chneider.indd 70 70 Kapitel 4 · EKG-Diagnostik im Notfall EKG-Diagnostik im Notfall 4.1 EKG im Rettungsdienst Aufgaben des EKG im RD: ▬ Überwachung der Herzfrequenz. ▬ Differenzialdiagnostik der Herzrhythmusstörungen. ▬ Differenzialdiagnostik der Formen des Herz-Kreislauf-Stillstandes. ▬ Unterstützung der Herzinfarkt- und Lungenemboliediagnostik. Das EKG ersetzt auf keinen Fall ▬ die wiederkehrende Puls- und Blutdruckkontrolle sowie ▬ die gezielte (kardiale) Anamnese und klinische Diagnostik. ! Cave – Das EKG gibt keine Auskunft über die Herzmuskelkontraktion, sondern nur über elektrische Phänomene! Ein unauffälliges EKG-Bild mit eingeschränkter oder fehlender Auswurfleistung ist möglich. Viele Herzerkrankungen zeigen keine oder nur diskrete EKGVeränderungen. Andererseits können auch extrakardiale Erkrankungen oder elektrische Störimpulse oder technische Fehler zu erheblichen EKG-Veränderungen führen, sodass die EKG-Befundung nur in der Zusammenschau mit der Klinik des Patienten erfolgen darf. Auch der Umfang der Kenntnisse und Fähigkeiten des einzelnen Notarztes limitieren die EKG-Diagnostik. Jedoch sollte jeder Notarzt in der Lage sein, die in diesem Büchlein beschriebene Einordnung und Therapie der PeriarrestArrhythmien sowie die EKG-gestützte Infarktdiagnostik bei akutem Koronarsyndrom vorzunehmen. 4.2 Grundlagen der EKG-Ableitung Das EKG misst jeweils zwischen 2 Punkten am menschlichen Körper elektrische Potenzialdifferenz und macht sie im Verlauf optisch sichtbar. Diese Spannung verändert sich durch den Stromfluss am Herzen. 18.07.2010 15:49:25 4.2 · Grundlagen der EKG-Ableitung 71 4 Begriffe. Eine Ableitung bezeichnet eine EKG-Kurve, die zwischen zwei genau definierten Polen aufgezeichnet wurde. Wenn jeder Pol einer Einzelelektrode entspricht, spricht man von bipolaren Ableitungen. Ein »virtueller« EKG-Pol kann auch durch Zusammenschaltung (elektrisches Verbinden) mehrerer Elektroden erzeugt werden, sodass jeweils nur der Gegenpol durch eine einzelne Elektrode dargestellt wird → (pseudo-) unipolare Ableitungen. Eine vollständige Beurteilung des Reizleitungssystems und der myokardialen Ströme erfordert mind. 12 Ableitungen (je 6 in Frontal- und Transversalebene, jeweils in ca. 30°-Abständen). Wenn von einem 3-Pol-, 4-Pol-, 5-Pol- oder 10-Pol-EKG gesprochen wird, ist mit der jeweiligen Ziffer die Anzahl der aufzubringenden Elektroden bzw. die Anzahl der anzuschließenden EKG-Kabel gemeint. »Kanal« steht für die Anzahl gleichzeitig erzeugbarer (anzeigbarer oder ausdruckbarer) Ableitungen; ein 3-Kanal-EKG ermöglicht die Anzeige oder den Ausdruck von 3 zeitgleich aufgezeichneten EKG-Kurven (z. B. untereinander auf einem Blatt bei einem 3-Kanal-Schreiber). Ein 12Kanal-EKG-Gerät kann mit 10 aufgebrachten Elektroden (= 10-polig) die 12 Standardableitungen erzeugen; die im RD gebräuchlichen 12-KanalEKG-Geräte haben meist nur einen 1- oder 3-Kanal-Schreiber. In der Klinik werden oft 6-Kanal-Schreiber verwendet. Anlegen und Ausdrucken des EKG. Zur 3-Pol-Monitorableitung für die Frequenzüberwachung und grobe Rhythmusdiagnostik können die