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Bosnien-Herzegowina – Zur sozialen
und medizinischen Situation
Update
Rainer Mattern/Stefan Berger
Bern, Juli 2002
MO NBI JO UST RA SSE 1 2 0  PO ST F ACH 8 1 5 4  CH- 3 0 0 1 BERN
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Rainer Mattern, Stefan Berger, Länderanalyse SFH
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deutsch, französisch
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CO PY R I G HT
© 2002
Schwei zerische Flücht lingshilfe, Bern
Kopieren und Abdruck unter Quellenangabe erlaubt.
Inhaltsverzeichnis
1
Einleitung ................................................................................................................ 1
2
Allgemeine Situation ............................................................................................... 1
3
4
2.1
Politisch-rechtliche Situation ............................................................................. 1
2.2
Wirtschaftliche und soziale Situation ................................................................. 4
2.3
Rückkehr von Vertriebenen............................................................................... 5
2.3.1
Physische Sicherheit und Bewegungsfreiheit ......................................... 6
2.3.2
Wohnsituation ....................................................................................... 7
Medizinische Situation ............................................................................................ 8
3.1
Gesetzliche Grundlagen der Gesundheitsversorgung ........................................ 9
3.2
Pflichtversicherung ......................................................................................... 10
3.3
Vertriebene und RückkehrerInnen ................................................................... 11
Spezifische Krankheiten und Leiden .................................................................... 11
4.1
4.2
Organisation des Gesundheitswesens ............................................................. 11
4.1.1
Primäre medizinische Versorgung ........................................................ 11
4.1.2
Sekundäre medizinische Versorgung ................................................... 12
4.1.3
Tertiäre medizinische Versorgung ........................................................ 12
Probleme der medizinischen Versorgung ........................................................ 12
4.2.1
Geographische Bedingungen ............................................................... 13
4.2.2
Medikamente ....................................................................................... 13
4.2.3
Durchstrahlungsdiagnostik ................................................................... 13
4.2.4
Schwerwiegende Nierenerkrankungen ................................................. 13
4.2.5
Diabetes ............................................................................................. 13
4.2.6
Chronische Erkrankungen der Atemwege ............................................. 13
4.2.7
Kardiovaskuläre Krankheiten ............................................................... 14
4.2.8
Koagulations(Blutgerinnungs-)krankheiten ........................................... 14
4.2.9
Krebskrankheiten ................................................................................ 14
4.2.10 Schmerztherapie und palliative Medizin ............................................... 14
4.2.11 Krankheiten der Gelenke, der Wirbelsäule und körperliche
Behinderungen .................................................................................... 14
4.3
5
Psychische Traumata ..................................................................................... 15
4.3.1
Behandlung durch NGOs ..................................................................... 16
4.3.2
Traumabehandlung in der Psychiatrie .................................................. 17
4.3.3
"Mental Health"-Zentren ...................................................................... 18
Zusammenfassung ................................................................................................ 18
Anhang 1: Übersichtskarte von Bosnien-Herzegowina
1
Einleitung
Nach fast sechs Jahren seit dem Friedensschluss ist Bosnien -Herzegowina immer noch mit
grossen sozialen Problemen, mit Armut und Arbeitslosigkeit konfrontiert. Das System inte rnationaler Hilfe soll von direkter Hilfe für verletzliche Gruppen zu finanzieller Unterstützun g
für lokale Institutionen übergehen. Dazu sollen sozialer Schutz und ein System der Sozia lpolitik installiert werden. Bei den Arbeiten zu diesem Update ist uns besonders aufgefallen,
wie schwierig es ist, die Realisierung der laufenden Reformpläne einzusc hätzen. Viele Gesetze, Gesetzesentwürfe, Strategiepapiere und Trainingsprogramme haben in Bo snienHerzegowina etwas Virtuelles, weil die Voraussetzungen für deren sofortige Umsetzung
teilweise gar nicht vorhanden sind; zum Beispiel weil es an den ökonomisc hen Bedingungen
fehlt (u. a. Krankenversicherung). So garantiert das Mental Health -Gesetz – verabschiedet
am 15. August 2001 – den Personen mit psychischen Problemen das Recht auf gleiche Ve rsorgung unabhängig von ihrem sozialen Status, ihrer Nationalität, Religion, Geschlecht,
sexueller Orientierung und ihrem Leiden. Solche programmatischen Absichten haben lan gfristig eine Bedeutung für den Prozess der Destigmatisierung und Bekämpfung der Entwe rtung von Menschen mit psychischen Störungen und Belastungen. W ie aber ist ein solches
Gesetz anzuwenden, wenn es an den Bedingungen für die Erfüllung minimaler garantierter
Menschenrechte fehlt, wenn Personen mit psychischen Störungen in einer sozial kollabie rten Gemeinschaft wohnsitzlos, wenn sie Gefangene in psychi atrischen Spitälern werden
oder wenn eine Person mit Lernschwierigkeiten in der Zelle eines Spitals in Zenica lebt, die
Teil eines Gefängnisses ist? 1 Ob und wie im Einzelfall eine Behandlung möglich und für das
behandlungsbedürftige Individuum bezahlbar is t, lässt sich weder an den Reformplänen,
noch an der blossen Existenz von medizinischen Institutionen ablesen. Was die Gesun dheitsversorgung in Bosnien-Herzegowina zu leisten imstande ist, hängt mehr als anderswo
vom Status und der ökonomischen Leistungsfä higkeit der PatientInnen ab.
Das Update folgt auf die letzte Veröffentlichung zu Bosnien -Herzegowina, nämlich
Rahel Bösch, Bosnien-Herzegowina, Zur Situation der intern Vertriebenen, SFH, Juni 2001.
Es beruht auf Internetrecherchen, auf Anfragen bei intern ationalen Organisationen, NGOs,
Personen aus dem universitären Bereich sowie Gesprächen mit verschiedenen weiteren
Personen, die in Bosnien-Herzegowina tätig waren oder noch tätig sind.
2
Allgemeine Situation
2.1
Politisch-rechtliche Situation
Die bundesstaatliche Verfasstheit Bosnien-Herzegowinas, die der Friedensvertrag von Dayton vorsieht, ist sechs Jahre nach dessen Abschluss auf den meisten Gebieten nicht verwirklicht. Vielmehr herrscht eine ausgeprägte Fragmentierung des Rechts vor: Die G ebietseinheiten Bosnien-Herzegowinas (zwei Entitäten, zehn Kantone und ein autonomer Disktrikt) sind Zonen regionaler Herrschaftsausübung, die ihr Eigenleben führen und an gesamt1
Esmina Avdibegovic, Psychiatric clinic Tuzla: Health, mental illness and human rights in Bosnia and Herz egovina, www.cmrh-bosnia.org
Bosnien-Herzegowina Update Juli 2002
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staatlicher Integration wenig interessiert sind. Darüber hinaus überlappen sich drei unterschiedliche, teilweise höchst widersprüchliche Rechtstraditionen. Die alte, aus ko mmunistischer Zeit stammende, steht einer Reihe von Bestimmungen gegenüber, welche im Krieg
entstanden sind, hinzu tritt die Nachkriegsordnung, welche teilweise – keineswegs umfassend – an internationalen Rechtsnormen orientiert ist. Daraus resultiert eine Reihe veralteter, inkonsistenter und sich überschneidender Gesetze. 2 Eine von der Politik unabhängige
Rechtssprechung besteht – mit Ausnahme des keiner Entität zugeordneten D istriktes Brcko 3
– nicht. Ob jemand in seinem Sinne "Recht" bekommt, hängt primär von den Beziehungen
ab, die er oder sie zu den politischen Eliten unterhält. Politisch motivierte Einmischung,
systematische Diskriminierung nach ethnischer Zugehörigkeit sowie schlichte Inkompetenz
des Justizpersonals sind die Haupthindernisse für funktionierende Rechtstaa tlichkeit.
Der ethnisierten Rechtsprechung steht ein immer komplexer werdendes Netzwerk organ isierter Kriminalität gegenüber, das über die territorialen Grenz en hinweg operiert und rechtlich kaum zu fassen ist. Zwar ist das bosnisch -herzegowinische Bundesgericht seit August
1999 befugt, Verbrechen von grosser Tragweite - einschliesslich Terrorismus und Schmuggel - erstinstanzlich zu behandeln, doch wurde bis En de 2001 kein einziger solcher Fall juristisch abgeschlossen. 4 In Fällen, wo Personen ausländischer Herkunft aufgrund des Terr orismusverdachtes des Landes verwiesen wurden, waren die Verfahren offenbar alles andere
als einwandfrei. 5
Der internationale Druck auf führende Politiker und Richter der beiden Entitäten, endlich
ernsthafte Schritte zur Umsetzung des Daytoner Vertrages zu unternehmen, ist zwar spü rbar gewachsen. Der Hohe Repräsentant der Vereinten Nationen hat die Macht, inkomp etente oder kompromittierte Richter und Staatsanwälte zu entlassen, wenn die lokalen I nstanzen
dies nicht selber tun. Er kann auch Politiker, welche die Grundsätze des Frieden sabkommens nicht einhalten, ihres Amtes entheben. W olfgang Petritsch machte während seiner
knapp dreijährigen Amtszeit von dieser Möglichkeit auch ausgiebig Gebrauch. 6 Die internationale Schutztruppe SFOR hat in jüngster Zeit ihrer Drohung Nachdruck verliehen, den
mutmasslichen Kriegsverbrecher und ehemaligen Führer der Serbischen Demokrat ischen
Partei (SDS), Radovan Karadzic festzunehmen, allerdings ohne den gewünschten Erfolg. 7
Gerade in Bezug auf die Verfolgung von Kriegsverbrechen sind nur bedingt Fortschritte zu
verzeichnen. Die Republika Srpska 8 hat im Herbst 2001 ein Gesetz zur Zusammenarbeit mit
dem Jugoslawientribunal in Den Haag zwar formell verabschiedet, bis heute aber noch ke inen einzigen Angeklagten ans Tribunal überstellt. 9 Die bosnjakisch-kroatische Föderation
2
3
4
5
6
7
8
9
International Crisis Group (ICG), "Courting Disaster: The Misrule of Law in Bosnia and Herzegowina ", Balkans Report No. 127, Sarajevo / Brüssel, 25.3.02.
Der Distrikt Brcko untersteht seit 1999 einer multiethnischen Verwaltung unter internationaler Supervision.
Seine Einwohner sind Bürger Bosnien-Herzegowinas und Bürger beider Entitäten. Als einziger verfügt er
heute über einen modernen strafrechtlichen Code, eine effiziente Gerichtsstruktur und eine unabhängige
Justiz, deren Personal leistungsorientiert selektioniert wird (ebe nda).
