Genetic Matching und Hidden Bias Assessment – eine Methode zur Reduzierung des Selektionsbias in nichtrandomisierten Beobachtungsstudien Rebecca Palm, Deutsches Zentrum für neurodegenerative Erkrankungen, Witten Diana Trutschel, Deutsches Zentrum für neurodegenerative Erkrankungen, Witten Bernhard Holle, Deutsches Zentrum für neurodegenerative Erkrankungen, Witten Michael Simon, Universität Basel, Fakultät für Medizin, Institut für Pflegewissenschaft & Bereich Universitäre Forschung Pflege/Hebammen, Inselspital Bern Kontakt: [email protected] Hintergrund und Zielsetzung Randomisiert-kontrollierte Studien (RCT) gelten als Gold-Standard für den Effektnachweis von Interventionen. Die zufällige Zuteilung von Studienteilnehmern in eine Interventions- und eine Kontrollgruppe garantiert in diesen Studien die zufällige Verteilung ihrer Merkmale und minimiert den Selektionsbias. Für viele Interventionen ist jedoch der Effektnachweis in RCTs aus ethischen oder pragmatischen Gründen nicht möglich; für diese Interventionen müssen alternative Forschungsdesigns und angemessene Analysemethoden angewendet werden. Ein Beispiel stellt die Evaluation von spezialisierten Demenzwohnbereichen dar. Spezialisierte Demenzwohnbereiche sind konzeptualisiert für Menschen mit schweren kognitiven Beeinträchtigungen, deren Mobilität weitestgehend erhalten ist und die schweres herausforderndes Verhalten zeigen (wie z.B. aggressives Verhalten, Wahnvorstellungen). Sie ergänzen in vielen Einrichtungen das Versorgungsangebot der traditionellen Wohnbereiche, auf denen Menschen mit und ohne kognitive Einschränkungen gemeinsam leben (Weyerer, Schäufele, & Hendlmeier, 2010). Eine zufällige Zuteilung von Studienteilnehmern auf Demenzwohnbereiche und traditionelle Wohnbereiche im Rahmen einer experimentellen Studie ist per se ausgeschlossen. Eine Evaluation der Demenzwohnbereiche kann nur in Beobachtungsstudien erfolgen. Ziel des Beitrags ist die Vorstellung der Anwendung der Genetic Matching Methode (Rosenbaum & Rubin, 1983) zur Bildung vergleichbarer Gruppen von Bewohnern von Demenzwohnbereichen und traditionellen Wohnbereichen. Mit Hilfe dieser Methode soll der Selektionsbias, der durch die nicht-zufällige Zuteilung der Studienteilnehmer entsteht, minimiert werden. Methoden Im Rahmen der Studie DemenzMonitor (Palm, Köhler, Schwab, Bartholomeyczik, & Holle, 2013) wurden im Jahr 2013 Daten von 51 Einrichtungen der stationären Altenhilfe, 109 Wohnbereichen und 1808 Bewohnern erhoben. Ziel der Studie ist die Evaluation der Anwendung demenzspezifischer Interventionen im Hinblick auf strukturelle Unterschiede zwischen den Wohnbereichen. Zu diesem Zweck wurden anhand definierter Kriterien Bewohner spezialisierter Demenzwohnbereiche (n=258) und traditioneller Wohnbereiche (n=630) aus der Gesamtstichprobe selektiert, um sie hinsichtlich der Anwendung demenzspezifischer Intervention zu vergleichen (Palm, Trutschel, Simon, Bartholomeyczik, & Holle, 2015). Vor dem Matching wurden die Charakteristika der Bewohner in beiden Gruppen anhand deskriptiver Analysen auf Unterschiede untersucht. Für das MatchingVerfahren wurden anschließend die Variablen ausgewählt, die als Aufnahmekriterien für einen Demenzwohnbereich gelten (Kovariaten): Pflegestufe, Mobilität, kognitive Einschränkung, Stärke des herausforderndes Verhaltens sowie das Vorliegen einer Demenzdiagnose. Des Weiteren wurden das Alter, das Geschlecht sowie der letzte Wohnort der Teilnehmer als Matching-Kriterien