EKG-Elektroden nahezu beliebig auf der Haut angebracht werden. Damit ausreichend große Ausschläge und wenig Störungen entstehen, sollten sie das Herz einrahmen und über muskelarmen Arealen aufgeklebt werden (z. B. rechte Schulter/rot, linke Schulter/gelb, linke Hüfte/grün → modifizierte Einthoven-Ableitungen). Das 12-Kanal-EKG ist ein Qualitäts-EKG! Schon geringe Fehler bei der Registrierung können zu Informationsverlust oder gar Fehldiagnosen führen. Daher gilt: ▬ Die vorgeschriebenen Elektrodenpositionen (⊡ Tab. 4.1–4.3, ⊡ Abb. 4.1) sind exakt einzuhalten (liegender Patient), damit die EKG-Kurven in allen Ableitungen im Hinblick auf Zeitwerte, Ausschlaghöhen und Formen korrekt beurteilbar und mit vorherigen oder späteren Aufzeichnungen zur Verlaufskontrolle vergleichbar sind (z. B. in der Klinik). Zwingend notwendige Abweichungen von Standardpositionen sind auf dem Ausdruck zu dokumentieren (z. B. Extremitätenamputation, große linke Brust). Auch vertauschte Kabel (Verpolung) erzeugen Fehldiagnosen! ▬ Die Verbindung über die Elektroden muss gut leitend sein, da durch eine elektrische Dämpfung z. B. Hypertrophiezeichen oder ST-Hebun- Schneider.indd 71 18.07.2010 15:49:25 chneider.indd 72 72 ▬ Kapitel 4 · EKG-Diagnostik im Notfall gen unterschätzt werden können (keine alten oder offen gelagerten Elektroden verwenden, Elektroden nur auf rasierte oder unbehaarte Haut aufbringen, bei Saugelektroden und bei sehr trockener Haut geeignetes Kontaktmedium verwenden). Äußere Einflüsse auf die EKG-Kurve (Artefakte) müssen vermieden und – wenn doch vorhanden – als solche erkannt werden ( Kap. 4.4): Ein verwertbares EKG erfordert einen ruhig liegenden, nicht frieren- ⊡ Tab. 4.1. Bipolare Extremitätenableitungen nach Einthoven (nach DIN EN 60601-2-51, Code 1) Elektrodenfarbe (Kabel) Elektrodenbezeichnung Elektroden-positionen Verschaltung der Ableitungen rot R Rechter Arm (Nähe Handgelenk) − Abl. I = L⊕ – R⊝ − Abl. II = F⊕ – R⊝ − Abl. III = F⊕ – L⊝ gelb L Linker Arm (Nähe Handgelenk) grün F Fuß (linkes Bein, Nähe Sprunggelenk) schwarz N Fuß (rechtes Bein, Nähe Sprunggelenk) Für die Erzeugung einer Einthoven-Ableitung kann jeweils die 3. Elektrode als Masse (Bezugselektrode) für eine Entstörschaltung dienen (3-Pol-Ableitung). Zur synchronen Registrierung aller 3 Einthoven-Ableitungen oder der Goldberger-Ableitungen ist eine 4. Elektrode erforderlich (N=neutral, 4-Pol-Ableitung). ⊡ Tab. 4.2. Gewichtete (pseudo-) unipolare Extremitätenableitungen nach Goldberger (nach DIN EN 60601-2-51, Code 1) Ableitung Differente Elektrode (⊕-Pol) Indifferente Elektrode (⊝-Pol) aVR R Zusammenschaltung von L und F aVL L Zusammenschaltung von R und F aVF F Zusammenschaltung von R und L Farben und Positionen der Elektroden (R, L, F, N) wie bei den Einthoven-Ableitungen (⊡ Tab. 4.1). Die N-Elektrode ist als Masse (Bezugselektrode) zwingend erforderlich (aV= »augmented voltage«; Bezeichnung historisch). 