Ideologie und politische Beteiligung in der Bundesrepublik

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Petra Bauer
Ideologie und politische Beteiligung
in der Bundesrepublik Deutschland
Beitdige zur sozialwissenschaftlichen Forschung
Band 123
Petra Bauer
Ideologie und
politische Beteiligung
in der Bundesrepublik
Deu tschland
Eine empirische Untersuchung politischer
Oberzeugungssysteme
Westdeutscher Verlag
Aile Rechte vorbehalten
© 1993 Westdeutscher Verlag GmbH, Opladen
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Umschlaggestaltung: Christine Niisser, Wiesbaden
Gedruckt auf saurefreiem Papier
ISBN-13: 978-3-531-12482-7
e-ISBN: 978-3-322-85087-4
DOl: 10.1007/978-3-322-85087-4
INHALT
VORWORT
5
I
THEORETISCHB ANSXTZE
UND
DATENGRQNDLAGE
o.
EINLEITtlNG
7
1.
POLITISCHE IDEOLOGIE: EIN UBERBLICK
9
2.
DAS THEORETISCHE KONZEPT POLITISCHER
UBERZEUGUNGSSYSTEME
11
2.1.
Die Struktur poli tischer Uberz,eugungssysteme
11
2.2.
Funktionen und Determinanten ideologischer Denkweise
Inhalte politischer Uberzeugungssysteme
14
2.3.
2.4.
Operationalisierung und Messung politi scher
21
17
Uberzeugungssyteme
2.4.1.
Die aktive Verwendung ideologischer Konzepte
21
2.4.2.
Die passive
24
2.4.3.
Die Stufen ideologischer Konzeptualisierung
25
2.4.4.
Schulbildung und politische Motivation als
Determinanten politischer Uberzeugungssysteme
27
3.
POLITISCHE PARTIZIPATION: EIN UBERBLICK
29
3.1.
Vorbemerkung
3.2.
Demokratietheoretische
29
32
Verwendung ideologischer Konzepte
Positionen
3.3.
Was ist politische Partizipation?
37
3.3.1.
Die Dimensionalitat politischer Partizipation
39
3.4.
Die Political Action-Studie
41
3.4.1.
Operationalisierung verschiedener Formen politischer
3.5.
Partizipation
42
Politische Partizipation und politische Ideologie
43
2
4.
BESCHREIBUNG DER DATENGRUNDLAGE
47
4.1.
Qualitatives Panel
49
4.1.1.
Stichprobeneffekte
52
II
IDEOLOGISCHE UBERZEUGQNGSSYSTEME: ELEMENTE UND STRUKTUREN
5.
POLITISCHE FREIHEIT UND POLITISCHE GLEICHHEIT
56
5.1.
Was ist Freiheit?
60
5.2.
Empirische Befunde der Rezeption des Freiheitsund Gleichheitsbegriffs
62
5.2.1.
Freiheit
62
5.2.2.
Gleichheit
69
5.2.3.
Was solI sein? - Was ist?
Freiheit und Gleichheit als Ideale eines demokratischen Systems und deren Verwirklichung in der
Bundesrepublik Deutschland
84
6.
DEMOKRATIEZUFRIEDENHEIT UND SYSTEMAKZEPTANZ
89
6.1.
Empirische Befunde zum Demokratieverstandnis
97
6.2.
Elemente einer guten Demokratie
6.2.1.
Die Bedeutung von Wahlen
108
6.3.
Aspekte politi scher Sozialisation
113
6.3.1
Die Jugendzeit der Befragten:
Der Versuch einer Kohortenbildung
6.3.2
6.4.
99
117
Die Einschatzung der politischen Einstellung der
heutigen Jugend aus dem Blickwinkel dar Befragten
123
Zusammenfassung
132
3
III
WERTORIENTIERQNGEN. IDEOLQGIE UNO PQLITISCHE PARTIZIPATION
7.
THEORIE UNO EMPIRIE GESELLSCHAFTLICHEN WERTEWANDELS
133
7.1.
134
136
7.4.2.
7.4.3.
Zum Wertbegriff
wertewandel a la Inglehart
Die beiden Ausgangshypothesen der
Inglehartschen Wertewandeltheorie
Der Materialismus/Postmaterialismus-Index
Determinanten postmaterialistischer Werthaltungen
Generationen-, Perioden- oder Lebenszykluseffekt?
