1 2 Fabian Grolimund Mit Kindern lernen Kinder bei den Hausaufgaben und beim Lernen sinnvoll unterstützen 3 ©2011 by Fabian Grolimund 4 5 Inhaltsverzeichnis Hausaufgaben: Ein täglicher Kampf? ................................ 11 Kleine Typologie von Hausaufgabenproblemen .................... 11 Kinder motivieren ................................................................. 13 Was Kinder demotiviert und was sie motiviert ..................... 13 Mein Kind macht nicht mit – wie soll ich reagieren? ............ 84 Selbständigkeit.................................................................... 117 Schritt für Schritt mehr Selbständigkeit .............................. 118 Gedächtnis und Gehirn ...................................................... 130 Wie unser Gehirn lernt .......................................................... 130 Tipps zum besseren Behalten ................................................ 139 Rechnen lernen in einfachen Schritten ............................ 152 Wie entstehen Rechenschwierigkeiten? ................................ 152 Lückenanalyse: Wo beginnen die Schwierigkeiten? ........... 164 Für jede Lücke die richtige Übung ....................................... 168 Lesen und Schreiben .......................................................... 211 Ursachen für Schwierigkeiten ............................................... 211 Lücken erkennen und schliessen ........................................... 218 Lernstrategien für Jugendliche ......................................... 255 6 Persönliches Schlusswort des Autors ................................ 256 Literaturverzeichnis ........................................................... 258 7 Danke! Ich möchte mich bei einigen Personen bedanken, die mich beim Schreiben dieses Buches unterstützt und begleitet haben: Meine Frau Maya Serafini-Grolimund hat das Buch um einige hübsche Illustrationen bereichert.. Meine Geschäftspartnerin, Nora Völker, hat sich viel Zeit genommen, um mit mir über die Inhalte des Buches zu diskutieren und das Vorgehen zu reflektieren. Schliesslich möchte ich Prof. Meinrad Perrez für die schönen Jahre danken, in denen ich für ihn arbeiten und von ihm lernen durfte. Vielen Dank für eure Mithilfe. 8 Vorwort Beim Schreiben dieses Buches habe ich nicht darauf geachtet, ein besonders originelles Buch zu schreiben oder ein neues, innovatives Konzept zu vermitteln. Ich wollte auch kein vollständiges Werk über Diagnostik, Entwicklung und verschiedene Behandlungsmöglichkeiten von Schulschwierigkeiten erstellen. Nein! Dieses Buch soll Ihnen schlicht einen Weg aufzeigen, Ihrem Kind bei Hausaufgaben- und Lernschwierigkeiten erfolgreich zu helfen. Um dieses Ziel zu erreichen, habe ich mich beim Schreiben an 3 Leitsätzen orientiert: Ich vermittle Ihnen nur Wissen, das Sie unbedingt benötigen, um Ihren Kindern zu helfen. Dieses Grundwissen wird so einfach und praxisorientiert wie möglich aufbereitet. Die aufgezeigten Strategien müssen wirksam sein und von Ihnen mit Ihrem Kind alleine durchgeführt werden können. Trotz des Versuchs, mich kurz zu halten, werden einige Aspekte immer wieder auftauchen. Es handelt sich dabei um Prinzipien und Vorgehensweisen, die mir besonders wichtig erscheinen. Ich wünsche Ihnen angenehme Lesestunden und viel Erfolg bei der Umsetzung. Fabian Grolimund 9 Liebe Eltern, Vielleicht erleben Sie die Hausaufgabensituation zu Hause als frustrierend, haben das Gefühl, dass die Diskussion mit Ihrem Kind länger dauert, als die Erledigung der Aufgaben an und für sich. Sie müssen ständig dahinter sein, daneben sitzen und Ihr Kind laufend unterstützen, weil es nicht bereit oder nicht in der Lage ist, die Aufgaben selbst zu lösen. Vielleicht ist Ihnen auch aufgefallen oder mitgeteilt worden, dass Ihr Kind in der Schule Mühe hat. Die Lehrerin hat Ihnen gesagt, dass es sich schlecht konzentrieren kann oder immer noch mit den Fingern zählt. Sie selbst haben festgestellt, dass Ihr Kind sehr viel schlechter lesen kann als andere Kinder im selben Alter oder mit der Rechtschreibung grosse Mühe hat. Sie möchten Ihrem Kind eine schöne und erfolgreiche Schulzeit ermöglichen, wünschen sich, dass es sich in der Klasse wohl fühlt, den Stoff versteht und Erfolge erleben darf. Sie fragen sich, wie Sie Ihrem Kind helfen können, ob Sie ihm überhaupt helfen sollen, was Sie tun oder nicht tun sollten, und merken einmal mehr, wie schwierig es sein kann, Mutter oder Vater zu sein. Mit diesem Buch möchte ich Ihnen helfen, Antworten auf Ihre Fragen zu finden, und Ihnen Methoden vorstellen, die einfach anzuwenden sind und oft zu einer Verbesserung führen. Darf ich Ihnen etwas vorschlagen? Nehmen Sie sich ein bis zwei Wochen Zeit, um sich den Inhalt dieses Buchs zu erarbeiten, und beginnen Sie dann mit neuem Elan, Ihrem Kind bei seinen Schulproblemen beizustehen. Gönnen Sie sich und Ihrem Kind bis dahin eine Auszeit und konzentrieren Sie sich darauf, es mit ihm gut zu haben, schöne Dinge zu tun und Ihre Aufmerksamkeit auf das zu richten, was Ihr Kind gerne macht und gut kann. 10 Hausaufgaben: Ein täglicher Kampf? Geht es Ihnen wie vielen anderen Eltern, die in den letzten Jahren unsere Eltern-Seminare besucht haben? Erleben Sie die Hausaufgaben auch als täglichen Stress, als Konfliktthema, Machtkampf, als „ständig hinten dran sein“, als „immer erst verhandeln müssen“, als „ewige Diskussion, bis wir endlich beginnen können“? Und möchten Sie erfahren, was Sie konkret tun können, um die Situation zu verbessern? Im Folgenden möchte ich Ihnen eine kleine Typologie von Hausaufgabenproblemen vorstellen. Sie erfahren zudem jeweils, welche Kapitel des Buches für Sie und Ihr Kind besonders hilfreich sein könnten. Kleine Typologie von Hausaufgabenproblemen Jedes Kind, jede Familie ist anders – und doch ähneln sich die Probleme, die uns Eltern berichten, sehr stark. Die folgenden Schwierigkeiten kommen in praktisch jedem Seminar zur Sprache: Motivationsprobleme und Machtkämpfe Viele Kinder haben keine Lust darauf, Hausaufgaben zu machen oder sich auf Prüfungen vorzubereiten. Im einfacheren Fall müssen die Eltern sie lediglich ständig daran erinnern, sie dazu ermuntern, sie überreden oder sie mit Vehemenz dazu auffordern, sich endlich dran zu setzen. Im weitaus schwierigeren Fall versuchen die Kinder aktiv, die Hausaufgaben und das Lernen zu vermeiden. Sie „vergessen“, was sie machen müssten, weigern sich anzufangen, reagieren trotzig auf Aufforderungen, streiten mit ihren Eltern oder 11 schreien und toben sogar, wenn sie die Aufgaben erledigen sollen. Im Kapitel Motivation erfahren Sie, was Kinder motiviert, was sie demotiviert und wie Sie als Eltern reagieren können, wenn Ihr Kind Sie in einen Machtkampf verwickelt. Unselbständigkeit und Unsicherheit Andere Kinder sind zwar durchaus bereit, die Hausaufgaben zu machen, aber nicht alleine. Sie fragen ständig nach, möchten ihre Eltern die ganze Zeit neben sich haben und sind schnell verunsichert. Das Kapitel Selbständigkeit vermittelt daher Strategien, die Ihnen dabei helfen, Ihr Kind Schritt für Schritt zu mehr Selbständigkeit anzuleiten. Überforderung Schlussendlich gibt es Kinder, die mit den Hausaufgaben und der Vorbereitung von Prüfungen schlicht überfordert sind. Sie können die Rechenaufgaben nicht lösen, weil sie Lücken haben, die weit zurückliegen. Sie lesen zu schlecht, um die Texte zu verstehen, oder sie machen beim Schreiben so viele Fehler, dass sie nicht mehr gewillt sind, Diktate zu üben. In den Kapiteln Rechnen, sowie Lesen und Schreiben, lernen Sie, wie Sie den Leistungsstand Ihres Kindes überprüfen können und lernen Übungen kennen, die es Ihnen und Ihrem Kind ermöglichen, Fortschritte zu machen und die Lücken aufzuarbeiten. 12 Kinder motivieren Was Kinder demotiviert und was sie motiviert Warum lernen Kinder lesen, rechnen und schreiben? Warum machen sie die Hausaufgaben? Was treibt sie dazu an? Diese Frage stellen wir uns viel zu selten. Und wenn wir über Antworten nachdenken, haben wir meist unsere ErwachsenenPerspektive im Kopf. Sie sollen lernen, weil es verlangt wird, weil es wichtig ist, weil sie damit im späteren Berufsleben mehr Chancen haben, eine gute Lehre oder ein Studium machen können oder weil unsere Gesellschaft diese Fertigkeiten fordert. Nichts davon interessiert ein siebenjähriges Kind. Warum also lernt ein Kind begeistert lesen, während ein anderes einen weiten Bogen darum macht? Warum macht ein Kind direkt nach der Schule seine Hausaufgaben, während ein anderes mit elterlichem Druck dazu gezwungen werden muss? Es ist nicht leicht, darauf eine Antwort zu geben. Dennoch gelingt es der Psychologie, ein wenig Licht ins Dunkle zu bringen und das Verhalten unserer Kinder nicht nur zu erklären, sondern auch Hinweise zu geben, wie Sie als Eltern die Motivation mit beeinflussen können. Grundbedürfnisse und Motive Seit über hundert Jahren versuchen Psychologen zu ergründen, was den Menschen antreibt. Dabei wurde über die Jahrzehnte hinweg immer klarer, dass es einige fundamentale Bedürfnisse sind, die uns zu Handlungen motivieren. Epstein (1990) schlägt, aufbauend auf den Arbeiten anderer Psychologen, vier psychologische Grundbedürfnisse vor, die jedem Menschen zu eigen sind. Diese bestimmen neben 13 physiologischen Bedürfnissen wie dem Wunsch nach Nahrung, Schlaf, Sexualität und einem Dach über dem Kopf unsere Handlungen wesentlich mit. Diese Bedürfnisse möchte ich Ihnen kurz vorstellen, um dann darauf einzugehen, wie sie die Lernmotivation beeinflussen. Ein Grundbedürfnis, das in der psychologischen Forschung seit Jahrzehnten viel Beachtung findet, ist unser Wunsch nach stabilen Bindungen zu anderen Menschen. Kinder zeigen von Geburt an eine Vielzahl von Verhaltensweisen, um Nähe zu ihren Eltern herzustellen. Später dehnt sich dieses Bindungsbedürfnis auf weitere Menschen aus: Wir alle versuchen aktiv, gute Beziehungen zu Freunden, Eltern, Kindern, Verwandten und Partnern herzustellen. Bemerken wir, dass sich eine bestimmte Handlung positiv auf unsere Beziehung zu anderen Menschen auswirkt, wird diese als angenehm erlebt. Neben verlässlichen Bindungen streben wir ein Gefühl von Kompetenz und Kontrolle an. Wir möchten uns kompetent fühlen, die Erfahrung machen, dass wir unsere Umwelt beeinflussen und in unserem Sinne gestalten können und in der Lage sind, vorherzusagen, was mit uns und der Welt um uns herum passiert. Verlieren wir die Kontrolle, fühlen wir uns frustriert, werden wütend und mit der Zeit hilflos und deprimiert. Des Weiteren möchten wir Unangenehmes vermeiden und Angenehmes erleben. Wir möchten uns wohl fühlen, spannende oder interessante Dinge entdecken, Gefühle wie Freude, Lust, Entspannung