18.07.2010 15:49:25 4.2 · Grundlagen der EKG-Ableitung ▬ ▬ ▬ 73 4 den Patienten (z. B. möglichst warmer Raum, Zudecken, Beruhigung, ggf. Analgesie). Der Patient soll während der EKG-Registrierung nicht von anderen Personen berührt werden. Störquellen in der Umgebung beseitigen (z. B. stärkere Stromquellen, Vibrationen). Bestimmte Filter müssen ggf. deaktiviert werden (oft voreingestellt). Immer nur eine Elektrodensorte gleichzeitig verwenden. Auf dem Ausdruck müssen immer eine korrekte, rechteckige Eichzacke oder die Amplitudeneinstellung und die Schreibgeschwindigkeit erscheinen (sonst keine Kurvenvermessung möglich). Außerdem Beschriftung mit Patientendaten. ⊡ Tab. 4.3. Unipolare Brustwandableitungen nach Wilson (nach DIN EN 60601-2-51, Code 1) Elektrodenfarbe (Kabel) Elektrodenbezeichnung Elektrodenpositionen Verschaltung der Ableitungen rot/weiß C1 4. ICR parasternal rechts gelb/weiß C2 4. ICR parasternal links grün/weiß C3 genau in der Mitte zwischen C2 und C4 braun/weiß C4 5. ICR links in der MCL schwarz/weiß C5 Höhe von C4 in der linken VAL Die Brustwandelektroden C1–C6 stellen jeweils die differenten Elektroden dar (⊕-Pole). Die indifferente Elektrode (⊝-Pol) ist jeweils für alle Brustwandableitungen gleich: Zusammenschaltung der Extremitätenelektroden R, L und F (»konstruierter Nullpunkt in der Thoraxmitte« = »central terminal« nach Wilson). Die Ableitungen, die sich je nach Brustwandelektrode aus C1–C6 ergeben, heißen V1–V6. violett/weiß C6 Höhe von C4 in der linken MAL ICR = Interkostalraum, MCL = Medioklavikularlinie, VAL = vordere Axillarlinie, MAL = mittlere Axillarlinie. Man muss beim Anlegen des EKG darauf achten, dass die rot, gelb und grün gefärbten Elektroden R, L und F nicht mit C1, C2 und C3 verwechselt werden (oft durch Kabellänge oder Verbindung erkennbar). Die N-Elektrode ist als Masse (Bezugselektrode) zwingend erforderlich. Für eine spezielle Infarktdiagnostik können weitere Ableitungen notwendig werden, z. B. erhält man die rechtspräkordialen Ableitungen V3r und V4r, wenn man die Elektrodenpositionen C3 und C4 auf die rechte Thoraxseite spiegelt (C4r: 5. ICR rechts in MCL; C3r: genau zwischen C1 und C4r). Die Ableitungen V7–V9 erhält man, indem man C4–C6 in Höhe der ursprünglichen C4-Elektrode linksthorakal in der hinteren Axillarlinie (V7), in der mittleren Skapularlinie (V8) und paravertebral (V9) anlegt. Da das EKG-Gerät nicht erkennen kann, wo die Elektroden angelegt wurden, müssen diese besonderen Ableitungen handschriftlich auf dem Ausdruck gekennzeichnet werden! Schneider.indd 73 18.07.2010 15:49:26 chneider.indd 74 74 Kapitel 4 · EKG-Diagnostik im Notfall ⎧ ⎪ ⎨ ⎪ ⎩ ! Cave – Vor der erweiterten EKG-Ableitung (10-Pol-EKG) und -Interpretation steht die Sicherung und Aufrechterhaltung der Vitalfunktionen (Basischeck, Basismaßnahmen, Kap. 2). C1−C6 R L N F ⊡ Abb. 4.1. Elektrodenposition und Verschaltung der Brustwandableitungen nach Wilson 18.07.2010 15:49:26 4.3 · Notfall-EKG-Interpretation 75 4 Notfall-EKG-Interpretation: Rhythmusanalyse 4.3 Die Nomenklatur sowie relevante Abschnitte des EKG-Signals sind anhand eines typischen QRS-Komplexes in ⊡ Abb. 4.2. dargestellt (entspr. etwa der Form in Ableitung II). Wichtige EKG-Normgrößen zeigt ⊡ Tab. 4.4. Die Befundung der EKG-Morphologie