Zur Dimensionalitat von Wertorientierungen:
alternative Ansatze der Wertewandelforschung
Versuch einer Weltbildanalyse von Postmaterialisten
und Materialisten
Die Wahrnehmung politischer Probleme in der
Bundesrepublik Deutschland
Politische Gewalt: ein diffuser Begriff?
Politische Werte und Demokratie
161
167
8.
DETERMINANTEN POLITI SCHER PARTIZIPATION
173
8.1.
Konventionelle und unkonventionelle Partizipation
sowie Einstellung zu staatlicher Repression
Skalenkonstruktion
Empirische Befunde
Wertorientierungen und Ideologie als zentrale
BestimmungsgroBen politischer Partizipation
Wertorientierungen, Ideologie und Repressionspotential
7.2.
7.2.1.
7.2.2.
7.3.
7.3.1.
7.3.2.
7.4.
7.4.1.
8.1.1.
8.2.
8.2.1.
8.2.2.
9.
POLITISCHE UBERZEUGUNGSSYSTEME UNO POLITISCHE
BETEILIGUNG: ZUSAMMENPASSUNG UNO AUSBLICK
ANHANG: Gesprachsleitfaden der qualitativen Studie
LlTERATUR
138
141
142
142
146
155
156
174
174
178
186
194
197
205
212
VORWORT
Daniel Bell hat 1973
in seinem
Buch
tiber die 'Postindustrielle
Gesellschaft' die politische Partizipation als eines der 'axialen
Prinzipien' der Strukturierung dieses sich in der Entwicklung befindlichen Gesellschaftstypus bezeichnet. Wie immer man zum theoretischen und analytischen status dieser Gesellschaftsbetrachtung
stehen mag,
fast
zwanzig Jahre nach dem Entstehen des genannten
Buches hat sich auch empirisch bestatigt, dan Partizipation einer
der Brennpunkte des zeitgenossischen politischen Diskurses in den
westlichen Demokratien ist.
Die vorliegende Arbeit versucht,
in ihrer Verbindung qualifizie-
render und quantifizierender Betrachtungsweisen dem Wissen urn die
Dimensionen und Hintergrtinde politi scher Beteiligung
Gesichtspunkte hinzuzuftigen.
Arbeit
einige neue
Es liegt in der Natur der in dieser
hauptsachlich verwendeten Daten,
dan viele Beztige zu der
international vergleichenden Untersuchung hergestellt werden, die
in den siebziger Jahren erstmals die Einstellungen auch zu direkten
Formen der politischen Beteiligung in den
Political Action-Studie (Barnes,
verpflichtet
Kaase
ist die Verfasserin der
Blick
et al.
nahm:
1979).
Zu
die
Dank
deutschen Wissenschaftler-
gruppe (Klaus R. Allerbeck, Max Kaase,
Hans-Dieter Klingemann)
fur deren Bereitschaft, die bis zu diesem Zeitpunkt noch nicht
ausgewerteten Daten des qualitativen
Panels
des deutschen
Studienteils
einschlienlich der
Befragungsvolltexte ftir die
maschinenlesbaren aufbereiteten
vorliegende
Arbeit zur Verftigung zu
stellen.
Dank gebtihrt vor allem
auch dem Betreuer
Professor Rudolf Wildenmann,
der
und
dieser
Arbeit,
allen Kolleginnen und Kollegen
Lehrsttihle Politische Wissenschaft I und Politische
schaft
Herrn
Wissen-
und International Vergleichende Sozialforschung der
Uni-
versitat Mannheim ftir ihre Bereitschaft, in Kolloquien und vielen
Einzelgesprachen mit der Verfasserin tiber ihre theoretischen Konzepte und empirischen Analyseergebnisse zu diskutieren.
6
Die Arbeit ist im Rahmen eines Stipendiums nach dem Landesgraduiertenforderungsgesetz (LGFG) Baden-Wurttemberg entstanden. Als
besonders hilfreich hat sich die Bewilligung von Sondermitteln
fur die inhaltsanalytische Codierung einer Reihe von Befragtenangaben sowie fur die Teilnahme an einem internen Arbeitstreffen
der Political Action-Gruppe im Februar 1987 in Santa Barbara,
USA, erwiesen.
