„Die Top Ten Papers der Ökonomie“

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„Die Top Ten Papers der Ökonomie“
– Kolloquium –
8. Sitzung am 22.12.99
Paul R. Krugman:
„Target Zones and Exchange Rate Dynamics“
aufbereitet von
Michael H. Grote und Silja Voss ;-)
Krugman, Paul R. (1991): Target Zones and
Exchange Rate Dynamics,
Quarterly Journal of Economics, Vol. CVI, Issue 3,
August, S. 669-682
Über Paul R. Krugman
Viele Informationen über Krugman (und Verweise auf Literatur, insbesondere nichtwissenschaftliche) findet man auf seiner Homepage (http://web.mit.edu/krugman/www/) und
auf der neu erstellten Fan-Homepage (http://members.home.net/copernicus/main.html).
Krugman wurde 1953 geboren, promovierte 1977 am MIT, unterrichtete in Yale und in
Stanford, und ist nun „Ford International Professor of Economics“ am MIT. 1982 bis 1983
arbeitete er als ökonomischer Berater (Council of Economic Advisors) im Weißen Haus.
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Krugman gehört zu den berühmtesten Ökonomen unserer Zeit und wird von vielen als ein
Anwärter auf den Nobelpreis gehandelt.
In einigen Feldern der Ökonomie zählen seine Arbeiten zu den grundlegenden Werken, etwa
in der Aussenhandelstheorie, in der Wirtschaftsgeographie und in der Diskussion über
Wechselkurszielzonen – um letztere soll es hier gehen.
Thema: Wechselkurszielzonen
Wechselkursschwankungen spiegeln – zumindest kurzfristig – nicht die realwirtschaftlichen
Fundamentaldaten wider, sondern sind auf Kapitalmarkttransaktionen („Spekulationen“)
zurückzuführen. Da „falsche“ oder stark schwankende Wechselkurse realwirtschaftliche
Kosten nach sich ziehen, wird immer wieder vorgeschlagen, Wechselkurse zu fixieren. Oder
zumindest Wechselkurszielzonen zu installieren, die dem (Markt-)Wechselkurs erlauben, um
einen vorgegebenen Kurs in einer bestimmten Bandbreite zu schwanken, zum Beispiel zehn
Prozent nach oben und zehn Prozent nach unten. Die Idee dahinter ist, dass eine solche
„Zielzone“ weniger Pflege von Seiten der Zentralbanken benötigt als ein fixer Wechselkurs.
Nur wenn der Rand der Zielzone erreicht wird, wird eine Intervention fällig. Im Europäische
Wechselkurssystem EWS I war ein solcher Mechanismus installiert. Auch die G7-Staaten
haben sich 1987 im Louvre-Accord darauf verständigt, zwecks Stabilisierung der
Wechselkurse zusammenzuarbeiten – allerdings wurden die „erwünschten“ Zonen bzw. Kurse
nie offengelegt und auch die einzusetzenden Instrumente nicht. In letzter Zeit wurden
Zielzonen für die Triade (USA, Japan, EU) von Oskar Lafontaine vorgeschlagen.
Wechselkurszielzonen sind deshalb so umstritten, weil man nicht viel über sie weiß. Das
EWS gilt als Sondersituation, weil die beteiligten Staaten einen deutlichen politischen Willen
zur europäischen Integration erkennen ließen. Aber wie verhalten sich die „Spieler“ auf dem
Kapitalmarkt, wenn sie sich mit Wechselkurszielzonen konfrontiert sehen? Die Skeptiker
meinen, es bestünde kaum ein Unterschied zu fixen Wechselkursen, da die Ränder der Zone
ebenso spekulativen Attacken ausgesetzt sind.
Im Gegensatz dazu zeigt Krugman in seinem Paper, dass die Implementierung einer
Wechselkurszielzone zu einer Stabilisierung des Wechselkurses führen kann.
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Die zugrundeliegende Idee ist ganz einfach. Die zunächst wild schwankenden Wechselkurse
Wechselkurs
Zeit
werden durch die Einführung von Zielzonen begrenzt. Am Rand der Zielzone greift jeweils
eine oder beide Zentralbanken ein und die Schwankung wird „abgeschnitten“:
Wechselkurs
Zielzone
Zeit
Da die Kapitalmarktteilnehmer wissen, dass die Schwankungen abgeschnitten werden,
verlieren sie das Interesse an der Spekulation, das Ergebnis ist ein sehr viel ruhigerer
Wechselkursverlauf:
Wechselkurs
Zielzone
Zeit
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Das Paper erfordert einen mathematisches Instrumentarium, das das mir zur Verfügung
stehende bei weitem überschreitet. Ich werde mich daher auf die verbale Darstellung der
Krugman‘schen Ideen beschränken.