wird ab Kap. 4.11 ausführlich dargestellt. Für die Analyse des Herzrhythmus im Notfall ist nur eine begrenzte Zahl von Informationen relevant. ( Übersicht). Fragen für die schnelle und systematische Rhythmusdiagnose ▬ ▬ ▬ ▬ ▬ Unabhängig vom EKG-Bild: Patient stabil oder instabil? (Akuter Handlungsbedarf?) Herzfrequenz (QRS-Komplexe)? (Unabhängig von der Pulsfrequenz!) QRS-Komplexe regelmäßig oder unregelmäßig? QRS-Komplex schmal oder breit (breit ≥0,12 s)? Vorhofaktivität: P-Wellen? Zusammenhang mit QRS-Komplexen? ⊡ Tab. 4.4. EKG-Normgrößen EKG-Abschnitt Dauer [s] Amplitude [mV] P-Welle 0,05–0,10 0,10–0,25 PQ-Zeit (= Beginn P bis Beginn Q) HF 60/min: HF 80/min: HF 100/min: 0,12–0,20 0,12–0,18 0,12–0,16 – Q-Zacke <0,02 in V2/V3, sonst <0,04 <1/4 R (in derselben Abl.) QRS-Komplex 0,06–0,09 0,6–1,6 (Extremitäten) 0,8–2,6 (Brustwand) T-Welle – 1/8–2/3 R bzw. S (in derselben Ableitung) QT-Strecke (= Beginn Q bis Ende T) HF 60/min: ∅ 0,38 (max. 0,44) HF 80/min: ∅ 0,34 (max. 0,39) HF 100/min: ∅ 0.30 (max. 0,35) – Ausmessen von Zeiten abhängig von der Ablenkgeschwindigkeit (Papiervorschub): Ablenkgeschwindigkeit 25 mm/s: 1 mm entspr. genau 0,04 s. Ablenkgeschwindigkeit 50 mm/s: 1 mm entspr. genau 0,02 s. Ausmessen von Ausschlaghöhen abhängig von der Amplitudeneinstellung (Eichzacke): Bei einer Eichzackenhöhe von 1 cm (Amplitudeneinstellung 1 cm/mV) entspricht ein Ausschlag von 1 mm genau 0,1 mV. Ausschläge von P, Q, R, S, T und ST-Streckenveränderungen ( Kap. 4.13) werden als Referenz auf die Verbindung der PQ-Strecken als »Nulllinie« bezogen. Schneider.indd 75 18.07.2010 15:49:26 chneider.indd 76 U-Welle inkonstant T-Welle ST-Strecke QRS-Gruppe PQ-Strecke P-Welle Kapitel 4 · EKG-Diagnostik im Notfall Eichung 76 R 1 mV T P (U) Q S < 0,1 s PQ-Intervall < 0,2 s < 0,1 s QT-Intervall frequenzabhängig bei 70/min 0,32-0,39 s ⊡ Abb. 4.2. Nomenklatur und Zeitdauern der Abschnitte des EKG-Signals 4.3.1 Patient stabil oder instabil? ! Cave – »Behandle den Patienten, nicht den Monitor.« Der klinische Zustand des Patienten lässt sich in 3 Gruppen einteilen. Diese Einteilung ist für die Behandlungsdringlichkeit und bei Herzrhythmusstörungen für das Festlegen einer adäquaten Therapie von Bedeutung ( Übersicht). 18.07.2010 15:49:26 4.3 · Notfall-EKG-Interpretation 77 4 I. Apnoe/Schnappatmung/Pulslosigkeit (Herz-Kreislauf-Stillstand) → Sofortige Maßnahmen zur CPR erforderlich ( Kap. 5)! II. Patient in klinisch instabilem Zustand; Zeichen der Instabilität: ▬ Thoraxschmerz ▬ Bewusstseinsstörungen ▬ Akute Herzinsuffizienzzeichen ▬ Blutdruckabfall (systolischer RR <90 mmHg) → Sofortige Behandlung durch NA indiziert. III. Patient in klinisch stabilem Zustand (weder Pulslosigkeit noch Zeichen klinischer Instabilität) → Überwachung, Transport zur Klinik (Expertenhilfe), ggf. Therapie 4.3.2 Herzfrequenz Häufigkeit der QRS-Komplexe pro Minute = Kammerfrequenz (Herzfrequenz; HF). Auch wenn die HF vom EKG-Gerät automatisch bestimmt wird, muss sie anhand der Kurve in jedem Fall orientierend überprüft werden, da die Zählung des EKG-Geräts fehlerhaft sein kann (z. B. Mehrfachzählung