I
THEORETISCHE ANSATZE UND DATENGRUNDLAGE
O. EINLElTUNG
Die
These vom "Ende der Ideologie",
fruhen
60er Jahren in den
die in den
westlichen
splten 50er und
demokratischen Industrie-
gesellschaften diskutiert wurde, fuhrte dazu, daB das Forschungsinteresse an ideologischen
Stromungen in Politikwissenschaft und
Soziologie stark belebt wurde (z.B. Shils 1955; Bell 1960; Marcuse
1964;
Aron 1967).
Diese Debatte blieb
jedoch
wegen
geschichtsphilosophisch-makrosoziologischen Ausrichtung
fur
empirische Erforschung von Ideologien weitgehend folgenlos.
ihrer
die
Erst
die bahnbrechende Untersuchung von Philip E.
Converse (1964) zur
"Nature
nahm Anregungen aus
of Belief Systems in
Mass Publics"
dieser Debatte auf und versuchte,
daraus
Gewinn fur die empiri-
sche Forschung zu ziehen.
Die Proklamation des
Behauptungen aus,
Endes der Ideologie ging
daB die
im Kern
von
den
Gesellschaftskritik des Marxismus und
Sozialismus, d.h. jene politische Theorie und Praxis, die auf gesellschaftliche und politische Umgestaltung abziele, ihre pragende Kraft in den westlichen Demokratien verI oren habe, und daB systemgeflhrdende Klassenkonflikte, die auf dem Boden von Klassenkampfideologien entstanden seien,
Mit
diesen
westlichen
Vorstellungen
ist
Gesellschaften in
nicht
meist ein
der
mehr auftreten
wurden.
Selbstverstlndnis der
Art verbunden,
daB in
ihnen
nicht mehr mit grundlegenden, die Menschen auf lange Zeit polarisierenden Problemen zu rechnen sei.
Entscheidende soziale Fragen
seien durch den Wohlfahrtsstaat gelost worden.
Gegen diese
Vor-
stellung wandte sich Lipset:
" ... one wonders whether those intellectuals are not mistaking
the decline of ideology in the domestic politics of western
society with the ending of the class conflict which has sustained domestic controversy. As the abundant evidence on
the voting patterns in the United States and other countries
indicates, the electorate as a whole does not see the end of
domestic class' struggle envisioned by so many intellec-
8
tuals .... The predictions of the end of class politics in
the 'affluent society' ignore the relative character of any
class system." (Lipset 1962: 20).
In dieser "End
schiedlich
of
die
waren und wie wenig
teresse war.
Bereitschaft,
blenden
und
Ideology"-Debatte wird
jeweiligen
Die
inhaltlichen
deutlich,
wie unter-
Ideologieverstandnisse
deren empirische Umsetzung uberhaupt von Inmeisten Kritiker zeigten Heine offensichtliche
die empirische
Bedeutung dieser
sich statt dessen
Hypothese auszu-
semantischer Rechtfertigungen zu
bedienen" (Rejai 1971: 274-275, meine Ubersetzung, P.B.).
Gerade angesichts dieses Umstandes ist es fur eine empirisch ausgerichtete Arbeit unverzichtbar,
ten
Optionen fur
Ideologiekonzept zu vergewissern.
schehen.
sich der theoretisch vorgedach-
einen sinnvollen
analytischen
Umgang mit dem
Das solI im folgenden kurz ge-
9
1. POLITISCHE IDEOLOGIE: EIN tiBERBLICK
In einem allgemeinen Sinne kennzeichnet der Begriff der Ideologie
politische Einstellungsmuster,
oder formalen Merkmalen
lichen
Diskussion haben sich
nutzlich erwiesen:
Systemcharakter
hangenden
und
die
bestimmt
entweder
werden.
nach
inhaltlichen
In der
wissenschaft-
folgende Definitionskriterien
Shils (1955) und Converse (1964)
ideologischer Einstellungsmuster:
aufeinander
bezogenen
Uberzeugungssystems eines Individuums.
als
betonen den
die zusammen-
Elemente des
politischen
Ideologie wird als System
von Meinungen und Uberzeugungen verstanden. Damit werden Koharenz
oder Konsistenz
als Bedingung fur einen Ideenkorpus
damit er zur Ideologie werden kann.
eine
isolierte Idee oder Haltung.
angenommen,
Ideologie ist somit mehr als
Werte,
die unter diesen Ein-
stellungsmustern eine dominierende Position einnehmen, haben eine
integrative Funktion.
der Reichweite
1955,
1968;
Neben
ideologischer
Bell 1960;
Prinzipien bzw.