US Department of State (U.S. DOS), "Bosnia and Herzegowina, Country Report on Human Rights Practices –
2001", 4.3.02.
Amnesty International: Länderkurzbericht Bosnien -Herzegowina, Juni 2002.
Insgesamt hat Petritsch in seiner knapp dreijährigen Amtszeit 82 Politiker und Behördenvertreter ihrer Ämter
enthoben (Transitions Online, 27.5.02).
Neue Zürcher Zeitung (NZZ), 3.7.02.
Der Name steht für die bosnisch-serbische Republik, eine der beiden Entitäten Bosnien -Herzegowinas, und
ist nicht mit der Teilrepublik Serbien des Nachbarlandes Bundesr epublik Jugoslawien zu verwechseln.
Gewisse mutmassliche KriegsverbrecherInnen aus der serbischen Entität haben sich dem Tribunal freiwillig
gestellt, so die ehemals führende SDS -Politikerin Biljana Plavsic. Im April 2002 hat vor dem Bezirksgericht
Banja Luka ein Prozess gegen zwei Serben wegen mutmasslichem Massenmo rd an BosnjakInnen im Juli
1992 begonnen. Es handelt sich um den ersten Kriegsverbrecherprozess innerhalb der R epublika Srpska
(Helsinki Committee for Human Rights, Faxletter Nr. 124, 1.5.02).
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Bosnien-Herzegowina Update Juli 2002
Bosnien-Herzegowinas 10 hat einige bosnjakische Offiziere, welche während des Krieges
hohe Ränge innehatten, im Laufe des Jahres 2001 nach Den Haag ausgeliefert und ve rschiedenen Verdächtigen selber den Prozess gemacht. Dessen ungeachtet bleiben die
meisten gesuchten Täter bis heute straffrei. Die lokalen politischen Behörden zeigen sich im
allgemeinen auch wenig kooperativ bei der Wiederauffindung von vermissten Personen aus
dem Krieg.
Die institutionelle Deckung von mutmasslichen Kriegsverbrechern in der Republika Srpska,
deren Einfluss auf allen Ebenen des politischen, gesellschaftlichen u nd wirtschaftlichen
Lebens bedeutend ist, trägt in hohem Masse zum Klima der Straflosigkeit bei, das diese
Entität bis heute prägt. Die nationalistische SDS, nach wie vor die treibende politische Kraft
in der Republika Srpska, sieht diese als exklusiv "ser bisch" an und vermeidet prinzipiell
jeglichen Schritt, der auf Rückgängigmachung der kriegsbedingten "Errungenschaften" a bzielt. Wenn die bosnisch-serbischen Behörden auf dem Gebiet der Repatriierung von ve rtriebenen Nicht-SerbInnen überhaupt etwas unternehmen, geschieht dies jeweils nur unter
massivem Druck der internationalen Gemeinschaft, von deren finanzieller Unterstützung die
Republika Srbska existentiell abhängig ist. 11
In der bosnjakisch-kroatischen Föderation sind unterschiedliche Tendenzen auszumac hen.
In den mittelbosnischen Kantonen einschliesslich Sarajevo haben die Parteien der refo rmorientierten "Allianz für den W andel", die seit Februar 2001 regiert, eine relativ starke Stellung. Dagegen konnten sich die nationalistischen Parteien, die Kroatis che Demokratische
Gemeinschaft (HDZ) und die bosnjakische Partei der Demokratischen Aktion (SDA) in ihren
traditionellen Hochburgen behaupten: im Kanton Una Sana (SDA), in den Kantonen Livno
und West-Herzegowina (HDZ), und im offiziell gemischt verwalteten Kanton HerzegowinaNeretva (HDZ, SDA), wo sich Parallelstrukturen entlang ethnischer Grenzlinien et abliert
haben. Der innere Zusammenhalt der Föderation kann bisher mit grösster Mühe au frecht
erhalten werden. 12
Insgesamt ist zu konstatieren, dass die Polit ik Bosnien-Herzegowinas in weiten Teilen noch
immer von den Nationalisten aller Couleur bestimmt wird – vor allem auf lokaler Ebene. Die
Zusammenarbeit der bosnjakischen und kroatischen Behörden der Föderation und diejenige
zwischen Föderation und Republik a Srpska ist dürftig und beschränkt sich auf einzelne B ereiche. W eiterhin unterhalten beide Entitäten separate Armeen, und die Armee der Republ ika Srpska geniesst auch nach dem Machtwechsel in Belgrad von Oktober 2000 substanz ielle Unterstützung durch Serbien. Führende jugoslawische Politiker, allen voran Staatspr äsident Vojislav Kostunica, haben wiederholt erklärt, im Falle einer Unabhängigkeit Kosovas
sei der Status der bosnisch-serbischen Republik zur Disposition zu stellen. Die Anerke nnung der gesamtstaatlichen Integrität Bosnien-Herzegowinas ist somit von dieser Seite ke ineswegs gewährleistet. 13
10
1994 schlossen die vormals verfeindeten bosnjakischen und kr oatischen Kriegsparteien Frieden und bilden
seither die 'Föderation Bosnien-Herzegowinas', die durch den Friedensvertrag von Dayton den Status einer
Entität erhielt. In diesem Update verwenden wir den gebräuchlicheren Begriff 'Föderation'. Der Begriff 'Bos njakIn steht für 'bosnische MuslimIn' und ist streng vom Begriff 'BosnierIn' zu trennen, welcher sich ei nzig auf
die Staatszugehörigkeit bezieht.
11 Eine ausgezeichnete Darstellung der vorherrschenden Verhältnisse in der R epublika Srpska findet sich im
Bericht Nr. 118 der ICG: "The Wages of Sin: Confronting Bosnia’s Republ ika Srpska" vom 8. Oktober 2001.
12 Der Versuch der HDZ-Führung, die von ihr dominierten Kantone und Regionen als Glieder einer eigenen
Entität, der "Herzeg-Bosna", zu rekonstituieren, scheiterte im Frühjahr 2001 am Einschreiten der internati onalen Behörden (verschiedene Quellen).
13 ICG, "Republika Srpska", a.a.O.
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2.2
Wirtschaftliche und soziale Situation
Die wirtschaftliche Lage hat sich trotz anhaltendem Wiederaufbau noch nicht nachhaltig
verbessert. Zwar stieg das Bruttoinlandprodukt pro Kopf auf 1080 US-Dollar und damit auf
das Doppelte des W ertes von 1995, doch verbleibt Bosnien -Herzegowina immer noch auf
dem zweitletzten Platz der südosteuropäischen Lä nder. 14 Nach wie vor ist BosnienHerzegowinas W irtschaft von internationaler Finanzhilfe abhängig, wobei die bisher gespr ochenen 5,1 Mrd. US-Dollar zu einem grossen Teil bereits verbraucht sind. Die absehbare
Drosselung des Zuflusses an Hilfsgeldern könnte die wenigen ökonomischen Errunge nschaften der letzten Jahre – stabile Währung und geringe Inflation – gefährden. 15 Das Fehlen eines funktionierenden Binnenmarktes und die damit verbundenen hohen administrat iven Hürden wirken abschreckend auf potentielle Investoren. 16 Andererseits fördert der Mangel an Rechtsverbindlichkeit die Schattenwirtschaft und öffnet Korruption und organisiertem
Verbrechen Tür und Tor. Im besonderen ist eine alarmierende Zunahme von Menschenha ndel zu verzeichnen, wovon vor allem junge Frauen betro ffen sind. 17
Die aus ökonomischer Sicht notwendige forcie rte Privatisierung lässt die Spannungen auf
dem Arbeitsmarkt weiter ansteigen. Die Arbeitslosigkeit beträgt derzeit je nach Schätzungen
zwischen 40 und 50 Prozent bei steigender Tendenz, 18 wobei anzumerken ist, dass viele
wegen ihrer Tätigkeit in der Schattenwirtschaft oder als Gelegenheitsarbeiter statistisch gar
nicht erfasst werden. In diesem Bereich bestehen weder rechtliche Garantien noch A nspruch auf Sozialleistungen. Diskriminierung nach ethnischer und geschlechtlicher Zugeh örigkeit sowie nach politischer Orientierung ist an der Tagesordnung: Frauen, Minderheiten RückkehrerInnen und Personen, die nicht der lokal herrschenden Partei anhängen, haben
deutlich schlechtere Aussichten auf eine reguläre Anstellung. 19
Der Lebensstandard der Bevölkerung Bosnien -Herzegowinas ist tief. Nichtstaatlichen Org anisationen zu Folge sind rund 60 Prozent der Gesamtbevölkerung auf irgendeine Weise auf
soziale Unterstützung angewiesen. 20 Flüchtlinge und intern Vertriebene, RentnerInnen, a lleinstehende bzw. alleinerziehende Fr auen sowie körperlich oder geistig Behinderte sind am
stärksten von Armut betroffen, weil sie kaum über regelmässiges Einkommen oder Rese rven verfügen. Doch selbst unter denjenigen, die einer bezahlten Arbeit nachgehen, ist der
Anteil Bedürftiger hoch, weil die Löhne oft nicht ausreichen, um die täglichen Bedürfnisse
zu befriedigen. 21 Die fragmentierten sozialstaatlichen Strukturen Bosnien -Herzegowinas
14
15
16
17
18
19
20
21
Norwegian Refugee Council (NRC), Global IDP, Dezember 2001. Die Zahlenangaben in diesem Kapitel b eruhen grossenteils auf Schätzungen.
NZZ, 12.2.02. – Zur Auslandhilfe vermerkt der Autor kritisch, diese habe nicht nur Nutzen, sondern mögl icherweise auch bleibenden Schaden gebracht. Vor allem sei es ihr nicht gelungen, zur Schaffung produkt ionsgünstiger Rahmenbedingungen beizutragen.
Economic Intelligence Unit (EIU), Bosnia and Herzegovina, Country Report, April 2002 .
Schätzungsweise 5000 Frauen aus Osteuropa wurden in den vergangenen Jahren für Sexdienste "impo rtiert", verteilt auf landesweit 300 bis 600 Bordelle. Das Du rchschnittsalter beträgt 22 Jahre, und mehr als 12
Prozent der Frauen sind minderjährig (US DOS, 4.3.02) .
Jüngsten Angaben des Helsinki Committees gemäss sind rund 422'000 Stellenlose in Bosnien -Herzegowina
registriert, 269'000 in der Föderation und 153 '000 in der Republika Srpska. Dem stehen 633'500 Personen
mit einer Anstellung gegenüber. Gemäss EIU stieg der Anteil der Stellenlosen allein in der Föderation um
2,5 Prozent.
Helsinki Committee for Human Rights in Bosnia and Herzegovina, "Analysis of t he State of Human Rights in
Bosnia and Herzegovina, Monitoring covered the period 1 J anuary - 1 December 2001", Dezember 2001.