erleben und Ängste, Stress und Schmerz vermeiden. Neben diesen drei Bedürfnissen, die wir mit höheren Tieren teilen, gibt es noch ein weiteres Bedürfnis, das – soweit wir wissen - nur dem Menschen zu Eigen ist: Wir möchten unseren Selbstwert erhöhen und unser Selbstwertgefühl schützen. Wir versuchen, die Anerkennung von anderen Menschen zu 14 gewinnen, wollen für unsere Arbeit und unsere Leistung Wertschätzung erhalten und möchten verhindern, dass andere Menschen uns abwerten oder geringschätzen. Diese Bedürfnisse motivieren uns zu Handlungen. Wir versuchen permanent, diese Bedürfnisse zu befriedigen und Situationen und Handlungen zu vermeiden, die der Verwirklichung dieser Grundbedürfnisse entgegenstehen. Grawe (2004), ehemaliger Psychologie-Professor in Bern, weist darauf hin, dass die Ziele, die wir im Laufe unseres Lebens bilden, letztlich der Befriedigung dieser Bedürfnisse dienen. Immer wenn wir etwas tun, registrieren wir bewusst oder unbewusst, ob es uns durch diese Handlung oder in dieser Situation gelingt, unsere Bedürfnisse zu befriedigen oder ob dieses Verhalten oder diese Situation das Gegenteil bewirkt und eine Gefahr für die Befriedigung dieser Bedürfnisse darstellt. Mit zunehmender Erfahrung berechnen wir bereits im Vornherein, ob uns eine bestimmte Handlung oder Situation der Befriedigung dieser Bedürfnisse näher bringt oder uns diesbezüglich eher schaden könnte. Je nachdem sind wir motiviert, dieses bestimmte Verhalten zu zeigen und die Situation aufzusuchen oder unsere Motivation ist darauf ausgerichtet, das Verhalten und die Situation zu vermeiden. Dabei spielen rationale Gründe eine viel geringere Rolle als unsere bisherigen Erfahrungen und die Gefühle, die damit assoziiert sind. Nehmen wir einmal an, Ihnen würde vorgeschlagen, nächste Woche für eine hübsche Summe ein Referat zu Ihrer beruflichen Tätigkeit vor zweihundert Berufskollegen zu halten. Überlegen Sie kurz, wie Sie darauf reagieren würden. Würden Sie sich darauf freuen und sofort zusagen, oder würde es Ihnen heiss und mulmig werden und Sie hätten das Gefühl: Nur das nicht? 15 Blitzschnell und zu einem grossen Teil unbewusst haben Sie den Vorschlag bewertet. Sie haben darüber nachgedacht, ob dies eine Möglichkeit wäre, Ihren Selbstwert zu erhöhen („da kann ich zeigen, was ich weiss und kann!“) oder ob es nicht vielmehr eine Bedrohung für Ihr Selbstwertgefühl wäre („sicher bringe ich dann keinen Ton heraus! Mein Gott, alle würden mich anstarren! Das könnte peinlich werden!“). Sie haben sich vielleicht gefragt, wie die Annahme oder Absage sich auf Ihre Beziehungen auswirken würde („Es wäre eine Möglichkeit, unseren Betrieb vorzustellen – mein Chef wäre sicher enttäuscht, wenn ich absage“). Sie haben eventuell auch kurz überschlagen, wie kontrollierbar die Situation für Sie klingt, und kommen zu einer negativen oder positiven Einschätzung (vielleicht würden Sie denken: „In einer Woche – das reicht nie, um mich vorzubereiten! Was ist, wenn ich mitten drin den Faden verliere? Und wenn jemand kritische Fragen stellt?“ Eventuell würden Sie sich aber auch sagen: „In einer Woche kann ich problemlos einen spannenden Vortrag vorbereiten, wenn ich das Wochenende dazu nutze. Vortragen an und für sich kann ich gut und das Thema kenne ich schliesslich in- und auswendig.“). Schliesslich haben Sie vielleicht auch darüber nachgedacht, ob diese Erfahrung für Sie interessant, das Thema spannend und das Halten des Vortrags angenehm wäre – oder ob die ganze Sache nur zu Druck, Stress, Angst und einem anstrengenden Wochenende führen würde. Die Summe dieser unbewussten und bewussten, auf vergangenen Erfahrungen und Gefühlen und Annahmen über die Zukunft basierenden Bewertungen, führen schliesslich zu einem bestimmten Gefühl und einer Zielsetzung wie: „Hey das mache ich!“ oder „Oh, das muss ich mir überlegen.“ 16 Oder auch „Alles, nur das nicht!“ Im ersten Fall gelangen Sie zur Einschätzung, dass sich das Halten des Vortrags wahrscheinlich auf die Mehrheit oder gar alle Bedürfnisse eher positiv auswirken wird, und sagen freudig zu. Im letzten Fall haben Sie das Gefühl, dass sich diese Möglichkeit mit grosser Wahrscheinlichkeit negativ auswirken wird: Es würde wahrscheinlich peinlich für Sie, die anderen wären sicher enttäuscht über Ihren schlechten Vortrag und Sie hätten das Gefühl, dass Sie sich auch nicht genügend vorbereiten könnten. Vielleicht wären Sie auch zwiespältig, weil Sie beispielsweise denken würden, dass Ihr Chef und Ihre Kollegen von Ihnen erwarten, dass Sie die Gelegenheit beim Schopf packen, Sie sich aber nicht sicher sind, ob Sie Ihre Sache gut machen können. In diesem Fall sind Ihre Motive widersprüchlich: Ein Teil in Ihnen möchte den Vortrag gerne halten, ein anderer möchte dies vermeiden. Bedürfnisse, Erfahrungen und Motive Lassen Sie uns zwei Kinder und Ihre Mütter beim Lernen beobachten und machen wir uns dazu einige Gedanken, wie die Situationen von den Kindern und ihren Müttern erlebt werden: Lena geht in die dritte Klasse und liest für ihr Leben gern. Sie und ihre Mutter lesen fast jeden Abend zu zweit im Bett. Abwechslungsweise lesen sie sich Seiten aus den Harry-Potter Büchern vor, die manchmal so spannend sind, dass beide die Zeit vergessen und Lena zu spät einschläft. Ihre Eltern und sogar die Grosseltern sind sehr stolz auf Lenas Lesefertigkeiten. Sie bekommt immer wieder Komplimente. 17 Markus geht mit Lena in die gleiche Klasse, hatte aber von Beginn an Mühe, Lesen zu lernen. Vor einigen Wochen hat der Lehrer zu Markus Mutter gesagt, dass Markus unbedingt mehr üben muss, um seinen Rückstand aufzuholen. Die Übungen gestalten sich als äusserst schwierig. Markus und seine Mutter diskutieren oft eine halbe Stunde, bis Markus sich endlich darauf einlässt. Korrigiert ihn seine Mutter, wird er wütend und manchmal richtiggehend ausfällig. In der Schule weiss er oft nicht, wo er weiterlesen soll, wenn er aufgerufen wird. Die anderen Kinder der Klasse können sich ein Lachen ab und zu nicht verkneifen, wenn er sich verliest. Hausaufgaben, die mit Lesen zu tun haben, versucht Markus regelmässig zu verschweigen. Was erleben Lena und Markus während des Lesens und was bedeutet dies für ihre Motivation? Für Lena lassen sich die Erfahrungen wie folgt zusammenfassen: Lesen gibt mir die Möglichkeit, in spannende Geschichten einzutauchen. Lesen macht Spass! Ich kann gut lesen und erhalte dafür viele Komplimente. Meine Eltern und Grosseltern sind stolz auf mich. Lesen ist gut für mein Selbstwertgefühl! Während ich lese, verbringen meine Mutter und ich schöne Momente miteinander. Lesen ist gut für die Bindung zu meiner Mutter! Ich werde immer besser. Während ich lese, fühle ich mich kompetent! Für Lena ist Lesen deshalb so positiv, weil es mit jedem einzelnen Grundbedürfnis in einer positiven Beziehung steht. Bei Markus sieht es anders aus. Seine Erfahrungen zeigen ihm, dass Lesen für ihn eine Gefahr bedeutet: 18 Lesen ist blöd. Ich bin so langsam und benötige so viel Zeit, um die Buchstaben zu entziffern, dass ich den Inhalt gar nicht verstehe! Wenn ich lese, lachen andere mich aus und geben mir das Gefühl, ein Versager zu sein. Lesen ist schlecht für mein Selbstwertgefühl. Während ich lese, wird meine Mutter wütend mit mir. Sie ist angespannt und enttäuscht von mir. Lesen schadet der Beziehung zu meiner Mutter. Ganz egal, wie sehr ich mich anstrenge, ich werde nicht besser. Beim Lesen verliere ich die Kontrolle und fühle mich hilflos. Markus erlebt Lesen somit als Tätigkeit, die all seinen Grundbedürfnissen schadet. Seine Erfahrungen, seine Gefühle, seine Gedanken sagen ihm: Geh dem Lesen aus dem Weg! Auch für die Mütter von Lena und Markus ist die Situation sehr unterschiedlich. Lenas Mutter erlebt das Lesen mit ihrer Tochter als eine Situation, die ihr Spass macht, schöne Erfahrungen mit der Tochter zulässt und in der sie sich als Mutter bestätigt fühlt. Auch ihre Bedürfnisse werden während des gemeinsamen Lesens befriedigt: Sie wird daher entspannt in die Situation gehen und sich auf die gemeinsame Lesezeit freuen. Markus Mutter erlebt sich in der Situation wahrscheinlich als ebenso hilflos wie ihr Sohn. Auch sie hat das Gefühl, dass sich die Übungen negativ auf die Beziehung zu ihrem Kind auswirken und auch ihr machen die Übungen keine Freude. Wäre sie nicht davon überzeugt, dass es für Markus äusserst wichtig ist, dass er besser lesen lernt, würde auch sie der Situation am liebsten aus dem Weg gehen. So aber zwingt sie sich dazu und merkt, wie sich ein flaues Gefühl in ihrem Magen ausbreitet, noch bevor Markus von der Schule nach Hause kommt. Die Anspannung steigt, je näher der Zeitpunkt des Übens heranrückt. 19 Übung: Was erlebt mein Kind bei den Hausaufgaben und beim Lernen? Bevor wir uns Möglichkeiten ansehen, wie Sie als Eltern die Motivation Ihres Kindes beeinflussen können, möchte ich Ihnen gerne eine Übung vorschlagen. Überlegen Sie sich, was Ihr Kind während den Hausaufgaben und dem Lernen erlebt. Sie können die Übung entweder allgemein für die Hausaufgaben durchführen oder sich fragen, was bei Ihrem Kind während dem Lernen eines bestimmten, problematischen Fachs abläuft: Inwiefern erlebt Ihr Kind die Situation als lustvoll oder unangenehm? Wie ist die Beziehung zwischen Ihnen und Ihrem Kind während den Hausaufgaben / dem Lernen? Gibt es Unterschiede zum Umgang miteinander in anderen Situationen? Inwiefern erlebt Ihr Kind die Hausaufgaben als Bestätigung oder Bedrohung für sein Selbstwertgefühl? Inwiefern macht es dabei die Erfahrung, dass es Anerkennung erhält, Komplimente bekommt und stolz auf das Erreichte sein darf? Inwiefern erlebt es Misserfolge und muss mit Enttäuschungen und Kritik umgehen? Wie stark ist das Gefühl von Kontrolle bei den Hausaufgaben und beim Lernen? Macht Ihr Kind vorwiegend die Erfahrung, den Anforderungen gewachsen zu sein, oder ist es überfordert und fühlt sich hilflos? Versuchen Sie die folgende Tabelle auszufüllen. Bleiben Sie dabei ganz in der Rolle Ihres Kindes. Denken Sie nicht darüber nach, was gut wäre oder warum sich Ihr Kind anders verhalten sollte, versuchen Sie lediglich, die Hausaufgaben- und 20 Lernsituation aus der Sicht Ihres Kindes zu sehen, und schreiben Sie auf der nächsten Seite auf, inwiefern während dieser Situation die Bedürfnisse Ihres Kindes verletzt oder befriedigt werden: 21 Bedürfnis Was erlebt mein Kind? Bedürfnis, Angenehmes und Interessantes zu erleben / Bedürfnis, langweiligen und schmerzvollen Tätigkeiten aus dem Weg zu gehen Bedürfnis nach schönen Beziehungserfahrungen / Bedürfnis, Streit und Spannung zu vermeiden Bedürfnis nach Anerkennung und Wertschätzung / Bedürfnis, das eigene Selbstwertgefühl