Werte
der Gesamtgesellschaft
dem
Systemcharakter ist der Aspekt
Einstellungen betont worden (Shils
Converse 1964;
Lipset 1964). Dominante
nehmen Bezug auf viele politische Objekte
oder von
Teilbereichen der Gesellschaft.
die einen hohen
Damit handelt es sich urn Weltanschauungen,
Ver-
bindlichkeitsgrad fur das Individuum besitzen.
teristisch und fur die Zielsetzung
deutung ist
dabei
Besonders charakArbeit von groBer Be-
dieser
als Handlungsimplikation das konsequente Ver-
fOlgen der Ziele, die sich aus den Werten ergeben. Auf diese emotionale Qualitat weisen besonders Bell (1960)
sowie Lane (1962) hin.
Die Stabilit3t der Einstellungsmuster des
Individuums uber Zeit im Gegensatz
weiteres Merkmal von Ideologien.
nach
1964).
Zentralitat
der
z.B.
zu
Meinungen,
ist ein
Der Grad der Stabilitat kann je
Ideologienelemente
variieren
(Converse
Stabilitat kann allerdings auch negativ als Rigiditat und
Dogmatismus
interpretiert
Desweiteren
impliziert
eine
und Sartori (1969)
groBere
Gruppe von
werden (Rokeach 1960;
das
Sartori 1969).
Vorhandensein einer Ideologie,
daB
Individuen die jeweiligen Weltanschau-
ungen teilt; damit haben ideologische Einstellungsmuster Gruppen-
10
charakter (Bell 1960;
Lipset 1964;
Lane 1966).
Die wichtigsten
Trager dieser Wertgemeinschaften und Tradierungsagenten von politischen Ideologien
gen.
sind politische Parteien und soziale Bewegun-
Ein weiteres Kriterium ist die Gerichtetheit von Ideologie,
die Wandel oder auch am status quo orientiert sein kann (Merelman
1969). Mannheim (1969) bezieht sich auf den Verzerrungs- und Vereinfachungscharakter ideologischer Einstellungsmuster
damit deren Realitatsdimension.
der 'Wirklichkeit' abweichen,
Rationalisierung
und betont
Ideologische Aussagen wlirden von
weil sie
nichts anderes
von Interessenpositionen darstellen,
als eine
die einer
Legitimation bedtirfen. In dieser klassischen Konzeption des Ideologiebegriffs gibt es nur eine objektive,
in der Undurchsichtig-
keit der
gesellschaftlichen Verhaltnisse
verankerte Notigung zu
falschem
BewuBtsein.
Seliger
(1975)
Aktionsorientiertheit politi scher
Easton (1965)
und Barnes
hebt
besonders
Ideologien
ab,
Bell
auf
die
(1960),
(1966) betonen die Mobilisierungsfunk-
tion ideologischer Denkweisen.
Diese knappe Vbersicht
unter denen der
veranschaulicht die
Begriff der
zahlreichen Aspekte,
Ideologie zu fassen versucht wurde.
Die Unterschiede ergeben sich vor allem aus der Betonung entweder
inhaltlicher oder formaler Merkmale von Ideologie. Die formale
Definition von Ideologie besitzt den Vorteil,
neutral als
einen Typ
Ideologie inhalts-
von politischem Vberzeugungssystem zu be-
stimmen, dessen Struktur bestimmten Kriterien entspricht (Rokeach
1960;
Converse 1964).
Frage nach dem
untereinander
Mit dieser
Konzeptualisierung
konkurrierender
Aussagen
die
zunachst ausgeklammert.
Solche Fragestellungen bleiben aber auch mit dieser
sierung der empirischen Analyse zuganglich,
zu umgekehrt
wird
Wirklichkeits- oder Wahrheitsgehalt verschiedener
formulieren,
tiberprtifbar werden.
daB sie
Konzeptuali-
ja man konnte gerade-
so tiberhaupt
erst empirisch
Insgesamt erscheint dabei die Art der Unter-
suchung ideologischer Einstellungsmuster,
wie sie schon von Con-
verse in den 60er Jahren vorgeschlagen wurde, einen bewahrten und
tragfahigen
1986).