aufgesplitterter QRS-Komplexe, Schrittmacherimpulse, hohe T-Wellen, zu niedrige Zählung bei Niedervoltage). Praxistipps Faustregeln zur Bestimmung der Herzfrequenz ▬ ▬ ▬ ▬ Bei Vorschub 25 mm/s und regelmäßigem Rhythmus: HF = 300 : Anzahl der 5-mm-Kästchen von R-Zacke zu R-Zacke. Bei Vorschub 50 mm/s und regelmäßigem Rhythmus: HF = 600 : Anzahl der 5-mm-Kästchen von R-Zacke zu R-Zacke. Bradykardie: <60/min. Tachykardie: >100/min. ! Cave – Herzfrequenz ist nicht Pulsfrequenz! Herzfrequenz – Pulsfrequenz = Pulsdefizit (typisch z. B. bei Vorhofflimmern). 4.3.3 Regelmäßigkeit der QRS-Komplexe Arrhythmie liegt vor bei einer Frequenzvariation >10% (ältere Erwachsene) bis 20% (jüngere Erwachsene). Bei Kindern bis 30% normal! Schneider.indd 77 18.07.2010 15:49:26 chneider.indd 78 78 Kapitel 4 · EKG-Diagnostik im Notfall Arrhythmie bei Sinusrhythmus ist fast immer normal. Eine normale Frequenzvariation tritt (bei manchen Menschen verstärkt) durch Reflexe auf: ▬ Einatmung → verstärkter venöser Rückstrom → HF ↑ (BainbridgeReflex). ▬ Luft anhalten und pressen → HF ↓ (Vagusreizung über Druckrezeptoren). Ggf. gezielte EKG-Registrierung in Ein- und Ausatemphase und in Atemruhe zum Vergleich. DD bei QRS-Unregelmäßigkeit: Vorhofflimmern, Extrasystolen, Pausen bei sinuatrialem Block oder AV-Block. 4.3.4 Breite der QRS-Komplexe Ein schmaler QRS-Komplex (<0,12 s) zeigt eindeutig, dass die Erregung regulär über das Kammerreizleitungssystem verläuft (Erregungsbildung supraventrikulär, oberhalb der His-Bündel-Teilung: Sinusknoten, Vorhof oder AV-Knoten). Differenzialdiagnose eines breiten QRS-Komplexes (≥0,12 s) ▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬ Schenkelblock (bradykard, normofrequent, tachykard oder frequenzabhängig) Ventrikulärer Herzrhythmus (bradykard, normofrequent oder tachykard) Herzschrittmacher (normofrequent oder begrenzt tachykard) Präexzitationssyndrom (WPW; bradykard oder normofrequent: QRS nur gering durch trägen Anstieg verbreitert und PQ-Zeit verkürzt; Verbreiterung bei Tachykardie selten = antidrome atrioventrikuläre ReentryTachykardie) Schwere Hyperkaliämie (weitere Hinweise: überhöhte T-Wellen, evtl. fehlende P-Wellen trotz Sinusrhythmus, Anamnese!), Antiarrhythmika (Klasse Ia) Artefakte (z. B. schnelle, rhythmische Muskelbewegungen, lockere Elektroden) Schrittmachertachykardien, Breitkomplextachykardien bei WPW-Syndrom und schwere Hyperkaliämien sind selten und lassen sich meist anhand der Anamnese abgrenzen. Hauptproblem ist die Unterscheidung ventrikulärer 18.07.2010 15:49:26 4.3 · Notfall-EKG-Interpretation 4 79 Tachykardien (VT) von supraventrikulären Tachykardien mit Aberration (Schenkelblock): ⊡ Abb. 4.3. Für eine VT sprechen ferner: ▬ Bekannte KHK/organische Herzerkrankung, älterer Patient, HF >140/min. ▬ QRS-Komplexe >0,16 s (bei RSB-ähnlichem Bild >0,14 s). Diagnosealgorithmus für eine Breitkomplextachykardie RS-Komplex in mind. einer Brustwandableitung? Nein VT Ja VT Ja VT Ja VT Ja R-zu-S-Intervall >0,1 s in einer Brustwandableitung? Nein AV-Dissoziation* oder Fusionsschläge/Capture Beats**? Nein