zu schützen Bedürfnis nach Kompetenz und Kontrolle / Bedürfnis, Hilflosigkeit zu vermeiden 22 Bedürfnisse und Begabung Je besser es Ihrem Kind gelingt, während den Hausaufgaben, dem Lesen, Rechnen und Schreiben seine Bedürfnisse zu befriedigen, desto eher wird es sich zu diesen Tätigkeiten hingezogen fühlen. Je mehr seine Bedürfnisse verletzt werden, desto stärker wird sein Wunsch sein, diese Beschäftigung zu vermeiden. Wie gut es Ihrem Kind gelingt, seine Grundbedürfnisse während den Hausaufgaben und dem Lernen zu befriedigen, hängt in starkem Masse von seiner Begabung ab. Lena, die eine hohe Begabung für das Lesen mitgebracht hat, hat von Anfang an gute Erfahrungen mit dem Lesen gemacht. Sie erlebte sich von Beginn an als kompetent, erhielt schon bald erste Komplimente und konnte rasch so schnell und gut lesen, dass sie sich auf die Geschichten konzentrieren konnte. Für ihre Mutter war es ein leichtes, diese positive Dynamik zusätzlich zu verstärken und das Lesen zu einem gemeinsamen Hobby auszubauen. Markus zeigte von Beginn an eine Schwäche beim Lesen. Sein Gefühl von Kompetenz nahm von Monat zu Monat ab. Er musste erfahren, wie die anderen Kinder an ihm vorbeiziehen und manchmal über ihn lachen. Ein immer stärkeres Gefühl von Kränkung und Hilflosigkeit tauchte auf, sobald er lesen musste und bald empfand er Texte und Bücher als Bedrohung. Seine Mutter hat es nicht einfach. Sie muss über hervorragende pädagogische Kompetenzen verfügen, wenn sie bei dieser Ausgangslage Erfolg haben und Markus von neuem zum Üben motivieren will. Wenden wir uns nun der Frage zu, was Eltern tun können, um die Motivation ihrer Kinder zu fördern. Wie könnte es der 23 Mutter von Markus gelingen, Markus Vermeidungstendenzen abzubauen und Lesen zu einem positiveren Erlebnis zu machen? Wie Eltern die Motivation beeinflussen können Als Eltern können Sie die Motivation Ihres Kindes mit beeinflussen – im positiven wie im negativen Sinn. Die folgenden Kapitel geben Ihnen konkrete Hinweise, wie Sie die Hausaufgaben und das Lernen in positiver Weise mit den Bedürfnissen Ihres Kindes verknüpfen können. Vermitteln Sie Ihrem Kind ein Gefühl von Kontrolle und Kompetenz Wir alle möchten Gefühlen der Hilflosigkeit aus dem Weg gehen. Wenn wir wiederholt die Erfahrung machen, dass wir trotz Anstrengung Misserfolge erleben, verlieren wir nicht nur die Motivation, uns dieser Tätigkeit zuzuwenden, nein, es baut sich eine gegenteilige Motivation auf, diese Tätigkeit zu vermeiden. Viele Kinder sind bei den Hausaufgaben und beim Lernen demotiviert, weil sie die Situation als unkontrollierbar und sich selbst als inkompetent erleben. Nicht gut rechnen, lesen oder schreiben zu können, bedeutet für ein Kind, immer wieder Misserfolge erleben zu müssen, im Unterricht nicht mitzukommen, schlechte Noten zu erhalten, die Eltern zu enttäuschen und manchmal auch, das Gelächter und die Hänseleien anderer Kinder zu ertragen. Die Hausaufgaben im jeweiligen Fach werden zur Tortur. Häufig lässt sich mit der Zeit ein Teufelskreis (vgl. Betz & Breuninger, 1998) beobachten, in den Eltern und Kind geraten: Die Schwierigkeiten in einem Fach führen zunächst zu einer vermehrten Anstrengung auf beiden Seiten – Eltern und Kinder geben sich mehr Mühe beim Üben und wenden zusätzliche Zeit 24 auf. Manchmal wird dadurch das Problem gelöst. Manchmal jedoch nicht. Gelingt es nicht, ist es sehr wahrscheinlich, dass sich der Teufelskreis entwickelt. Wenn die Bemühungen nichts nützen und die Misserfolge trotz zusätzlichem Üben bestehen bleiben, löst dies beim Kind und wahrscheinlich auch bei Ihnen als Eltern negative Gefühle aus. Diese reichen von Frust, Enttäuschung und damit verbundenen Vorwürfen und Selbstvorwürfen bis hin zu Ängsten und Hoffnungslosigkeit. Negative Gedanken begleiten die Gefühle und äussern sich in Sätzen wie: „Ich werde das nie lernen“, „Schreiben kann ich einfach nicht“, „ich bin zu dumm für Mathe“, „du gibst dir einfach zu wenig Mühe“ bis hin zu „ich bin ein Versager“ und „du strengst dich nicht genügend an!“. Der Teufelskreis lässt sich folgendermassen darstellen: Kind und Eltern erleben Misserfolge Misserfolge führen zu negativen Gedanken und Gefühlen Die Lücken werden grösser Lernen wird unangenehmer und vom Kind vermieden 25 Befindet sich das Kind in diesem Teufelskreis, macht es immer wieder die gleiche Erfahrung: Wenn ich mich mit meinem Problemfach beschäftige, verliere ich die Kontrolle. Ich fühle mich inkompetent und verwirrt! Als Erwachsene können wir manchmal gar nicht mehr nachvollziehen, wie unangenehm diese Erfahrung ist – weil wir uns unser Leben so eingerichtet haben, dass es auf unseren Stärken aufbaut und wir unsere Schwächen umgehen können. Etwas nicht zu verstehen, während die Erklärungsversuche der Menschen um uns herum immer frustrierter klingen, ist eine schlimme Erfahrung. Bereits wenn alle über einen Witz lachen und wir die einzige Person in der Gruppe sind, die die Pointe nicht verstanden hat, fühlen wir uns unwohl, vielleicht sogar etwas dumm. Wenn uns unser Chef in eine neue Aufgabe einführt und wir anhand seiner Blicke und der Art, wie er es erklärt, merken, dass wir es längst begriffen haben sollten, wird es richtig unangenehm. Wenn wir diese Erfahrung täglich machen, fühlen wir uns so bedroht, dass wir uns als Erwachsene nach einer neuen Stelle umsehen. Ein Kind kann seinen Beruf nicht wechseln. Es muss weiter zur Schule, wird weiter mit seinem Problemfach konfrontiert. Aber es wird dennoch versuchen, allem, was mit diesem Fach zu tun hat, so gut es geht aus dem Weg zu gehen. Es wird die Hausaufgaben in der Schule vergessen oder nur widerwillig lösen. Es wird trödeln, immer wieder aufstehen, um etwas zu trinken, auf die Toilette zu gehen oder aus dem Fenster zu schauen. Jede Ablenkung ist willkommen. Nun wird es scheinbar notwendig, mehr Druck aufzusetzen, um das Kind zum Lernen zu bewegen. Die Eltern möchten, dass ihr Kind mehr übt – das Kind möchte dies aufgrund vieler schlechter Erfahrungen unbedingt vermeiden. Es entwickelt sich ein Machtkampf, bei dem meist 26 beide verlieren. Das typische Resultat sieht so aus, dass sich das Kind nach einigem Protest dazu überreden lässt, eine bestimmte Zeit lang zu lernen – allerdings ohne sich richtig darauf einzulassen. In der Folge werden die Lücken grösser und die Misserfolgserlebnisse nehmen zu. Manche Kinder wirken mit der Zeit tatsächlich faul und desinteressiert. Sie finden Mathe „blöd“ und unwichtig. Die schlechten Noten scheinen ihnen egal zu sein. Gehen Sie als Eltern bei einem Primarschulkind nicht davon aus, dass dies tatsächlich so ist. Es ist für ein Kind schlicht erträglicher, in etwas schlecht zu sein, das unwichtig und blöd ist - es schützt damit sein Selbstwertgefühl. Diese Haltung wird verschwinden, sobald sich Fortschritte einstellen. Dieses Buch soll Sie und Ihr Kind dabei unterstützen, nicht in diesen Teufelskreis zu geraten oder – falls sie sich bereits darin befinden – ihn zu durchbrechen. Dies ist umso schwieriger, je länger diese negative Dynamik bereits besteht. Es lohnt sich, früh einzugreifen, wenn sich erste Schwierigkeiten abzeichnen. Wenn die Probleme schon länger bestehen, braucht es mehr Geduld und Ausdauer, um eine positive Entwicklung in Gang zu setzen. Verbesserungen lassen sich aber trotzdem erzielen. Es stellt sich nun die Frage, wie Sie und Ihr Kind aus diesem Teufelskreis herauskommen oder wie Sie gar nicht erst hineingeraten! 27 Den Teufelskreis durchbrechen Damit Ihr Kind aus diesem Teufelskreis herausfindet oder gar nicht erst hineingerät, muss es sich als kompetent erleben. Die folgenden Erfahrungen helfen ihm dabei: 1. Ich bin in der Lage, die Aufgaben zu lösen und Fortschritte zu machen 2. Meine Anstrengungen führen zu Erfolgen 3. Ich kann mit Misserfolgen umgehen 4. Ich kann mitbestimmen, wie die Hausaufgaben und das Lernen zu Hause ablaufen Sehen wir uns diese Punkte der Reihe nach an. Ermöglichen Sie Ihrem Kind Erfolge und Fortschritte Erfolge sagen uns: „Ich kann etwas“, „Ich mache Fortschritte“, „Es lohnt sich, sich anzustrengen und zu üben“. Sie bereiten uns Freude, machen uns stolz, erhöhen unser Selbstvertrauen und unsere Bereitschaft, uns anzustrengen und unser Bestes zu geben. Erfolge verändern unser Denken, unsere Einstellung und führen oft zu weiteren Erfolgen. Der Volksmund sagt: Nichts macht so erfolgreich wie der Erfolg. Es ist daher zentral, dass Ihr Kind bei den Hausaufgaben und beim Lernen Erfolge erlebt. Ist dies der Fall, erlebt Ihr Kind positive Gefühle wie Freude und Stolz, die die Annäherungstendenz stärken und damit die Motivation erhöhen, sich wieder mit dem Problemfach auseinanderzusetzen und die Hausaufgaben zu machen. 28 Anstelle eines Teufelskreises können wir uns einen Lösungskreis vorstellen: Kind und Eltern erleben Erfolge Erfolge führen zu positiven Gefühlen und Gedanken Die Lücken werden kleiner Das Lernen wird angenehmer - das Kind macht wieder mit Falls Ihr Kind in einem Fach eine Schwäche hat, stellt sich die Frage, wie Sie Ihrem Kind Erfolge vermitteln. Einige Prinzipien und Vorgehensweisen werden Ihnen dabei helfen. 