Das Krugman-Paper
Ausgangspunkt ist die Feststellung, dass die Wechselkursbildung sehr stark von Erwartungen
abhängt. Der aktuelle Wechselkurs wird bestimmt durch die aktuellen Fundamentaldaten und
die Erwartungen über zukünftige Entwicklungen.
Krugman rechnet nur mit linear-logarithmierten Größen, wie die meisten. (Das macht man –
soviel ich weiß – um auch nicht-lineare Zusammenhänge abbilden zu können.) Jedenfalls geht
er von der folgenden Gleichung aus, die den Wechselkurs bestimmt:
s  m  v  E[ds ] / dt
Dabei ist
s
der aktuelle Wechselkurs,
m
die heimische Geldmenge (das Geldangebot),
v
die Umlaufgeschwindigkeit des Geldes,
E[ds] / dt
die erwartete Veränderungsrate des Wechselkurses.
Nach dieser vereinfachten Darstellung hängt der Wechselkurs also nur von sehr wenigen
Faktoren ab: von der heimischen Geldmenge, der Umlaufgeschwindigkeit des Geldes und den
Erwartungen.
Eine (exogene) Veränderung der „Fundamentaldaten“ wird lediglich durch eine (exogene)
Veränderung der Umlaufgeschwindigkeit dargestellt. Diese Veränderungen folgen nach
Krugman einem „random walk“, sind also prinzipiell nicht vorhersehbar, der Erwartungswert
für eine Veränderung von v ist demnach Null. Für diese Annahme gibt es kaum plausible
Gründe, es vereinfacht allerdings die Berechnungen und dient der Konzentration auf die
Erwartungen in dem Modell.
Die heimische Geldpolitik verfolgt keine anderen Ziele als die Verteidigung der Zielzone. Das
heißt, dass bei Erreichen der oberen Grenze der Wechselkurszielzone (etwa 1 Dollar = 1,90
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DM ) die Geldmenge reduziert wird.1 [Eine Reduzierung der DM-Geldmenge bedeutet, dass
sich die DM gegenüber dem Dollar aufwertet, der Wechselkurs also sinkt.] Und umgekehrt,
bei Erreichen der unteren Grenze der Wechselkurszielzone (etwa 1 Dollar = 1,30 DM), wird
die Geldmenge erhöht. Solange der tatsächliche Wechselkurs innerhalb der Zone liegt, wird
überhaupt nicht interveniert.
Dankenswerterweise stellt Krugman seiner Analyse einen intuitiven Ansatz voran, der in etwa
wie folgt lautet: Der Wechselkurs wird in einem Diagramm abgetragen, auf dessen X-Achse
die Umlaufgeschwindigkeit des Geldes v abgetragen ist. Dieses v ist – wie gesagt – eine
exogene Größe mit dem Erwartungswert Null, da sie einem random walk folgt. Geht man also
aus von v=0 und einem m=0 (das muss man machen, damit die Bewegung schön in der Mitte
des Kreuzes anfängt; wichtig ist, dass die Geldmenge innerhalb der Zone konstant bleibt),
dann ist der Wechselkurs auch gleich 0 (Beispiel: 1 Dollar = 1,60 DM), weil der
Erwartungswert für eine Veränderung ebenfalls Null beträgt: s  m  v  E[ds ] / dt . Wir
befinden uns im Punkt 0.
s
2
1
3
v
0
Wenn nun aufeinanderfolgende exogene Schocks die Umlaufgeschwindigkeit des Geldes v
vergrößern – also sich die Fundamentaldaten ändern –, so steigt der Wechselkurs (= die DM
wird gegenüber dem Dollar weniger wert); etwa auf den Punkt 1 (1 Dollar = 1,70 DM).
Eine naive Interpretation würde einen Verlauf vorschlagen, wie ihn die dicke Linie im Bild
beschreibt: Sobald der Wechselkurs den oberen Rand der Zielzone erreicht hat, kommt es zu
Zentralbankeingriffen (die Geldmenge m wird verringert) die den Wechselkurs am oberen
Rand stabilisieren, zum Beispiel auf Punkt 3.
1
Ein Zahlenbeispiel hat mir das Verständnis erleichtert. Ich habe dabei das vertraute 1 Dollar = 1,80 DM
Beispiel genommen, um nicht durch verschiedene Notierungsarten (1 Euro = 1,01 Dollar) zusätzliche
Schwierigkeiten mit hineinzubekommen.