Typische VT-Morphologie in V1 und V6? Nein Supraventrikuläre Tachykardie mit aberranter Leitung * AV-Dissoziation: langsamer P-Wellen-Grundrhythmus unabhängig von den schnellen QRS-Komplexen; praktisch beweisend, bei ca. 50% der VT vorhanden (bei ca. 40% der VT permanente 1:1-retrograde Vorhoferregung), Erkennen erfordert jedoch Übung. ** Fusionsschläge/»capture beats« (nahezu beweisend, aber selten): Während einer VT können ordnungsgemäße supraventrikuläre Erregungen ausnahmsweise zu einer regulären Überleitung und Erregung der Kammern führen, wenn der AV-Knoten zu diesem Zeitpunkt nicht refraktär ist (»capture beat«, Dressler-Schlag). Bei simultaner Aktivierung der Kammern durch supraventrikulären und ventrikulären Impuls kommt es zum sog. Fusionsschlag. Die resultierenden QRS-Komplexe sind in beiden Fällen im Kontrast zu den übrigen QRS-Komplexen typisch schmal, was den ventrikulären Ursprung der übrigen QRS-Komplexe zeigt. ⊡ Abb. 4.3. Diagnosealgorithmus für eine Breitkomplextachykardie (nach Brugada-Kriterien) Schneider.indd 79 18.07.2010 15:49:26 chneider.indd 80 80 ▬ ▬ ▬ ▬ Kapitel 4 · EKG-Diagnostik im Notfall In allen Brustwandableitungen (V1–V6): – nur negative QRS-Komplexe (QRS-Konkordanz) – nie bei supraventrikulärer Tachykardie. – nur positive QRS-Komplexe (QRS-Konkordanz) – DD: antidrome WPW-Tachykardie (selten). Anderes Schenkelblockbild als das vorbestehende Schenkelblockbild in einem Vor-EKG. Bei linksschenkelblockartigem QRS-Komplex: – Lagetyp zwischen –90° und –180° (»Nord-West-Typ«). – Q-Zacke in V6 – DD: supraventrikuläre Tachykardie bei ausgedehntem lateralem Herzinfarkt. – R in V1/V2 ≥0,04 s – DD: antidrome WPW-Tachykardie (selten). – In V1/V2: Dauer von Beginn QRS bis Fußpunkt der (gekerbten) S-Zacke ≥0,07 s (Nadir-Zeichen). Bei rechtsschenkelblockartigem QRS-Komplex: QS-Muster in V6, Verhältnis R/S <1 in V6; Kaninchenohrzeichen (Rr‘) oder qR in V1. 4.3.5 Vorhofaktivität: P-Wellen? 1. Regelmäßige P-Wellen erkennbar? 2. P-Welle vor jedem QRS-Komplex? 3. QRS-Komplex nach jeder P-Welle? 4. PQ-Zeit konstant normal (<0,2 s)? 5. P-Welle in aVR negativ (oder in den Einthoven-Ableitungen positiv)? Wenn alle 5 Fragen mit Ja beantwortet werden → Sinusrhythmus. DD, wenn Sinusrhythmuskriterien nicht erfüllt werden: ▬ Unregelmäßige, aber gleichförmige P-Wellen → Sinusarrhythmie (z. B. respiratorisch durch Reflexmechanismen bedingt), sinuatrialer Block. ▬ Fehlende P-Wellen, absolute Arrhythmie der meist schmalen QRSKomplexe, evtl. feines Flimmern der Grundlinie → Vorhofflimmern. ▬ Sägezahnartige Grundlinie → Vorhofflattern. ▬ P-Welle in I negativ/in aVR positiv → Verpolung (rot–gelb vertauscht), ektoper Vorhofrhythmus (Erregungsbildung im Vorhof außerhalb des Sinusknotens). ▬ P-Welle in I negativ/in aVR positiv oder fehlend → AV-Knotenrhythmus. ▬ PQ-Zeit verkürzt → Präexzitationssyndrom, bei negativer P-Welle in I, II, III unterer Vorhofrhythmus (oft normal bei Kindern und Jugendlichen). ▬ Spitze P-Wellen/kombinierte P-T-Wellen → Vorhoftachykardie. 