Anders Forsmark Die Grammatik des Abstands oder die symbolische Ordnung der Entfernung Suggestionsräume und Blickräume in der Fotografie Theoretische Diplomarbeit an der HGB Leipzig im Wintersemester 2014 Betreuer: Prof. Thomas Weski Klassenleiter: Prof. Peter Piller Fachbereich: Fotografie Abgabetermin: 1. Dezember 2014 Inhaltsverzeichnis 1. Einführung 1.1 1 Zwei Ansichten von Florenz 2 2. Suggestionsräume in der Fotografie und ihr Bezug zum Körper 3 2.1 Die Fotografie als Verlängerung des Körpers 3 2.2 Die Sprache des Apparates und die Konstruktion des Blickes 4 2.3 Die zentralperspektivische Grammatik 7 2.4 Die Vermessung des Blickes und der exakte Ausgangspunkt der 10 Betrachtung 2.5 Camera Obscura und die Trennung des Blickes vom Körper 11 2.6 Die Fotografie und die suggerierte Nähe - "Ein gutes Bild" 13 3. Der ferne Blick - Blickräume in der Fotografie 3.1 John Gossage: There and Gone 3.2 Beat Streuli 3.3 Frederick H. Evans - Der dichte Bildraum des Teleobjektivs 3.4 Paul Strand: Wall Street 3.5 Das geometrische System des Teleobjektivs – Augenpunkt ist nicht gleich 15 15 16 19 21 23 Ausgangspunkt 4. Schlussbetrachtung 24 Literatur 26 Abildungsverzeichnis 28 1. Einführung "You can use telephoto focal lengths, but the results lack vitality. In order to make a good photograph, you have to be there. With a telephoto focal length, you're not there. Use them for wildlife and sports, not people."1 Um ferne Objekte des Weltalls wie auch kleine Teilchen des Mikrokosmos' für das bloße Auge sichtbar zu machen, wurde der fotografische Apparat kurz nach seiner Erfindung mit optischen Instrumenten wie dem Mikroskop und dem Teleskop erweitert. Heute steht dem Berufsfotografen eine fast unendliche Vielzahl an Objektiven zur Verfügung und der kleine Knipser des Familienvaters ist beinahe immer mit einem Zoom versehen, der die stufenlose Veränderung der Brennweite ermöglicht. Für jede vorstellbare Aufnahmesituation und für jeglichen Abstand zum Motiv gibt es eine passende Brennweite. Allerdings gilt Robert Capas Haltung "If your photographs aren't good enough, you're not close enough" immernoch als Maxime der Reportagefotografie und als Devise vieler Amateure (Abb. 15 und 16). Wie die beiden Zitate zeigen, scheint es unter Berufsfotografen wie auch unter vielen ambitionierten Amateuren einen weit verbreiteteten Konsens zu geben, was eigentlich eine gute Fotografie ist und mit welchen Mitteln dieses Bild hervorgebracht wird. Um gute Bilder zu erzeugen, gilt es, in der Nähe des Motivs zu arbeiten und aus der Mitte der Geschehnisse zu schöpfen. Die Verwendung von längeren Brennweiten eignet sich, dieser Meinung nach, ausschließlich für Situationen, bei denen die Distanz nicht anders zu überwinden ist. Wie Robert Adams in seinem Buch "Beauty in Photography" (1981) feststellt, wird auch in der Kunst meist mit einem leichten Weitwinkelobjektiv oder einem Normalobjektiv gearbeitet: "How many photographers of importance, after all, have relied on long telephoto lenses?"2 In Lehrbüchern der Fotografie wird in diesem Zusammenhang oft auf die Bedeutung von Diagonalen für die Bildgestaltung hingewiesen: Während der Weitwinkel diese verstärkt betont und so dramatische Bilder hervorbringt, tendiert die Aufnahme aus der Ferne dazu, Horizontale aus ihnen zu machen, was eher stille, ruhige Bilder hervorbringt. Während das Teleobjektiv den Raum verdichtet und Bildebenen aufeinander schichtet, bestärkt der Weitwinkel die perspektivische Wirkung des Bildraums. Nur anhand von Bildgeometrie und ohne auf die implizierte Bedeutung 1 http://www.photokaboom.com/photography/learn/tips/111_focal_lengths_guide.htm 2 Robert Adams: Beauty in Photography: Essays in Defense of Traditional Values (1981), Aperture, New York 1996, S. 30 dieser Geometrie einzugehen, lässt sich aber nicht erklären, wieso "gute Bilder" nur aus der Nähe aufgenommen werden können. Dieser Text soll von der Distanz in der Fotografie handeln und wird untersuchen, wie diese die Bildräume und das Bedeutungssystem der Fotografie beeinflusst. Zunächst soll eine generelle Untersuchung des fotografischen Raumes vorgenommen werden. Dabei wird vor allem der körperliche Bezug zwischen Betrachter und Bildraum analysiert und deren Verbindung durch den fotografischen Blick. Die Fotografie bzw. der fotografische Apparat steht hier in einem engen Bezug zu dem geometrischen System der Renaissancemalerei und zum Modell der Camera Obscura. Weiter möchte ich in diesem Zusammenhang beantworten, was "eine gute Fotografie" im Sinne von Capa ausmacht. Im zweiten Teil des Textes sollen dann die Blicke in die Ferne bzw. die Blickräume des Teleobjektivs exemplarisch an fotografischen Positionen untersucht werden. 1.1 Zwei Ansichten von Florenz Die Arbeit mit der Kamera zwingt den Fotografen dazu, die genaue Position im Raum zu wählen, von der aus seine Aufnahmen gemacht werden. Das Bild entsteht aus dieser Position und bedingt sich aus ihr. Bei der Betrachtung einer Stadtansicht von Florenz aus dem Jahre 1342 wird deutlich klar, dass sich der unbekannte Maler nicht zu dieser Entscheidung gezwungen fühlte (Abb. 1). Als Betrachter seiner Darstellung blicke ich in einen Raum hinein. Die repräsentative Darstellung der Stadt zeigt bestimmte Gebäude wie das Baptisterium oder den Glockenturm von Giotto, sogar die Kathedrale Santa Maria del Fiore während ihrer Entstehung. Es handelt sich um die Darstellung des Realen, um ein Zeitdokument. Eine eindeutige Antwort auf die Frage, aus welcher Position diese Darstellung gemalt ist, aus welcher konkreten Distanz also, gibt es hier jedoch nicht. Der Standort meines Blickes ist nicht real: Das Bild bietet eine Übersicht der Stadt, in der dichten Darstellung der Architektur wird mir aber zugleich die Vorstellung vermittelt, als befände ich mich in ihrem Inneren und mein Blick wird auf eine eigenartige Weise vom Bildraum umschlossen. Hundert Jahre später ist die Kathedrale fertig, sogar Brunelleschis Kuppel krönt das Bauwerk (Abb. 2). Nun wird die Stadt aber von einem realen Ort aus betrachtet, der eindeutig außerhalb dieser liegt. 2. Suggestionsräume in der Fotografie und ihr Bezug zum Körper 2.1 Die Fotografie als Verlängerung des Körpers Seit die Fotografie erfunden wurde, ein Ereignis, das oft mit einer Entdeckung verwechselt worden ist, ist sie mit dem Begriff des Natürlichen verhaftet und ihre Konstruktion des Bildes als ein Blick wird oft in einem analogen Verhältnis zum Sehapparat des Menschen gesehen: Ihr Bild entstehe letztendlich aus den gleichen natürlichen, physikalischen und optischen Phänomenen, die auch das Sehbild des Auges bedingen; der Fotograf sei bei dem Abbildungsprozess, der außerhalb von ihm stattfinde, bloß ein Begleiter, der die Kamera steuert. Mit dem Vormarsch der wissenschaftlichen Nutzung fotografischer Bilder (Astrofotografie, Mikroskopie, Röntgenfotografie etc.) im frühen 20. Jahrhundert konnte sich die Fotografie als "wahre" Erkenntnisbringerin bewähren und durch die Tatsache, dass sie den Blick in bis dahin unerforschte Sphären ermöglichte, entstand ein fast grenzenloser Glaube an ihre Fähigkeiten, der sich z.B. in der Geisterfotografie und in den Versuchen äußerte, Gedanken mit Hilfe der Kamera abzubilden. Obwohl die wissenschaftliche Verwendung der Fotografie nur eines ihrer Teilgebiete war, wurden ihre Bilder, im Gegensatz zu anderen Bildern, eher in einen wissenschaftlichen Zusammenhang eingeordnet als in die Kunst. Hier wurden sie meist als bloße Wiedergabe der Natur betrachtet. Seit William Henry Fox Talbot 1844 sein bekanntes Buch "The Pencil of Nature" betitelte, hat die Theorie der Fotografie jedoch einiges geleistet, um dieses Bild zu differenzieren. Die alltägliche Produktion und Verwendung von Fotografie hat sich in dieser Hinsicht allerdings wenig verändert: Sie beliefert uns mit Bildern aus aller Welt und suggeriert uns, dass wir an den Weltgeschehnissen Teil haben; immer wieder wird von bekannten und unbekannten Fotografen behauptet, die Kamera sei die Verlängerung des Auges3 und das Abbild die des Blickes. Betrachter wie Fotograf sehen sich hier in einem körperlichen Verhältnis zu dem Medium. So lässt sich vielleicht auch die Tatsache erklären, dass kaum ein anderer technischer Apparat von seinem Nutzer so minutiös getestet, überprüft und optimiert wird wie der fotografische: Dies ist als eine Form der Selbstoptimierung zu begreifen. Die hauptsächliche Funktion zentralperspektivischer Bilder war und ist immer noch die eines 3 So stellt Wim Wenders in einem Interview Folgendes fest: "Die kleinen digitalen Kameras erlauben es, den Menschen auf den Leib zu rücken, ohne sie zu bedrängen, und erzeugen darüber hinaus gerade in extremer Nähe Bilder von bestechender Qualität, während sie bei Totalen noch recht versagen. Sie sind ein neues Werkzeug für unser Auge - sozusagen seine Verlängerung." Siehe: "Verlängerung des Auges. Regisseur Wim Wenders über die Umwälzung des Kinos durch die Digitaltechnik und die Folgen für die Filmkunst." In: Der Spiegel. 