angewendet. Um eine optimale Balance dieser Kovariaten zu erreichen, d.h. dass die beobachteten Variablen in beiden Gruppen gleich verteilt sind, wurde das Genetic Matching angewendet (Diamond & Sekhon, 2012). Die Güte des Matchings wurde beurteilt, in dem die Kovariaten nach dem Matching auf signifikante Unterschiede untersucht wurden. Die Robustheit des Matchings wurde anhand einer Sensitivitätsanalyse auf Grundlage der „Rosenbaum Bounds“ geschätzt (Rosenbaum, 2002). Dieses sogenannte Hidden Bias Assessment zeigt, bis zu welchem Ausmaß die Zuteilung zu der Interventions-, bzw. Kontrollgruppe durch nicht-beobachtete Variablen beeinflusst werden müsste, um das Ergebnis der Untersuchung umstoßen zu können(Simon, 2015). Ergebnisse In der Gesamtstichprobe wurden statistisch signifikante Unterschiede zwischen Bewohnern von spezialisierten und traditionellen Wohnbereichen in Bezug auf das Alter, die Mobilität, das Vorliegen einer Demenzdiagnose, die Stärke von kognitiven Einschränkungen sowie des Verhaltens gefunden. Die Matching-Prozedur generierte eine Stichprobe von 246 Bewohnern in beiden Gruppen. Zwischen den beiden Gruppen bestand nach dem Matching lediglich ein signifikanter Unterschied im Hinblick auf die Schwere der kognitiven Einschränkung. Alle anderen Charakteristika unterschieden sich zwischen den beiden Gruppen nach dem Matching nicht mehr signifikant. Das Hidden Bias Assessment zeigte jedoch, dass das Ergebnis der Untersuchung eher anfällig für eine Verzerrung durch unbeobachtete Variablen, die zugleich Einfluss auf die Zuteilung in die Gruppen als auch auf die Outcome-Variable nehmen, ist. Diskussion und Ausblick Die Methode des Genetic Matchings bietet die Möglichkeit, den Selektionsbias in Beobachtungsstudien zu verringern, indem Gruppen mit vergleichbaren Charakteristika generiert werden. Die Verzerrung eines Effekts durch nichtbeobachtete Variablen kann auch dadurch nicht ausgeschlossen werden. Das Hidden Bias Assessment jedoch erlaubt, einzuschätzen, wie robust das Ergebnis gegenüber unbeobachteten Variablen ist. Im Gegensatz zur ubiquitären Regressionsanalyse bietet das Genetic Matching mit Hidden Bias Assessment ein höheres Maß an Transparenz. Literaturangaben Diamond, A., & Sekhon, J. S. (2012). Genetic Matching for Estimating Causal Effects: A General Multivariate Matching Method for Achieving Balance in Observational Studies. Rev Econ Stat, March 14. Palm, R., Köhler, K., Schwab, C. G., Bartholomeyczik, S., & Holle, B. (2013). Longitudinal evaluation of dementia care in German nursing homes: the "DemenzMonitor" study protocol. BMC Geriatr, 13, 123. Palm, R., Trutschel, D., Simon, M., Bartholomeyczik, S., & Holle, B. (2015). Differences regarding the provision of case conferences in dementia- specialized versus non-specialized care units: results from a cross-sectional study. JAMDA (accepted for publication). Rosenbaum, P. R. (2002). Observational studies (Vol. 2.Aufl.). New York: Springer. Rosenbaum, P. R., & Rubin, D. B. (1983). The central role of the propensity score in observational studies for causal effects. Biometrika, 70(1), 41-55. Simon, M. (2015). Propensity Score Matching. In A. Glasper & C. Rees (Eds.), Healthcare Research at a glance: to be published in Wiley Weyerer, S., Schäufele, M., & Hendlmeier, I. (2010). Evaluation of special and traditional dementia care in nursing homes: results from a cross-sectional study in Germany. Int J Geriatr Psychiatry, 25(11), 1159-1167.