Zugang
darzustellen
(Klingemann
1979a;
Sainsbury
11
2. DAS THEORETISCHE KONZEPT POLITI SCHER UBERZEUGUNGSSYSTEME
2.1. Die Struktur politischer tlberzeugungssysteme
Mit
dem
theoretischen
Konzept politischer
postuliert Converse (1964:
in den individuellen,
nal worlds"
206), dall es qualitative Unterschiede
auf politische Inhalte bezogenen "ideatio-
gibt und dall
individuellen Verhalten
diese wiederum fur die Unterschiede im
von
Bedeutung
sind.
versucht diese "ideational worlds" unter
ven Struktur
"ideas"
analytisch zu fassen
sind
nach
Uberzeugungssysteme
Converse
Converse' Konzept
dem Aspekt der kogniti-
und
zu unterscheiden.
kognitive,
allgemeine
Unter
politische
Orientierungen zu verstehen, wahrend "attitudes" neben der kognitiven zusatzlich
spezieller
eine
affektive und evaluative
politischer Sachverhalte
beinhalten
Ebene bezuglich
(Converse 1975:
78) •
In
seiner
Definition
politischer Uberzeugungssysteme betont er
deren Strukturcharakter,
indem er die Relation zwischen den ein-
zelnen Ideenelementen heraushebt. "We define a belief system as a
configuration
of
ideas and attitudes
in which the elements are
bound together by some form of constraint or functional interdependence." (Converse 1964: 207). Mit "constraint or functional
interdependence" bezeichnet Converse die Strukturierung von Attituden im
Konzeptes.
Rahmen eines bestimmten sozial oder politisch gepragten
Unter
Attituden einer
'constraint' versteht
Person
gegenuber
man
die Konsistenz von
verschiedenen
Issues.
'Con-
straint' als 'ideologisches' Ordnungskriterium betrachtet aus der
Vielzahl politischer
Issues
nicht
jedes einzelne
Issue quasi-
phanomenologisch fur sich, sondern geht unter dem Aspekt des Ordnens komplizierter und uniiberschaubarer Sachverhalte vor.
Verfahren kann
durchaus
'constraint' stammt
aus
funktionalen
der
Wert
haben.
Informationstheorie und
engem Zusammenhang zum Begriff der Entropie.
systematische Reduktion von Variation.
Dieses
Der Begriff
steht
in
'Constraint' ist die
12
Fur das Zustandekommen funktionaler
Interdependenzen unterschei-
det
psychologischen und sozialen
Converse
zwischen
Quellen (Converse 1964:
straint'
politischer
logischen,
209-213).
Selten bezieht sich der 'con-
Uberzeugungssysteme auf Sachverhalte
rein
logischer Art, wie z.B. der Zusammenhang zwischen Staatseinnahmen
bzw.
-ausgaben und einem ausgeglichenen Staatshaushalt (Converse
1964:
209).
Vielmehr
und wird quasi-Iogisch
basiert er auf psychologischen Ursprungen
begrundet,
oder Einstellungen gegenuber der
stellungen von
Naturgesetze,
sozialer Gerechtigkeit,
beeinflufit wird,
Einbettung
'constraint',
des Individuums
und
in
Quelle des 'constraint' auf
eine
soziale
Umwelt.
duen in der Lage sind,
Da nur wenige Indivi-
logische Uberzeugungssysteme zu schaffen,
eine grofiere Anzahl von Individuen glaubhaft sind,
das Produkt
Der
rekurriert im wesentlichen auf die Schaffung
Verbreitung von Uberzeugungssystemen.
die fur
211). Neben diesen
der von individuellen Motiven
beruht die soziale
'social constraint'
auf Vor-
sozialem Wandel oder auf
verwiesen wird (Converse 1964:
beiden Aspekten des
der
indem auf ubergeordnete Werte
Gesellschaft wie z.B.
dieser
wird
kreativen Synthese den breiten Bevolkerungs-
schichten als eine quasi "naturliche" Einheit (bundles of issues)
vermittelt und als solche angenommen (Converse 1964: 211),
ohne
notwendigerweise die ideologische Dimension zu kennen.
der
Vermittlung basiert lediglich
tionsform,
auf
Diese Art
der einfachsten Informa-
dem "what goes with what". Die wesentlich abstraktere
und komplexere Art der Information uber den Kontext der Zusammenhinge,
dem "what goes with what and why",
erreicht den Grofiteil
der Bevolkerung nicht (Converse 1964: 212).