25.8.2003. Und auch Henri Cartier-Bresson hat über seine Leica gesagt: "Sie wurde die Verlängerung meines Auges und verließ mich nicht mehr. "Seine Kamera bestand "nur aus Glas und Metall" und er war der Meinung, dass "[...] die Photozelle [...] überflüssig [ist]: Sie fördert die Faulheit des Auges; man muß den Wert erst selbst erraten und kann ihn später eventuell prüfen." Siehe: "Meister des "Moment décisif". Der Fotograf Henri Cartier-Bresson ist tot." In: Frankfurter Allgemeine Zeitung. 05.08.2004 Suggestionsraumes, in dem dem Betrachter suggeriert wird, dass er vor, also nah an, etwas steht, was in Wirklichkeit weit weg ist oder sogar erdichtet wurde. 2.2 Die Sprache des Apparates und die Konstruktion des Blickes In den 60er und 70er Jahren des 20. Jahrhunderts setzten sich vermehrt Künstler und Theoretiker mit der Fotografie auseinander. Dabei ging es nicht primär um die Erzeugung wirkungsvollerer Bilder - dies war in erster Linie den Werbe- und Presseleuten vorbehalten -, sondern darum, das Wesen des Apparates zu ergründen und das Bedeutungssystem der Fotografie zu verstehen. Einen der wichtigsten Beiträge zu diesem kritischen Diskurs der Fotografie leistete die Semiologie und hier vor allem der französischen Theoretiker Roland Barthes.4 Seinen Bemühungen nach galt es zu zeigen, dass die Fotografie keine ”natürliche” Wiedergabe der Welt sei, sondern als Träger von sprachlichen Botschaften zu begreifen ist. In der Frühphase seiner Beschäftigung mit Bildern, die man der strukturalistischen Semiologie zuordnet, galt sein Interesse vor allem dem Zusammenspiel zweier untrennbarer Eigenschaften der Fotografie: ein uncodiertes Analogon (eine "Kopie" bzw. "Aufzeichnung") zu sein, was zugleich als Träger eines sekundären codierten (kulturellen) Bedeutungssystems funktioniert. Anhand eines Reklamebildes gelingt es Barthes, eine Reihe Botschaften aufzuzeigen, dessen Bedeutung erst durch die Kenntnis von Konnotationscodes lesbar sind.5 Barthes stellt allerdings fest, dass ein Informationsgehalt auch dann noch bleibt, wenn man diese codierten Zeichen vom Bild abzieht. Dies ist der buchstäbliche Sinn des Bildes, die reine Aufzeichnung, die durch den fotografischen Apparat bedingt ist. Da die codierten bzw. kulturellen Botschaften immer in der analogen Wiedergabe eingebettet sind, erscheinen auch sie unschuldig und ”natürlich”. Diese untrennbare Verbindung, die Barthes ”die Rhetorik der Fotografie” bezeichnet, ist das, was dem fotografischen Abbild seine besondere Glaubwürdigkeit verleiht und 4 Vgl. zu den folgenden Ausführungen Roland Barthes: "Rhetorik des Bildes" (1964), in: Ders.: Der entgegenkommende und der stumpfe Sinn, Edition Suhrkamp, Frankfurt am Main 1990, S. 31ff. 5 Als Beispiel zieht Roland Barthes ein Werbebild des Teigwarenherstellers Panzani heran (Abb. 13). Die buchstäbliche Bedeutung, das Analogon, impliziert eine Tautologie: Die abgebildete Teigwarenpackung bedeutet buchstäblich nichts anders als "Teigwarenpackung" und entspricht einer analogen Wiedergabe ohne Code. Dagegen ist die codierte Bedeutung, oder die Konnotation, von einem kulturellen Wissen abhängig. Als Beispiel nennt Barthes die Farbgebung der Werbung und den Name des Pastaherstellers "Panzani". Der in Frankreich italienisch klingende Name sowie die Farben vermitteln die Vorstellung von Italienität. Die Dekodierung dieser Botschaften beruht auf der Kenntnis gewisser "touristischer Stereotype" - Italiener können die Konnotation des Eigennamens kaum wahrnehmen. Vgl. Ebd. S. 34f. die Fotografie, z.B. für Presse und Werbung, zum effektiven Mittel bei der Vermittlung und Produktion von Ideologie macht. Fotografien werden wie Texte gelesen, aber da die codierten Botschaften in einer suggerierten Natürlichkeit getarnt werden, ist sich der Betrachter der Dekodierung nicht immer bewusst. Victor Burgin hat diesen Gedankengang fortgesetzt, zugleich aber auf die für die Bedeutungsproduktion der Fotografie unerlässliche Konstruktion des Blickes aufmerksam gemacht.6 Will man, so Burgin, das sprachliche System der Fotografie verstehen, reicht es nicht allein, das Bild zu analysieren; zugleich müssen ”die der Performanz der Äußerung selbst innewohnenden ideologischen Implikationen”7 berücksichtigt werden. Die Theorie der Fotografie muss ihr Augenmerk auf Objekt und Subjekt richten, die innerhalb des technischen Apparates konstituiert werden. Wie auch die klassische Malerei bildet die Fotografie eine Szene ab und entwirft zugleich den Blick des Betrachters auf sie: Ein Objekt wird hervorgebracht und zugleich wird das betrachtende Subjekt konstituiert. Das fotografische Bild ist zwar im Sinne Barthes' eine sprachliche Botschaft, allerdings weist Burgin hier deutlicher darauf hin, dass die Fotografie - unabhängig davon, was abgebildet wird und allein aufgrund der Tatsache, dass sie den Blick des Betrachters bestimmt und ihn ins Bild hineinzieht - ein ideologisches Modell ist. Wie auch die zentralperspektivischen Bilder der Renaissance bedient sich der fotografische Apparat den optischen bzw. geometrischen Gesetzen der Linearprojektion8. Ausgehend von einem bestimmten Standort wird das Bild organisiert, um dem Betrachter so zu erscheinen, als könnte er hindurch schauen9, als würden seine Blicke nahtlos in die Konstruktion des Bildes und dessen suggerierten Blick übergehen. Auch nach Vilém Flusser ist der Apparat10, wie er die Kamera definiert, weder natürlich noch neutral. 6 Vgl. zu den folgenden Ausführungen Victor Burgin: "Fotografien betrachten" (1977), in: Wolfgang Kemp (Hrsg.): Theorie der Fotografie Band III, Schirmer Mosel, München 2006, S. 252ff. 7 Ebd. S. 254 8 Nur durch das optische Gesetz der Linearprojektion lässt sich erklären, wie ein Tier, groß wie ein Elefant, durch die winzige Pupille des Auges dringen kann. Die Grundzüge für dieses Phänomen sind längst vor der Fotografie und den Malern des Quattrocento bekannt: Bereits der chinesische Denker Mo Tzu und auch Aristoteles hatten schon im 4. Jahrhundert v. Chr. die lineare Ausbreitung des Lichts erkannt und beschrieben, dass Lichtstrahlen, die durch ein kleines Loch fallen, ein auf den Kopf gestelltes Bild projizieren. 9 Perspektive: Lat. perspicere: hindurchsehen, hindurchblicken 10 Mit dem Begriff "Apparat" bezeichnet Vilém Flusser zuerst die Kamera, aber auch die Fotografie als Ganzes in ihrem gesellschaftlichen Kontext: ihre Industrie, Vermittlung und ihr Gebrauch. Vgl. Vilém Flusser: En Filosofie för Fotografin (1983), Bokförlaget Korpen, Göteborg 1983, S. 25f. Sie lässt sich nicht, wie bei einem Werkzeug, als Erweiterung bestimmter Funktionen des menschlichen Körpers definieren, so wie sich der Hammer zum Beispiel als Verlängerung der Faust beschreiben lässt. Im Unterschied zu den Werkzeugen ist der fotografische Apparat programmiert – und zur Ausführung eines genauen Vorgangs bestimmt. Demnach ist die Kamera nicht dem Auge ähnlich, sondern wurde zur Produktion von Bildern geschaffen, die uns als Verlängerung des Blickes erscheinen. Das fotografische Programm ist auf eine systematische Täuschung ausgelegt und je transparenter das Bild wirkt, desto geringer scheint der Bedarf, dass es gelesen werden muss. Es ist also nicht sehr verwunderlich, dass von der Fotografie seit ihrer Geburtsstunde behauptet wurde, sie sei eine Verlängerung des Auges: Diese Suggestion ist dem Signifikantensystem der Fotografie selbst inhärent. Sie ist Teil des Programms. Bei der Fotografie kommen also zwei verschiedene Bild-Konzepte zusammen, die sich gegenseitig bedingen: einerseits die analoge Aufzeichnung des Apparates, das Analogon, das Roland Barthes in der Rhetorik des Bildes beschrieben hat und andererseits die aus der Renaissance stammende Konzeption des Bildes als eine Blickbeziehung zwischen Betrachter und dem Bildraum. Um die Bedeutung der Distanz für die Konstruktion dieser Blickräume zu verstehen, ist es an dieser Stelle aufschlussreich, die Zentralperspektive, ihre Geometrie und ihre Entstehungsgeschichte zu betrachten, um dann später wieder zur Fotografie zurückzukehren. 