18.07.2010 15:49:26 4.4 · Störungen der EKG-Diagnostik ▬ ▬ ▬ 81 4 P-Wellen-Form wechselnd → wandernder Vorhofschrittmacher, SVES. 2 unabhängige P-Wellen, Sternotomienarbe → herztransplantierter Patient mit belassenem Sinusknoten des alten Herzens. Auch an Herzschrittmacher denken (ggf. sehr kleine Spikes bei bipolarer Stimulation). 4.4 Störungen der EKG-Diagnostik Das EKG bietet eine Reihe von Fehlerquellen, die – nicht als solche erkannt – evtl. zu falscher Diagnose und gefährlicher Therapie führen können: 4.4.1 Muskelzittern (⊡ Abb. 4.4) Unregelmäßiges, feines bis grobes Flimmern der EKG-Kurve bei muskulärer Anspannung des Patienten (Unruhe, Kälte), sodass die Vorhofaktivität in Form der P-Wellen oft nicht zu beurteilen ist (DD Vorhofflimmern, Vorhofflattern – absolut regelmäßige QRS-Komplexe schließen ein Vorhofflimmern mit großer Sicherheit aus). Bei starkem Muskelzittern und/oder kleiner R-Amplitude sind evtl. auch die R-Zacken schwer erkennbar (DD Kammerflimmern). Beseitigung: Patienten beruhigen und zur Entspannung auffordern, Kälteschutz, ggf. Analgesie. 4.4.2 Wechselstrom (⊡ Abb. 4.5) Sog. »Brummen« (feines, regelmäßiges Flimmern) der EKG-Linie, das dem normalen Verlauf der EKG-Linie folgt. Je nach Frequenz, Schreibgeschwindigkeit und Schreiber können die sehr schnellen Auf-und-ab-Bewegungen ⊡ Abb. 4.4. Muskelzittern Schneider.indd 81 18.07.2010 15:49:26 chneider.indd 82 82 Kapitel 4 · EKG-Diagnostik im Notfall ⊡ Abb. 4.5. Wechselstrom der Grundlinie einzeln erkennbar sein. Häufig erkennt man wie in ⊡ Abb. 4.5 nur ein schwarzes Band. DD: Vorhofflimmern, bei niedriger R-Zacke auch Kammerflimmern. Ursachen: Nicht abgeschirmte Kabel, Leuchtstoffröhren, leistungsstarke Stromverbraucher in der Nähe. Beseitigung: Standortwechsel, Abschalten entsprechender Geräte, Überprüfen von Kabeln und Kontakten, Überprüfung des EKG-Gerätes durch Fachpersonal. 4.4.3 Lockere Elektroden, Wackelkontakt (⊡ Abb. 4.6) »Wandernde«, »springende«, manchmal abbrechende EKG-Kurve; keine regelmäßige Wiedergabe der QRS-Komplexe. Bei modernen Geräten wird der Fehler z. T. automatisch erkannt und eine unterbrochene oder punktierte Nulllinie dargestellt. DD: Extrasystolen, Kammerflimmern und weitere EKG-Bilder (z. B. ventrikuläre Tachykardie). Ursachen: Mangelhafter Kontakt zwischen EKG-Elektrode und Haut oder Wackelkontakt am EKG-Kabelstecker. Beseitigung: Festkleben der EKG-Elektroden, neue Elektroden verwenden, Überprüfen des EKGSteckers. 4.4.4 Niedervoltage (⊡ Abb. 4.7) Nur sehr kleine EKG-Ausschläge sichtbar. Periphere Niedervoltage: QRS-Amplitude in allen Extremitätenableitungen ≤0,5 mV. Zentrale Niedervoltage: QRS-Amplitude in allen Brustwandableitungen ≤0,7 mV. 18.07.2010 15:49:27 4.4 · Störungen der EKG-Diagnostik 83 4 ⊡ Abb. 4.6. Lockere Elektroden, Wackelkontakt ⊡ Abb. 4.7. Niedervoltage Ursachen einer Niedervoltage ▬ ▬ ▬ ▬ Schneider.indd 83 Myokardial: verminderte elektrische Aktivität bei schwerer Herzerkrankung oder elektrischer Hauptvektor senkrecht zu den Extremitätenableitungen bei Sagittaltyp Perikardial: Perikarderguss, Tamponade Extrakardial: Abschirmung/Widerstandserhöhung durch thorakale Prozesse, (Myx-) Ödeme oder Hauterkrankungen