Die Conversesche
Darstellung des 'social
constraint' bildet die
Grundlage fur die Betrachtung der Elite-Masse Beziehung unter dem
Aspekt kognitiver Fihigkeiten und politi scher
letztgenannte Ursache
oder ,Eli ten,
welche von
die
Motivation.
Diese
impliziert mit Einschrinkung a) eine Elite
politische
Uberzeugungssysteme
produzieren,
Teilen der Bevolkerung rezipiert werden und
qualitativen Unterschied in
den
b) einen
politischen Uberzeugungssytemen
13
der Eliten und
der Bevolkerung in
Converse betrachtet besonders
me,
deren Interdependenzen
1964:
212).
bezug
auf deren Komplexitat.
die politischen tlberzeugungssystesozial determiniert
sind
(Converse
Politische tlberzeugungssysteme werden innerhalb des
theoretischen Konzeptes zunachst nach dem Grad der Interdependenzen
bzw.
1964:
der Hohe
207f.).
ihres 'constraints'
1m
statischen Fall
unterschieden (Converse
bestirnrnrnt
'constraint' nach der Wahrscheinlichkeit,
lage der
Kenntnis
einer bestirnrnten Attitude
Attituden eines Indivuums vorhergesagt
man das AusmaB an
mit der auf der Grundweitere Ideen oder
werden konnen.
In
einer
dynamischen Betrachtungsweise bezieht sich die Interdependenz auf
die Wahrscheinlichkeit, mit der sich Ideenelemente eines tlberzeugungssystems andern,
nachdem sich ein anderes Ideenelement gean-
dert hat. Neben dem AusmaB an 'constraint' arbeitet Converse eine
zweite
Unterscheidungsdimension heraus,
der Ideenelemente betont (Converse 1964:
welche
die Zentralitat
208). Die Ideenelemente
unterscheiden sich entsprechend ihrer relativen Bedeutung fur das
Individuum im Rahmen
traler der
des gesamten tlberzeugungsssystems.
Stellenwert
eines
Je zen-
Ideenelementes fur ein Individuum
innerhalb seines tlberzeugungssystems ist, desto mehr wird die Bereitschaft abnehmen,
dieses zu andern. Hierbei ist fur seine In-
formationskapazitat der
Abstraktionsgrad des oder
der zentralen
Ideenelemente des tiberzeugungssystems von groBer Bedeutung (Converse 1964: 213). Je hoher der Abstraktionsgrad, desto mehr Elemente konnen in
ihrer relativen Konkretheit sinnvoll miteinander
verbunden werden.
Die dritte und letzte Unterscheidungsdimension
fur politische tlberzeugungssysteme ist die Reichweite: der "range
of
belief
systems".
Die
Reichweite
politi scher tlberzeugungs-
systeme bestirnrnt den Grad der Anwendbarkeit
politische Objekte,
d.h.
auf unterschiedliche
die GroBe des Objektbereichs,
auf den
sich Ideen und Attituden eines tlberzeugungssystems beziehen (Converse 1964: 208).
Auf
der Grundlage dieser genannten drei Dimensionen konnen
ver-
schiedene Qualitatsdimensionen politischer tlberzeugungsysteme abgebildet werden.
Converse entwickelte darauf aufbauend eine Hie-
14
An hochster Stelle
rarchie politischer tlberzeugungssysteme.
dieser Hierarchie stehen tlberzeugungssysteme, die eine groBe
Interdependenz und eine groBe Reichweite besitzen; zumindest ein
zentrales abstraktes Element muE vorhanden seine Sind tlberzeugungssysteme durch diese Merkmale gekennzeichnet, so spricht Converse von 'Ideologien'. Ideologien sind damit im strukturellen
Sinn Teilmengen politischer tlberzeugungssysteme. Je weiter man in
dieser Hierarchie nach unten geht, desto 'enger', konkreter und
einfacher wird die Sichtweise eines Individuums (Converse 1964:
213). Am Ende stehen also tlberzeugungssysteme mit geringer Interdependenz, geringer Reichweite und ausschlieBlich konkreten zentralen Elementen. Naturlich ist zu fragen, ob in solchen Fallen
uberhaupt noch
sinnvoll von tlberzeugungssystemen gesprochen
werden kann.