29 Passen Sie sich beim Üben dem Leistungsniveau und den Fähigkeiten des Kindes an Lernen wir ein Instrument, beginnen wir mit Fingerübungen und einfachen Stücken und steigern uns langsam. Beim Tennis üben wir einzelne Schläge immer wieder ein und spielen jeweils gegen Gegner, denen wir gewachsen sind. Der Lehrling in der Firma wird zunächst mit einfacheren Aufgaben betraut und darf sich mit wachsenden Fertigkeiten an immer Schwierigeres wagen. Auch das Lernen in der Schule unterliegt diesem schrittweisen Vorgehen. So fängt der Mathematikunterricht mit einfachen Rechnungen an und geht erst später zu komplexeren Rechenprozeduren über. Die simpleren Prozeduren sind dabei eine Voraussetzung für komplexere Rechnungen. Wenn wir das Plusrechnen im Zehnerraum nicht beherrschen, können wir keine schriftlichen Additionen lösen, und wenn wir die schriftliche Addition nicht verstanden haben, können wir schriftliche Multiplikationen nicht lösen. Bevor wir mit schwierigeren Rechenprozeduren umgehen können, ist es notwendig, die einfacheren zu beherrschen. Aus diesem Grund werden in der Schule die einfacheren zuerst vermittelt. Das einzige Problem dabei ist: Es wird weitergegangen, wenn die meisten Kinder eine Rechenprozedur beherrschen oder bestimmte Fertigkeiten im Lesen oder Schreiben erworben haben – die meisten, nicht alle. In der Schule wird im Klassenverband gelernt und trotz Stützkursen für schwächere Schüler ist es nicht möglich, jedes Kind so stark individuell zu fördern, wie dies nötig wäre. 30 Sie als Eltern können Ihrem Kind bei Schwierigkeiten diese individuelle Unterstützung bieten. Damit Ihre Hilfe wirksam ist, müssen Sie: 1. In Erfahrung bringen, wo die ersten Lücken Ihres Kindes auftauchen 2. Wissen, wie sich diese Lücken wirksam aufarbeiten lassen Sehr oft ist es bei Lernschwierigkeiten notwendig, einen oder mehrere Schritte zurückzugehen und dort anzusetzen, wo das Kind ausgesetzt und den Schulstoff nicht oder nur mangelhaft verstanden hat. Sobald Sie wissen, wo sich die erste Lücke Ihres Kindes befindet und wie Sie diese aufarbeiten können, werden Fortschritte und Erfolgserlebnisse wieder möglich. Sie drücken sich noch nicht direkt in Schulnoten aus, aber Ihr Kind wird merken, wie es sich verbessert, sich freuen und neuen Mut schöpfen. Wie Sie bei Ihrem Kind Lücken aufspüren und diese mittels geeigneter Übungen aufarbeiten können, erfahren in den Kapiteln zu den einzelnen Fächern. Sehen wir uns zunächst noch einige weitere Möglichkeiten an, bei Ihrem Kind ein Gefühl von Kontrolle und Kompetenz zu fördern. Vermitteln Sie Ihrem Kind, dass seine Anstrengungen etwas bewirken Natürlich möchten Eltern, dass Ihre Kinder gut in der Schule sind. Das Problem dabei ist, dass zu hohe Erwartungen die Motivation des Kindes untergraben können. Die Forschung 31 zeigt, dass es gut ist, wenn Eltern hohe Erwartungen haben, die sich aber an den aktuellen Leistungen des Kindes orientieren. Dabei hat sich in vielen Studien gezeigt, dass es die Motivation und die Leistung von Kindern erhöht, wenn Eltern die Leistung des Kindes mit seinen vorherigen Leistungen und nicht mit den Leistungen der Klassenkameraden vergleichen. In der Psychologie wird dies als Vergleich mit der individuellen Bezugsnorm bezeichnet (Rheinberg, 2002). Findet ein Vergleich mit der Klasse statt, spricht man von sozialer Bezugsnorm. Der Vergleich mit der vorherigen Leistung ist insbesondere bei schwächeren Kindern wichtig. Sie können sich zunächst nur hinsichtlich dieser Norm verbessern. Sehen wir uns daher etwas genauer an, wie Beurteilungen auf diesen beiden Normen aussehen und welche Wirkung diese zeigen. Gemessen an der individuellen Bezugsnorm hat jemand eine gute Leistung gezeigt, wenn er sich im Vergleich zu früher verbessert hat. Gemessen an der sozialen Bezugsnorm hat jemand eine gute Leistung gezeigt, wenn er besser ist als andere in der Vergleichsgruppe. Nehmen wir dazu an, dass sich ein 35 jähriger Mann, Herr X, der in seinem Leben kaum Sport getrieben hat, mit etwas Übergewicht zu kämpfen hat und bis vor kurzem Raucher war, dazu entschlossen hat, sich in Form zu bringen. Er tritt einem Leichtathletik-Verein bei, um zweimal in der Woche zu trainieren. Das Training in diesem Verein beginnt jeweils mit Aufwärm- und Dehnübungen und einem zwanzig minütigen Lauf. Beim ersten Training hustet sich Herr X fast die Lunge aus dem Leib und verfällt nach fünf Minuten in Schritt-Tempo, 32 während die anderen ihre Runden drehen. Beim dritten Training, eine Woche später, hustet er bereits deutlich weniger und es gelingt ihm, eine Runde mehr zu joggen, bevor er den Rest der Strecke gehen muss. Nehmen wir an, unser junger Herr trifft auf Trainer A, ein leistungsorientierter Sportler, der sein Team beim nächsten Wettkampf auf dem Podest sehen will. Was wird ihm dieser Trainer zurückmelden? Wahrscheinlich wird er ihm zu verstehen geben, dass er im Vergleich zu den anderen viel zu langsam ist. Vielleicht wird er neben ihm herlaufen und Dinge sagen wie: Schneller, das geht doch schneller! Es heisst Lauf-Training, nicht Geh-Training! Komm schon, die anderen überrunden dich bald. Das kommt halt vom Rauchen! Reiss dich ein wenig zusammen. Seitenstechen ist normal, du musst einfach weiterlaufen und dich auf die Atmung konzentrieren. Vielleicht zeigt er auch lediglich mit Blicken, dass er mit der Leistung unzufrieden ist, fordert ihn dazu auf, mehr zu trainieren und spricht von den Wettkämpfen, Teamleistung und der Notwendigkeit, an die Grenzen zu gehen. Wie wird wohl Herr x auf dieses Training reagieren? Die Wahrscheinlichkeit ist gross, dass nach zwei, drei Wochen Schluss ist. Der Trainer ist vielleicht sogar froh, dass „der Typ endlich eingesehen hat, dass das nichts für ihn ist“ und fühlt sich darin bestätigt, dass er gleich gesehen hat „dass dem der nötige Biss fehlt!“ Trainer B geht ganz anders vor. Er fragt den Neuankömmling zunächst, ob er schon einmal Leichtathletik betrieben hat und ob er bisher viel Sport gemacht hat. Er erfährt, dass dies nicht der Fall ist und der Beitritt in den Verein einen Versuch 33 darstellt, gesünder zu leben, etwas abzunehmen und sich nach langen Jahren des Rauchens wieder in Form zu bringen. Als er sieht, wie der junge Mann beim Einlaufen husten muss, läuft er neben ihm her und sagt ihm Dinge wie: Lauf ein wenig langsamer, es ist nicht gut, wenn du dich gleich zu Beginn überanstrengst…so verlierst du nur die Lust. Lass die anderen vorbeiziehen…die machen das schon Jahre…lauf einfach in deinem Tempo… Sehr gut…konzentriere dich auf deine Atmung…lauf nur so schnell, dass du noch gut durch die Nase einatmen kannst. Du kannst zwischendurch auch gehen und wieder etwas laufen, wenn du dich erholt hast… Dieser Trainer beobachtet unseren Kandidaten und registriert kleine Veränderungen. Auch in der dritten Woche ist Herr X weit davon entfernt, mit den anderen mithalten zu können. Umso wichtiger ist es für ihn, dass sein Trainer seine Fortschritte sieht und ihm zurückmeldet: Ja…das klappt schon sehr gut mit der Atmung…ich habe dich heute noch kein einziges Mal husten gehört… Weisst du noch, beim ersten Training musstest du nach zwei Runden gehen…und jetzt schaffst du fast vier… Du läufst viel weicher und runder als zu Beginn…das ist besser für die Gelenke… Hast du auch das Gefühl, dass es schon bedeutend leichter geht? Wie wird sich Herr X bei diesem Training fühlen? Wie werden sich die Rückmeldungen auf seine Motivation auswirken? 34 Was wird Herr X erreichen mit einem Trainer, der sich an seinem individuellen Leistungsstand orientiert, die Anforderungen in kleinen Schritten erhöht und auf bisherige Fortschritte hinweist? Wie wird sich ein Klima, in dem sich Herr X ganz auf sich und seine Fortschritte konzentrieren kann und in dem er erleben darf, dass seine Anstrengungen zu Verbesserungen führen, auf seinen Durchhaltewillen auswirken? Wenn wir der Forschung – und unserer Intuition – glauben dürfen, wird Herr X nicht nur mehr Freude am Laufen empfinden, sondern auch zuversichtlicher werden, was seine eigenen Leistungen anbelangt und auch tatsächlich bessere Leistungen erbringen als bei Trainer A, der ihn ständig mit den anderen vergleicht. Studien zur Bezugsnorm-Orientierung (vgl. Krampen, 1987; Lüdke & Köller, 2002; Rheinberg und Krug, 1998) zeigen, dass vor allem schwächere Schüler von Vergleichen auf dieser individuellen Bezugsnorm profitieren. Gute Schüler, die überzeugt sind, durch ihre Anstrengungen zu den Besten gehören zu können, werden durch soziale Vergleiche ebenfalls motiviert. Ähnlich dürfte es den besten Läufern im Team gehen. Sie können von Trainer A durchaus profitieren und werden durch Hinweise auf den Wettkampf, die Leistung konkurrierender Läufer etc. zusätzlich angespornt. Wenn Sie die Erfolgszuversicht, die Anstrengungsbereitschaft und die Leistung Ihres Kindes fördern möchten, gilt daher: Je schwächer Ihr Kind in einem Fach ist, desto wichtiger ist es, dass Sie ihm Rückmeldungen auf der individuellen Bezugsnorm geben. Solche Rückmeldungen können folgendermassen lauten: 35 Du hast schon viel weniger Gross- und Kleinschreibfehler gemacht als beim letzten Mal. Die Siebener-Reihe kannst du schon viel besser! Ich fand es toll, wie viel Mühe du dir bei der Vorbereitung der letzten Prüfung gegeben hast – ich möchte, dass du das diesmal wieder so machst. Einem Lehrer, den ich in guter Erinnerung habe, gelang es auf diese Weise, auch die schwächsten Schüler zur Mitarbeit zu motivieren. Unter den ungenügenden Noten von Schülern, die in einem oder allen Fächern Mühe hatten, standen immer wieder Kommentare wie: Du hast dir dieses Mal sehr viel Mühe gegeben! Weiter so! Kein einziges Mal „das“ und „dass“ verwechselt. Bravo! Schau beim nächsten Test noch mehr auf die Grossund Kleinschreibung. Du hast die Wörter dieser Lektion sehr gut gelernt! Wenn du noch mehr darauf achtest, ob die Verben in der Grundform oder im passé composé stehen, könntest du nochmals viele Fehler vermeiden. Ich kann dir dazu gerne Übungsblätter geben. Es fanden sich aber durchaus auch kritische Kommentare unter den Prüfungen, wenn sich ein Schüler keine Mühe gab: Du hast dich weiter verschlechtert. Ich weiss, dass du besser sein kannst, wenn du dir mehr Mühe gibst und ich erwarte, dass du dich wieder mehr anstrengst. Die Schüler machten die Erfahrung, dass der Lehrer genau hinsah, wusste, wo jeder steht und Veränderungen wahrnahm. Man konnte sich als guter Schüler weder auf den Lorbeeren 36 ausruhen, noch hatte man als schlechter Schüler das Gefühl, abgestempelt zu sein. Man wusste, dass man sich Anerkennung und Lob durch Anstrengung und individuelle Fortschritte verdienen kann und es sich daher lohnt, sich Mühe zu geben. Übung: Kinder individuell beurteilen Überlegen Sie für sich, wo es für Ihr Kind besonders wichtig wäre, auf einer individuellen Bezugsnorm Rückmeldungen zu erhalten: Hat Ihr Kind in einem Fach Mühe? Würde es in diesem Fach von einer individuelleren Beurteilung profitieren? Kann Ihr Kind sich nicht lange konzentrieren? Würde es daher lernen, sich stärker zu fokussieren, wenn Sie in diesem Bereich kleine Veränderungen registrieren und Fortschritte rückmelden? Hat Ihr Kind Schwierigkeiten, selbständig zu arbeiten? Wäre es daher sinnvoll, ihm auf dieser Ebene kleinere Fortschritte bewusst zu machen? Schreiben Sie hier auf, in welchem Bereich Sie besonders darauf achten möchten, dass Sie Ihr Kind auf einer individuellen Bezugsnorm beurteilen: __________________________________________________ __________________________________________________ Überlegen Sie sich jeweils vor den Hausaufgaben oder dem Lernen, auf welche Veränderungen und Fortschritte Sie achten könnten und wie Sie diese rückmelden möchten. 