Independent Bureau for Humanitarian Issues (IBHI), Sarajevo, September 2001. – IBHI geht von einem
Grenzwert von KM 0.60 Eigen mittel für den täglichen Bedarf aus. Bei einem Grenzwert von 4 US -Dollar pro
Person und Tag fallen hingegen weit über 80 Pr ozent in die Kategorie "bedürftig".
Der durchschnittliche Nettolohn beträgt gemäss jüngster Arbeitsmarktstatistik 376 Konvertible Mark, wobei
zwischen Föderation und Republika Srpska eine grosse Lücke klafft (445 gegenüber 307 KM). Bei einem g eschätzten durchschnittlichen Warenkorb von 420 KM wird ersichtlich, dass das Salär eines Grossteils der
Werktätigen nur einen Bruchteil der Lebenskosten deckt, zumal Strom, Gas und Wasser nicht im Warenkorb
enthalten sind. (Angaben beruhen auf: EIU-Country Report, April 2002 sowie IBHI, Se ptember 2001).
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Bosnien-Herzegowina Update Juli 2002
vermögen die Nöte dieser Menschen nicht zu korrigieren. Die Auszahlung von Renten und
Sozialhilfe erfolgt lückenhaft und ungleichmässig. 22 Kriegsveteranen sowie Hinterbliebene
gefallener und vermisster Soldaten sind gegenüber Angehörigen von getöteten oder ve rmissten Zivilpersonen privilegiert. Angehörige von Minderheiten erhalten oft gar keine Rente
ausbezahlt. 23
Wirtschaftsexperten zu Folge ist mittelfristig eher mit einer Verschlechterung der Lage zu
rechnen. Bosnien-Herzegowina befindet sich im kritischen Übergang zu einer selbsterha ltenden Volkswirtschaft, doch die Früchte der Reformen können erst nach einer gewissen
Zeit geerntet werden. Der kumulierte Druck durch ökonomische Transformation und krieg sbedingte Verheerungen hat bereits zum jetzigen Zeitpunkt viele Menschen in existenz bedrohende Situationen gebracht, welche vor dem Krieg ein relativ gesichertes Dasein führten. Angesichts der schlechten Perspektiven ist vor allem unter den Jungen der Abwa nderungswille stark ausgeprägt, wodurch der Gesellschaft wichtiges Humankapital verloren
geht.
2.3
Rückkehr von Vertriebenen
Kriegsbedingte Flucht und Vertreibun g bleibt eines der drängendsten Probleme der Nac hfolgestaaten Ex-Jugoslawiens. Diese haben sich im Juni 2001 auf gegenseitige Zusamme narbeit unter der Schirmherrschaft des Stabilitätspaktes für Südosteuropa geeinigt, um die
Rückkehr der Vertriebenen voranzutreiben. Geplant ist die Rückkehr von rund 490’000
Flüchtlingen und intern Vertriebenen an ihre Herkunftsorte inne rhalb von zwei Jahren. 24
Nach Angaben des UNHCR sind seit Kriegsende rund 900’000 BosnierInnen heimgekehrt,
wobei seit Anfang 2001 ein stetiger Anstieg der RückkehrerInnen zu verzeichnen ist. 25 Ihre
Zahl ist in der Föderation deutlich höher, doch hat sie in letzter Zeit auch in der Republika
Srpska zugenommen. 26 Noch sind über eine Million der einst 2,2 Millionen Flüchtlinge und
intern Vertriebenen (IDPs) nicht an ihren früheren Wohnort zurückgekehrt. Im April 2002
waren insgesamt 414’500 Personen als IDPs registriert 27 - etwa hälftig verteilt auf Föderation und Republika Srpska - und mindestens 17’500 Personen gelten sechs Jahre nach
Kriegsende noch als vermisst. 28 Darüber hinaus beherbergt Bosnien-Herzegowina ungefähr
50’000 Flüchtlinge aus anderen Ländern Ex -Jugoslawiens, hauptsächlich solche aus Kroatien. Von den gut 600’000 im Ausland verbliebenen Flüchtlingen äusserte gemäss einer B e-
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28
Die durchschnittliche Rente beträgt 189 KM in der Föderation und 121 KM in der R epublika Srpska. Besonders stossend ist, dass RentnerInnen, die nach März 2000 von der R epublika Srpska in die Föderation übersiedelten, ihre Rente weiterhin von der R epublika Srpska beziehen, obwohl die Lebenskosten in der Föder ation höher liegen (OHR Human Rights and Rule of Law Department, Sarajevo, Juli 2002).
Dies hängt nicht zuletzt mit der Budgetpolitik der Entitäten zusammen. So hat beispielsweise die Republika
Srpska für 2001 beim Ministerium für Flüchtlinge massive Kürzungen eingeplant, während das Minis terium
für Kriegsveteranen gar eine finanzielle Aufstockung erfuhr. Die Gruppe der Kriegsveteranen zählt zu den
treuesten Parteigängern der SDS (ICG, 8.10.01).
Office of the High Representative, 18.10.01, zitiert nach: NRC, Global IDP, Deze mber 2001.
2002 sind allein in den ersten fünf Monaten über 40 000 Minderheiten -Rückkehren zu verzeichnen, d.h.
Rückkehren von Personen, die heute an ihrem Herkunftsort zahlenmässig in der Minderheit sind (Press emitteilung des UNHCR Office of the Chief of Miss ion in Bosnia and Herzegovina, 9.7.02).
UNHCR’s Position on Categories of Persons from Bosnia and Herzegovina in Need of International Prote ction. September 2001.
NRC, Global IDP, Juli 2002.
Seit Kriegsende wurde das Internationale Komitee des Roten Kre uzes IKRK mit der Suche nach insgesamt
20’741 Vermissten betraut, unter ihnen rund 17’000 BosnjakInnen. Von den rund 12’000 exhumierten Krieg sopfern konnte bisher nur eine Minderheit identifiziert werden. 300 vermisste Personen waren am Leben, als
sie ausfindig gemacht wurden (US DOS, 4.3.02).
Bosnien-Herzegowina Update Juli 2002
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fragung des UNHCR lediglich die Hälfte den W unsch, nach Bosnien -Herzegowina zurückzukehren. 29
Nur ein Teil derjenigen, die der Kategorie "internally displaced" zugeordnet werden, sind
kriegsbedingte IDPs. W ährend den ersten vier Jahren nach Kriegsende sind mindestens
200’000 Personen zu intern Vertriebenen geworden, sei es als Resultat von territorialen
Transfers zwischen den beiden Entitäten, sei es, dass RückkehrerInnen aus dem Ausland
nicht an ihren Herkunftsort zurückkehren konnten. 30
Lange hatten sich die Behörden d er beiden Entitäten geweigert, die von ihnen herausgeg ebenen Identitätskarten gegenseitig anzuerkennen. Dies hatte es zurückkehrenden Flüchtli ngen und IDPs verunmöglicht, sich an ihrem Herkunftsort registrieren zu lassen. Der Hohe
Repräsentant der Vereinten Nationen erklärte in seinem Entscheid vom 30. Juli 1999 die
Papiere als gültig, welche von den Behörden der früheren (sozialistischen) Teilrepublik
Bosnien-Herzegowina herausgegeben worden waren. In der Zwischenzeit ist das Problem
weitgehend entschärft, zumindest was die gegenseitige Anerkennung von EntitätsDokumenten angeht. 31 Doch noch immer wird in Zusammenhang mit der Herausgabe pe rsönlicher Dokumente von unnötigen bürokratischen Hürden und teilweise horrenden Gebü hren berichtet. Minderheiten-RückkehrerInnen werden damit davon abgehalten, diese Dok umente überhaupt zu beantragen. Gültige Papiere sind jedoch Voraussetzung für den Z ugang zu sozialen Einrichtungen und zu medizinischer Versorgung. Selbst diejenigen Rüc kkehrerInnen, deren Status bestätigt ist, können Probleme haben, ihre existentiellen Basi srechte wahrzunehmen, da lokale Autoritäten sich oft sträuben, ihnen die knappen Ressou rcen für medizinische Versorgung, psychosoziale Unterstützung oder Bildung zur Verfügung
zu stellen. 32
2.3.1 Physische Sicherheit und Bewegungsfreiheit 33
Der anhaltende Einfluss nationalistischer Hardliner und Kriegsverbrecher auf das öffentliche
Leben Bosnien-Herzegowinas stellt weiterhin den grössten Hinderungsgrund für die Rüc kkehr von Vertriebenen dar. Politische und re ligiöse Autoritäten und nicht zuletzt die Medien
tragen massgeblich zum Klima der Intoleranz bei, das in weiten Teilen der Republika Srpska
und in den Hochburgen der HDZ und der SDA in der Föderation vorherrscht. Vor allem SDS
und HDZ halten unbeirrt an ihrem Ziel fest, die "ethnischen Säuberungen" aus dem Krieg zu
zementieren und die Zahl der Minderheiten -Rückkehren in ihrem Einflussgebiet möglichst
klein zu halten. Gezielte Einschüchterungen treffen nicht nur Angehörige der Minderheiten,
sondern auch IDPs, welche an sich bereit wären, den Ort, in dem sie heute zur Mehrheits ethnie gehören, zu verlassen, um an ihren Herkunftsort zurückzukehren. Auch Intellektuelle
und PolitikerInnen mit einer kritischen Haltung gegenüber den nationalistischen Parteien
können Opfer physischer Gewalt werden.
Für den Zeitraum von September 2000 bis August 2001 hat die International Police Task
Force (IPTF) 290 Fälle in Bosnien-Herzegowina registriert, in denen es zu ethnisch mot ivierten Übergriffen kam. Diese Zahl ist in der fo lgenden Periode ungefähr gleich gebli e-
29
UNHCR BiH, Report by statement of return, 29.11.01.
NRC, Global IDP, Dezember 2001.
31 Ungelöst ist dagegen das Problem der (potentiell) Staatenlosen, d.h. derjenigen, die seit langem in Bosnien Herzegowina leben, aber einer anderen früheren Teilrepublik de s ehemaligen Jugoslawien angehören. Die
neue Bürgerrechtsregelung harrt bis heute der Umsetzung, was Staatenlose in vielen Lebensbereichen b enachteiligt, und ihre Bewegungsfreiheit einschränkt (UNHCR, September 2001, a.a.O.).
32 ebenda.
33 Soweit nichts anderes vermerkt, beziehen sich die Angaben in diesem Abschnitt auf: US DOS, Country R eport 2001, 4.3.02.