2.2. Funktionen und Determinanten ideo!ogischer Denkweise
"Die Funktion der politischen Ideologie als Handlungsorientierung
verweist auf die dominanten Werte oder Prinzipien ideologischer
Einstellungsmuster und die Implikationen, die sich daraus fur die
wunschenswerte Organisation der Gesellschaft ergeben." (Klingemann 1983: 327f.). Eine ideo!ogische Denkweise hilft politische
Informationen zu verstehen, sie in einen Bezugsrahmen einzuordnen
und zu behalten. Neue Sachverhalte konnen im Kontext gesehen werden und dadurch an zusatzlicher Bedeutung gewinnen (Lane 1962:
353; Converse 1964: 214). Die zentralen Prinzipien der Ideologie
bieten ein implizites Erklarungspotential, das dem Individuum ermoglicht, Einzelfalle als 'pars pro toto' zu sehen (Lane 1962).
Damit ist die ideologische Denkweise ein effizienter Bezugsrahmen
fur Politik. Je mehr ein Individuum informiert ist, desto weniger
Aufwand muB erbracht werden, urn neue Informationen hinzuzuerwerben und zu behalten (Converse 1975: 97). Diese Orientierungsfunktion von Ideologie hilft dem Individuum, politische Sachverhalte
nicht nur als gut oder schlecht zu bewerten. Man ist nicht nur
15
informiert, sondern man weiB auch, was sein sollte und in welche
Richtung sich eine Situation vor dem Hintergrund der eigenen
Werturteile entwickeln sollte (Sapiro 1983: 2). Man weiB, welche
Mittel man wahlen muB, urn bestimmte Ziele zu erreichen und wie
man sein eigenes politisches Handeln legitimieren muB. Dieser
Aspekt ist fur die vorliegende Untersuchung von besonderer Bedeutung, da man annehmen muB, daB Ideologen ein brei teres Wissen
uber ihre Handlungsmoglichkeiten haben und ihr Aktionsrepertoire
bewuBter einsetzen konnen. "Thus, we expect people having high
levels of ideological conceptualization to be politically knowledgeable. And this should be true for knowledge about modes of
political action, too." (Inglehart, Klingemann 1979: 207). AuBerdem hilft die Kritik- und Legitimationsfahigkeit unter Bezugnahme
verfugbarer zentraler Werte oder Prinzipien den Ideologen, andere
Burger fur ihre Ziele zu interessieren und moglicherweise zu mobilisieren. Eine mogliche Diskrepanz zwischen 'Sein' und 'Sollen'
kann eine wesentliche Quelle der politischen Motivation sein
(Inglehart, Klingemann 1979: 207; Klingemann 1983: 328). In
diesem Zusammenhang gewinnt die Frage, welche Faktoren die Ausbildung unterschiedlicher Uberzeugungssysteme beeinflussen, erhebliche Bedeutung. Zwei Determinanten sind fur die Entstehung
verschiedener politischer
Uberzeugungssysteme verantwortlich:
kognitiye Fahigkeiten, insbesondere Abstraktionsfahigkeit, und
politische Motivation (Campbell et al. 1960: 250f.). Das Bildungssystem ist die hauptsachliche Vermittlungsinstanz fur kognitive Fahigkeiten. Die Wissensinhalte, die in den einzelnen Schultypen vermittelt werden, pragen die Art der individuellen Informationsverarbeitung. So liegt die Annahme nahe, daB mit der Zunahme der formalen Bildung die Fahigkeit zu abstraktem und konsistenten Denken und in der Regel auch die Menge an Wissen steigt.
Verschiedene Schultypen eines Schul systems befordern diese individuellen Fahigkeiten in unterschiedlicher Weise, wobei Mechanismen wie Selektion, Entwicklung der intellektuellen Anlagen und
Indoktrination eine entscheidende Rolle spielen. Nach diesem
idealtypisch angedeuteten BildungsprozeB wtirde eine Zunahme an
16
Bildung
auch
die
Chance,
ein ideologisches tiberzeugungssystem
auszubilden, erhehen (Roller 1983: 12).
Die politische Motivation bestimmt den Grad der Beschaftigung mit
Politik.