2.3 Die zentralperspektivische Grammatik Die Systematik, oder genauer gesagt Grammatik11, nach der der fotografische Apparat seine Elemente organisiert, lässt sich bis zur Erfindung der Camera Obscura und die aus ihr entsprungene Erfindung der Zentralperspektive zurückverfolgen. So wie die Camera Obscura bedient sich die Fotografie dem optischen Phänomen der Linearprojektion und hier lässt sich die Wurzel der scheinbaren Analogie dieser beiden mit der Sicht des Auges finden - denn auch das Auge hat der Linearprojektion seine perspektivische Wirkung zu verdanken.12 Bei der Erfindung der 11 Da die Zentralperspektive ein Ordnungssystem von sprachlichen Einheiten ist, das im Verhältnis zu dem Betrachter steht, wurde Hubert Damisch dazu veranlasst von ihr als einer "Art Grammatik" zu sprechen. Vgl. Hubert Damisch, Der Ursprung der Perspektive, Diaphanes Verlag, Zürich 2010, S. 30ff. 12 Allerdings kann das linearperspektivische Abbild per se nicht natürlich sein; das Bild ist immer ein Artefakt. Auch würde die kühne Annahme, dass die Fotografie dem menschlichen Blick entspricht, die visuelle Wahrnehmung auf eine bloße optische bzw. geometrische Angelegenheit reduzieren und würde die Tatsache vernachlässigen, dass die Sehbilder der menschlichen Wahrnehmung nicht allein im Auge, Zentralperspektive in der Renaissance wurde das optische Gesetz der Linearprojektion auf das Bild übertragen und das Bild als Projektionsfläche definiert. Diese Bildauffassung bzw. Bildgrammatik ersetzt während der Renaissance die theozentristische. Im Mittelalter bestand die wesentliche Funktion des Bildes schließlich noch darin, der Bevölkerung, die zum Großteil analphabetisch war, die biblischen Geschichten zu vermitteln. Das Bild war konzipiert und aufgebaut, um gelesen zu werden und seine Symbolsprache war eher von etablierten Bildkonventionen bestimmt als davon, wie die Dinge dem betrachtenden Auge erscheinen. Das Bild funktionierte als Träger von hauptsächlich religiösen Symbolen, die zugleich die Ordnung des Bildes bestimmten; Komposition und Größenverhältnisse im Bild wurden in Abhängigkeit zu der Bedeutung der jeweiligen Bildelemente bzw. Symbole festgesetzt: Etwas von großer Bedeutung wurde groß abgebildet; räumliche Beziehungen, wie zum Beispiel Abstände, wurden für unwichtig gehalten und nicht dargestellt. Im späten Mittelalter jedoch wandten sich die Künstler peu à peu von diesen standardisierten Darstellungsformen, einem immer wiederkehrenden Symbolkanon, ab und interessierten sich vermehrt für die Erscheinungsformen der Wirklichkeit. Mit dem verstärkten Interesse daran, wie die Dinge dem Menschen erscheinen bzw. erscheinen könnten13 - es handelte sich noch immer fast ausschließlich um Darstellungen biblischer Motive - gewann der Blick für die Konzeption des Bildes an Bedeutung. Komposition und Größenverhältnisse des Bildes wurden zunehmend in Bezug auf den erfahrenden Betrachter bestimmt. So wandelte sich die Funktion des Bildes, vom kleinen Lesebild des Mittelalters hin zum großformatigen Erfahrungsbild der Renaissance. Die Hintergründe für diesen Wandel sind auch weit außerhalb der Kunst anzutreffen und betreffen nicht nur das Bild. Andeutungsweise will ich hier nennen, dass sie mit einem zur gleichen Zeit stattfindenden erkenntnistheoretischen Diskurs zusammenhängen und der vermehrt vertretenen Auffassung, dass die Wahrnehmung der Welt zur Erkenntnis führen könne.14 Im Mittelalter widmete man sich, statt sich der Außenwelt zuzuwenden, den "inneren Sinnen". Der Wandel hin zum zentralperspektivischen Bild wird auch oft in Zusammenhang mit weitgreifenden sondern gleichwohl im Gehirn entstehen. 13 bzw. wie die biblichen Geschichten als "wirkliche" Ereignisse dargestellt werden könnten 14 Vgl. Hans Belting: Florenz und Bagdad. Eine westöstliche Geschichte des Blicks, C.H. Beck, München 2008, S. 144ff. Vgl. auch Leonardo Benevolo: Fixierte Unendlichkeit: Die Erfindung der Perspektive in der Architektur (1993), Campus Verlag, Frankfurt am Main 1993, S. 7ff. Subjektivierungsprozessen der Renaissancegesellschaft gesehen: Die Bürger gewannen in dieser Zeit an gesellschaftlicher Bedeutung und als die Menschen ihr Recht auf die eigene Sicht auf die Welt einforderten, verlor die Kirche ihre exklusive Position als alleinige Stifterin der Weltsicht.15 Jedoch wäre es vereinfacht, die Zentralperspektive allein im Zusammenhang mit dem säkularisierten Subjekt und dem Aufstreben der westlichen empirischen Wissenschaften zu betrachten. Die Epoche des bürgerlichen Humanismus im frühen 15. Jahrhundert war zugleich eine Periode intensiven bürgerlichen Christentums und als die sichtbare Welt an Bedeutung gewann, musste die unsichtbare um ihre Position kämpfen: Die Mehrzahl der zu dieser Zeit gemalten Fresken waren immer noch biblische Motive16. Das erwachte Interesse der Künstler für die Erscheinungsformen der Welt ist nicht allein als Selbstzweck, also nicht nur als Interesse für das Sehen als solches, zu begreifen. Es ist zugleich ein Interesse für das Sichtbarmachen des Unsichtbaren: ein Ausdruck für das Verlangen, die Anwesenheit Gottes spürbar zu machen und ihn und seine Heiligen im Alltag näher erscheinen zu lassen17. Mit der Perspektive wird das Bild zum Erfahrungsraum, aber zugleich auch zum Suggestionsraum bzw. Vorführungsraum. Diese Verbundenheit des perspektivischen Raumes mit der Bühne zeigt sich auch in dem frühen Umgang mit dem neuartigen Bildraum. Samuel Y. Edgerton hat darauf hingewiesen, dass viele der frühen perspektivischen Darstellungen, wie z.B. Masaccios Fresko "Die Dreifaltigkeit" (um 1425) in Santa Maria Novella in Florenz (Abb. 6), weniger das christliche Mysterium als etwas Reales präsentieren, als vielmehr die bildliche Wiedergabe dessen sind, was der Künstler und seine Zeitgenossen bei den damals sehr verbreiteten Mirakelspielen gesehen hätten. Die Personen der Szene wirken wie Laiendarsteller und um Gott innerhalb der neuen Bildordnung eine erhabene Position zu verschaffen, wird ein Podest wie ein Theaterrequisit "künstlich" ins Bild gebracht. Das Bild soll hier als glaubwürdige und wirkungsvolle Vermittlung einer Vorführung funktionieren. Konrad Witz' Gemälde des Genfer Sees ("Der wunderbare Fischzug", 1444) kann als weiteres Beispiel dafür genannt werden, dass die Darstellung des Realen oft der Suggestion des Unrealen diente (Abb. 7). Das Bildnis ist eine der 15 Dieser Subjektivierungsprozess des Bildes (und der Gesellschaft) zeigt sich auch in dem Auftreten des bürgerlichen Porträts, das ungefähr gleichtzeitig mit dem ikonischen Blick auftritt. 