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Bosnien-Herzegowina Update Juli 2002
ben. 34 Die Republika Srpska verzeichnete nicht nur doppelt soviele Übergriffe wie die Föd eration, die Vergehen waren dort auch bedeutend gravierender: Bombenanschläge, Zerst örung von Eigentum, schwere Körperverletzung u nd Mord sind keine Seltenheit. Polizeiliche
und juristische Ermittlungen laufen in der Regel halbherzig und ineffektiv - mit der Folge,
dass die Täter zumeist straffrei ausgehen. Wiederholt haben die Behörden der Republika
Srpska demonstriert, dass sie den Schutz von Minderheiten-RückkehrerInnen nicht als ihre
prioritäre Aufgabe erachten. Nach den Ausschreitungen von Banja Luka und Trebinje vom
Mai 2001 35 brauchte es massiven Druck der internationalen Behörden, damit Vorkehrungen
getroffen wurden, um solche Gewaltakte bei Gedenkmärschen und religiösen Zeremonien
von Minderheiten inskünftig zu verhindern.
In der Herzegowina kam es im Zuge der Kampagne für die "kroatische Selbstverwaltung" 36
vorübergehend zu einer markanten Zunahme nationalistisch motivierter Ge walt, wobei auch
Vertreter der internationalen Behörden Ziel von Attacken wurden. Auch im SDA -dominierten
Kanton Una Sana ereignen sich immer wieder gewaltsame Zwischenfälle, wobei hier vor
allem Rivalitäten zwischen der SDA und der "Partei der demokratisc hen Union" DNZ eine
Rolle spielen. 37 Anhänger der DNZ gelten in den Augen der SDA als "Autonomisten", denn
ihr Parteichef, Fikret Abdic, hatte im Krieg die "Autonome Region W estbosnien" proklamiert
und mit den bosnisch-serbischen Streitkräften kollaboriert. Allgemein wird der SDA anhaltende Repression gegen Vertreter anderer Parteien vorgeworfen, etwa auch der Soziald emokratischen Partei (SDP), die der "Allianz" ang ehört.
Eine umfassende Polizeireform unter der Ägide der IPTF soll dafür sorgen, dass die Sich erheitskräfte dem Einfluss der Nationalisten entzogen und professionalisiert werden. Ziel ist
die Schaffung ethnisch gemischter Polizeikorps in ganz Bosnien -Herzegowina und die Orientierung an rechtsstaatlichen Grundsätzen. Noch immer treten zahlreiche Fäl le physischer
Misshandlung und willkürlicher Verhaftungen auf, und die verantwortlichen Beamten werden
dafür kaum je zur Rechenschaft gezogen. 38
Ein Sicherheitsproblem anderer Art ist die weit verbreitete Existenz von nicht entschärften
Minen. Schätzungsweise 30’000 Minenfelder mit über einer Million Landminen stellen eine
bleibende akute Gefahr für die Zivilbevölkerung dar. Gemäss Angaben des IKRK hat es seit
Kriegsende über 1300 Minenunfälle gegeben, wobei in 296 Fällen Minderjährige betroffen
waren. Im Jahr 2001 starben 34 Personen bei solchen Unfällen.
2.3.2 Wohnsituation
Der Prozess der Eigentumsrückgabe hat sich im Laufe des letzten Jahres beschleunigt.
Selbst in der Republika Srpska, die ihn lange Zeit obstruiert hat, sind diesbezüglich gewisse
Fortschritte zu verzeichnen, doch zeugen die jüngst veröffentlichten Zahlen von einem nach
wie vor zögerlichen Tempo in dieser Entität. Nach UN -Angaben lag die Rate effektiver
Rückerstattung im Februar 2002 in der Föderation bei 57 Prozent, dicht gefolgt vom Dist rikt
Brcko mit 55 Prozent. In der Republika Srpska dagegen waren zu diesem Zeitpunkt lediglich
45 Prozent der Rückgaben umgesetzt. 39
34
35
36
37
38
39
Angaben des UNHCR zitiert nach: NRC, Global IDP , Juli 2002.
Eine ausführliche Beschreibung der Vorfälle findet sich in: Rahel Bösch, Bosnien-Herzegowina, Zur Situation
der intern Vertriebenen, Schweizerische Flüchtlingshilfe, Juni 2001 .
Siehe Abschnitt 2.1.
Helsinki Committee, "State of Human Rights ", Dezember 2001.
ICG, "Policing the Police in Bosnia: A further Reform Agenda", 10.5.02. - Am 13. Juli 2002 hat der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen das Mandat der 1600 Mann starken IPTF nach langen Diskussionen um weitere sechs Monate verlängert. Anfang 2003 soll das Mandat an die Europäische Un ion übergehen.
Pressemitteilung des OHR, 2.7.02 – Landesweit sind von 255’612 Ansprüchen auf Rückerstattung bis Mai
2002 52 Prozent befriedigt worden. Noch im Herbst 2001 lag die Rate lediglich bei 34 Prozent.
Bosnien-Herzegowina Update Juli 2002
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Die unterschiedliche Umsetzung der W ohnraumrückgabe hat zur Folge, dass sich viele
Menschen von neuerlicher Obdachlosigkeit und sozialer Not bedroht sehen. Denn die Hä user, deren BesitzerInnen im Krieg geflohen waren, sind in der Zwischenzeit von Personen
bewohnt worden, die oft selber anderswo Opfer von Vertreibungen geworden waren und bis
heute nicht an ihren Herkunftsort zur ückkehren können. 40 Sie haben grundsätzlich Anspruch
auf Alternativunterkunft, doch ist das entsprechende Angebot angesichts der wachsenden
Zahl von Rückkehren sehr begrenzt: Gemäss UNHCR vermag der Wiederaufbau zerstörten
Wohnraumes mit der zunehmenden Nac hfrage nicht Schritt zu halten. Ende 2001 bestand
eine Lücke von 22’000 Einheiten bei steigender Tendenz. Angesichts der rückläufigen Zahl
von Kollektivzentren 41 müssen viele RückkehrerInnen mit temporären Behausungen in Ze lten oder Ruinen Vorlieb nehmen, was vor allem in den Wintermonaten unzumutbare Ve rhältnisse schafft. 42
Der Druck zur Privatisierung hat in der Republika Srpska gerade auf dem Gebiet der Verg abe von W ohneigentum zu schwer wiegenden Missbräuchen geführt. Ehemals staatliches
Bauland wird einseitig an serbische IDPs vergeben, und zwar auf Kosten von vertriebenen
NichtserbInnen, die aufgrund der früheren Nutzung eigentlich Anspruch darauf hätten. 43
Dieser Mechanismus hat in den Fällen, wo IDPs früheres Eigentum zurückerstattet worden
ist, zum Phänomen des doppelten Wohnraumbesitzes geführt. Parallel dazu wird ehemal iger Landbesitz von Vertriebenen für den Bau von Strassen und anderen öffentlichen Ei nrichtungen usurpiert. Schliesslich werden potentielle RückkehrerInnen dadurch abg eschreckt, dass sie beim Zugang zu Strom, fliessendem Wasser, Elektrizität und Telefon h ohe administrative Hürden zu überwinden haben. Manche RückkehrerInnen, die ihre Häuser
aus der Vorkriegszeit wieder beziehen wollen, werden von den (serbischen) BewohnerInnen
zu "Kompensationszahlungen" gezwungen, bevor ihnen der W ohnraum wieder überlassen
wird. 44
Die forcierte Rückkehr von Flüchtlingen aus dem Ausland mit ungeklärter W ohnsituation,
trägt zur Verschärfung der Problematik bei. Das UNHCR hält in seiner Bestandesaufnahme
von September 2001 sinngemäss fest, dass die erzwungene Rückkehr zur Besetzung von
Wohnraum führen kann und die Eigentumsrechte anderer auf diesen W ohnraum tangiert.
Auf diese W eise würde die Rückkehr von Personen, welche an ihrem Herkunftsort heute in
der Minderheit sind, von neuem behindert, was dem Ansinnen nationalistischer Politiker
nach "ethnischer Reinhaltung" ihrer Territorien in die Hände spie lte.
3
Medizinische Situation
Das Gesundheitssystem in Bosnien-Herzegowina hat sehr unter dem Krieg gelitten. Da s
Personal im Gesundheitswesen hat um 40 Prozent, die Betten der Krankenhäuser um 35
40
Dazu ausführlich: Rahel Bösch, Intern Ve rtriebene, SFH, Juni 2001.
Darunter sind leerstehende Hotels, Schulhäuser, Militärbaracken u.ä. zu verstehen, die zur Unterbringung
von Personen genutzt werden, welche nirgendwo anders Obdach finden. Ende Dezember 2001 lebten nach
Angaben des UNHCR landesweit noch 5639 Personen in solcher Zentren, gegenüber 9210 Ende 2000 (NRC,
Global IDP, Juli 2002). Die Mindeststandards – Wohnfläche von mindestens fünf m 2 , ausreichender Witterungsschutz, Beheizbarkeit, Strom - und Wasseranschluss – werden in diesen Zentren oft nicht erreicht.
42 Schätzungen zu Folge litten letzten Winter rund 10’000 Bewohner solcher Behausungen akuten Mangel an
Ernährung, Kleider, Brennholz und Medikamenten. Diese Menschen waren in insgesamt 294 Zeltsiedlungen
sowie Hunderten von Ruinen oder Containern untergebracht (Helsinki Committee, State of Human Rights,
a.a.O.).
43 Gerade in Bezirken, die vor dem Krieg mehrheitlich bosnjakisch bzw. gemischt bewohnt waren, ist diese
Praxis besonders ausgeprägt (ICG, Confronting Republika Srpska, a.a. O.)
44 Derarteige "Kompensationszahlungen" betreffen meistens zurückkehrende Roma. Die verlangten Zahlungen
betragen zwischen 3000 und 10'000 KM. (European Roma Rights Center zitiert nach US DOS, 4.3.2002).
41
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Prozent abgenommen. Zwei Drittel des medizinischen Materials sind unbenutzbar gewo rden. Die urbane Bevölkerung und die Bevölkerung über 65 Jahre haben stark zugeno mmen. 45 Das Gesundheitssystem war und ist in einer doppelten Übergangsphase: Zum Einen
von Plan- zu Marktwirtschaft, zum Andern hat die Gesellschaft mit den Folgen des Kriegs
und der starken Zerstörung der bestehenden Strukturen zu kämpfen. In diesen Zusamme nhang ist die aktuelle Gesundheitsreform zu stellen, die in vieler Hinsicht noch nicht funkti oniert und sich in den beiden Entitäten in unterschiedlicher Weise entw ickelt hat.