Mit
der Zunahme an politischem Interesse ist auch eine
Zunahme an Kenntnis politischer Inhalte und ein koharenteres, facettenreicheres und informationshaltigeres politisches BewuBtsein
zu
erwarten.
Unter
mittelfristig bis langfristiger Perspektive
kann man politisches
Interesse
oder
politische
Motivation als
eine relativ stabile individuelle Pradisposition auffassen.
Beiden Determinanten, den kognitiven Fahigkeiten und dem Grad der
politischen
Motiviertheit,
schrieben werden.
Je
kann
ein unabhangiger EinfluB zuge-
nach spezifischer Unterscheidungsdimension
politischer tiberzeugungssysteme kommt
unterschiedliches Gewicht zu.
nur interdependent
und weitreichend
Organisation Ergebnis
der
den
beiden
Variablen ein
"SolI ein tiberzeugungssystem nicht
bewuBten
sein,
sondern
Anwendung
solI
diese
eines abstrakten
MaBstabs (Wissen urn "why") sein, dann sind kognitive Kompetenzen,
die
Fahigkeit zum
abstrakten
Denken,
von
groBer
Bedeutung."
(Roller 1983: 13). Ein hoher 'constraint' kann namlich auch durch
bloBes Anlernen politischer Inhalte - indem man z.B. eine politische Diskussion aufmerksam
verfolgt
sowie das Wissen liber Zu-
sammenhange zwischen diesen erreicht werden.
Doch diese Interde-
pendenz basiert nur auf dem "what goes with what".
In diesem Zusammenhang ist
tig,
wie z.B.
die Bedeutung von Bezugsgruppen wich-
den politischen Parteien, deren Positionen leicht
libernommen werden kennen (Converse 1975: 106). Trotz hoher Interdependenz waren solche
tiberzeugungssysteme
zu bezeichnen,
abstrakten
libernommen
konnen.
da die
wurden
und
nicht
Prinzipien
eigenstandig
Gerade dieses Kriterium der bewuBten
groBer Wichtigkeit,
wenn
man
nicht als Ideologien
ideologische
nur unreflektiert
angewendet
Anwendung
werden
ist von
tiberzeugungssysteme
definiert: "Conscious application of such concepts by individuals
17
leads to a relatively high degree of consistency and is a characteristic of an ideological mode of thought. It must be borne in
mind, however, that consistency can be produced by forces other
than consciously held ideologies." (Inglehart, Klingemann 1979:
206). Zwar produziert das Individuum konsistente Aussagen, es
kann aber die Frage nach dem Prinzip, das die Konsistenz bewirkt
hat, nicht beantworten. Kognitive Begrenzungen (limitations)
lassen sich bei der Ausbildung ideologischer Oberzeugungssysteme
nur schwerlich uberwinden (Campbell et al. 1960: 253ff.). Fur
eine dynamische Makroperspektive liegt die Annahme nahe, daB nur
eine Zunahme des Bildungsniveaus zur veranderung politi scher
Oberzeugungssysteme im Sinne einer Oberwindung bestehender struktureller Grenzen fuhren kann. Damit bleiben solche Aspekte politischer Oberzeugungssysteme, die von kognitiven Fahigkeiten bestimmt werden, zumindest kurzfristig konstant (Campbell et al.
1960: 225). Politische Motivation ist im Gegensatz dazu stark von
situationalen Faktoren bestimmti somit ist ihre potentielle
Variabilitat groBer (Campbell et al. 1960: 225).
2.3. Inhalte politischer Oberzeugungssysteme
Von der Frage, wie politische Information innerhalb eines Uberzeugungssystems organisiert ist und wird, d.h. der strukturellen
Dimension politi scher Oberzeugungssysteme, muB eine inhaltliche
Dimension unterschieden werden. Besondere Bedeutung kommt dabei
dem formalen Abstraktionsgrad des im Mittelpunkt stehenden inhaltlichen Ideenelementes zu. "Zentrale inhaltliche MaBstabe mit
demselben Abstraktionsgrad sind deshalb als funktional aquivalent
zu betrachten." (Roller 1983: 10). Diese inhaltlichen MaBstabe
sind als kulturelle Produkte 'uberliefert' und haben sich in der
politischen Geschichte der jeweiligen Nation herausgebildet.
Das Verwenden ideologischer Etiketten zur empirischen Erforschung
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