16 Vgl. Samuel Y. Edgerton: Die Entdeckung der Perspektive, Wilhelm Fink Verlag, München 2002, S. 27 17 Vgl. Samuel Y. Edgerton: "Die ideologischen Wurzeln der Zentralperspektive in der Renaissance", in: Norbert Bolz, Friedrich Kittler, Raimar Zons (Hrsg.): Weltbürgertum und Globalisierung, Wilhelm Fink Verlag, München 2002, S. 130ff. ersten bekannten Darstellungen einer tatsächlich existierenden Landschaft. So wie die Perspektive die Ordnung der Szene bestimmt und dem Betrachter suggeriert, dass es seine Sicht sei, dient die Landschaft als Verortung des Mysteriums in dem bekannten Hier und Jetzt. Im Zentrum des Bildes läuft Jesus über das heimische Wasser zu seinen Jüngern. Die Landschaft wird nicht um ihrer selbst Willen gemalt, sondern um das Wunder unmittelbar darzustellen und die Allgegenwärtigkeit Jesu und die biblische Botschaft zu vermitteln.18 2.4 Die Vermessung des Blickes und der exakte Ausgangspunkt der Betrachtung Das Bild als Blick-Raum ist jedoch älter als die Linearperspektive. Schon im 14. Jahrhundert, also hundert Jahre vor den ersten exakten linearperspektivischen Bildern, übertrug vor allem Giotto den Blick auf das Bild und schuf räumliche bühnenhafte Darstellungen19 (Abb. 3). Ausgrabungen in Pompeji zeigen außerdem, dass eine derartige Bildauffassung noch älter ist. Diese früheren räumlichen Darstellungen sind perspektivisch und ahmen den Blick bzw. die erlebten Sehformen nach, allerdings ohne einer einheitlichen Methode nachzugehen und ohne die Verwendung bzw. Konstruktion eines eindeutigen Fluchtpunktes. Die erste exakte, linearperspektivische Methode wird in den meisten Geschichtsbüchern Filippo Brunelleschi und Leon Battista Alberti zugeschrieben. Brunneleschi soll 1425 auf dem Domplatz in Florenz einem Publikum interessierter Bürger vorgeführt haben, wie die orthogonalen Linien20 des Bildraumes sich in dem unendlich fern liegenden Fluchtpunkt bündeln lassen und dass dieser Punkt zugleich den Blickpunkt des Betrachters repräsentiert. Inwieweit dieses Ereignis tatsächlich so stattgefunden hat ist ebenso umstritten wie die Frage, bis zu welchem Grad Brunelleschi wirklich der erste war, der die Übereinstimmung von Fluchtpunkt und Augenpunkt erkannte. Sicher ist jedoch, dass Leon Battista Alberti 1436 die erste praktische Anleitung zur Perspektive, "Della Pittura", veröffentlichte und dass er in seinem Handbuch den Malern eine strukturierte Methode zur Verfügung stellte. Mit einer Reihe Hilfslinien, die die Orientierung im virtuellen Raum ermöglichten, 18 Vgl. E.H. Gombricht: Die Geschichte der Kunst, überarbeitete 16. Ausgabe (1996), Phaidon Press Limited, Berlin 2005, S. 244f. 19 Samuel Y. Edgerton hat nachgewiesen, dass Giotto ein Repertoire von Kulissen und Requisiten als Vorlage seiner Bilder verwendete. Vgl. Edgerton 2002, S. 135ff. (Abb. 3) 20 Orthogonale Linien, oder auch nur Orthogonale, bezeichnen die "Tiefenlinien" eines Bildraums, die in den Fluchtpunkt konvergieren. Um die perspektivische Wirkung zu verstärken wurde in der Renaissance oft ein Fliesenboden dargestellt, dessen Othogonale eindeutig auf den Fluchtpunkt zielten und dessen Transversale oder Querlinien sich in der Tiefe des Bildraums verdichten. und ausgestattet mit einem dreidimensionalen Koordinatensystem präsentierte Alberti den Bildträger als einen leeren Raum, den der Maler einrichten und wie eine Bühne mit Inhalt füllen konnte. Diese Konzeption Albertis prägt den Bildraum bis heute und lässt sich z. B. in modernen Computerprogrammen zur Gestaltung von virtuellen, dreidimensionalen Räumen wiederfinden. Mit der exakten Ordnung des Koordinatensystems ist es gelungen, die Projektionsgesetze der Camera Obscura in ein mathematisches/geometrisches Modell zu übertragen, den Blick in dem Fluchtpunkt zu stabilisieren und eine exakte Methode für die Konstruktion von Bildräumen zu erfinden. Nun wurde die Ordnung des Bildes durch eine mathematische Methode ermittelt und die theozentristische Bedeutungsperspektive definitiv abgelöst. Dennoch ist das linearperspektivische Bild nicht weniger symbolisch: Im privilegierten Zentrum dieser Ordnung steht der Betrachter, der durch den Fluchtpunkt im Bild vertreten wird. Das linearperspektivische Bild ist, symbolisch betrachtet, anthropomorph, ein zum Bild gewordener Blick, der allein in seiner Form die Anwesenheit eines Betrachters symbolisiert. Diese neue Bildordnung, der absolute Ausgangspunkt und die exakte Verortung des Betrachters wird erst durch den Fluchtpunkt möglich. In diesem Zusammenhang hat der Mathematiker Brian Rotman darauf hingewiesen, dass der Fluchtpunkt für den modernen Bildraum die gleiche Bedeutung hat wie das Zeichen "Null" für die moderne Mathematik.21 Beide implizieren den absoluten Ausgangspunkt und zugleich die Unendlichkeit22. So wie Null ein Metazeichen ist, das die Positionen der anderen Zeichen bestimmt, richtet sich die Ordnung des Bildes nach dem Fluchtpunkt. Der absolute Ausgangspunkt ist die Voraussetzung für die exakte mathematische Ordnung wie auch für die exakte Ordnung des Bildes. Rotman sieht hier mehr als eine bloße Ähnlichkeit. Ihm zufolge entsprechen sie beide einer Konzeption, die zunächst die Mathematik revolutionieren sollte und, als das Bild mathematisch wurde, auch den Bildraum. 2.5 Camera Obscura und die Trennung des Blickes vom Körper Der ikonische Blick der Zentralperspektive hat die Welt in einen Blick auf die Welt verwandelt und dabei den Betrachter innerhalb einer räumlichen Differenz bestimmt. Betrachtet man die 21 Vgl. Brian Rotman: Signifying Nothing 22 Erst mit dem (1987): The Semiotics of Zero, St. Martin’s Press, New York 1987, S.23 Zeichen Null ist das Stellenwertsystem der Mathematik (bei dem die additive Wertigkeit der Symbole von ihren Positionen abhängt) möglich und damit unendlich große Zahlen: 1, 10, 100 [...] 10 ∞. Zentralperspektive und ihre Verbindung mit der Camera Obscura als ein räumliches Modell, wird ihr Bezug zur Architektur deutlich. Schon Alberti erklärte in seinem Buch über die Malerei das Prinzip der perspektivischen Projektion mit der Idee eines Fensters, durch welches der Maler blickt und das, was er sieht, mit Hilfe des Netzrahmens auf das Bild überträgt (Abb. 5). Bei der Urform der Kamera, der Camera Obscura, handelt es sich im wörtlichen Sinne um eine begehbare ”Kammer”. Dabei wird deutlich, dass der Raum sich hier nicht allein auf einen physikalischen oder metaphorischen beschränken lässt, sondern dass es sich vor allem um einen architektonischen Raum handelt, in dem sich der Betrachter befindet (Abb. 4). Die Wände des Raumes machen diesen erst zum Raum und trennen das Innere vom Äußeren, den Betrachter von der Außenwelt. Das betrachtende Subjekt, dessen Blick vom Körper getrennt ist, ist nicht mehr eins mit der Welt, sondern steht mittels der Projektion in einer Spannungsbeziehung zu ihr. Diese räumliche Differenz gilt auch für die Fotografie: Die Kamera nimmt immer Distanz zum Abgebildeten ein und geht immer von einer externen Position außerhalb des Bildes aus. Diese Position kann selbst nicht im direkten Sinne abgebildet werden, sondern zeigt sich stattdessen indirekt in der Ordnung des Bildes. Hans Belting spricht in diesem Zusammenhang von der Zentralperspektive als einer Architektur des Blickes23. So wie der absolute Ausgangspunkt diese Raumbeziehung bedingt, so sind auch der rechtwinklige architektonische Raum und die Idee des Fensters als das verbindende Element zwischen innen und außen weitere Bedingungen. Bei dem Vergleich der Kamera mit der Camera Obscura darf allerdings nicht vergessen werden, dass diese beiden in ihrer Funktion wesentliche Unterschiede aufweisen: Die Camera Obscura wurde nicht zur Produktion von Bildern erfunden, sondern um das Phänomen des Lichts zur Schau zu stellen. Im Gegensatz zur Fotografie ging es hierbei nicht primär um die Wiedergabe der Welt als solche - die projizierte Welt war die alltägliche, die unmittelbar außerhalb der Kammer mit dem bloßen Auge betrachtet werden konnte - sondern um die Wiedergabe der Welt als Projektion. Sie schuf keine Illusion des Fensters, sondern gerade das Umgekehrte: Sie ließ die Welt als Erscheinung auftreten und stellte sie als solche zur Schau.24 Der Betrachter befindet sich hier in einem 23 Vgl. Belting 24 Die 2008, S. 190 Camera Obscura ließ die Welt auf der Wand erscheinen, hinter welcher sie sich nicht befand und kehrte sie auf den Kopf. Im Unterschied zur Fotografie machte sie es dem Betrachter unmöglich, den optischen Ausgangspunkt einzunehmen - würde er dies versuchen, so wäre die Projektion verschwunden - und so sah der Betrachter die Erscheinungen außnahmslos versetzt von der Seite und sie konnten per se nicht zur Illusion seines Blickes werden. Wahrnehmungsraum, den er zugleich betrachtet und hierbei ist der Blick des Apparates klar vom Auge getrennt. Die Camera Obscura schuf Distanz zwischen dem Betrachter und der Welt und ließ die Trennung zwischen Blick und Körper sichtbar werden. 