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Dies ist nach Krugman aber nicht korrekt. Betrachten wir den Punkt 2: Von dort aus würde
eine Verringerung der Umlaufgeschwindigkeit eine Bewegung des Wechselkurses auf der
dicken Linie zurück zum Nullpunkt zur Folge haben. Steigt die Umlaufgeschwindigkeit von
Punkt 2 aus gesehen weiter, steigt der Wechselkurs nicht um denselben Betrag, weil die
Zentralbank den Wechselkurs innerhalb der Zielzone halten wird, eben zum Beispiel auf
Punkt 3.
Dies bedeutet, dass ein Fall von v den Wechselkurs um einen bestimmten Betrag verringern
wird, ein gleich großer Anstieg von v den Wechselkurs aber nur um einen kleineren Betrag
steigen lassen wird. Da v aber – gemäß Annahme – einem random walk folgt, ist die
erwartete Veränderung des Wechselkurses negativ!
Die Erwartungen über den zukünftigen Wechselkurs gehen allerdings mit in den aktuellen
Wechselkurs mit ein. Da nun am „oberen Rand“ der Zielzone mit einer Verringerung des
Wechselkurses gerechnet wird, sinkt der aktuelle Wechselkurs! Es wird also ein Punkt
unterhalb des Punktes 2 erreicht. Wiederholtes Miteinbeziehen der Erwartungen führen
schließlich dazu, dass der tatsächliche Verlauf der Wechselkurse systematisch von der 45°Linie abweicht. Er liegt unter dieser Linie in der Nähe des oberen Randes der Zielzone und
entsprechend über der 45°-Linie in der Nähe des unteren Randes der Zielzone.
Krugman nimmt an, dass sich der tatsächliche Wechselkurs bei einer starken Erhöhung von v
dem oberen Rand der Zielzone anschmiegen wird, bis sich die beiden Linien tangieren.
Folgendes Bild entsteht:
s
2
3
1
0
v
In der oberen Hälfte ist die erwartete Veränderung des Wechselkurses also negativ, in der
unteren Hälfte positiv.
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In diesem Bild sieht man die stabilisierende Wirkung einer Zielzone: Bei freien
Wechselkursen (und konstantem Geldangebot) würde sich der Wechselkurs bei einer
Veränderung der Fundamentaldaten schlicht auf der 45°-Linie bewegen. Die S-förmige Kurve
– also mit Zielzonen – im Bild ist aber flacher als die 45°-Linie: exogene
(Geldumlaufgeschwindigkeits-) Schocks haben weniger Einfluss auf den Wechselkurs, der
Wechselkurs variiert also in geringerem Ausmaß!
Es folgt (auf den Seiten 674-675) eine mathematische Analyse. Auf allen Punkten auf der SKurve sind die Erwartungen über zukünftige Entwicklungen des Wechselkurses bereits mit
einbezogen. Problematisch bleiben die „Enden“ der S-förmigen Kurve, die sich an die
Zonenränder anschmiegen. Hier ergibt sich eine Nähe zur Optionspreis-Theorie
beziehungsweise zur Analyse von irreversiblen Investitionen: Die Kurve muss bestimmten
„smooth pasting“-Bedingungen folgen, damit alle Punkte auf ihr tatsächlich
Gleichgewichtspunkte sind. Der Wechselkurs kann danach aufgefasst werden als ein
zusammengesetzter Vermögensgegenstand (compound asset), der unter anderem das Recht
beinhaltet, zu dem „Preis“ der unteren Grenze zu verkaufen und die Pflicht, zu dem „Preis“
der oberen Grenze auf Verlangen zu verkaufen.
Nun soll es um das Verhalten der Zentralbank gehen, um die Zielzone zu verteidigen. Was
passiert, wenn der Wechselkurs den oberen Rand erreicht? Nehmen wir an, v sei der Wert,
bei dem eine bestimmte S-Kurve den oberen Rand berührt. Wenn v also größer wird als v,
wird die Geldmenge (das Geldangebot) reduziert. Dies wird den Markt auf eine neue S-Kurve
bringen, die weiter rechts liegt als die alte. Auch hier wieder eine Illustration:
s
2
3
1
4
v
8
Die Geldangebotsverringerung muss stets in dem Maße erfolgen, dass gerade die Spitze einer
S-Kurve auf dem Rand der Zielzone erreicht wird. Man erhält somit eine Familie von SKurven. Nehmen wir an, der Markt befindet sich in Punkt 1 im oberen Bild. Es gibt wieder
eine Serie von Schocks, die die Geldumlaufgeschwindigkeit v erhöhen. Es wird der Punkt 2
erreicht, auf der selben Kurve. Ein weiterer Anstieg von v wird nun durch eine Reduktion von
m (der Geldmenge) kompensiert, so dass der Wechselkurs konstant bleibt – dargestellt durch
die Bewegung von Punkt 2 nach Punkt 3 oben. Nehmen wir nun an, dass eine Reihe von
entgegengesetzten Schocks die Geldumlaufgeschwindigkeit v verringern. Der Markt wird
nicht auf der ursprünglichen Kurve zurückgehen, sondern auf der neuen, weil die Zentralbank
nicht reagiert. Ein neuer Punkt auf der neuen Kurve (Punkt 4) wird erreicht.