37 Führen Sie Erfolge und Misserfolge auf Anstrengung zurück Wie man sich nach einem Erfolg oder Misserfolg fühlt und wie man in der Folge damit umgeht, hängt ganz entscheidend davon ab, auf welche Ursachen man diese zurückführt (Heider, 1958; Weiner, Frieze, Kukla, Reed, Rest & Rosenbaum, 1971). Erleben wir einen Misserfolg, beispielsweise eine schlechte Note in einer Mathematik-Prüfung, können wir diesen nach Weiner und seinen Mitarbeitern (1971) auf äussere oder innere Gründe sowie auf überdauernde oder kurzfristige Ursachen zurückführen. Sehen wir uns diese Erklärungsweisen kurz an: Innere, stabile Gründe: Ich bin einfach zu dumm Für Mathematik bin ich nicht begabt Innere, variable Gründe Ich habe mich zu wenig angestrengt und zu wenig gelernt Ich habe im Unterricht zu wenig aufgepasst Ich habe zu spät mit dem Lernen angefangen Äussere, stabile Gründe: Dieser Lehrer erklärt das so bescheuert, da ist es doch klar, dass ich es nicht verstehe Äussere, variable Gründe: 38 Das war Pech, ich habe Flüchtigkeitsfehler gemacht ein paar dumme Diese Prüfung war zu schwer, fast alle hatten eine schlechte Note Wie wirken sich diese verschiedenen Erklärungen nun auf die Motivation und Bereitschaft, sich auf die nächste Mathematikprüfung vorzubereiten, aus? Und wie fühlen wir uns, je nachdem, wie wir uns Erfolge und Misserfolge erklären? Die Attributionsforschung, wie die Forschung zu den verschiedenen Ursachenerklärungen genannt wird, gibt uns einige wichtige Hinweise. Wie die Forschung zeigt, freuen wir uns, wenn wir Erfolge auf unsere Fähigkeiten zurückführen können, verlieren aber schnell die Motivation, wenn wir bei Misserfolgen glauben, nicht genügend begabt zu sein (vgl. Heckhausen, 1978; Meyer, 1973). Es konnte in mehreren Untersuchungen gezeigt werden, dass Menschen, die Herausforderungen anpacken, zuversichtlich sind und Erfolge anstreben, sich eigene Erfolge und Misserfolge ganz anders erklären als Menschen, die in Leistungssituationen ängstlich reagieren und sich wenig zutrauen. Menschen, die erfolgszuversichtlich sind, suchen sich Aufgaben aus, die realistisch, aber anspruchsvoll sind. Erleben sie Erfolge, führen sie dies auf ihre Anstrengung und ihre Begabung zurück. Bei Misserfolgen denken sie, dass sie sich zu wenig Mühe gegeben haben oder auch mal Pech im Spiel war. Bei Menschen, die leistungsängstlich sind, sich wenig zutrauen und bei Schwierigkeiten schnell aufgeben, findet sich das umgekehrte Muster. Sie suchen sich gerne Aufgaben aus, die sehr leicht sind, oder solche, die so schwierig sind, dass ein Scheitern nicht peinlich wäre. Erfolge führen sie meist auf äussere Umstände zurück und glauben, dass sie nur Erfolg hatten, weil die Prüfung so leicht war oder sie Glück hatten. 39 Misserfolge führen sie hingegen auf mangelnde Fähigkeiten zurück (vgl. Heckhausen, 1972; 1975). Dieses Muster führt bei den leistungsängstlichen Schülern dazu, dass sie subjektiv viel mehr Misserfolge erleben und ein negatives Muster von Überzeugungen aufbauen. Sie unterschätzen dabei ihre eigenen Fähigkeiten und Möglichkeiten („ich bin eh zu dumm“, „ich kann das nicht“), überschätzen die Schwierigkeit der Aufgabe („das schaffe ich nie“, „das ist so ein Berg, das kann man gar nicht alles lernen“) und überschätzen die negativen Konsequenzen eines Misserfolgs („dann würden mich alle auslachen“, „dann würden alle wissen, wie dumm ich bin“). Leistungssituationen werden als unkontrollierbar erlebt, wenn möglich vermieden oder unter Angst ausgehalten. Wie Kinder mit Misserfolgen und Erfolgen umgehen, hängt stark davon ab, was ihre Eltern ihnen vorleben und wie die Eltern bei Erfolgen und Misserfolgen reagieren. Dabei spielen die unscheinbaren Kommentare, die die Eltern nach erfolgreich gelösten oder ungelösten Aufgaben abgeben, eine wichtige Rolle. In Studien wurde untersucht, was passiert, wenn Mütter ihren Kindern durch ihre Rückmeldungen vermitteln, dass Leistungsfähigkeit vor allem mit Begabung zu tun hat. In diesem Fall waren die Primarschulkinder nach sechs Monaten nicht einmal mehr bereit, sich auf neue Aufgaben einzulassen. Mütter, die sich dagegen bemühten, Kindern zu vermitteln, dass ihre Erfolge und Misserfolge insbesondere mit der Anstrengung zu tun haben und den Kindern vor allem Wertschätzung zeigten, wenn sich diese Mühe gaben, konnten das Kompetenzerleben und die Bereitschaft, sich anzustrengen, bei ihren Kindern 40 fördern (vergleiche Pomeranz, Grolnik & Price 2005; Pomeranz, Ng & Wang, 2006). Es ist daher hilfreich, wenn Sie als Eltern Ihrem Kind immer wieder vermitteln, dass seine Leistungen von seinen Anstrengungen abhängen. Dies gelingt besonders gut, wenn Sie seine Leistungen auf der individuellen Bezugsnorm beurteilen. Bemerkungen, die sich schädlich auswirken und beim Kind dazu führen können, dass es nicht mehr gewillt ist, sich anzustrengen, können folgendermassen lauten: Bei uns in der Familie haben alle Mühe mit Mathe – das war bei mir auch schon so. Dein Bruder ist halt eher der Rechner und du eher diejenige, die gut im Lesen und Schreiben ist. Schreiben ist halt weniger deine Stärke. Das hatten wir doch gestern! Du hast ein Gedächtnis wie ein Sieb. Schreiben kannst du weniger gut, aber dafür bist du im Rechnen stark. Zu dieser Art von Rückmeldung gehören auch Kommentare zu anderen Personen, während das Kind dabei ist und diese hören kann („Rechnen kann sie gar nicht gut – sie versteht es einfach nicht.“, „Er schreibt wie er will, er kann sich das Schriftbild schlicht nicht einprägen. Die Schulpsychologin hat ihn auch getestet – er hat Legasthenie.“ Auch wenn ein Kind tatsächlich eine Schwäche in einem Fach aufweist, sollten seine Ergebnisse zumindest zum Teil auf seine Anstrengungen zurückgeführt werden: Hey, das klappt doch schon besser. Toll, dass du dich so anstrengst! 41 Ich weiss, dass dir das Lesen Mühe macht – umso wichtiger ist es, dass wir mehr üben. Du kannst dich verbessern, wenn wir dranbleiben. Wenn wir jeden Tag zehn Minuten das Einmaleins üben, wirst du ganz sicher besser darin. Wir müssen uns nur Mühe geben. Toll, wie du dir Mühe gibst. Ich weiss, dass du enttäuscht bist wegen der schlechten Note. Wollen wir uns die Prüfung nochmal anschauen? Vielleicht sehen wir dann, wie du dich das nächste Mal besser vorbereiten kannst. Wie Carole Dweck (2007) in ihrem Buch „Selbstbild“ zeigen konnte, spielt es eine untergeordnete Rolle, ob die Erklärungen für Erfolg und Misserfolg „wahr“ sind, weil mit der Zeit beide Erklärungsmuster dazu tendieren, wahr zu werden. Menschen, die glauben, dass ihre Leistung vor allem von ihrer Anstrengung abhängt, entwickeln bessere Lern- und Arbeitsstrategien, probieren vieles aus, lernen dabei aus Erfolgen und Misserfolgen und entwickeln ein dynamisches Selbstbild. Sie glauben: Ich bin, was ich aus mir mache – ich kann alles lernen, alles werden. Sie sind bereit, sich anzustrengen und machen daher auch häufig die Erfahrung, dass Anstrengung sich lohnt. Menschen, die hingegen glauben, dass Talent und Begabung die alles bestimmenden Faktoren sind und es insbesondere darum geht, intelligent und begabt zu sein, haben Angst vor Misserfolgen. Diese würden beweisen, dass sie nicht so „begabt“ und „talentiert“ sind. Aus diesem Grund weichen sie Herausforderungen aus und widmen sich lieber nur Aktivitäten, bei denen der Erfolg ihnen sicher ist. So waren beispielsweise Studierende, die ein statisches Selbstkonzept aufwiesen und Intelligenz und Begabung grosses Gewicht beimassen, nach einigen Misserfolgen im Studium nicht mehr bereit, sich anzustrengen. Dadurch bestätigt sich natürlich auch dieses 42 Selbstbild: Diese Studierenden konnten gar nicht die Erfahrung machen, dass sie ihre Fertigkeiten durch höhere Anstrengung verbessern konnten. Übung: Hilfreiche Rückmeldungen geben Kinder entwickeln eine höhere Anstrengungsbereitschaft und ein hilfreicheres Selbstkonzept, wenn wir ihre Erfolge auf ihre Anstrengungen und Begabungen zurückführen und bei Misserfolgen klar verdeutlichen, dass sich jedes Kind, einfach jeder Mensch, durch Übung verbessern kann. Dies ist auch oder gerade dann wichtig, wenn ein Kind eine Lernschwäche hat. Ein Kind mit einer LeseRechtschreibschwäche oder einer Rechenschwäche muss unbedingt die Erfahrung machen, dass sich das Üben lohnt. Es braucht bei Misserfolgen das Gefühl, dass es sich dennoch verbessern kann, und es braucht Eltern, die Erfolge – und seien sie noch so klein – sehen und diese mit den Anstrengungen des Kindes in Verbindung bringen. Überlegen Sie sich für diese Übung, wie Sie auf Erfolge und Misserfolge Ihres Kindes reagieren: Wie reagieren Sie, wenn Ihr Kind eine Aufgabe geschafft oder nicht geschafft hat? Wie reagieren Sie bei guten und schlechten Noten? Schreiben Sie sich während einigen Tagen Ihre Reaktionen auf und überlegen Sie sich, ob Sie: Noch deutlicher zeigen könnten, dass sich Ihr Kind seine Erfolge verdient hat. Misserfolge da sind, um daraus zu lernen und beim nächsten Mal klüger vorzugehen oder sich mehr anzustrengen. 43 Je mehr ein Kind das Gefühl bekommt, dass es Erfolge durch Anstrengung erwirken kann und aus Misserfolgen lernen darf, desto mehr entwickelt sich sein Gefühl von Kompetenz und Kontrolle. Lassen Sie Ihr Kind mitbestimmen Das Gefühl der Kontrolle hängt auch vom Recht auf Mitbestimmung ab. Damit Kinder ein Gefühl von Kontrolle erleben können, müssen wir Erwachsene bereit sein, in altersgerechter Weise mehr und mehr Kontrolle abzugeben. Auf die Frage, wie viel Mitbestimmung und Kontrolle ein Kind erhalten sollte, lautet die Antwort: Ein Kind sollte in dem Masse Kontrolle und Mitbestimmungsrecht erhalten, in dem es verantwortungsvoll damit umgehen kann. Kontrollieren die Eltern zu viel, kann das Kind seine Kompetenzen nicht weiterentwickeln. Kontrollieren sie zu wenig, ist das Kind überfordert. Kontrolle kann in Form von kurzen Experimenten an das Kind abgegeben werden. Frau Steiner diskutierte beispielsweise fast täglich mit ihrer Tochter über den Beginn der Hausaufgaben. In einem Ratgeber hatte sie gelesen, dass es am besten ist, wenn ein Kind nach der Schule eine halbe Stunde Pause macht und dann die Hausaufgaben erledigt. Ihre Tochter sah dies anders. Sie hatte den Wunsch, die Hausaufgaben vor dem Abendessen machen zu dürfen. Wir vereinbarten daher in der Beratung ein zweiwöchiges Experiment, das in der Form des folgenden Vertrags festgehalten wurde: Vertrag 44 1. Die folgenden zwei Wochen darf ich, Sabrina, bestimmen, wann ich die Hausaufgaben machen will. Meine Mutter gibt dazu keine Kommentare ab und fordert mich nicht dazu auf. 2. Ich trage selbst die Verantwortung dafür, dass die Hausaufgaben vor dem Abendessen gut und vollständig erledigt sind. Dafür berechne ich genügend Zeit ein. 3. Falls ich die Hausaufgaben an vier von fünf Tagen vor dem Abendessen gut und vollständig gemacht habe, verlängert sich dieser Vertrag um weitere zwei Wochen. 