VO und Dublin-III-VO richten sich als zwischenstaatliche Regelungen vorrangig an den Mitgliedstaat und begründen keine subjektiven Rechte der Asylbewerber (EuGH, U.v. 14.11.2013 - C-4/11 juris; U.v. 10.12.2013 - C-394/12 - juris). Sie begründen grundsätzlich kein subjektives Recht auf Prüfung des Asylantrags in der Bundesrepublik Deutschland wegen Ablaufs der Überstellungsfrist (OVG SH, B.v. 24.2.2015 - 2 LA 15/15 - juris m. w. N.). Wenn allerdings - wie hier - wegen Ablaufs der Überstellungsfrist allein die Zuständigkeit der Beklagten bleibt, kann der Anspruch auf Durchführung des Asylverfahrens als notwendiger Bestandteil des materiellen Asylanspruchs gegenüber dem dann zuständigen Staat geltend gemacht werden. Der Kläger ist durch die Aufrechterhaltung der rechtswidrig gewordenen Regelung unter Ziffer 1 des angegriffenen Bescheids in seinem subjektiven Recht auf ordnungsgemäße Prüfung seines Asylbegehrens in der zuständig gewordenen Bundesrepublik Deutschland verletzt (Art. 3 Abs. 1 Satz 1 Dublin III-VO; Art. 16 a Abs. 1 GG; vgl. auch den 5. Erwägungsgrund der VO Dublin III; Abwehrmöglichkeit des Problems „Refugee in orbit“). In der vorliegenden Konstellation also, in der die Bundesrepublik Deutschland nach Art. 29 Abs. 2 Satz 1 Dublin III-VO ausschließlich zuständig geworden ist und eine Überstellung in den anderen Mitglied- oder Vertragsstaat nicht (mehr) möglich ist, liegen die Voraussetzungen für die Ablehnung des Antrags nicht mehr vor. Ein Anspruch auf Durchführung des Asylverfahrens durch die Bundesrepublik Deutschland ist deshalb zu bejahen, weil dem Zuständigkeitssystem ein durchsetzbares Recht der Antragsteller zugrunde liegt, dass die Anträge jedenfalls von einem Mitglied- oder Vertragsstaat zeitnah geprüft werden (VG München, U.v. 4.8.2015 - M 17 K 14.50728; U.v. 16.2.2015 - M 18 K 14.50359; U.v. 22.1.2015 - M 1 K 14.50078; U.v. 4.11.2014 - M 10 K 13.306; U.v. 7.11.2014 - M 21 K 14.30241; B.v. 3.3.2015 - M 12 K 14.50270; VGH BW, U.v. 29.4.2015 - A 11 S 121/15 - juris Rn. 32). Für die Rechtsverletzung kommt es daher nicht darauf an, ob der Fristablauf für den Kläger nunmehr ein subjektives Recht auf Durchführung des Asylverfahrens in Deutschland begründet. Durch den Fristablauf wird das Verfahren gleichsam in den Zustand zurückversetzt, in dem es sich bei Antragstellung in Deutschland befunden hat. Damit lebt die Pflicht der Beklagten zur Behandlung des Asylantrags wieder auf. Es geht im Ergebnis nicht um eine unionsrechtlich determinierte Zuständigkeitsbestimmung, der die subjektive Komponente fehlt, sondern um die ordnungsgemäße Durchführung des Verfahrens im innerstaatlichen Bereich (vgl. VG Hannover, U.v. 22.4.2014 - 1 A 9674/14 - juris). Aus der zu Art. 17 Abs. 1 der Dublin-II-VO ergangenen Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts (U.v. 27.10.2015 - 1 C 32.14) folgt für den vorliegenden Fall soweit ersichtlich nichts anderes. Für die Rechtmäßigkeit der Abschiebungsandrohung nach Spanien ist auch keine andere Rechtsgrundlage ersichtlich. Der Bescheid des Bundesamtes kann auch nicht durch Umdeutung nach § 47 VwVfG als Entscheidung über einen Zweitantrag nach § 71 a AsylG aufrechterhalten werden - wie dies bisher von der Beklagten in zahlreichen Verfahren nach Ablauf der sechsmonatigen Überstellungsfrist vertreten wurde -, weil die Voraussetzungen hierfür nicht gegeben sind. Insoweit wird auf den Beschluss des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg vom 19. Januar 2015 (A 11 S 2508/14 - juris) und den Beschluss des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom 9. Februar 2015 (13a ZB 14.50081 - juris) Bezug genommen. Die Abschiebungsanordnung gem. § 34 a AsylG in Ziffer 2 des streitgegenständlichen Bescheids ist mit Ablauf der Überstellungsfrist ebenfalls rechtswidrig geworden und der streitgegenständliche Bescheid somit aufzuheben. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO, § 83b AsylG. Die Regelung der vorläufigen Vollstreckbarkeit ergibt sich aus § 167 Abs. 2 VwGO i. V. m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.