Wir betrachten also eine Familie von S-Kurven. Der Markt bleibt auf einer S-Kurve, solange
die Geldumlaufgeschwindigkeit innerhalb der Zielzone bleibt.
Man kann die ganze S-Kurven Familie als eine einzige Kurve zeichnen, wenn man auf der
X-Achse (m+v) als Einheit wählt. Es ergibt sich das Bild:
s
m+v
Die Zonenränder sind nun „reflektierende Barrieren“: Sobald der Wechselkurs s den oberen
Rand berührt, wird die Geldmenge m so angepasst, dass m+v nicht weiter steigt. Gelangt der
Wechselkurs durch exogene Veränderungen von v wieder innerhalb die Zielzone, bleibt m
unverändert und m+v ändert sich.
Was passiert jedoch, wenn die Zentralbank nicht vollständig glaubwürdig ist? Das heißt, dass
die Marktteilnehmer nicht sicher sein können, ob eine Zielzone tatsächlich verteidigt wird.
Einige Ökonomen meinen, dass eine nicht vollständig glaubwürdige Zielzone zu Instabilitäten
führen kann, da die Marktteilnehmer den Wechselkurs in die Nähe des Randes der Zone
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treiben, um den Entschluss der Zentralbank zu testen. In diesem Modell ist dies nicht der Fall,
Zielzonen wirken weiterhin stabilisierend.
Die Zielzone ist also nicht vollständig glaubwürdig. Die Marktteilnehmer wissen nicht, was
die Zentralbank tun wird. Erreicht der Wechselkurs den oberen Rand der Zielzone, können
zwei Dinge geschehen: Entweder wird die Zentralbank die notwendigen Maßnahmen
ergreifen (damit wird die Zielzone vollständig glaubwürdig) oder aber sie wird dies nicht tun
(und der Markt wird bemerken, dass er es mit vollständig flexiblen Wechselkursen zu tun
hat). Wenn die Zone sich als glaubwürdig erwiesen hat, wird der Wechselkurs zu dem
entsprechenden Kurs springen (auf die ursprüngliche S-Kurve), wenn nicht, dann auf die
flexible-Kurse-Kurve (die 45°-Linie).
Also: Beim Erreichen der Zielzone (danach wissen die Marktteilnehmer über die
Glaubwürdigkeit der Zielzone Bescheid) gibt es einen Sprung des Wechselkurses. Der
Erwartungswert dieses Sprunges ist Null. Damit muss der Verlauf des Wechselkurs bei
unvollständiger Glaubwürdigkeit der Zielzone zwischen dem Wechselkurs bei flexiblen
Kursen und dem Wechselkurs bei vollständiger Glaubwürdigkeit der Zielzone liegen. Mit
anderen Worten: Bei unvollständiger Glaubwürdigkeit wirkt eine Zielzone weniger
stabilisierend als bei vollständiger Glaubwürdigkeit, aber immer noch stabilisierend
gegenüber flexiblen Wechselkursen:
s
Sprung bei NichtVerteidigung
Sprung bei
Verteidigung
v
Der Grad der Stabilisierung hängt ab von dem Grad der Glaubwürdigkeit. Je glaubwürdiger
die Zentralbank bei der Ankündigung einer Zielzone ist, umso mehr wird sich der tatsächliche
Verlauf des Wechselkurses dem bei vollständiger Glaubwürdigkeit annähern.
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Kritik
Die Empirie spricht gegen das Modell: Daten aus Untersuchungen des EWS, einzelnen
skandinavischen Ländern, dem Bretton Woods-System und aus den Zeiten des Goldstandards
sind fast durchgängig mit dem Modell nicht vereinbar. Dies liegt vor allem an zwei stark
vereinfachenden Annahmen des Modells: 1.) Intramarginale Interventionen finden nicht statt.
Die Zentralbank reagiert nur, wenn der Wechselkurs den Rand der Zielzone erreicht. Dies ist
unrealistisch. 2.) Die vollständige Glaubwürdigkeit von Zielzonen. Über längere Zeiträume
betrachtet, ist keine Zielzone vollständig glaubwürdig. Wenn sich die Fundamentaldaten stark
unterschiedlich entwickeln, kommt es Neuverhandlungen über den zukünftigen Wechselkurs
(die zukünftige Wechselkurszielzone), den sogenannten realignments. Spekulative Attacken
werden in einem solchen Umfeld aber viel wahrscheinlicher und gewinnträchtiger.
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