2.6 Die Fotografie und die suggerierte Nähe - "Ein gutes Bild" Die hauptsächliche Funktion der Fotografie besteht jedoch nicht darin, das zu zeigen, was sich ein paar Schritte entfernt befindet: Mit ihr werden meist größere - geografische oder zeitliche Abstände überbrückt. Während die Camera Obscura gerade Distanz zur Welt verschaffte, ist die primäre Funktion der Fotografie, Distanz zu überwinden, das Ferne oder Abwesende heran zu holen und den Betrachter - über den Blick - in einen suggerierten körperlichen Bezug zum Abgebildeten zu versetzen. So wie die Camera Obscura trennt auch die Kamera den Blick vom Körper. Im Gegensatz zu ihr tut die Fotografie jedoch alles, um diese Trennung zu vertuschen und die Verbindung von Blick und Körper durch eine suggerierte Nähe des Betrachters zum Bildraum wieder herzustellen. Um diese Beziehung möglichst glaubwürdig zu gestalten, muss sich der Blick des Betrachters nahtlos an die Konstruktion des Bildes anschließen. Der Standpunkt, den in Wirklichkeit die Kamera eingenommen hat, muss dem Betrachter durch das Bild vorgegeben werden: Ihm soll suggeriert werden, dass der optische Ausgangspunkt der seine ist. Ein gutes Bild ist in dieser Hinsicht ein möglichst unmittelbares, das den Körper des Betrachters vor dem Bildraum eindeutig adressiert und ihn in scheinbarem Einverständnis mit seinem Blick in einen räumlichen Bezug zum Abgebildeten versetzt. Hierbei kommt das Weitwinkel gut zum Einsatz. Mit ihm kann der Fotograf in direkter Nähe seines Motivs arbeiten und behält zugleich das weite Sichtfeld. Dabei wird dem Betrachter des Bildes die Position in "unmittelbarer" Nähe zum Motiv angeboten und durch die verstärkte perspektivische Wirkung und weil das Bild sich um ihn herum organisiert, wird seine "privilegierte" Position im Zentrum der Betrachtung verdeutlicht. 3. Der ferne Blick - Blickräume in der Fotografie 3.1 John Gossage: There and Gone "Robert Adams made a comment in his book Beauty in Photography that always stuck with me. [He wrote] that no photographer of major ambition had ever sustained important work taken with long telephoto lenses. It seemed an obvious loophole. There’s got to be something out there worth taking, something like the periphery of your vision at a great distance. What are things at a great distance?"25 Die Antwort John Gossages auf die Feststellung von Robert Adams folgt in dem dreiteiligen Essay "There and Gone" (Abb. 27, 28, 29 und 30). Der erste Teil des Buches besteht aus einer Serie von Aufnahmen des lokalen Strandes in Tijuna, Mexiko. Die Bilder scheinen eine alltägliche Idylle aufzuzeigen: Männer und Frauen, Kinder und Hunde baden oder spielen am Strand und in der Brandung; die Sonne scheint, Familien treffen sich, essen zusammen und verbringen den Tag unter Sonnenschirmen. Die fotografischen Blicke Gossages sind eng und konzentriert, offensichtlich mit großem Abstand aufgenommen. So wie niemand von mir als Betrachter Notiz zu nehmen scheint, bleiben die Badenden und die Szenen für mich in der Ferne ungreifbar abstrakt. Es sind Blicke an der Grenze des Wahrnehmbaren und die schwarzen Rahmen um die Bilder verstärken meinen Eindruck, durch ein optisches Instrument zu schauen. Die diesige Luft, die grobe Filmkörnung und das kontrastreiche Sonnenlicht lösen jeden identifizierbaren Gesichtszug auf, Körpergesten und Handlungen werden angedeutet, bleiben aber abstrakt und anonym. Als Betrachter bin ich nicht Teil der Szene, nicht in die Geschehnisse involviert. Es liegt ein unüberwindbarer räumlicher Abstand zwischen uns und nur durch den begrenzten Blick bin ich mit ihr verbunden. Die 63 Aufnahmen des Strandes in Tijuna sind von der amerikanischen Seite der US-MexikanischenGrenze aufgenommen. Gossage verwendet dabei ein langes Teleobjektiv und hochempfindlichen Film, der nach Angaben von Gossage für die CIA entwickelt wurde. Im Unterschied zu den Berufstouristen - wie Susan Sonntag die Reportagefotografen nennt26- verzichtet Gossage auf die scheinbare Transparenz der Fotografie: Statt ihre vermeintliche Unmittelbarkeit anzuwenden, lässt Gossage die Grenzen des Apparates sichtbar werden und verwendet sie als Abstraktion und Symbol. 25 Vgl. "Interview with John Gossage, from Ryerson University’s 1999-2000 Kodak Chair Lecture" http://www.americansuburbx.com/2011/04/interview-interview-with-john-gossage.html 26 Vgl. Susan Sontag: Regarding the Pain of Others, Picador/Macmillan Publishers, New York 2003, S. 18 Statt den Betrachter wie gewöhnlich ins Bild hineinzuführen und ihn in einen körperlichen Bezug zum Bild zu setzen, wird hier eher das Gegenteil erzeugt: Er lässt den Betrachter etwas sehen, aber hält ihn ebenso auf Abstand. In seinen fernen Blickräumen lässt er die Trennung von Blick und Körper sichtbar werden. Die Bilder verfolgen eine andere Logik bzw. eine andere Grammatik als das klassische zentralperspektivische Bild. Sie sind Räume, die von der Distanz zwischen Betrachter und Welt sprechen. Der Himmel stand immer für das, was nur mit dem Blick erreichbar ist. Spätestens seit Galileo Galilei wurde das Teleskop verwendet, um tiefer in den Himmel zu blicken, als mit dem bloßen Auge möglich war. Louis Daguerre ließ wenige Jahre nach der Erfindung der Fotografie die Kamera mit einem Teleskop verbinden, um die ersten Aufnahmen vom Mond zu machen.27 Gegen Ende des 19. Jahrhunderts hatte die Astrofotografie die Betrachtung des Weltalls revolutioniert, aber trotz des Detailreichtums, das zuvor niemals gesehenen worden war, blieb der Himmel nur mit dem Blick erreichbar. Er blieb ein ferner Sehnsuchtsraum.28 Auch die Räume bei Gossage bleiben Sehnsuchtsräume, die nur der Blick erreicht. Hier findet eine Auseinandersetzung mit dem Paradox des Visuellen statt: mit dem Körper "hier" zu sein und mit dem Blick woanders. 3.2 Beat Streuli Die Arbeitsweise Beat Streulis ist in vielerlei Hinsicht der oben dargestellten von John Gossage ähnlich: Auch er verwendet das lange Teleobjektiv, um aus der Distanz ungesehen Menschen zu fotografieren, die diesen Akt nicht bemerken (Abb. 24 und 25). Allerdings erzielt Streuli mit seinen Bildern eine wesentlich andere Wirkung. Während die von Gossage abgelichteten Menschen in der Distanz anonym und unerreichbar bleiben, verwendet Streuli das Teleobjektiv wie ein Instrument, um mit dem fotografischen Blick ihre Privatsphäre zu durchdringen. Er durchbricht die Anonymität der Stadt und porträtiert sie in Momenten, in denen sie, wie in einer Blase, auf sich selbst zurückgeworfen sind. Während sich Gossages Arbeit in ihrer Ästhetik an der Grenze des Mediums 27 Dieses Fotografie ist 28 Erst 1966 allerdings nicht erhalten; kurz danach nahm John W. Draper das erste noch erhaltene Bild des Mondes auf (Abb. 31). sollte sich das Bild des Mondes in dieser Hinsicht ändern, als die Monsonde Lunar Orbiter I die ersten Aufnahmen vom Mond aus, mit dem Blick auf die Erde, übermittelte (Abb. 17). bewegt, wirken die Aufnahmen Streulis dagegen klar und fast klinisch. Mit dem Teleobjektiv überwindet bzw. missachtet er die von Konventionen bestimmte Distanz des öffentlichen Raumes, er schneidet die Menschen aus der Bewegung der Stadt heraus, isoliert sie und holt sie in gestochener Schärfe und virtuosen Farben als Bilder heran. Die Menschen auf dem Strand in Tijuna sind nicht greifbar, wohingegen die von Streuli Porträtierten aus Raum und Zeit herausgenommen sind: Wir können ihr Äußeres studieren - Gesichtszüge, Körperhaltungen, Gesten, Codes der Mode etc. sind lesbar -, aber sie bleiben verschlossen. Die laute und bewegte Stadt ist hier leise und bewegungslos. Doris Krystof hat in Bezug auf Streulis Aufnahmen die oft zitierte Textstelle von Roland Barthes heller Kammer herangezogen und auf die Verbindung der Fotografie mit dem Todesspiel verwiesen.29 Und tatsächlich führt Streuli eine Art Destillationsprozess durch und die Bilder wirken wie klinische Objekte. In seiner Oberflächlichkeit antwortet das Bild fast schreckhaft auf meinen Blick. Hier gibt es keine suggerierte körperliche Nähe, wie wir sie aus der Reportagefotografie gewohnt sind. So wie der Fotograf unbemerkt blieb, bleibe auch ich als Betrachter ungesehen. Nichts im Bild bestätigt meine Existenz, kein Rückblick, kein