Exzerpt_Mueller (II)

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Exzerpt 2 von N. Müller
Der Medizinisch Umgang mit der Person
Die Fabrikation des Körpers in der Chirurgie (S. Hirschauer 1996)
Die Chirurgie soll als Praxis einer angewendeten Humanwissenschaft untersucht werden,
wobei verschiedene Aspekte, wie zum Beispiel die Eigentümlichkeit einer hochgeschulten
und technisch verstärkten optischen Wahrnehmung, für die Soziologie interessant erscheinen.
Es wird die Frage aufgeworfen, wie Patientenkörper dazu gebracht werden, die Eigenschaften
anatomischer Bilder zu verkörpern. Da es nur wenige Beobachtungsstudien gibt, wird oft auf
die Selbstbeschreibung in Texten und Interviews zurückgegriffen, in denen jedoch keine
Personen auftauchen, sondern stattdessen Organbezeichnungen und Praktiken. Außerdem
lassen sich zwei verschiedene Metaphoriken finden, nach denen militärische bzw. Begriffe
aus dem Sport in der Chirurgie verwendet werden. Hier wird deshalb die Perspektive einer
kultursoziologischen Beobachtung und einer doppelten Antizipation gewählt: der ärztliche
Blick und der potenzielle Bericht des Patienten. Damit soll die Lücke zwischen den
Beobachtungsstudien und den Selbstbeschreibungen geschlossen werden.
Durch die Operationsbekleidung wird die Person des Chirurgen isoliert und nur schwer als
Person identifizierbar. Zudem ist er in seiner Mobilität stark eingeschränkt, da er sich
während der OP nicht vom OP-Tisch wegbewegen kann und seine Hände als Werkzeug nur
für die OP benutzen darf. Für andere notwendige Bewegungen ist er auf die Hilfe anderer
angewiesen. Der Körper des Chirurgen wird dadurch zum Instrument.
Der Patient wird optisch auf die relevanten Körperteile reduziert. Da er die Vorgänge
unmittelbar vor der OP meist nicht vollständig versteht, steht er sowohl im Mittelpunkt, als
auch im Abseits der Situation. Nach der Narkose ist der Patient als Person abwesend und das
Verhalten der Ärzte ändert sich. Durch die Vorbereitungen im OP wird der Körper in
Regionen eingeteilt und anonymisiert. Die Lebensfunktionen des Patienten werden durch die
Narkose auf Geräte externalisiert und vom Anästhesisten überwacht und interpretiert.
Anästhesisten erscheinen deshalb als Vermittler zwischen Patient und Chirurg. Das
Operationsteam tritt als hierarchisch organisierter Chirurgenkörper auf, der wie eine Maschine
funktioniert. Dabei werden nun leitende, assistierende, instrumentalisierende und laufende
Hände unterschieden, die gemeinsam unter Anweisungen operieren. Gleichzeitig bleiben die
Assistenten als eigene Personen, da sie bei der OP ausgebildet werden.
Die Ausgliederung des Patienten aus seinem Körper verhindert Scham und schützt ihn
dadurch. Für den Arzt verhindert es ebenfalls Scham- und Schuldgefühle. Der
Operationsraum dient als Schutzraum, der strikt von Alltagssituationen getrennt ist, in denen
Körperteile unterschiedlich behandelt werden. Die Sterilitätsvorkehrungen trennen den
Patientenkörper vom Fremden; Sauberkeit wird damit immer relativ zum Patientenkörper
gesehen. Die Sterilitätszonen rekonstruieren damit die verletzte Haut, die der Patient selbst
nicht schützen kann.
Nach Foucault wird der Mensch auf zwei Weisen beschrieben: anatomisch-metaphysisch und
technisch-politisch. Verbunden wird dies durch die Gelehrigkeit. Chirurgen lernen nicht nur,
indem sie den eigenen Körper ausbilden, sondern auch durch das Einprägen des abstrakten
Körpers des Anatomieatlas. Sie lernen die Anatomie daher vor allem beim Operieren. Da es
nicht leicht ist anatomische Strukturen am Patientenkörper wiederzuerkennen, beschränken
sich Chirurgen auf ein Teilgebiet, das sie theoretisch und praktisch kennen lernen. Der
Patientenkörper lehrt, wie ein imaginärer anatomischer Körper sichtbar gemacht wird und
dient zugleich als Modell. Der chirurgische Blick versucht deshalb mithilfe von Technologien
und Instrumenten die lokalen Beschränkungen des Auges zu umgehen und dadurch mehr zu
erkennen. Es entsteht dadurch ein Konflikt zwischen der modernen Chirurgie und dem
gesellschaftlichen Umfeld, weshalb sich der Chirurg an das erinnern muss, was er eigentlich
hinter sich lassen will: die Wertschätzung von Personen und normalen Körpern als
lebensweltliche Einbindungen.
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