4. Falls ich in den zwei Wochen die Hausaufgaben mehr als zweimal vor dem Abendessen nicht gemacht habe, darf meine Mutter bestimmen, wann ich die Aufgaben machen soll. Unterschrift Sabrina Pfister:___________________________ Unterschrift Helene Pfister:___________________________ Mit Hilfe des Vertrags wird für Sabrina deutlich, dass sie mit der neuen Freiheit mehr Verantwortung tragen muss. Die Mutter kann durch den experimentellen Charakter gelassener sein und sich darauf beschränken, zu beobachten, ob sich Sabrina an die Abmachung hält. Hält sie sich nicht daran, zeigt sie damit, dass sie noch nicht bereit ist, die Verantwortung zu tragen, und gibt der Mutter das Recht zurück, sie wieder stärker zu kontrollieren. Wichtig erscheint mir, dass das Kind die Regel nicht immer befolgen muss, sondern lediglich zu einem hohen Prozentsatz. Denn seien wir ehrlich: Wie oft sagen wir Erwachsene, dass wir etwas bis am Tag x oder Ende Woche erledigen werden und halten uns doch nicht daran? In diesem Sinne sollten wir von unseren Kinder erwarten, dass sie Regeln und Versprechen einhalten – aber auch nicht mehr Disziplin von ihnen einfordern als von uns selbst. 45 Neben der Tageszeit, zu der die Hausaufgaben gemacht werden, können Kinder auch mitbestimmen, wo die Aufgaben erledigt werden oder in welcher Art sie unterstützt werden möchten. Übung: Kontrolle abgeben Überlegen Sie sich, wo Sie mehr Kontrolle und Verantwortung an Ihr Kind abgeben könnten. Suchen Sie sich einen Bereich aus und diskutieren Sie mit Ihrem Kind darüber, ob es bereit oder gewillt wäre, für diesen Bereich mehr Verantwortung zu übernehmen. Beispiele wären: Was meinst du, wäre es möglich, dass du von jetzt an die Schulsachen selbst packst? Du sagst immer, dass du in deinem Zimmer nicht so gut lernen kannst. Willst du es diese Woche so machen, dass du andere Orte im Haus ausprobierst und schaust, ob es dort besser geht? Es nervt dich immer sehr, wenn ich dich für die Leseübung aus deinem Spiel heraushole. Aber ich bin mir eben nicht sicher, ob du es machen würdest, wenn ich dich nicht rufe. Was meinst du, wollen wir es ausprobieren? Ich rufe dich eine Woche lang nicht, dafür kommst du zu mir, wenn du bereit bist? Sie können sich auch überlegen, ob Ihr Kind Unterstützung bräuchte, um die Verantwortung übernehmen zu können: Wollen wir zuerst zusammen eine Checkliste machen, damit du beim Einpacken nichts vergisst? Soll ich dich jeweils nach der Schule erinnern, dass wir die Leseübung machen müssen oder möchtest du, dass ich dir beim Spielen den Wecker stelle, damit er dich daran erinnert? Zusammenfassung 46 Ein Gefühl von Kontrolle und Kompetenz ist für uns Menschen höchst bedeutsam. Kinder möchten sich genauso wie Erwachsene kompetent fühlen. Sie möchten, dass ihre Anstrengungen etwas bewirken und ihre Handlungen zum Erfolg führen. Sie möchten mitdenken und mitbestimmen können. Sie können als Eltern dazu beitragen, indem Sie: Die Schwierigkeit der Aufgaben dem Leistungsstand Ihres Kind anpassen (mehr dazu im finden Sie in den Kapiteln zu den einzelnen Fächern). Ihrem Kind vermitteln, dass es in der Lage ist, Fortschritte zu machen, indem sie es auf einer individuellen Bezugsnorm beurteilen. Ihm bei Erfolgen und Misserfolgen Rückmeldungen geben, die ihm verdeutlichen, dass seine Erfolge aufgrund seiner Anstrengung und seiner Kompetenzen zustande kamen und Misserfolge passieren dürfen und man aus ihnen lernen kann. Ihrem Kind mehr und mehr Kontrolle und Verantwortung übertragen. Zusätzlich können Sie Ihrem Kind wirksame Lernstrategien vermitteln, um seine Kompetenz zu erhöhen. Hinweise dazu finden Sie im Kapitel „Lernstrategien“. Neben dem Bedürfnis nach Kompetenz und Kontrolle haben wir uns mit weiteren Grundbedürfnissen vertraut gemacht. Sehen wir uns als nächstes an, wie das Bedürfnis nach Anerkennung und Selbstwertschutz positiv mit den Hausaufgaben und dem Lernen verknüpft werden kann. Zeigen Sie Ihrem Kind Anerkennung 47 Unser Bedürfnis nach Anerkennung und Selbstwertschutz beeinflusst uns in Leistungssituationen in hohem Masse. Wir geben uns in vielen Situationen Mühe, weil wir die Anerkennung und die Wertschätzung anderer Menschen erlangen, diese beeindrucken oder auf uns selbst stolz sein möchten. Gleichzeitig möchten wir verhindern, dass wir in Situationen geraten, in denen wir uns schämen müssen oder andere von uns enttäuscht sind. Gelingt es Ihnen als Eltern, Ihrem Kind beim Lernen und bei den Hausaufgaben zu zeigen, dass Sie sich mit ihm über Erfolge freuen, stolz auf seine Fortschritte sind und es sich bei Schwierigkeiten nicht schämen muss, sondern mit Ihrer Unterstützung rechnen kann, ist vieles gewonnen. Loben Sie Ihr Kind Loben Sie Ihr Kind, wenn es Fortschritte macht. Zeigen Sie Ihrem Kind immer wieder, wie schön es ist, dass es bei den Übungen mitmacht, und wie stolz Sie sind, wenn es Erfolge erzielt. Nicht allen Eltern fällt dies leicht. Einige haben Angst, ihre Kinder zu verwöhnen, andere glauben, Lob müsse durch grosse Leistungen verdient werden. Dabei gilt jedoch: Je mehr Schwierigkeiten ein Kind in der Schule hat, desto mehr ist es auf Momente angewiesen, in denen es stolz sein darf und Anerkennung erhält. Ein Kind mit Lernschwierigkeiten wird täglich von neuem frustriert – es braucht viel Lob und Ermutigung, um dies wettzumachen. Sie brauchen keine Angst zu haben, es zu verwöhnen. 48 Wie loben Sie Ihr Kind? Wie ermutigen Sie es bei Schwierigkeiten? Sicher fällt Ihnen vieles dazu ein. Eltern in unseren Seminaren ermutigen ihre Kinder mit kleinen Kommentaren, wie: „gut“ „schon viel schneller“ „weiter so“ „richtig“ „du wirst ja immer besser“ „ja“ „so lerne ich richtig gern mit dir“ „schön, dass du dir so Mühe gibst“ „das geht doch wirklich besser als letzte Woche“ „bravo“ „das hast du sehr flüssig vorgelesen“ „hey, du hast kein einziges Mal „dass“ und „das“ verwechselt“ „die 5er Reihe kannst du unheimlich schnell“ „ähm, stimmt, es gibt 49 – du bist ja schneller als ich!“ „ich finde es toll, dass du in den letzten fünf Minuten so konzentriert mitgemacht hast“ „schön, dass du es nochmal probiert hast“ „du bist schon seit zwei Tagen bei den Hausaufgaben nicht mehr wütend geworden – ich bin stolz auf dich“ „du bist pünktlich!“ „so, jetzt haben wir aber einiges erreicht – machen wir für heute Schluss“ Sie können Ihrem Kind auch nonverbal zeigen, dass Sie mit ihm zufrieden sind und das Üben angenehm ist: Streichen Sie ihm übers Haar Schauen Sie es oft an Nehmen Sie es in den Arm 49 Blinzeln Sie ihm schelmisch zu Legen Sie ihm die Hand auf die Schulter Lächeln Sie es an Werfen Sie ihm einen liebevollen Blick zu Nicken Sie bei richtigen Antworten Werden Sie sich bewusst, welche Leistung Ihr Kind erbringt, wenn es beispielsweise bereit ist, die Hausaufgaben in seinem Problemfach ohne Motzen und Murren zu erledigen. Es braucht sehr viel Disziplin, sich in einer Tätigkeit zu üben, die einem keine Freude bereitet. Wie schwierig das ist, weiss jeder, der selbst schon versucht hat, etwas trotz Unlustgefühlen konsequent durchzuziehen. Ich selbst habe es jedenfalls noch nie länger als zwei bis drei Wochen geschafft, jeden Tag 15 Minuten zu joggen. Zeigen Sie Ihrem Kind auch bei schlechten Leistungen, dass Sie auf seine Mitarbeit stolz sind. Achten Sie gleichzeitig darauf, dass Sie Ihr Kind für seine Anstrengungen und gutes Mitmachen bei den Übungen loben und weniger für gute Noten. Werden Kinder ausschliesslich bei guten Zeugnissen und Prüfungsergebnissen belohnt oder gelobt, können mit der Zeit Prüfungsängste entstehen (Schnabel, 1998). Die Kinder entwickeln das Gefühl, Leistungen seien notwendig, um Zuwendung zu erhalten, und fürchten sich, diese zu verlieren, wenn sie schlechtere Noten nach Hause bringen. Besonders beunruhigend ist dies deshalb, weil wir Prüfungsergebnisse lediglich beeinflussen, aber nicht kontrollieren können. Ein gesundes Selbstwertgefühl entwickelt Ihr Kind dann, wenn: 50 Sie ihm immer wieder zeigen, wie gern Sie es haben – ohne dass es sich diese Zuneigung durch Leistungen oder „brav sein“ verdienen muss. Sie sich Zeit nehmen, um mit Ihrem Kind schöne Stunden zu verbringen. Sie Ihrem Kind verdeutlichen, dass es etwas kann, wenn es sich Mühe gibt. Sie sich bei guten Noten zwar mit ihm freuen, ihm aber nicht zu verstehen geben, dass Sie gute Leistungen für das Wichtigste im Leben halten. Sie bei schlechten Noten für Ihr Kind da sind, den Misserfolg nicht zu tragisch nehmen, und es ermutigen. Die schlechte Note ist für Ihr Kind schlimm genug und elterliche Enttäuschung wird es kaum motivieren. Sie Ihr Kind auf seine Stärken hinweisen und diese hervorheben. Vielleicht sind diese Hinweise für Sie eine Selbstverständlichkeit – dann freue ich mich. Falls nicht, dann möchte ich Sie ermutigen, Ihre Haltung in diese Richtung zu verändern. Ihrem Kind wird es dadurch besser gehen und es wird bereit sein, motivierter mitzuarbeiten. Machen Sie Fortschritte sichtbar Kinder sind stolz, wenn sie sehen können, wie sie sich verbessern. Fortschritte motivieren mehr, wenn sie gut sichtbar sind. Sie können sich überlegen, wie Sie Ihrem Kind seine Fortschritte verdeutlichen könnten. Wenn Sie das Einspluseins und Einsminuseins mit Ihrem Kind üben, dann können Sie beispielsweise vereinbaren, dass Sie jede Woche am Sonntagabend einen kleinen Test machen und Ihr Kind während 10 Minuten Rechnungen abfragen. Die in dieser Zeit richtig gelösten Rechnungen werden zusammengezählt und jeweils auf einem Blatt eingetragen und mittels einer Kurve verbunden, bis das Ganze aussieht wie ein Aktienkurs von Dagobert Duck. Ähnliche Grafiken können Sie mit der Anzahl 51 richtig geschriebener Wörter oder der Anzahl in 10min gelesener Wörter erstellen: Anzahl richtige Rechnungen Anzahl richtige Rechnungen 47 38 22 10 1. Woche 2. Woche 3. Woche 4. Woche Einige Kinder wollen bereits eine saubere Computergrafik dazu, andere zeichnen lieber eine hübsche Tabelle. Kinder übertreffen sich gerne selbst und geben sich während des Übens unter der Woche Mühe, um am Sonntag wieder etwas besser zu sein. Andere Kinder freuen sich, wenn man sie beim Rechnen oder Lesen auf Video- oder Tonband aufnimmt und ihnen einige Wochen oder Monate später anhand der Bänder zeigt, wie sehr sie sich schon verbessert haben. Vielleicht sind auch gelesene Bücher im eigenen Bücherregal Ihres Kindes ein Zeichen dafür, wie viel es bereits geleistet hat. Gewinnen Sie die Lehrerin für Ihr Programm Die Lehrerin oder der Lehrer ist für Primarschulkinder eine der wichtigsten Bezugspersonen. Ein aufrichtiges Lob von dieser Seite ist Gold wert. Sie können die Lehrperson Ihres Kindes 52 informieren, woran Sie mit ihm arbeiten und sie darum bitten, auf (kleinere) Fortschritte zu achten. Kinder wissen: Lob von dieser Person ist ernst gemeint und wichtig; sie sind sich bewusst, dass der Lehrer sie am besten einschätzen kann. Eine gute Note ist dabei gar nicht so wichtig. Kinder freuen sich bereits, wenn ihre Anstrengungen ernst genommen und Fortschritte anerkannt werden. Eine Mutter erzählte uns, dass ihr Kind ganz aus dem Häuschen war und den ganzen Weg nach Hause gerannt ist – die Note war zwar nur einen halben Punkt besser und immer noch ungenügend, aber die Lehrerin hatte einen kleinen Kleber auf der Prüfung angebracht und „toll, dass du dir so Mühe gibst“ hinzu geschrieben. Sprechen Sie vor anderen positiv über Ihr Kind Manche Kinder können direktes Lob nicht so gut annehmen. Dann ist es hilfreich, wenn sie indirekt vor anderen gelobt werden. Vielleicht freut sich Ihr Kind, wenn es hört, wie Sie am Telefon zur Grossmutter sagen: „Ja, sie ist einverstanden, dass wir jeden Abend im Bett eine Viertelstunde lesen. Ich habe das Gefühl, sie ist dadurch schon sehr viel besser geworden…ja, sie macht problemlos mit - da bin ich echt froh…ja, ich bin auch stolz auf sie…“ Oder Sie treffen beim Einkaufen auf eine Bekannte und Ihr Kind hört mit, wie Sie sagen: „Bei Martin war es genauso. Er hatte ziemliche Schwierigkeiten mit dem Rechnen, aber inzwischen geht es deutlich besser. Er gibt sich auch sehr viel Mühe bei den Hausaufgaben – er macht das richtig gut!