Hans Peter Thurn: Wer kultiviert den Menschenpark

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Wer kultiviert den Menschenpark?
Hans Peter Thurn
(…) Dass das Zusammenleben auf Erden dereinst (wieder) paradiesische Zustände
annehmen könne, ja dass sogar die menschliche Gesellschaft sich irgendwann ausnehmen
werde wie ein kunstvoll angelegter Garten oder Park, in dem es nur friedlich und freundlich
zugehe – derlei Visionen gehören seit alters zu den Hoffnungen auf ein gedeihliches Dasein.
Dementsprechend quillt das Denken fast aller Epochen über von Spekulationen, wie man es
denn anstellen könne, die soziale Welt in ein hortikulturelles Arkadien zu verwandeln und
wer dazu berufen sei, dies zu tun? Über solche Fragen wird Jahrhunderte lang nicht nur in
Schreibstuben, sondern lieber noch unter freiem Himmel, inmitten gepflegter Natur räsoniert.
Wie schon Cicero die klugen Köpfe seiner Schriften gern an einem locus amoenus zusammenführt, damit dessen Atmosphäre ihre Körper erquickt und den Geist inspiriert, auf dass
sie beherzt der Gesetze des Staates oder der Wonnen der Freundschaft inne werden, so
trifft in durchaus ähnlicher Manier Äonen später Thomas Morus sich mit Fremden und
Freunden zu einer Runde, welche die Idee zum Entwurf jener vollkommenen Weltordnung
gebiert, die einer ganzen Gattung den Namen verleihen wird: der „Utopia“. Bezeichnenderweise handelt es sich dabei um eine Insel inmitten einer (wie die Gesprächspartner
einander im ersten Buch der Schrift versichern) ja keineswegs wohlgeratenen oder gar
vergnüglichen Welt. Doch umso angebrachter erscheint es Morus, dem idealen Gemeinwesen eine Ordnung zu geben, die sich nicht zuletzt aus hortikulturellen Erfahrungen
herleitet. Infolgedessen spielen Gärten und Gärtnerei in Utopia eine wichtige Rolle. (…)
Die soziale Fiktion der „Utopia“ nährt sich aus dem Gärtner-Gleichnis, aus der similitudo ab
agricultura. Wie ihre Vorläuferinnen seit der Antike enthalten unzählige Nachahmungen
dieses Konzepts die Vision eines vormals existierenden, zwischenzeitlich verlorenen,
zukünftig wieder einzurichtenden „Gesellschaftsgartens“. Die kooperative Kultivierung der
Natur, so die Hoffnung, könnte doch auch den Gemeinschaftssinn fördern bis hin zur
Etablierung der ersehnten Körperschaft: des hortus socialis als möglichst viele Bewohner
beglückenden „Menschenparks“. (…)
Der homo creator als Gärtner der Welt, der die agricultura über die cultura animi zum cultus
vitae vorantreibt, mithin Pflege des Geistes und der Seele, Bildung von Hand, Herz und Kopf,
ja des menschlichen Daseins in toto nach dem Erfahrungsmuster agrarischer Naturkultivierung praktiziert: dieser Concetto lebt fort, wird reich variiert und weitet sich aus, über
Plutarchs und des Erasmus „Seelenbildung“, über die Förderung des Intellekts und der
Erfindungskraft bei Thomas Morus und Thomas Hobbes bis zur Wissenserweiterung Francis
Bacons und ihrer aller Nachfolger in sämtlichen Sprachen Europas. (…)
So walten also – real und metaphorisch – nach wie vor widerstreitende Kräfte im
Menschenpark. Dem Gärtner-Hirten-Gleichnis konzeptionell und operativ entgegengesetzt,
sind und bleiben die Vorstellungsbilder und Handlungsmetaphern von Kriegern und Totengräbern gleichwohl mit diesem verzahnt. Erst aus den Wechselbezügen beider semantischer
Pole fügt sich das Gesamtparadigma der hortikulturellen Zivilisation. In dieser hat es freilich
die doch immer noch alles Leben fundierende Natur schwer, sich zu behaupten. Seitdem sie
von Mechanisierung, Technifizierung, Automatisierung ereilt wurde und inzwischen wohl
schon beherrscht wird, droht mit ihr der hortus socialis aus dem Gleichgewicht zu geraten.
Sobald – um nur ein, freilich sattsam bekanntes, Beispiel zu nennen – der Stall zum
elektrifizierten Käfig mutiert, der Geflügelhof zur Legebatterie verkommt, kann ein Bauer, ein
Züchter, der so verfährt, kaum noch als Hüter, Heger seiner Rinder, Schweine, Hühner
gelten. Durchaus ähnliches ereilt mittlerweile uns selbst. Gleich dem Tierpark pervertiert der
Menschenpark. Mit fortschreitender, bekanntlich aus Kriegserfindungen resultierender,
Digitalisierung unterliegt auch der hortus socialis zunehmender elektronischer Kontrolle und
Manipulation. Die einst aus der Aufklärung geborene Demokratie verliert sich in Bürokratie
und Technokratie, in der neuen Unmündigkeit der einen und im kybernetischen Herrschaftswissen anderer. Es gehört nicht viel Phantasie dazu, sich auszumalen, wohin diese Entwicklung mithilfe willfähriger Wissenschaften und profitgieriger Industrien führen kann. Klonierung
und Genmanipulation erlauben in Kürze die Züchtung von „Menschen“-Herden zum Zwecke
industriellen und militärischen Einsatzes. Derlei künstliche Kollektive werden analog zur
Massentierhaltung eine neue, inhumane Variante schon überwunden geglaubter Sklaverei
erleiden. Der hortus bestialis, in dem sie vegetieren, wird kaum mehr Züge jener Kunstgärten, jener geselligen Menschenparks tragen, die einst Lorenz Hirschfeld, Friedrich Schiller
und andere faszinierten. Seine Ästhetik wird eine des Schreckens, nicht des Schönen sein.
Es scheint also, als dankten Gärtner und Hirten ab. Von Maschinen in obskure Reservate
verdrängt, spielen sie an der Schwelle des 21. Jahrhunderts keine nennenswerte Rolle mehr
für den Fortgang der Zivilisation. Krieger und Totengräber scheinen die Welt zu regieren.
Käme heutzutage ein Denker auf die Idee, gleich Pierre-Joseph Proudhon aus seinem
ruinierten Land (wieder) einen „Garten“ machen zu wollen: er müsste (allen politisch „Grünen“ zum Trotz) das Gelächter, den Spott der Leute gewärtigen wie einst Charles Fourier.
Paradies oder Garten Eden, Arkadien oder Elysium taugen den Zeitgenossen nicht mehr zur
Utopie. Dennoch müssen wir an der Vision festhalten, die aus ihnen spricht, an der Hoffnung
auf die Möglichkeit eines verträglichen Lebens im wie auch immer von Widersprüchen nicht
freien hortus socialis.
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