Die Bemühungen um eine Gesundheitsreform beinhalten die Schaffung eines neuen geset zlichen Rahmens, die Schaffung eines neuen Finanzierungs - und Versicherungssystems,
Prioritätensetzung bei der Gesundheitsbasisversorgung, die von der Versicherung getragen
werden soll sowie die Ausbildung des Personals und Wiederaufbau der materiellen Au sstattung. 46 Die Implementierung der Gesetze lässt in vielen Bereichen auf sich warten. So
kommt es zu der häufig zu findenden Spaltung zwischen theoretischer Anspruchsberecht igung (Versicherung, medizinische Behandlung) und der Tatsache, dass Behandlung nur
gegen Bezahlung erfolgt oder aufgrund der Re ssourcenknappheit nicht möglich ist.
Dass angemessene medizinische Versorgung in Bosnien -Herzegowina oft nicht möglich ist,
hat verschiedene Gründe: 47

Kompliziertheit der Versicherungssysteme;

Fehlen der nötigen Einrichtungen und Medikamente;

Knappheit grundlegender Ressourcen;

Hinzu kommen Transportprobleme und der Umstand, dass der Krieg grosse Teile der
Bevölkerung gesundheitlich beeinträchtigt hat, was zu einem enormen Anstieg des
Bedarfs an Gesundheitsversorgung geführt hat. Auch im Fall von chronischen
Krankheiten, die normalerweise nicht als lebensgefährlich gelten, kann der Stand
der medizinischen Versorgung in Bosnien-Herzegowina für Menschen, die auf Behandlung angewiesen sind, ein lebensbedrohliches Risiko b einhalten.
3.1
Gesetzliche Grundlagen der Gesundheitsversorgung
Vor dem Krieg hatte Bosnien-Herzegowina eine einheitliche nationale Kranken Pflichtversicherung, so dass bis auf einige Ausnahmen die BürgerInnen effektiven Kranke nversicherungsschutz hatten. 48 Nach dem Krieg zersplitterte das Gesundheitswesen, es wu rden separate Krankenversicherungsprogramme und -kassen eingeführt. Das hat zu einer
Situation geführt, in der eine Krankenversicherung oft keine reale Absicherung bedeutet und
die betroffenen Personen teure medizinische Leistungen privat finanzi eren müssen.
Nach der Verfassung von Bosnien-Herzegowina fällt das Gesundheitswesen in die Zustä ndigkeit der beiden Entitäten "Föderation von Bosnien und Herzegowina" und "Republika
Srpska". Trotz juristischer und organisatorischer Ähnlichkeiten in beiden Teilen gibt es doch
auch signifikante Unterschiede im Gesundheitswesen der beiden Entitäten und somit zah lreiche Schwierigkeiten bei der Sicherstellung des Zugangs zu medizinischer Versorgung. In
der Föderation ist die Regelung der medizinischen Versorgung aufgeteilt zwischen Föder a45
C. Goehring, L. Loutan, H. Stalder: L’accès au x soins en Bosnie-Herzégovine: un système en transition. In:
Médecine et Hygiène, 28.2.2001, S. 514.
46 C. Goehring, L. Loutan, H. Stalder: a.a.O.
47 UNHCR, Das Gesundheitswesen in Bosnien und Herzegowina im Kontext der Rückkehr von Flüchtlingen und
Vertriebenen, Sarajewo, Juli 2001, Übersetzung des UNHCR Berlin, kurze Zusammenfassung,
www.unhcr.de/soeuropa/bih/bh011107.pdf.
48 ebenda, S. 12.
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tion als Ganzem und den zehn Kantonen, während die Versorgung in der Republika Srpska
stark zentralisiert ist.
3.2
Pflichtversicherung
In der weit überwiegenden Zahl von Behandlungen besteht ein theoretischer aber kein praktischer Versicherungsschutz. PatientInnen bezahlen gemäss den meisten der eing eholten
Auskünfte fast immer selbst die Medikamente und Behandlungen, die über die prim äre Versorgung hinausgehen.
Gesetzlich sind zwei grundsätzliche Arten der Krankenversicherung definiert: Pflichtvers icherung und erweiterte Privatversicherung. "Erweiterte Krankenversicherung" würde in be iden Entitäten pflichtversicherten Personen erlauben, höhere Beiträge zu bezahlen und sich
dadurch besondere Leistungen und besondere Qualität zu sichern. Tatsächlich befindet sich
noch kein solches System in Anwendung. 49
Die Pflichtversicherungen sind zum Grossteil aus den individuellen Beiträgen und zu klein erem Teil über öffentliche Budgets und Spenden f inanziert. Das bedeutet, dass die Le istungsfähigkeit der Versicherung von der ökonomischen Leistungsfähigkeit der Versicherten
und Einzahlungen der Arbeitgeber abhängig ist. Die medizinische Versorgung wird durch
Krankenkassen bereitgestellt, die die Beitr äge erhalten und an medizinische Institutionen
weiterleiten.
Im Widerspruch zum gesetzlich garantierten Recht auf Zugang zum Gesundheitswesen für
alle BürgerInnen von Bosnien-Herzegowina gibt es grosse Probleme im Zugang zu mediz inischen Leistungen. Ein Grund dafür ist darin zu sehen, dass der Versicherungsschutz bis
vor kurzem geographisch beschränkt war auf das Gebiet oder die Entität, in dem die Vers icherungsbeiträge gezahlt werden. 50 Bei Umzug in einen anderen Kanton oder in eine andere
Entität entstanden wegen der Nichtübertragbarkeit des Versicherungsschutzes Probleme,
was den Entscheid zu einer Rückkehr an den Herkunftsort in vielen Fällen behinderte. Im
Dezember 2001 wurde ein Inter-Entitäts-Abkommen zur Gesundheitsversorgung unterzeic hnet. Dieses sieht vor, dass vom 1. Januar 2002 RückkehrerInnen zur medizinischen B ehandlung dort berechtigt sein sollen, wohin sie zurückkehren, ungeachtet der regionalen
Zuständigkeit der jeweiligen Versicherung. Die neue gesetzliche Regelung entspricht der
Rechtslage bei den Rentenkassen, die zumindest der Idee nach weiter an "ihre" Empfäng erInnen leisten sollte, unabhängig vom aktuellen Aufenthalt in Bosnien -Herzegowina. W ie
lange es dauern wird, bis dieses Abkommen umgesetzt ist, muss sich noch zeigen. Die dem
fehlenden Vesicherungsschutz wesentlich zugrundeliegenden ökonomischen Defizite, die
ausstehenden Beiträge der ArbeitgeberInnen, fehlende Information über das gültige Proz edere sowie administrative Hürden haben sich mit dem Abschluss dieses Abkommens nicht
aufgelöst. So wird es im Zahlungsausgleich unter den Versicherungen der beiden Entitäten
weiterhin zu Schwierigkeiten kommen. Ohnehin herrscht eine sehr restriktive Haltung bei
ungeklärten Kostenfällen vor. 51 Die Schwierigkeiten der Umsetzung des Abkommens zeigt
ein Entscheid des klinischen Zentrums Banja Luka im April 2002. Danach sollten volle K osten für Behandlungen verlangt werden ausser bei Lebensgefahr der PatientInnen. Die z uständigen Institutionen verhandeln derzeit, wie das Problem der ausstehenden Beiträ ge zu
lösen sein soll. 52
49
ebenda, S. 14.
ebenda, S. 18.
51 ebenda, S. 19.
52 OHR, Human Rights and Rule of Law Departement, Review of wo rk to date and recommendation for further
action, Juni 2002, II 8.1.
50
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3.3
Vertriebene und RückkehrerInnen
Gleicher und nicht benachteiligter Zugang zur Krankenversicherung ist besonders für Ve rtriebene und RückkehrerInnen in Frage gestellt, diese Gruppe bleibt oft ohne Versich erungsschutz. Hauptursache ist, dass überdurchschnittlich viele RückkehrerInnen erwerbslos
sind, das aktuelle Prozedere nicht kennen und daher die Frist von 30 Tagen versäumen, die
zwischen Ankunft und Registrierung beim zuständigen Arbeitsamt liegt. 53 Nur als fristgemäss angemeldete Arbeitslose könnten sie nach der gesetzlichen Regelung Arbeitslose nunterstützung erhalten, und nur dann könnte das Arbeitsamt für sie die Beiträge zur Kra nkenversicherung leisten. Zu spät oder nicht registrierte arbeitslose RückkehrerInnen sind auf
keinen Fall versichert. Ob es die registrierten Arbeitslosen sind, bleibt allerdings fra glich.
Die meisten der von uns angefragten Personen gingen davon aus, dass überhaupt nur Beschäftigte Anspruch aus einer Krankenversicherung haben (weil nur dann theoretisc h Beiträge an die Krankenversicherung zustande kommen können) und dass Unbeschäftigte in
jedem Fall die Kosten der Untersuchungen und der Medikamente selbst tragen. 54 Vertriebene und RückkehrerInnen als Personen, die überdurchschnittlich oft erwerbslos sind , haben
die schlechtesten Chancen auf dem Arbeitsmarkt und bleiben entsprechend häufig o hne
gesicherten Zugang zur medizinischen Versorgung. So fehlt nach Angaben der human itären
Organisation "Merhamet" bei 70 Prozent der bosnjakischen RückkehrerInnen in d er Republik Srpska - vor allem bei älteren Personen und Kindern - ein Versicherungsschutz in beiden
Entitäten. Trotz des neuen Abkommens bezahlen RückkehrerInnen für die - der Idee nach
kostenlose - primäre Krankenversorgung den hohen Betrag von zwischen 1 00 und 150 KM
(50-75 Euro). 55
4
Spezifische Krankheiten und Leiden
4.1
Organisation des Gesundheitswesens
4.1.1 Primäre medizinische Versorgung
Basisvorsorge geschieht in Ambulatorien, Gesundheitshäusern, Erste-Hilfe-Stationen
und Apotheken und soll 70-80 Prozent aller medizinischen Fälle abdecken. Tatsächlich
sind es aber nur 10-20 Prozent aller Fälle. Ambulatorien sind beinahe in jedem Dorf zu
finden. Die Arbeit (Anamnese, einfache Kontrollen) wird von einer Krankenschwester gele itet, manchmal besucht ein Ar zt die Ambulatorien. PatientInnen können in ein Gesundheit shaus, aber nicht auf direktem Weg in ein Krankenhaus eingeliefert werden.
Gesundheitshäuser sind in den wichtigen Orten der Distrikte, oft in Verbindung mit einer
Erste-Hilfe-Station und einer Apotheke vorhanden. Sie müssten aus je einem/r praktischen
ÄrztIn, EpidemiologInnen, GynäkologInnen, KinderärztInnen, einem kleinen Labor und e inem Röntgenapparat bestehen. In einigen Gesundheitshäusern findet man auch Spezial istInnen für Familienmedizin und Notfallmedizin. Weitere SpezialistInnen kommen ein bis zwei
Mal pro Monat zur Visite. Diagnostische Untersuchungen gehen über das Niveau der Ambulatorien hinaus.