“ Zusammenfassung 53 Je mehr Ihr Kind während den Hausaufgaben und dem Lernen Stolz empfinden darf, je mehr Wertschätzung und Anerkennung es für seine Anstrengungen und Fortschritte erhält, desto positiver wird es das Lernen empfinden und desto bereitwilliger wird es sich darauf einlassen. Je weniger es Lern- und Leistungssituationen als Bedrohung für sein Selbstwertgefühl empfindet, je seltener es Abwertung oder Enttäuschung erleben und sich schämen muss, desto weniger Ängste wird es entwickeln und desto weniger muss es versuchen, Lernsituationen zu vermeiden. Als Eltern können Sie dazu beitragen, indem Sie: Ihre Anerkennung offen zeigen Fortschritte sichtbar machen Grosszügig mit Wertschätzung und Lob reagieren, wenn Ihr Kind sich anstrengt Zeigen, dass Sie auf Misserfolge gelassen reagieren und diese als Möglichkeit sehen, sich zu verbessern Vor anderen Personen wertschätzend über ihr Kind sprechen und es nicht abwerten Übung: Anerkennung zeigen Bei dieser Übung möchte ich Sie dazu einladen, darüber nachzudenken, wie stark der Wunsch, Anerkennung zu erhalten oder Ihr Selbstwertgefühl zu schützen, mit verschiedenen Leistungsbereichen verknüpft ist. Je nachdem, ob Sie in Ihrer Vergangenheit bei den entsprechenden Tätigkeiten häufiger Gefühle von Stolz oder Scham erlebt haben, werden Sie die Neigung haben, diese Tätigkeit heute zu vermeiden oder aufzusuchen. Wie würden Sie reagieren, wenn Sie im Kreis von Freunden und Bekannten – vielleicht bei einem „witzigen“ Abend - dazu aufgefordert würden: 54 Die Karten zusammenzurechnen? Einen Text laut vorzulesen? Bei einem kleinen Diktat-Wettbewerb mitzumachen oder schwierige Wörter zu buchstabieren? Ein Lied vorzusingen ? Zu einem Lied zu tanzen? Eine Turnübung zu demonstrieren? Welche Erinnerungen steigen in Ihnen hoch, wenn Sie an diese Tätigkeiten denken? Welche Momente der Freude und des Stolzes? Welche Demütigungen und peinlichen Situationen? Wie stark wirken diese noch nach? Und wie wirken sie sich heute auf Ihr Verhalten aus? Überlegen Sie auch, welche Reaktionen Ihrer Eltern Sie geschätzt haben und welche Sie weniger hilfreich fanden, wenn Sie Erfolge und Misserfolge erlebt haben oder wenn Sie sich grosse Mühe gegeben haben. Neben dem Bedürfnis nach Kompetenz und Kontrolle sowie dem Bedürfnis nach Anerkennung und Selbstwertschutz, haben wir das Bedürfnis nach stabilen und guten Bindungen als zentrales Grundbedürfnis kennengelernt. Auch dieses kann während den Hausaufgaben und dem Lernen in positiver oder negativer Weise aktiviert werden und die Motivation reduzieren oder erhöhen. Motivieren Sie Ihr Kind über die Beziehung Die Erfahrung, dass die wichtigsten Bezugspersonen, allen voran die Eltern, auf das Lernen positiv reagieren, ist für Kinder eine sehr motivierende Erfahrung. Kinder lernen im Primarschulalter zu einem Grossteil, weil sie von der Lehrerin und den Eltern gemocht werden möchten. 55 Machen sie hingegen die Erfahrung, dass diese Beziehungen sich während des Lernens verschlechtern, empfinden sie dies als Bedrohung, der sie sich entziehen möchten. Bei Einzelberatungen ist es hilfreich, den Umgang zwischen Eltern und ihren Kindern zu filmen und dabei auf Unterschiede zu achten. Oft zeigt sich bei den Videos ein eklatanter Unterschied in der Beziehung je nachdem, ob über die Schule oder andere Inhalte gesprochen wird. Oft habe ich die Erfahrung gemacht, dass Eltern in der ersten Sitzung begeistert von ihren Kindern erzählen, es dabei immer wieder liebevoll ansehen, warm und herzlich sind, es anlächeln und ihr Kind in derselben Weise reagiert. Man sieht, dass sich Kind und Eltern richtig gern haben. Geht das Gespräch jedoch über zur Schule, zum Lernen und den damit verbundenen Problemen, ändert sich fast augenblicklich etwas in der Beziehung. Eltern und Kind werden anders und: Verdrehen die Augen Werden kühler und distanzierter Verteidigen und rechtfertigen sich voreinander Machen sich gegenseitig Vorwürfe und geben sich wechselseitig die Schuld Werden angespannt Äussern Kritik und Ärger Lehnen sich zurück oder werden in ihrer Gestik heftiger Oft dreht es sich beim Gespräch in der ersten Sitzung um die Frage, weshalb das Kind nicht motiviert ist und sich bockig verhält. Es werden Theorien aufgestellt und mögliche Ursachen vorgebracht. An dieser Stelle ist es heilsam, wenn sich Eltern und Kind je eine Minute einen Gesprächsausschnitt ansehen, in dem sie über das Hobby des Kindes und über die Schule sprechen. Die Wirkung ist insbesondere dann frappant, wenn man den Ton ausschaltet und nur auf die Körpersprache achtet. 56 Einige Forscher und Lernpsychologen, die Videoaufnahmen benutzten oder Eltern in Lern- und Hausaufgabensituationen beobachteten oder befragten, kommen zum Schluss, dass die Gefühle, die die Eltern während den Hausaufgaben und dem Lernen zeigen, einen grossen Einfluss auf das kindliche Verhalten, seine Motivation und Anstrengungsbereitschaft haben. Sind Kinder bei den Hausaufgaben überfordert, zeigen sie fast zwangsläufig negative Emotionen, die es auch wahrscheinlich machen, dass ihre Eltern mit Frustration, Ärger und Anspannung reagieren. Schaffen es die Eltern hingegen, eine positive Atmosphäre zu bewahren, können sie damit Gefühle der Hilflosigkeit beim Kind reduzieren und ihm ein Gefühl von Sicherheit vermitteln. Das Kind lernt, dass schulische Probleme sich nicht negativ auf die Beziehung zu seinen Eltern auswirken und kann sich diesen mit mehr Gelassenheit und Zuversicht stellen (mehr dazu findet sich in den Arbeiten von Fuligni, Yip & Tseng, 2002; Hokoda & Fincham, 1995; Jansen & Streit, 2006; Pomeranz, Wang und Ng, 2005). Je mehr Schwierigkeiten ein Kind hat, desto schwieriger wird es für seine Eltern, positiv, zuversichtlich und zugewandt zu bleiben. Gleichzeitig ist es gerade bei dieser Ausgangslage besonders wichtig. Damit ist aber nicht gemeint, dass Sie dem Kind jedes Verhalten durchgehen lassen sollten. Wir werden im nächsten Unterkapitel auf die Frage zu sprechen kommen, wie Sie reagieren können, wenn Ihr Kind trotzig reagiert oder Sie in ewige Diskussionen verwickelt. Eine gute Beziehung zum Kind ist die Grundvoraussetzung, damit Lob und Anerkennung wirksam werden können. Die Beziehung wirkt jedoch noch auf anderen Ebenen. Schaffen Sie eine angenehme Atmosphäre 57 Sie können die Motivation Ihres Kindes erhöhen, indem Sie eine angenehme Umgebung schaffen. Eine gemütliche Leseecke kann zum Lesen einladen, abendliches Vorlesen das Interesse an Büchern wecken und ein schön gebundenes Tagebuch oder eine Brieffreundschaft zum Schreiben verführen. In Studien konnte gezeigt werden, dass Eltern auf diese indirekte Weise zum Schulerfolg ihrer Kinder beitragen können (vgl. Pomerantz, Moorman & Litwack, 2007). Kleine Gesten, mit deren Hilfe Sie Ihre Zuneigung während den Hausaufgaben und dem Lernen ausdrücken, können das Lernen auf positive Weise mit dem Bindungsbedürfnis des Kindes verknüpfen. Manche Kinder geniessen es, wenn sie während den Hausaufgaben etwas umsorgt werden und die Eltern ab und zu nachfragen, ob alles klappt, ihnen vielleicht etwas zum Knabbern bringen und ihr Interesse am Kind zeigen. Jüngere Kinder geniessen es meist, wenn man sie während den Hausaufgaben kurz drückt, ihnen übers Haar fährt oder ihnen die Hand auf die Schulter legt. Für mich selbst war es besonders wichtig, dass jemand im gleichen Raum war. Ich konnte meine Hausaufgaben unmöglich in meinem Kinderzimmer machen – ich hätte mich dabei sehr isoliert gefühlt. Es fiel mir alles viel leichter, wenn ich die Aufgaben in der Küche machen konnte, während meine Mutter das Essen vorbereitete oder im Wohnzimmer, während meine Mutter die Wäsche bügelte oder mein Vater die Arbeiten seiner Schüler korrigierte. Das geht mir heute noch so: Oft schreibe ich meine Bücher im Café, im Zug oder zu Hause im Wohnzimmer, während meine Frau Bilder malt – alleine in meinem Büro an der Universität lenkt mich alles Mögliche ab und ich verliere bereits nach wenigen Minuten jegliche Lust am Weiterarbeiten. Viele Kinder schätzen es sehr, wenn sie ihre Hausaufgaben in der Nähe ihrer Eltern machen können. Dabei ist es in vielen 58 Fällen nicht nötig, dass sich die Eltern inhaltlich auf die Hausaufgaben einlassen – es reicht aus, wenn die Eltern im gleichen Raum einer anderen Aufgabe nachgehen. Auf diese Weise können sich ein Zusammengehörigkeitsgefühl und eine schöne Arbeitsstimmung entwickeln. Die Geräusche, die dabei entstehen, haben auf viele Kinder eher eine beruhigende als eine ablenkende Wirkung. Hat das Kind die Tendenz, viele unnötige Fragen zu stellen, wenn Sie in der Nähe sind, ist es hilfreich, wenn Sie ebenfalls einer Arbeit nachgehen, die Ihre volle Aufmerksamkeit verlangt. Vermitteln Sie dem Kind, dass Sie sich auf Ihre Arbeit konzentrieren müssen und am Ende vorbeischauen und seine Fragen beantworten. Vermitteln Sie dem Kind, dass Sie ihm etwas zutrauen Das Vertrauen anderer Menschen, ihr Glaube an uns und unsere Fähigkeiten, kann uns ungeheuer anspornen und viele leidvolle Erfahrungen auffangen. Nora Völker, meine Geschäftspartnerin, litt unter einer LeseRechtschreibschwäche, die ihr die Primarschulzeit unheimlich erschwerte. Ihre Diktate kamen trotz grösster Anstrengungen immer rot und mit der schlechtesten Note zurück. Fragt man sie heute, was in dieser schwierigen Zeit das Wichtigste für sie war, sagt sie: „Dass meine Eltern trotz allem nie den Glauben an mich verloren haben.