Fluchtpunkt. Wenn Gossages ferne Blicke durch Abstraktion und Reduktion gekenntzeichnet sind und eine bildhafte Distanz verschaffen, so setzt Streuli die höchst mögliche Präzision und lebhafte Farben ein. Hier muss ich an eine Textstelle aus Kerstins Ekmanns Buch über den Wald denken.30 Darin berichtet die Autorin von drei finnischen Brüder, die in den Jahren zwischen 1828 und 1838 fast jeden Vogel der skandinavischen Fauna abbildeten (Abb. 23). Die Bildnisse der Gebrüder von Wright sind von derartiger Genauigkeit, dass Ornitologen heute anhand des akribisch wiedergegeben Moirés des Gefieders und der Iris um die Pupillen das genaue Alter der Vögel bestimmen können. Julius von Wright war der geschickteste Schütze unter den Brüdern, er schoss einem Vogel nach dem anderen durchs Auge und es wurde erzählt, dass er den Pfeifenkopf eines rauchenden Bauerns treffen konnte. Bei ihrem Naturstudium war das Gewehr für die Brüder ein unverzichtbares Instrument. Nur mit dem Gewehr war es möglich, die Distanz zu überwinden und die Vögel aus ihrem Lebensraum herauszuholen, um sie so genau studieren zu können. Nur so konnten sie ihrem Anspruch als Künstler und Forscher gerecht werden. Durch das Herausfiltern der 29 Vgl. Doris Krystof: From 'Objectivités' 30 Vgl. für folgenden Absatz - Exhibition catalogue, Arc / Musée des Arts Contemporains, Paris 2008 Kerstin Ekman, Herrarna i Skogen (2007), Albert Bonniers förlag, Stockholm 2008, S. 233ff. Dinge aus ihrem Kontext verändert sich ihr Wesen, doch ermöglicht es uns einen konzentrierten, stillen Blick. Und wenn die Körper, bei den Gebrüdern Wright wie auch bei Beat Streuli, auf dem Papier still wie der Tod sind, erscheinen sie uns in ihren Farben und in ihrem Detailreichtum "lebhaft"31. In den Arbeiten von John Gossage und Beat Streuli kommen zwei entgegengesetzte Eigenschaften der Teleaufnahme zum Ausdruck: die betonte Distanz sowie die hergestellte Nähe im Blick, die in ihrer "Künstlichkeit" allerdings auch eine körperliche Distanz zum Motiv impliziert. Auch wenn das Teleobjektiv eher sparsam eingesetzt wird, gibt es weitere Arbeiten, die sich in diesem Spannungsfeld bewegen. Hier soll der tschechische Fotograf Miroslav Tichý genannt werden, dessen Blickräume von der Lust des Schauens und von unerreichbarer Körperlichkeit sprechen (Abb. 32). Seine fernen Blicke gelten ausschließlich jungen Frauen und bleiben durch Abbildungsfehler und unzureichende Schärfe ungreifbar. Sie sprechen, ebenso wie bei Gossage, von Sehnsucht - hier allerdings von einer Sehnsucht nach körperlicher Jugend. Als Marry Alpern heimlich durch die Fenster eines Appartements in der Nähe der Wallstreet Prostitution und Drogenkonsum abbildet ("Dirty Windows"), sind auch hier Blick und Körper deutlich getrennt. Allerdings sprechen ihre Aufnahmen weniger von Sehnsucht, als vielmehr vom körperlichen Schutz durch die Distanz. Hier kommt eine weitere wichtige Eigenschaft des Teles verstärkt zum Ausdruck: sehen zu ermöglichen, ohne selbst gesehen zu werden. Ähnlich wie auch die Arbeit "The Neighbors" des New Yorker Fotografen Arne Svenson dreht sich hier das Konzept des Bildes als Fenster um: Statt eines Ausblickes wird ein Einblick in die Kammern (des Bürgertums) angeboten. Wenn die Bedeutung des Abstands in den oben genannten Arbeiten nicht immer gleich ist, so haben sie doch eins gemeinsam: Sie sind alle Räume des Blickes, die im Unterschied zum klassischen Fensterbild den Betrachter in einer nicht genau bestimmbaren Entfernung zum Motiv lassen. Sie sind alle Blicke, die von ihrem Getrenntsein vom Körper sprechen. Bis hierher wurden Abbildungen behandelt, bei denen Menschen im Mittelpunkt stehen. Da die Distanz Implikationen auf die Geometrie des Bildes hat und da die Fotografie in sich eine Architekur 31 Dieser Begriff impliziert, dass sie nicht lebendig sind. des Blickes ist, muss an dieser Stelle ein Auge auf Abbildungen von Architektur geworfen werden. 3.3 Frederick H. Evans - Der dichte Bildraum des Teleobjektivs Frederick H. Evans war einer der ersten Fotografen, der die längere Brennweite einsetzt, um bestimmte räumliche Wirkungen bei der Fotografie von Architektur zu erzielen. Bei seinem Einsatz des Teleobjektivs geht es nicht um die Überwindung von Distanz, sondern um die Raumwirkung, die die Brennweite bzw. der erhöhte Abstand impliziert. Viele Fotografen um die Jahrhundertwende, und hier vor allem die Picturalisten, dessen Kreis Evans angehörte, waren bestrebt, ihre Werke als Kunst zu deklarieren. Ein Vorhaben, das sich als nicht ganz unproblematisch herausstellte, da die Kunst, innerhalb der man die Fotografie zu situieren versuchte, allein von der Malerei bestimmt war. Kunst sei die Übersetzung der optischen Eindrücke, die das Bewusstsein empfängt - nicht bloß eine optische Projektion des Apparates bzw. ein simples Abbild der Natur - und somit immer einer Verarbeitung unterworfen. Um zu beweisen, dass die Fotografie der Malerei ebenbürdig sei und ebenso im Stande war, die notwendige Transformation hervorzubringen, wurden die Abzüge und die Negative intensiv nachbearbeitet und alle Spuren des industriellen Apparates beseitigt. Es wurden durchaus fotografische Mittel eingesetzt, die in Schärfe und Tonwerten dem Stand der Zeit entsprachen. Um die wünschenswerte „künstlerische Unschärfe“ zu erzeugen, wurden die Bilder nachträglich allerdings verschleiert und verwischt. Kurz: Man versuchte mit Hilfe der Fotografie ein Bildnis zu kreieren, das der Malerei ähnlich war bzw. das fotografische Abbild der Malerei anzugleichen - ein Streben, das in vielerlei Hinsicht implizierte, dass man die Eigenschaften des Mediums verkannte oder verhüllte. Es wurde weniger mit den Bedingungen der Fotografie gearbeitet, als gegen sie. Thematisch unterscheidet sich Evans' Arbeit wenig von der der Picturalisten und ihrer Faszination für das Spirituelle. Bei seiner bekanntesten Aufnahme "The Sea of Steps" (Wells Cathedral Rochester, 1903) zeigt sich in aller Deutlichkeit, dass es ihm weniger um eine repräsentative oder sachliche Übersetzung des architektonischen Raumes der Kathedrale geht, als vielmehr um einen symbolhaften und stimmungvollen - ja sogar mystischen - Bildraum (Abb. 11). Bemerkenswert ist, dass sich Evans, im Gegensatz zu den Picturalisten, die sich um Spuren menschlicher Tätigkeit durch manuelle Eingriffe ins Bild bemühten, ganz der technischen Perfektion seiner Aufnahmen zuwand und sich auf das Medium der Fotografie verließ. Er war der Meinung, allein durch den gezielten Einsatz inhärenter Eigenschaften der Fotografie ein Kunstwerk schaffen zu können.32 Durch die Verwendung einer längeren Brennweite33 ist es Evans möglich, einige Schritte zurückzutreten, um aus der erhöhten Distanz seine Aufnahme zu machen. So gelingt es ihm, die verformten Treppenstufen, die während der letzten Jahrhunderte durch die Besucher der Kapelle einer langsamen Verformung unterworfen waren, zu verdichten und als große Wellenbewegung erscheinen zu lassen34. Die dynamische Wellenform steht in ihrer Leichtigkeit im Kontrast zur Erhabenheit der steinernen Treppenstufen. In dem dichten Bildraum verliere ich als Betrachter ein Stück weit den festen Boden unter meinen Füßen. Anders als im klassischen Fensterbild lässt die Linienführung des Bildes eine eindeutige Verortung des Betrachters nicht zu. Statt diesen direkt vor den Bildraum zu platzieren, wird er auf Abstand gehalten, auf eine eigenartige Weise aber zugleich von ihm umschlossen. Die Erhabenheit der Architektur, deren Maßstäbe übermenschlich sind, spiegeln sich wieder in Evans' Bildraum, der sich auch auf keinen menschlichen Maßstab einlässt. 