Technisch bedingt: Ausgetrocknete Elektroden, fehlendes Leitmedium bei Saugelektroden, Verkleinerung der EKG-Amplitude durch falsche Geräteeinstellung 18.07.2010 15:49:27 chneider.indd 84 84 Kapitel 4 · EKG-Diagnostik im Notfall ⊡ Abb. 4.8. Falsche Ableitungswahl DD: Im schlimmsten Fall sind die in ⊡ Abb. 4.7 dargestellten EKG-Signale keine kleinen QRS-Komplexe bei Niedervoltage, sondern P-Wellen bei Kammerasystolie! → Puls/Patienten prüfen, Eichzacke setzen bzw. Amplitudeneinstellung kontrollieren, ggf. Haut-Elektroden-Kontakt verbessern. 4.4.5 Falsche Ableitungswahl (⊡ Abb. 4.8) Wenn versucht wird, über die Defi-Paddles abzuleiten, während aber für die Monitordarstellung z. B. eine Extremitätenableitung angewählt ist, kann die Paddle-Ableitung nicht dargestellt werden. Wenn das Ableitungskabel nicht am Patienten angeschlossen oder nicht am Gerät eingesteckt ist, zeigt sich je nach Gerät und externen Störimpulsen eine exakt gerade (!) Nulllinie (⊡ Abb. 4.8), eine gepunktete oder gestrichelte Nulllinie oder ein Störungsbild wie in ⊡ Abb. 4.6. Auch wenn versucht wird, über die Kabel abzuleiten, während die Ableitungswahl noch auf »Defi-Paddles« steht, treten diese Störbilder auf. DD: Asystolie (meist nicht exakt gerade Nulllinie! Pulskontrolle!), Kammerflimmern. 4.5 EKG beim pulslosen Patienten Ursachen, Pathophysiologie und Vorgehen bei Herz-Kreislauf-Stillstand werden ausführlich in Kap. 5 dargestellt. Der fehlenden Auswurfleistung des Herzens bei Herz-Kreislauf-Stillstand können elektrokardiographisch 4 EKG-Rhythmusbilder zugeordnet werden, deren frühestmögliche und regelmäßig gemäß ALS-Algorithmus wiederholte Identifikation entscheidend für die erweiterte Notfalltherapie ist (⊡ Tab. 4.5). 18.07.2010 15:49:27 4.5 · EKG beim pulslosen Patienten 85 4 ⊡ Tab. 4.5. EKG-Rhythmen bei Herz-Kreislauf-Stillstand Gruppe EKG-Rhythmus Konsequenzen für Therapie (CPR) VF/VT Kammerflimmern (⊡ Abb. 4.10) Defibrillationsversuch (Elektroschock) indiziert, Adrenalingabe erst nach 2 erfolglosen Defibrillationsversuchen, ggf. antiarrhythmische Therapie Pulslose Kammertachykardie (⊡ Abb. 4.11) Non-VF/VT Asystolie (⊡ Abb. 4.9) Pulslose elektrische Aktivität (⊡ Abb. 4.12) 4.5.1 Kein Defibrillationsversuch, frühe Adrenalingabe, hohe Priorität für die Identifikation potenziell reversibler Ursachen, sonst schlechtere Prognose als VF/VT Asystolie (⊡ Abb. 4.9) Nulllinie bei fehlender elektrischer Aktivität des Herzens, jedoch i. d. R. nicht völlig gerade (Schwankungen durch Umgebungseinflüsse). Insbesondere bei völlig gerader Nulllinie oder vorhandenen Lebenszeichen muss als Ursache eine falsche Ableitungswahl ausgeschlossen werden. Mögliche Ursachen: z. B. Hypoxie, Hyper- und Hypokaliämie, Intoxikation, vorbestehende Azidose, Herzinfarkt, vorausgegangene Herzrhythmusstörungen, Vagusreizung, Karotissinussyndrom, Stoffwechselstörungen, Hypothermie, terminales Herzversagen. Wenn noch P-Wellen nachweisbar sind (Kammerasystolie), ist der sofortige Versuch einer externen Schrittmachertherapie indiziert. ⊡ Abb. 4.9. Asystolie Schneider.indd 85 18.07.2010 15:49:27