53
ebenda, S. 22.
Nach verschiedenen uns gegebenen Auskünften, z um Beispiel der Gesellschaft für bedrohte Völker-BosnienHerzegowina vom 30. März 2002.
55 Helsinki Committee for Human Rights in Bosnia and Herzegowina, Faxletter No. 122, 1.4.02, S. 6.
54
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Erste-Hilfe-Stationen sind rund um die Uhr geöffnet und stehen meist mit Gesundheitshä usern in Verbindung.
Apotheken sollen die örtlichen Einrichtungen der Gesundheitsfürsorge und die Patienten
mit der Bereitstellung einfacher Materialien und Med ikamenten unterstützen.
Der Zugang zur primären medizinischen Versorgung ist für die ganze Bevölkerung ge geben,
doch kann es neben den finanziellen Grenzen geographische und bauliche Hindernisse g eben. Die freie W ahl des Arztes ist nicht gewährleistet. 56
4.1.2 Sekundäre medizinische Versorgung
Sekundäre medizinische Versorgung wird in den Allgemeinkrankenhäusern geleistet. Allgemeinkrankenhäuser befinden sich in der Regel in den Hauptstädten der Kantone (Föd eration) und Regionen (Republika Srpska und Brcko). Sie müssen folgende Abteilungen au fweisen: Allgemeine (internistische) Medizin, Nephrologie (d.h. Dialy se- und Transfusionszentrum), Chirurgie/Geburtshilfe, Epidemiologie, Anästhesiologie, Radiologie, Labor. 57 In
den meisten Fällen sind diese Anforderungen erfüllt, aber oft ist der Zustand der Aussta ttung fragwürdig.
4.1.3 Tertiäre medizinische Versorgung
Sie wird überwiegend in klinischen Zentren geleistet, die meist mit einer Universität oder
ähnlichen Institution verbunden sind. Klinische Zentren sollen nahezu alle Spezialabteilu ngen und nötigen Ausstattungen aufweisen und den höchsten Stand des Gesundheit swesens
in Bosnien-Herzegowina aufweisen.
Es scheint insbesondere im Bereich der sekundären und tertiären Versorgung üblich zu
sein, den ÄrztInnen über das Honorar hinaus noch Geld oder Naturalien zu g eben.
4.2
Probleme der medizinischen Versorgung
Die folgenden Ausführungen basieren wesentlich auf dem bereits erwähnten Bericht des
UNHCR vom Juli 2001: 58 Es ist nicht auszuschliessen, dass sich die Behandlungsmöglic hkeiten bezüglich einzelner Leiden seither verändert – verbessert oder verschlechtert 59 –
haben. Da Veränderungen sich lokal oder regional ereignen, sind verallgemeinerbare Au ssagen kaum zu treffen. Der folgende Überblick will – ohne Anspruch auf Vollständigkeit –
auf Tendenzen und Probleme allgemeiner Art sowie der Behandlung einzelner Leiden hi nweisen. 60 Ob eine spezifische Behandlung an einem bestimmten Ort und in einer bestim mten Institution tatsächlich möglich ist, und ob sie – wenn es um primäre Versorgung geht –
überhaupt bezahlbar ist, lässt sich u.E. gerade bei komplizierteren Leiden und Behan dlungsmethoden nur auf konkrete Anfrage bei der jeweiligen Institution b eantworten.
56
C. Goehring, L. Loutan, H. Stalder, S. 513.
UNHCR, Das Gesundheitswesen..., S. 40.
58 ebenda.
59 Zur Frage, ob die Situation insgesamt besser oder schlechter geworden ist, haben wir a uf unsere Anfragen
entgegengesetzte Einschätzungen erhalten. Der allgemeine Trend scheint nicht auf eine grundsätzliche Ve rbesserung hinzuweisen, während es punktuell solche geben kann.
60 Eine detaillierte Darstellung einzelner Behandlungsmöglichkeiten fi ndet sich im Bericht des UNHCR, Das
Gesundheitswesen...
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4.2.1 Geographische Bedingungen
Ungefähr 70 Prozent der Bevölkerung müssen aufgrund Geldmangels oder fehlendem ö ffentlichen Verkehr zu einem Ambulatorium gehen, statt dorth in gefahren zu werden. Das
kann in ländlichen Gebieten lange dauern 61. Ein Helikopter-Rettungswesen gibt es nicht,
weil Flüge ohne SFOR-Genehmigung nicht erlaubt sind.
4.2.2 Medikamente
Die Liste 62 unentbehrlicher Medikamente der WHO besteht aus ca. 250 -300 Medikamenten,
die in allen Ländern der Welt im Rahmen kostenloser Grundversorgung erhältlich sein sol lten. Die Liste unentbehrlicher Medikamente kann weiter zu einer Positiv -Liste umgearbeitet
werden (solche Medikamente müssen vorrätig sein, kostenlos oder gegen geringe Gebühr
abgegeben werden). Die Liste unentbehrlicher Medikamente in der Föderation besteht aus
etwa 160 Medikamenten, die Positiv-Liste der Republika Srpska aus 105.
Es ist zu betonen, dass diese Listen nichts darüber aussagen, ob die genannten Med ikamente tatsächlich gratis abgegeben werden. Die Mehrzahl der Medikamente kann nur durch
Zahlung des vollen Preises erworben werden. 63
4.2.3 Durchstrahlungsdiagnostik
Je anspruchsvoller die Anforderungen an die Gerätschaften, desto grösser die Schwieri gkeiten der Verfügbarkeit für Durchstrahlungsdiagnosen. PatientInnen, die sich solchen Di agnosen unterziehen, müssen oft mehrere Stunden reisen, um zum Ort der Untersuchung zu
gelangen und müssen zudem oft alle Kosten tragen. Zu Behandlunsgkosten kommen Reis ekosten und die oben genannten Probleme fehlenden Versich erungsschutzes. 64
4.2.4 Schwerwiegende Nierenerkrankungen
Sie können in vielen Zentren behandelt werden, doch ist das medizinische Versorgungsn iveau nicht gesichert und es droht Verschlechterung. Wohl finden sich i n beiden Entitäten je
zehn Dialysezentren, doch ist daraus nicht zu schliessen, dass der Versorgungsstandard für
komplizierte Nierenerkrankungen angemessen ist. Transplantationen können im Sarajevo
und Tuzla vorgenommen werden, doch werden als SpenderInnen nur Familienmitglieder
akzeptiert (keine Verbindung zum Europlant -System) und die PatientInnen müssen den vollen Preis bezahlen (8000-10’000 KM).
4.2.5 Diabetes
Nach dem Gesetz sollten alle an Diabetes erkrankten PatientInnen kostenlose Behandlu ngen erhalten. Doch ist das häufig nicht der Fall und das Versorgungsniveau ist nicht ang emessen. Es ist nicht gewährleistet, dass Medikamente, Insulin, Spritzen, Injektionsnadeln
etc. vorhanden sind. Nach der Entlassung aus dem Spital müssen Patienten jedenfalls den
vollen Preis für Medikamente bezahlen.
4.2.6 Chronische Erkrankungen der Atemwege
In den meisten Kantonen der Föderation, in der Republika Srpska und im Brcko -Distrikt ist
die medizinische Versorgung nicht angemessen (da Medikamente nicht verfügbar sind).
Sauerstoff für den selbständigen Heimgebrauch bei schwerer Dyspnoe ist nicht verfügbar.
61
UNHCR, Das Gesundheitswesen..., S. 41.
ebenda, S. 42.
63 ebenda, S. 42.
64 Vorhandensein dieser Diagnosemethoden in den verschiedenen Ortschaften aus: UNHCR, Das Gesun dheitswesen... S. 43 ff..
62
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Antiobstruktiva und atmungserleichternde Medikamente finden sich zwar auf den Positivl isten in Bosnien-Herzegowina, sind aber in der Regel nicht zu b ekommen.
4.2.7 Kardiovaskuläre Krankheiten
Es gibt nur wenige Behandlungsmöglichkeiten für Bradykardie, die einen Schrittmacher e rfordert, und wo sie vorhanden sind, sind sie sehr teuer. PatientInnen werden oft an Kra nkenhäuser in Belgrad oder in Kroatien verwiesen. Bezüglich der Nachkontro llen nach der
Einpflanzung eines Schrittmachers ist kein angemessener Standard ges ichert.
Wenn eine Herzinsuffizienz nicht zu schwerwiegend ist, ist eine Behandlung möglich. Je
mehr Medikamente ein/e PatientIn benötigt, um so höher ist die W ahrscheinlichke it, dass
das Medikament nicht verfügbar oder jedenfalls nicht kostenfrei sein wird. Die Möglichkeiten
der Herzultraschalluntersuchungen sind mangelhaft. Einfache Fälle von koronarer Her zkrankheit sind behandelbar, schwierige Fälle nicht. Falls PatientInnen nicht in der Nähe
eines grossen medizinischen Zentrums oder in einer vielbevölkerten Zone leben, sind die
Chancen, einen akuten Herzinfarkt zu überl eben, gering.
4.2.8 Koagulations(Blutgerinnungs-)krankheiten
Koagulationsüberprüfungen können durchgeführt werden , kosten teilweise jedoch den vo llen Preis. Gerinnungsmedikamente sind teilweise kostenlos erhältlich, jedoch ist keines der
auf der WHO-Liste aufgeführten Medikamente überall erhältlich. Nachbehandlungen für
Embolien sind nicht verfügbar.
4.2.9 Krebskrankheiten
Die Behandlungsmöglichkeiten für Krebs und Leukämie sind nicht ausreichend. Zytostatika
sind oft, insbesondere in der Republika Srpska nicht verfügbar. Obwohl laut Gesetz Kr ebspatientInnen automatisch unter den Schutz der Pflichtversicherung fallen und Zy tostatika
auf allen Positivlisten aufgeführt sind, sind diese oft nicht vorhanden oder PatientInnen
müssen für diese sehr teuren Medikamente zahlen. Radiotherapie ist begrenzt möglich: Die
Behandlung in Sarajevo ist kostenlos, doch schrumpfen die Ressource n ständig. Ein Teil
der PatientInnen wird nach Split oder Zagreb verwiesen. Die Entscheidung, wer ins Ausland
verwiesen wird, trifft eine Ärzte-Kommission.
4.2.10 Schmerztherapie und palliative Medizin
Der Bedarf an palliativen und Schmerz-Therapien übersteigt bei weitem das, was das Gesundheitswesen leisten kann. Die nötigen Diagnoseverfahren sind oft nicht möglich, weil die
Ausrüstung fehlt oder die Kosten zu hoch sind. Sie wäre nicht nur für PatientInnen mit bö sartigen Krankheiten wichtig, sondern auch für solc he mit chronischen Schmerzsyndromen.