3.4 Paul Strand: Wall Street "Wall Street" oder ”Pedestrians Raked by Morning Light in a Canyon of Commerce”, wie Paul Strand seine Aufnahme aus dem Jahre 1915 erst nannte, ist ein weiteres Beispiel für die Konzentration und Ordnung des Bildraums, die die längere Brennweite anbietet (Abb. 19). Das Bild ist in seinem engen Bildwinkel sehr reduziert und konzentriert und die wenigen Bildelemente, die zu sehen sind, treten in dem kontrastreichen Sonnenlicht in ihren Konturen klar und scharf hervor. Das Bild wirkt fast grafisch und die dunkel gekleideten Menschen, die auf dem Weg zur Arbeit an den im Schatten liegenden Aussparungen in der Fassade des J.P. Morgan Buildings vorbeilaufen, werfen lange Schatten hinter sich. Durch die relativ hohe Distanz und das harte Licht bleiben die Menschen anonym. Alles im Bild spielt sich in einer ähnlichen Entfernung ab. Im Bild gibt es keinen Horizont, keine Aussicht und keinen Fluchtpunkt, keinen Ausweg des Blickes aus den Strukturen der Stadt. Die Menschen wie auch der Betrachter sind von der Stadt umschlossen und von den 32 Evans: "Photography is Photography; and in its purity and innocence is far too uniquely, valuable and beautiful to be spoilt by making it imitate something else." Anne M. Lyden: The Photographs of Frederick H. Evans, Getty Publications, Los Angeles 2010, S. 161 33 Zu Evans' fotografischen Mitteln zählte ein siebenteiliges Linsenset, das nach Belieben komponiert werden konnte, um bestimmte Brennweiten zu erreichen. Ähnlich wie heute Fotografen mit einem Zoomobjektiv arbeiten, konnte Evans die für den Abstand und Ausschnitt passende Brennweite auswählen. Vgl. http://thephotobook.wordpress.com/2010/05/28/fredrick-h-evans-an-aperture-monograph/ 34 So trägt das Bild in sich die Spurenhaftigkeit der Menschen statt, wie bei den Picturalisten, an der Oberfläche. Strukturen der Architektur umhüllt. Zugleich wirkt das Bild auf mich seltsam modellhaft. Ich befinde mich auf einer leicht erhöhten Position und bin weder nah noch fern. Nichts im Bild lässt mich eindeutig auf meine Position schließen und, ähnlich wie bei Evans, bleibe ich schwebend in meinem Verhältnis zum Bildraum. In der Abwesenheit von Fluchtpunkt und orthogonalen Linien sowie in der minimalen Verkürzung und den perspektivischen Unterschieden zwischen Vordergrund und Hintergrund erinnert mich das Bild an George Seurats "La parade de cirque" aus dem Jahre 1888 (Abb. 20). Durch den vollkommenen Verzicht auf Orthogonale, die den Blick ins Bild hineinführen und durch die der Bildraum erst verständlich wird, lässt Seurat den klassischen Bildraum zusammenfallen.35 Als Bild ohne Luft und ohne Raum besteht es nur aus frontalen Schichten. Hier wird kein Blick nach links oder rechts zugelassen. Durch den Verzicht auf jeglichen zentralen bzw. privilegierten Ort der Betrachtung verhindert Seurat das Auftreten von Ebenen oder Flächen, die senkrecht zur Bildoberfläche stehen - der Bildraum ist nicht um den Betrachter herum konzipiert. Der ortslose Blick nach vorne sieht weder Seitenwände noch Boden. Hier werden uns die Schlüsselelemente, die die Kohärenz der klassischen Szenografie bestimmen, verweigert: Wir können den tatsächlichen Ort der Figuren auf der Bühnenfläche oder dem ”Schachbrettboden” der perspektivischen Malerei nicht ausmachen. Zugleich löst sich die Betrachtungsposition als konkreter Ort auf. Die räumlichen Beziehungen zerfallen und der Bildraum hat hier sein Volumen verloren. Der klassische Bildraum als Vorführungsraum bzw. Suggestionsraum fällt hier buchstäblich flach. Bei Paul Strands "Wall Street" ist der Betrachtungsstandort nicht, wie bei Seurat, vollkommen aufgelöst, aber er ist diffus und unkonkret geworden und hat, gegenüber dem klassischen Bildraum, an Gewicht verloren. Um diesen Sachverhalt zu verdeutlichen, werde ich einen weiteren Vergleich anführen. Auch das bekannte Bild der pausierenden Arbeiter beim Bau des Rockefeller-Centers - "Lunch atop a Skyscraper" aus dem Jahre 1932 - von Charles Clyde Ebbets36 handelt vom Verhältnis zwischen Mensch und Architektur (Abb. 18). Dieses Bild funktioniert aber in vielerlei Hinsicht umgekehrt. Das 35 Vgl. für folgenden Absatz Jonathan Crary, Suspensions of Perception: Attention, Spectacle, and Modern Culture (2000), MIT Press, Cambridge (Mass.) 2001, S. 189ff. 36 Irrtümlich wurde das Foto lange Zeit Lewis Hine zugeschrieben, der 1930 den Auftrag erhalten hatte, den Bau des Empire State Buildings photographisch zu begleiten. Erst 2003 wurde nach Recherchen im Bettmann-Archiv das Bild Charles Clyde Ebbets zugeordnet. Rockefeller-Center wird nicht direkt im Bild gezeigt, sondern nur als Betrachterstandort definiert. Der Blick wird durch die Nähe zu den Arbeitern und durch die Distanz zu der Stadt weit dort unten bestimm. Während Paul Strand durch seinen eingenommenen Abstand und das damit verbundene Zurückdrängen der perspektivischen Wirkung eine direkte Nebeneinanderstellung von Architektur und Mensch hervorruft, handelt es sich hier um eine indirekte Beschreibung, die nur über das Verorten des Betrachters wirksam ist. Während die inhärenten Proportionen des Motivs bei Paul Strands Aufnahme verstärkt hervortreten, dienen die Bildelemente bei Charles Clyde Ebbets in erster Linie dazu, den Betrachterstandort zu definieren und ihm einen schwindelerregenden Blick vor Augen zu führen. Im Gegensatz dazu wird der Betrachter von "Wall Street" keinem eindeutigen Ort zugewiesen. Dadurch ist auch der körperliche Bezug zum Bildraum schwerer herzustellen, was die modellhafte Wirkung des Bildes erklärt. 3.5 Das geometrische System des Teleobjektivs – Augenpunkt ist nicht gleich Ausgangspunkt Anders als bei Gossage oder Streuli, die sehr lange Brennweiten im Bereich von 400 mm (oder mehr) verwenden37, wird bei "The Sea of Steps" und "Wall Steet" eine eher dezente Wirkung durch die Verwendung des Teleobjektivs erzielt. Hier handelt es sich um Brennweiten im Bereich von 70 bis 100 mm. Durch ihren präzisen Einsatz gelingt es dennoch, Bildräume zu erzeugen, die sich von der Geometrie bzw. Grammatik der klassischen Vorführungsräume der Malerei oder die der Reportagefotografie unterscheiden. Wir haben gesehen, wie die verstärkte perspektivische Wirkung eingesetzt wird, um einen körperlichen Bezug zwischen Betrachter und Bildraum herzustellen, wohingegen der erhöhte Abstand und das Teleobjektiv die Aufteilung von Blick und Körper verstärkt hervorbringen. Die perspektivische Wirkung des Bildraums hängt nicht primär von der Wahl der Brennweite ab, sondern von der Distanz. Durch ihr Vermögen, das Ferne zu vergrößern und dem Betrachter näher vor die Augen zu bringen, erzeugt das Teleobjektiv allerdings Bildräume, die in ihrer perspektivischen Wirkung die des fernen Raum entsprechen. Um diese zu erklären, reichen nicht allein die zentralperspektivische Grammatik bzw. die Blickbeziehungen des albertinischen Raums 37 Der tatsächliche Bildwinkel hängt vom Filmformat bzw. Sensorformat im Zusammenhang mit der gewählten Brennweite ab. Um den Vergleich hier zu ermöglichen, beziehen sich alle Angaben von Brennweiten auf das Äquivalent zum Kleinbild. und die optischen Prinzipien der Camera Obscura. Die Telefotografie folgt zugleich den Prinzipien des Fernrohrs, dessen Intention bzw. Funktion in vielerlei Hinsichten die entgegengesetzte ist im Vergleich mit dem klassischen Bild der Renaissance oder dem der Reportagefotografie. So wie Galileo Galilei das Fernrohr benutzte, um etwas sehen zu können, was mit dem bloßen Auge nicht möglich war, so fügte auch Daguerre der Kamera das Teleskop hinzu, um den menschlichen Blick zu überwinden - und nicht, um einen scheinbar natürlichen Blick zu verschaffen. Hierbei ging es also nicht darum, eine körperliche Beziehung zu suggerieren, sondern um Distanz allein durch den Blick zu überwinden. In der Renaissance wurde das fensterartige Bild in seiner Wirkung als Scheinraum oft durch seine Einbettung in die Architektur verstärkt und als Öffnung in der Wand präsentiert.38 Den Malern dieser Bilder war allerdings auch bewusst, dass das Bild, um als solches zu erscheinen, von der gleichen Position im Raum aus betrachtet werden musste, von welcher aus es konstruiert worden war - sonst würde der ikonische Blick des Bildes nicht mit dem Blick des Betrachters übereinstimmen. Um eine solche Blickraum-Körper-Beziehung in der Fotografie herzustellen, muss dem Betrachter der Standpunkt vorgegeben werden, den in Wirklichkeit die Kamera eingenommen hat (Abb. 22). Da aber die distanzierten Aufnahmen nicht aus der Distanz, sondern aus der Nähe betrachtet werden dies ist ja die Idee des Teleskops bzw. des Teleobjektivs - entsteht hier ein Bruch in der klassischen Bildgrammatik: Der geometrische Ausgangspunkt - von welchem aus ich meinen Körper in Einklang mit dem Blickraum bringen könnte - liegt zwangsläufig hinter mir und als Betrachter befinde ich mich irgendwo zwischen dem Nullpunkt der Betrachtung und dem Bildraum (Abb. 21). Der konstruierte Blickraum stimmt nicht überein mit dem Blick des Betrachters. 4. Schlussbetrachtung Ähnlich wie im Projektionsraum der Camera Obscura ist hier die Trennung zwischen Blick und Körper also klar ersichtlich. Man könnte sagen, dass der Blickraum des Teles ein Bild von einem Blick ist im Unterschied zur klassischen Konzeption des Bildes als ein zum Bild gewordener Blick. So lässt die Verwendung der längeren Brennweite einen kritischen Umgang mit dem problematischen zentralperspektivischen Bildraum zu. Sie bietet die Möglichkeit, "bildhafte" 38 Vgl. Samuel Y. Edgerton: Die Entdeckung der Perspektive, Wilhelm Fink Verlag, München 2002, S.29 Fotografien zu machen, die Bilder sind und eine kritische Auseinandersetzung mit dem fensterartigen Bild erlauben.39 Wie Gossage gezeigt hat, lässt sie die inhärente Spaltung zwischen Standpunkt und Blick sichtbar werden. Oder wie wir bei Paul Strand gesehen haben, lässt sich mit ihr vermehrt auf die innewohnenden Proportionen des Motivs und die Verbindungen seiner Elemente untereinander eingehen, statt die Ordnung der Bildes der bloßen Täuschung unterzuordnen. Die Linienführungen der distanzierten Blickräume sind weniger dramatisch als die der Weitwinkel, aber vermutlich lässt sich ihre Ruhe nicht allein durch ihre bloße Geometrie erklären. Die deutliche Aufteilung in Blick und Körper durch herangenommene Distanz impliziert die Möglichkeit, etwas zu erblicken, ohne selbst gesehen zu werden. Die Weitwinkelaufnahme resultiert in einer verstärkt perspektivischen Wirkung, adressiert deutlich den Betrachter und führt ihm den Ausgangspunkt der Szene vor. Aber so privilegiert seine Position im Zentrum der Betrachtung ist, so ausgesetzt ist er zugleich. Vielleicht schauen wir nicht nur in die klassischen Bildräume, die Renaissancemalerei oder die Reportagefotografie hinein, sondern diese Bilder schauen zugleich auf uns zurück. Sie sind geschaffen, um uns in ein selbst erlebtes Verhältnis zum Abgebildeten zu versetzen und wollen uns mit einer konstruierten Nähe nicht nur etwas zeigen, sondern uns dabei berühren. Betrachte ich dagegen ein Bildnis wie das von Frederick H. Evans, wird mir klar, dass dieses Bild, so wie auch die frühe Stadtansicht von Florenz, an mir als Betrachter vorbeischaut - so, als wäre ich dem Bildnis einerlei. 39 Bildhafte Fotografien sind selbstverständlich nicht nur mit dem Teleobjektiv, sondern auch mit Weitwinkel oder Normalobjekiv zu machen, wie Lee Friedlander und andere Fotografen gezeigt haben (Abb. 9 und 10). Der oben beschriebene Bruch mit dem fensterartigen Bild ist allerdings der Telefotografie inhärent. Literatur: Robert Adams: Beauty in Photography (1981), Aperture, New York 1996 Roland Barthes: "Die Fotografie als Botschaft" (1961), in: Ders.: Der entgegenkommende und der stumpfe Sinn, Edition Suhrkamp, Frankfurt am Main, 1990 Roland Barthes: "Rhetorik des Bildes" (1964), in: Ders.: Der entgegenkommende und der stumpfe Sinn, Edition Suhrkamp, Frankfurt am Main, 1990 Hans Belting: Florenz und Bagdad - Eine westöstliche Geschichte des Blicks, C.H. Beck, München 2008 Leonardo Benevolo: Fixierte Unendlichkeit: Die Erfindung der Perspektive in der Architektur, Campus Verlag, Frankfurt am Main 1993 Victor Burgin: "Fotografien betrachten" (1977), in: Wolfgang Kemp (Hrsg.): Theorie der Fotografie Band III, Schirmer Mosel, München 2006 Jonathan Crary: Techniken des Betrachters. Sehen und Moderne im 19. Jahrhundert, Verlag der Kunst, Dresden/Basel 1996 Jonathan Crary: Suspensions of Perception: Attention, Spectacle, and Modern Culture, MIT Press, Cambridge (Mass.) 2001 Hubert Damisch: Der Ursprung der Perspektive (1987), Diaphanes Verlag, Zürich 2010 Samuel Y. Edgerton: Die Entdeckung der Perspektive, Wilhelm Fink Verlag, München 2002 Samuel Y. Edgerton: "Die ideologischen Wurzeln der Zentralperspektive in der Renaissance", in: Norbert Bolz, Friedrich Kittler, Raimar Zons (Hrsg.), Weltbürgertum und Globalisierung, Wilhelm Fink Verlag, München 2002 Kerstin Ekman: Herrarna i Skogen, Albert Bonniers förlag, Stockholm 2008 Vilém Flusser: En Filosofie för Fotografin, Bokförlaget Korpen, Göteborg 1983 Michael Freeman: Der fotografische Blick - Bildkomposition und Gestaltung, Markt+Technik Verlag, Burgthann 2007 Tony Godfrey: Konzeptuelle Kunst, Phaidon, Berlin 2005 E.H. Gombricht: Die Geschichte der Kunst, Überarbeitete sechzehnte Ausgabe, Phaidon Press Limited, Berlin 2005 Doris Krystof: From 'Objectivités’ - Exhibition catalogue, Arc/Musée des Arts Contemporains, Paris 2008 Anne M. Lyden: The Photographs of Frederick H. Evans, Getty Publications, Los Angeles 2010 Thomas Niemayer: You Press the Button. Fotografie und Konzeptkunst, Revolver, Archiv für aktuelle Kunst, Frankfurt am Main 2004 Erwin Panofsky: Die Perspektive als symbolische Form (1927), in: Ders.: Aufsätze zu Grundfragen der Kunstwissenschaft, Verlag Volker Spiess, Berlin 1980 Brian Rotman: Signifying Nothing: The Semiotics of Zero, St. Martin’s Press, New York 1987 Susan Sontag: Regarding the Pain of Others, Macmillan Publishers, New York 2003 Hans J. Störig : Kleine Weltgeschichte der Wissenschaft, S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2007 Interview with John Gossage, from Ryerson University’s 1999-2000 Kodak Chair Lecture http://www.americansuburbx.com/2011/04/interview-interview-with-john-gossage.html Zeitungsartikel: "Verlängerung des Auges. Regisseur Wim Wenders über die Umwälzung des Kinos durch die Digitaltechnik und die Folgen für die Filmkunst." In: Der Spiegel. 25.8.2003 "Meister des "Moment décisif" Der Fotograf Henri Cartier-Bresson ist tot." In: Frankfurter Allgemeine Zeitung. 05.08.2004 "Hubert Damisch: Der Ursprung der Perspektive. Nach Florenz mit Dr. Lacan." In: Frankfurter Allgemeine Zeitung. 18.07.2010 Abbildungsverzeichnis: Abb. 1 Stadtansicht Florenz, 1342 Abb. 2 Stadtansicht Florenz, 1493 Abb. 3 Giotto di Bondone, Verteibung der Teufel aus Arezzo, Basilika di San Francesco in Assisi, 1295-1300 Abb. 4 Illustration der Camera Obscura, 17. Jahrhundert Abb. 5 Illustration eines Fadengitters, Vorrichtung zum perspektivischen Zeichnen, um 1710 Abb. 6 Masaccio, Die Dreifaltigkeit, Santa Maria Novella in Florenz, ca. 1425-1426 Abb. 7 Konrad Witz, Der wunderbare Fischzug, Genfer Petrusaltar, 1444 Abb. 8 Albertis Raum, übertragen auf 24 mm (Kleinbild) Abb. 9 Lee Friedlander, Hillcrest New York, 1970 Abb. 10 Lee Friedlander, Knoxville Tennessee, 1971 Abb. 11 Frederic H. Evans, A Sea of Steps, Wells Cathedral Rochester 1903 Abb. 12 George Redgrave, Aufnahme der Wells Cathedral Rochestervon, 52mm Brennweite (Kleinbild), 2012 Abb. 13 Werbebild der Teigwarenfirma Panzani, erschienen als Anzeige in einer Illustrierten, Ende der 60er Jahre Abb. 14 Victor Burgin, US 77 - Framed, 1977 Abb. 15 Paul Hansen, Gaza Burial, 2013 Abb. 16 Phillipe Lopez, Survivors of Typhoon Haiyan, 2013 Abb. 17 Bild der Mondsonde Lunar Orbiter I, 1966 Abb. 18 Charles Clyde Ebbets, Lunch Atop a Skyscraper, 1932 Abb. 19 Paul Strand, Wall Street, 1915 Abb. 20 Georges Seurat, Parade de Cirque, 1888 Abb. 21 Albertis Raum, übertragen auf 100 mm (Kleinbild), Vergleich Kameraposition und Betrachterstandort Abb. 22 Albertis Raum, übertragen auf 50 mm (Kleinbild), Vergleich Kameraposition und Betrachterstandort Abb. 23 Ferdinand von Wright, Die Werkstadt in Marieberg, 1850 Abb. 24 Beat Streuli, Austellungsansicht Birmingham, 2012 Abb. 25 Beat Streuli, New Street, 2013 Abb. 26 Albertis Raum, übertragen auf 100 mm (Kleinbild) Abb. 27 John Gossage, There and Gone, 1997 Abb. 28 John Gossage, There and Gone, 1997 Abb. 29 John Gossage, There and Gone, 1997 Abb. 30 John Gossage, There and Gone, 1997 Abb. 31 John W. Draper, erste erhaltene Aufnahme des Mondes, 1840 Abb. 32 Miroslav Tichý, Ohne Titel, Undatiert Abb. 33 Albertis Raum mit Objekt, übertragen auf 24 mm (Kleinbild) Abb. 34 Albertis Raum mit Objekt, übertragen auf 100 mm (Kleinbild)