Morphine sind in Ampullenform zur Injektion erhältlich.
4.2.11 Krankheiten der Gelenke, der Wirbelsäule und körperliche Behinderu ngen
Physiotherapie wird in allen Krankenhäusern angeboten. In vielen Gesundheitshäusern ist
mindestens einmal pro Woche eine SpezialistIn zur Betreuung ambulanter PatientInnen a nwesend. Grösster Mangel ist das Fehlen von Medikamenten, vor allem wenn die Krankheit
mit chronischen Schmerzen verbunden ist.
Hüftgelenk- und Kniegelenkersatz hängen von den finanziellen Mitteln der PatientInnen ab.
An der Wirbelsäule sind Behandlungen von Diskushernien möglich, nicht aber die Behan dlung bösartiger Wachstumsprozesse. Die Behandlung rheumatischer Krankheiten wird durch
den Mangel an Medikamenten erschwert, die für die Behandlung dieser Leiden nötig wären.
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4.3
Psychische Traumata
Sechs Jahre nach dem Krieg haben posttraumatische Stress -Syndrome eine neue Dimension angenommen. Depression wurde eine signifikante Komponente des Traumas. 65 Sämtliche Quellen gehen davon aus, dass die Zahl der PatientInnen mit PTBS immer noch a usserordentlich hoch ist und dass es weiterhin einen hohen Bedarf an Behandlung wegen dieses Leidens gibt.
Eine Harvard-Untersuchung, die 1996 begonnen wurde und unter bosnischen Flüchtlingen
in kroatischen Lagern zuerst durchgeführt wurde, zeigte bei einer W iederholung der Unte rsuchung fünf Jahre später, dass es wenig Veränderung gegeben hat. Ein Viertel dieser Pe rsonen litt unter psychischen Problemen, die Symptome, die die Flüchtlinge zeigten, waren
weit ernster als die bei einer gewöhnlichen Depression auftretenden. 66 Eine weitere, unter
Frauen durchgeführte Untersuchung zeigte, dass es fünf Jahre nach dem Krieg bei einer
Mehrzahl untersuchter Frauen eine Verminderung posttraumatischer Stress -Reaktionen
gab, wenn sie in einem psychosozialen Projekt behandelt werden konnten. 23 Prozent di eser Frauen hatten aber immer noch starke Flashbacks. Bei den Frauen in einer Vergleich sgruppe ohne Traumabehandlung waren es 45 Prozent mit starken Flashbacks. Deren psychosomatische Reaktionen waren gleich stark wie nach dem Krieg. 67 Es ist evident, dass es
neben den eigentlichen PTDS-Symptomen etwas gibt, das sich als existenzieller emotionaler Stress oder als soziales Trauma bezeichnen lässt. Die häufigste und überra schendste Antwort bei den geführten Interviews war, dass das Leben gleich schwierig, wenn nicht
schwieriger sei als während des Krieges. Derartige Äusserungen bezogen sich darauf, dass
die Befragten sich ausserstande sahen, die ökonomischen Probleme, insbe sondere den
Lebensunterhalt zu bewältigen, dass befragte Frauen unsicher waren, ihre Kinder überhaupt
ernähren zu können, und dass ein Gefühl der Hoffnungslosigkeit sie beherrschte. Das „s oziale Trauma“, das Gefühl der Unsicherheit, des fehlenden Schutzes, einer ständigen Anspannung und Angst gefährdet die seelische Balance auch dann, wenn sich Symptome
einer posttraumatischen Belastungsstörung abg eschwächt haben. 68
Die Gesellschaft für bedrohte Völker in Bosnien -Herzegowina ist in Verbindung mit der
Frauensektion der ehemaligen Lagerinsassinnen im Kanton Sarajevo. Die Sektion zählt u ngefähr 700 Mitglieder. Die Frauen sind meist Vertriebene aus dem Drina -Tal und leben in
Sarajevo. Sie sind auf die tägliche Einnahme von Medikamenten – meist Beruhigungsmittel
– angewiesen. Diese Frauen sind fast ausschliesslich erwerbslos, müssen die Kosten der
Behandlung selbst tragen – eine beschränkte Zahl von ihnen konnte konnte durch das Ze ntrum für Folteropfer mit kostenlosen Therapien und Medikamenten versorgt werden. D ieses
Zentrum steht allerdings vor der Schliessung. 69
Behandlungen bei Posttraumatischem Stress -Syndrom (PTSD) werden wesentlich von
NGOs ermöglicht und aufrechterhalten. Deren Beteiligung ist jedoch langfristig nicht ges ichert. Die Mehrheit dieser Organisa tionen hat ihre Operationen in Bosnien-Herzegowina
beendet. 70 Die Verantwortung soll an die staatlichen Stellen übergehen, dieser Übergang ist
jedoch noch nicht erfolgt.
65
66
67
68
69
70
Dr. Lilijana Oruc, International War and Peace Reporting, Bosnias traumatized cit izens, 22.12.2001.
Dr. Lilijana Oruc, a.a.O.
Marta Cullberg W eston, Kvinna Till Kvinna Foundation, War is not over with the last bullet, Overcoming
obstacles in the Healing Process for Women in Bosnia-Herzegowina, 2002, S. 29.
Esmina Avdibegovic, Psychiatric clinic Tuzla: Health, mental illness and human rights in Bosnia and Herz egowina, (http://www.cmrh-bosnia.org). Nach der Beobachtung der Autorin finden sich tägli ch in den Zeitungen Meldungen von Personen, die im Zuge der Eigentumsrückgaben aus dem Haus gewiesen wurden, sich
das Leben zu nehmen versuchten oder in psychiatrischen Inst itutionen hospitalisiert wurden.
GfbV-Bosnien-Herzegowina, Mitteilung per Mail vom 20.3.2002.
UNHCR Sarajevo, Auskunft vom 13.5.2002.
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Entscheide der schweizerischen Asylrekurskommission gehen davon aus, dass die B ehandlung traumatisierter Personen in Bosnien-Herzegowina ausreichend gewährleistet sei. 71
4.3.1 Behandlung durch NGOs
Eine grosse Zahl von in Bosnien-Herzegowina registrierten NGOs mag über Möglichkeiten
und Grenzen dieser Organisationen bei der Arbeit mit traumat isierten Personen täuschen.
Die finanzielle internationale Unterstützung geht laufend zurück und es wird immer klarer,
dass der grossen Mehrheit der NGOs organisatorische und finanzielle Nachhaltigkeit fehlt.
Ausser einer kleinen professionalisierten Elite werden die lokalen NGOs den Rückgang der
finanziellen internationalen Beteiligung nicht überl eben. 72
Viele Zielsetzungen von NGOs in Bosnien-Herzgowina - Reform des Gesundheitswesens,
Versöhnung der lokalen Bevölkerung, Schaffung von Treffpunkten und Kinde rgärten, rechtliche Unterstützung, Stärkung von Frauenorganisationen, interreligiöser Dialog etc. - haben
Bedeutung auch für traumatisierte Personen. Professionelle Therapie von NGOs für schwer
und chronisch Traumatisierte konzentriert sich auf einige Städ te wie Sarajevo, Tuzla und
Zenica. Sie kommt überwiegend einer im Verhältnis zum gesamten Bedarf kleinen Gruppe
von Frauen und Kindern zugute, und die NGOs sind primär lokal tätig. Ambulante Lösungen
für weiter entfernt lebende Personen sind möglich, doch können solche Lösungen an den
hohen Fahrkosten scheitern. Die meisten Projekte widmen sich der in den letzten Jahren
stark vermehrten Problematik häuslicher G ewalt.
NGOs berichten darüber, dass sich nach ihrer Erfahrung die psychische Gesundheit von
RückkehrerInnen nach Bosnien-Herzegowina verschlechtert. Als Gründe werden genannt:
Angst vor Nationalismus (besonders bei der Rückkehr in ein Gebiet, wo die RückkehrerI nnen in der Minderheit wären), Unsicherheit bei der W ahrnehmung der Rechte von Rückke hrerInnen und im Zusammenhang mit der W ohnungssuche, Vorbehalte der in Bosnien Herzegowina verbliebenen Bevölkerung gegenüber Flüch tlingen. 73
Folgende NGOs haben unter den ursprünglich zahllosen Projekten überlebt und führen a nerkannte Projekte zur Behandlung traum atisierter Personen:
Medica in Zenica bezeichnet sich als multiethnisches Therapiezentrum, das psychosoziale
Unterstützung und medizinische Behandlung anbietet. Kriegstraumatisierte Frauen werden
von ausgebildeten bosnischen Fachfrauen kurz- und längerfristig begleitet. Ausgehend davon, dass die Situation im heutigen Nachkriegs -Bosnien noch keine positiven Lebensperspektiven bietet, dass drückende Arbeitslosigkeit herrscht und dass die alltäglichen G ewalttaten gegen Frauen zunehmen, bietet Medica eine Anlau fstelle, in der 80 bosnische Fachfrauen beschäftigt sind. Zu zwei Häusern in Zenica gehört eine Beratungsstelle im 40 Kilometer entfernten Visoko. Ärztinnen, Krankenschwestern und Therapeutinnen leisten ambulante und stationäre Hilfe. Angestrebt wird eine langfristige Unterstützung der KlientInnen.
Vive Zene in Tuzla: Das Projekt gewährt psychosoziale Unterstützung für Frauen und Ki nder, die im Krieg traumatisiert wurden, speziell für Frauen und alleinstehende Mütter. Neben
Psychotherapie wird Sozialarbeit, pädagogische Hilfe, medizinische und rechtliche Unte rstützung angeboten. Insgesamt sind 25 Personen angestellt, davon sind 15 vollzeitbeschä f71
III N 362 163 als Beispiel, Entscheid vom 27.3.2002: Die ARK geht von mehr als hundert Projekten aus, in
denen u.a.Traumaberatung und psychosoziale Therapie angeboten werde. In den grösseren Städt en der Föderation fänden sich spezielle Betreuungsangebote in neuropsychiatrischen Abteilungen, der Schwerpunkt
der Behandlungen liege auf dem Gebiet der Traumata und die Behandelnden verfügten über grosse Erfa hrung auf diesem Gebiet.
72 Catriona Mace: The Local NGO Sector in BiH: Capacity and Sustainability, OHR, Human Rights and Rule of
Law Departement.
73 So zum Beispiel psychologisches Zentrum Tuzla, Auskunft vom 16. 7.2002.
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tigt. Es ist einfacher, eine ambulante Behandlung zu bekommen als in die stationäre Ther apie aufgenommen zu werden. Es werden auch Rückkehrerinnen behandelt, doch werden nur
Frauen und Kinder aufgenommen, die schon eine Unterkunft oder W ohnmöglichkeit haben.
Grund dafür ist, dass Vive Zene wegen der prekären W ohnraumsituation den Aufwand für
Wohnungssuche nicht übernehmen kann und will. 74 Pro Jahr erhalten rund 20 Frauen und
etwa 36 Kinder eine stationäre Therapie und 300 Personen werden ambulant therapeutisch
versorgt. Unterstützend arbeiten Pädagoginnen, Sozialarbeiterinnen, eine Ärztin und eine
Krankenschwester mit.
Psychologisches Zentrum in Tuzla: Das Zentrum gibt an, 20 in Traumaarbeit ausgebildete
TherapeutInnen zu haben, die pro Jahr 1000 Personen erreichen. Arbeit ist auch mit dem obilisierten Soldaten möglich, der Schwerpunkt liegt derzeit auf der Arbeit mit Kin dern und
Adoleszenten, auf Drogenprävention und Arbeit bei dissozialem Verha lten. 75
Amica in Tuzla bietet primär Kurse für unterschiedliche Therapieformen an.
Corridor in Sarajevo und Bjelave 76 leistet vor allem, aber nicht ausschliesslich psychos oziale Unterstützung für demobilisierte Soldaten, Sezam in Zenica bietet Kindern Workshops
an, Save the Children organisiert an verschiedenen Orten für Kinder Erholungs - und
Sportprogramme.
Insgesamt können die NGOs im Vergleich zum übergrossen Bedarf nicht umfassend e Hilfe
leisten. Männerprojekte machen einen kleinen Teil des Ang ebots aus. 77
4.3.2 Traumabehandlung in der Psychiatrie
In Bosnien-Herzegowina sind die meisten neurologischen und psychiatrischen Abteilungen
zusammengelegt worden, was zu gefährlichen Zwischenfälle n geführt hat. 78 Der Zustand der
Versorgung in diesen Bereichen ist nicht zufriedenstellend: Fehlende Trennung neurolog ischer und psychiatrischer Stationen, Schwierigkeiten der Medikamentenversorgung und
Mangel an speziell ausgebildetem Betreuungspersonal s ind dafür verantwortlich.
Die Kapazitäten zur Behandlung traumatisierter Menschen innerhalb des nationalen S ystems erscheinen sehr limitiert. Aus Sicht der spezialisierteren NGOs erscheint die Psyc hiatrie in Bosnien-Herzegowina auch nicht als adäquater Ans atz im Zusammenhang mit der
Behandlung Traumatisierter, sie ist eher auf die Behandlung klassischer psychiatrischer
Leiden eingestellt. 79 Zum einen fehlt es an speziell für traumafokussierte Arbeit ausgebi ldeten Personen. Selbst wenn Ärzte oder Schwestern G elegenheit hatten, an Fortbildung zu
Traumatherapie teilzunehmen, haben sich dadurch noch nicht die schwierigen äusseren
Rahmenbedingungen geändert. Es herrscht ein eindeutiger Mangel an Therapieplätzen.
Wegen der dünnen personellen Decke fehlt es zudem an Zeit für Gespräche. Die räumlichen Bedingungen erlauben offenbar nicht immer Gespräche in abgeteilten Zimmern. J edenfalls gilt als ein Zugangshindernis die Angst der PatientInnen davor, dass ihre Identität
und ihre persönlichen Daten nicht strikt vertraul ich behandelt werden. 80
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Auskunft der Programmverantwortlichen der Partnerorganisation IAMANEH/Schweiz vom 25.6.2002.
Auskunft vom 16.7.2002.
Nach einer Auskunft von Corridor vom 18.7.2002 besuchten die Organisation in beiden Zentren in den let zten sechs Monaten 628 Personen, darunter 303 Männer, 157 Frauen, 167 Kinder. 250 dieser Personen k amen zum ersten Mal.
Die Aufzählung der NGOs, die sich mit Traumabehandlung befassen, ist nicht vollzählig. Es handelt sich
aufgrund unserer Recherchen um die professionell geführten und überlebensfähigen Projekte.
UNHCR, Das Gesundheitswesen..., S. 63.
Auskunft Iamaneh vom 25.6.2002, Auskunft psychologisches Zentrum Tuzla vom 16.7.2002.
UNHCR Sarajevo, Auskunft vom 13.5.2002
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Die Behandlung, eher symptom- als ursachenorientiert, besteht vor allem im Einsatz von
Tranquilizern, Schlafmitteln und analgetischer Medikation, selten in psychologischer oder
therapeutischer Beratung. UNHCR betrachtet es als nicht sehr realistisch, sich auf das bisherige nationale Gesundheitssystem zu verlassen, soweit es um die Behandlung von PTSD
geht. 81
4.3.3 "Mental Health"-Zentren
Es sollen, finanziert durch ausländische Partner und die W eltbank, 40 dieser Zentren auf
Gemeindeebene etabliert werden, Personen mit psychischen Schwierigkeiten sollten klin ische Dienste in Anspruch nehmen können und psychosoziale Rehabilitation von im Krieg
traumatisierten Personen soll ebenfalls angeboten werden. Diese Zentren sollen in die b estehenden Gesundheitshäuser, beziehungsweise in die Krankenhäuser integriert werden.
Ziel ist, einen Wechsel von der klinischen Psychiatrie zu einer ambulanten mentalen G esundheitsversorgung zu bewirken. Die Installation der Zentren soll bis April 2004 abg eschlossen sein und jedes soll jeweils für bis zu 60’000 Personen z uständig sein.
Diese Zentren sind in Planung, die meisten existieren bisher nur auf dem Papier, ob sie im
vorgesehenen Zeitraum eingerichtet werden können, ist abzuwarten. Es sollte keinesfalls
von einem bereits funktionierenden Netzwerk dieser "Community Mental Health" -Zentren
ausgegangen werden. Bis wann diese Zentren installiert sind, muss sich noch zeigen, ebenfalls ob sie nachhaltig, d.h von ausländischer Hilfe unabhängig, funktionieren können.
5
Zusammenfassung
Die Frage der Gesundheitsversorgung interessiert vor allem im Zusammenhang mit der
freiwilligen Rückkehr oder der Rückführung von Personen aufgrund eines abgelehnten
Asylgesuchs. Folgende Faktoren sollten in der Einschätzung, ob RückkehrerInn en mit einer
angemessenen Gesundheitsversorgung in Bosnien -Herzegowina rechnen können, in B etracht gezogen werden:
81
82

Die wirtschaftliche Erholung des Landes kommt nicht voran. Prognosen gehen davon
aus, dass die jetzt schon sehr hohe Arbeitslosenquote weiter ansteigen wird. Vorhandene Arbeitsstellen stehen dreimal häufiger Mä nnern als Frauen offen. 82

Ein beträchtlicher Teil der Bevölkerung ist verarmt und benötigt irgendeine Form von
Unterstützung, um überleben zu können (Verwandtennetz, Unterstützung aus der
Diaspora, Unterstützung internationaler humanitärer Organisationen). Flüchtlinge
und intern Vertriebene, RentnerInnen, alleinstehende beziehungsweise alleinerzi ehende Frauen, chronisch kranke Personen sowie körperlich oder geistig Behinderte
sind am stärksten von Armut betroffen, weil sie kaum über regelmässiges Einko mmen oder Reserven verfügen.

Nationalistische Kräfte aller Couleur, die zumindest auf regionaler Ebene nach wie
vor das Sagen haben, versuchen auf verschiedene Art und Weise, die Rückkehr von
Vertriebenen zu hintertreiben. Die Marginalisierung von Minderheiten erfolgt heute
seltener als früher durch Gewalt, eher mit subtilen Methoden: Durch Verzögerung
UNHCR Sarajevo, a.a.O.
Marta Cullberg W eston, Kvinna Till Kvinna Foundation, War is not over with the last bullet, Overcomin g
obstacles in the Healing Process for Women in Bosnia -Herzegowina, 2002, S. 29.
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der Eigentumsrückgabe, durch Erschwerung des Zugangs zur existentiellen Grun dversorgung, zum Arbeitsmarkt, zu Bildung sowie zu Sozia lleistungen.

Der Mangel an elementaren Ressourcen bleibt ein grundlegendes Hindernis für ein
funktionierendes Gesundheitswesen in Bosnien -Herzegowina. Zu diesen Mangelzuständen zählen: Fehlen fortschrittlicher technis cher Ausrüstungen auf dem Land und
Fehlen elementarer Medikamente.

Der gesetzliche Anschein eines universellen Versicherungsschutzes trügt. Die Le istungen für die Versicherten liegen weit unter dem gesetzlichen Standard, zudem ist
ein wesentlicher Teil der Bevölkerung entweder nicht versichert oder hat trotz Vers icherung grosse Probleme, Zugang zu medizinischer Versorgung zu erhalten. Beu nruhigend ist, dass Krankheiten, deren Behandlung in einem besser ausgerüsteten
Land unproblematisch ist, in Bosnien-Herzegowina wegen des Ressourcenmangels
zu lebensbedrohlichen Situationen führen können.

Einer sehr grossen Zahl von noch immer traumatisierten Personen steht in Bosnien Herzegowina ein eingeschränktes Angebot an Unterstützung zur Verfügung. Viele
NGOs, die in diesem Feld tätig waren, sind abgezogen. Solche, die ihre Tätigkeit
fortsetzen und gute Arbeit leisten, sind lokal begrenzt tätig, können somit nur ein
kleiner Teil des Netzwerks sein, das Personen mit Traumata helfen kann. Die staa tliche Psychiatrie ist symptom- und medikamentenorientiert und nur bedingt für
Traumabehandlung geeignet. Ihre personellen und materiellen Kapazitäten sind b egrenzt. "Community Mental Health-Centers" sind in Planung und derzeit noch nicht
in der Lage, die vorhandenen Defizite zu beheben.

Grösstes Problem für traumatisierte Personen ist und bleibt der Mangel an Arbeit sstellen und finanziellen Ressourcen. Die ausbleibende ökonomische Erholung, die
fehlenden wirtschaftlichen Perspektiven in der Nachkriegsphase haben negativen
Einfluss auf den Aufbau eines neuen Lebens. Es fehlt gerade bei den meisten Tra umatisierten an einer stabilen Situation, die eine elementare Voraussetzung für eine
Heilung wäre.

Jegliche Prüfung von Rückkehrmöglichkeiten von chronisch oder lebensbedrohlich
erkrankten Personen sollte eine Untersuchung enthalten, ob die nötigen Medik amente und Behandlungsformen vor Ort überhaupt verfügbar und bezahlbar sind.
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Anhang 1: Übersichtskarte von Bosnien-Herzegowina
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