“ Immer wieder treffe ich auf Erwachsene, die mir berichten, wie sie unter einer Schwäche litten, wie sie jeglichen Glauben an sich verloren hatten und dann auf eine Lehrerin oder einen Lehrer trafen, der an sie geglaubt hat – und wie sie diese Erfahrung gerettet hat. Die Forschung konnte zeigen, dass die Erwartungen der Eltern über das kindliche Potential nicht nur dessen Wohlbefinden, sondern auch die Leistungen mit beeinflussen. Im Rahmen einer längeren Studie konnte nachgewiesen werden, dass sich Kinder, 59 deren Eltern an ihre Kompetenz glaubten, nach neun Monaten selbst als kompetenter wahrnahmen und bessere Leistungen zeigten. Dabei scheint die Überzeugung der Eltern eine noch grössere Rolle zu spielen als diejenige der Lehrkräfte (mehr zu diesem Thema findet sich in den Arbeiten von Pomerantz, Grolnick & Price, 2005; Jodl, Michael, Malanchuk, Eccles & Sameroff, 2001) Wenn Kinder mit ihren Eltern lernen, schauen sie diesen nach dem Lösen einer Aufgabe meistens ins Gesicht. Ob Mutter und Vater in diesem Moment in den meisten Fällen lächeln oder nicken oder ob sie einen verärgerten Gesichtsausdruck aufsetzen, wird mit der Zeit darüber entscheiden, ob ihr Kind gerne lernt oder diese Situation so gut wie möglich zu umgehen versucht. Über die Beziehung können Sie als Eltern sehr viel Einfluss darauf nehmen, wie Ihr Kind das Lernen erlebt. Schaffen Sie es, beim Kind positive Gefühle zu wecken, indem Sie Wärme und Zuneigung zeigen, loben, bei Fehlern aufmuntern, auf Fortschritte, richtig gelöste Aufgaben oder richtig geschriebene Wörter hinweisen, werden sich diese Gefühle mit der Zeit immer stärker ans Lernen koppeln. Natürlich wird Ihnen dies schwer fallen, wenn Ihr Kind trotzig ist und sich verweigert – im Kapitel „Mein Kind macht nicht mit – wie soll ich reagieren“ finden Sie daher konkrete Strategien, wie Sie mit solchem Verhalten umgehen können. Schauen wir uns zuvor noch genauer an, wie wir auf das letzte Bedürfnis eingehen können, das Bedürfnis nach lustvollen Erlebnissen. Schliessen Sie mit Ihrem Kind einen Vertrag ab Falls ein Kind Schwierigkeiten in einem Fach hat, sind evtl. zusätzliche Übungen nötig. Dabei helfen kurze, tägliche 60 Übungen von 10 bis 15 Minuten am meisten, wenn es gilt, Lücken aufzuarbeiten und neue Fertigkeiten zu lernen. Viele Kinder nehmen die Übungen ernster und sind eher bereit, ohne murren zu beginnen und die vereinbarten Zeiten einzuhalten, wenn zuvor ein offizieller Vertrag abgeschlossen wird. Lustvoller werden die Übungen durch kleine Belohnungen, die ebenfalls im Vertrag festgehalten werden. Falls Sie einen Vertrag mit Ihrem Kind aufsetzen möchten, können Sie sich an den folgenden Fragen orientieren: Was soll erreicht werden? Was tun Eltern und Kind, damit das Ziel erreicht werden kann? Wie wird es getan? Wann wird gelernt? Wie lange? Bis wann gilt der Vertrag? Wie wird das Kind für seine Anstrengungen belohnt? Natürlich muss ein Vertrag auch von allen Partnern unterschrieben werden. Die Belohnungen können die Motivation des Kindes beträchtlich erhöhen, sollten jedoch mit Bedacht eingesetzt werden. Mit Belohnungen sollte sparsam umgegangen werden – auf keinen Fall sollte beim Kind die Erwartung aufgebaut werden, dass es immer etwas bekommt, sobald es etwas für die Schule tut. Das Erledigen der Hausaufgaben und das Lernen für Prüfungen gehören zu den Pflichten Ihres Kindes und sollten nicht zusätzlich belohnt werden. Für die zusätzliche Zeit und Anstrengung, die Ihr Kind aufgrund seiner Schwierigkeiten und der bestehenden Lücken in der nächsten Zeit wird aufwenden müssen, können Sie mittels kleiner Belohnungen einen Ausgleich schaffen. Diese sollten eher nicht aus materiellen Dingen wie Geld oder Spielzeug bestehen, wobei es auch hier sinnvolle Ausnahmen 61 gibt: Ein Kind mit einer Rechtschreibschwäche, das sich bereit erklärte, während den Sommerferien jeweils ein Übungsblatt pro Tag zu lösen, wollte unbedingt ein Lego-Schloss. Die Eltern gingen darauf ein, zählten die Legosteine, teilten sie durch 25 (die Anzahl der Übungstage) und gaben ihm für jedes gelöste Übungsblatt weitere Steine. Am Ende der Sommerferien stand die Burg – als sichtbares Zeichen für die Anstrengungen des Kindes. Die Eltern berichteten mir, dass ihr Kind ungeheuer stolz auf die Burg war und allen Verwandten, die zu Besuch kamen, erzählte, dass es dafür jeden Tag geübt hatte. Besonders sinnvoll sind kleinere Belohnungen, die oft vergeben werden können oder Freizeitaktivitäten mit den Eltern. Die Kinder diskutieren hier gerne mit und können Ihnen als Eltern helfen, Belohnungen zu finden, die sie anspornen. Manche Kinder möchten lieber täglich etwas Kleines, andere sparen lieber auf eine grössere Belohnung am Wochenende. Die folgenden Beispiele aus unserer Praxis können Ihnen bei der Suche nach einer passenden Belohnung helfen: Beispiele für tägliche Belohnungen: „An den Übungstagen darf ich 10 Minuten länger aufbleiben.“ (Der Renner in unserer Praxis) „Wenn ich beim Lernen gut mitgemacht habe, darf ich mit meiner Mutter ein Spiel meiner Wahl spielen.“ „Mein Vater liest mir vor dem ins Bett gehen etwas vor.“ „Ich darf 10 Minuten länger fernsehen.“ Beispiele für Belohnungen am Wochenende: Wenn ich an 4 Tagen beim Lernen gut mitgemacht habe, dann darf ich am Wochenende: 62 „Mit meinem Vater nach Einbruch der Dunkelheit mit einer Taschenlampe einen Waldspaziergang machen.“ „In den Zoo.“ „Mit meinem Vater Fussball spielen.“ „Mit meiner Mutter etwas basteln.“ „Das Sonntagsessen wünschen.“ „Einen (etwas) grusligen Film schauen.“ „Zusammen mit einem Freund im Garten im Zelt übernachten.“ „Beim Spielen schummeln.“ „Mit der Familie an einen Fluss oder See fahren und dort grillieren.“ Belohnungen, die direkt nach dem Lernen gegeben werden, sind wirksamer. Wenn Ihr Kind lieber am Ende der Woche eine grössere Belohnung möchte, empfiehlt es sich, ihm jeweils gleich nach dem Lernen einen Gutschein oder Punkt, z.B. in Form eines kleinen Aufklebers zu geben, den es später gegen die Belohnung eintauschen kann. Achten Sie darauf, dass Sie Ihrem Kind keine Punkte wegnehmen. Hat es in einer Woche nur drei Punkte gesammelt, so darf es zwar dieses Wochenende die Belohnung noch nicht einfordern, aber die Punkte für die nächste Woche sparen. Erfahrungsgemäss wollen die Kinder die Belohnung wegen eines Punktes aber nicht aufschieben und erklären sich am Wochenende zu einer zusätzlichen Übung bereit. Hängen Sie den Vertrag an einer gut sichtbaren Stelle auf, um Ihr Kind daran zu erinnern. Nehmen Sie den Vertrag ernst und befolgen Sie die darin aufgestellten Regeln wortgetreu. Es werden keine Ausnahmen gemacht (z.B. trotzdem länger aufbleiben dürfen), es wird aber auch keine Belohnung wegen etwas, das nicht im Vertrag steht, gestrichen (z.B. trotz Einhalten des Vertrages nicht aufbleiben dürfen, weil man sich 63 mit der Schwester gestritten hat). Der Vertrag muss glaubwürdig bleiben, damit er funktionieren kann. Ich möchte nochmals betonen, dass es für das Kind ganz klar sein sollte, dass die Belohnung und der Vertrag nur für das zusätzliche Üben gelten. Manchmal sind die Kinder durch die Verträge und Belohnungen so motiviert, dass die Eltern dieses System auf die Hausaufgaben und andere Situationen ausdehnen. Manchmal schlagen dies auch die Kinder vor. Weitet man das System jedoch aus, sind die Kinder schnell nur noch bereit, etwas zu tun, wenn sie dafür eine Belohnung erhalten. Es wird in der Folge schwierig, die Belohnungen wieder zurückzufahren. Auf der nächsten Seite finden Sie ein Beispiel für einen Vertrag: 64 VERTRAG Mein Ziel Ich, Florian, möchte schnell und richtig addieren können. Was bin ich bereit, dafür zu tun? Ich bin bereit, jeden Tag ausser Dienstag und Sonntag 10 Minuten mit meiner Mutter zu üben. Die Übungen beginnen genau eine halbe Stunde nach dem Mittagessen. Ich schaue selbst auf die Uhr und komme um diese Zeit ins Wohnzimmer. Wenn ich es vergesse, darf meine Mutter mich rufen und ich komme ohne zu nörgeln. Was bekomme ich dafür? Wenn ich gut mitmache und ohne zu murren 10 Minuten mit meiner Mutter übe, darf ich 10 Minuten länger aufbleiben. Unterschriften: Florian Hirschi Martina Hirschi _______________ ______________ 65 Fallbeispiel: Georg liest nicht gerne Um die wichtigen Punkte dieses Kapitels noch einmal in konkreter Form zu präsentieren, wird es mit einem Fallbeispiel abgeschlossen. Das Beispiel zeigt auf, wie die jeweiligen Prinzipien und Methoden angewendet werden können. Sie können es überspringen, wenn Sie das Gefühl haben, alles gut verstanden zu haben und zu wissen, wie Sie die Inhalte umsetzen möchten. Die Fallbeispiele in diesem Buch setzen sich meist aus Gesprächen mit mehreren Eltern zusammen und werden auf die für das jeweilige Kapitel wesentlichen Aspekte reduziert. Die erste Sitzung Guten Tag Frau Sieber. Guten Tag Herr Grolimund. Nehmen Sie doch Platz. Sie haben mir ja bereits am Telefon geschildert, dass Ihr Sohn Georg Probleme beim Lesen hat? Ja, Georg ist diesen Sommer in die dritte Klasse gekommen. Ich war vor zwei Wochen beim Elterngespräch und Herr Berger, das ist Georgs Lehrer, hat mir mitgeteilt, dass die Leseprobleme gravierend sind, ja dass sogar die Versetzung gefährdet ist. Das kam unerwartet für Sie? Naja, ich wusste, dass Georg Mühe hat. Aber ich dachte, das kommt dann schon noch... Sie konnten das auch nicht so genau einschätzen, wie gut ein Kind in der dritten Klasse lesen sollte? 66 Nein, das ist es ja. Und die vorherige Lehrerin hat zwar gesagt, dass er mehr Übung bräuchte, weil er ja auch viel verpasst hat... Er hat einiges verpasst? Ja, Georg war während den ersten zwei Schuljahren sehr oft krank und manchmal über mehrere Wochen. Inzwischen hat sich das gebessert. Aber wahrscheinlich hat er doch noch einige Lücken von dieser Zeit. Wenn wir davon ausgehen, wie grundlegend der Stoff dieser ersten beiden Jahre ist und wieviel Übung beim Lesenlernen nötig ist, kann ich mir das gut vorstellen. Ja, zudem hat Herr Berger gesagt, dass er auch in der Schule oft innerlich abwesend ist, insbesondere bei Leseübungen. Dass er also auch da von den Übungen weniger profitiert? Ich denke schon, vielleicht kann er sich nicht so gut konzentrieren. Vielleicht. Wie gehen diese Leseübungen denn genau vor sich? Sie lesen der Reihe nach, einer liest laut, die anderen lesen leise mit. Und eben genau da konzentriert er sich nicht. Oft muss ihm dann sein Banknachbar zeigen, wo sie sind, wenn er drankommt. Warten wir noch kurz, bevor wir die Konzentration ins Spiel bringen. Es wird also der Reihe nach gelesen. Einer liest laut, die anderen lesen leise mit, Georg liest sehr viel langsamer als die anderen... Sie meinen, er kommt einfach nicht mit und steigt deshalb aus und träumt dann vor sich hin? 67 Es wäre möglich. Was denken Sie, wie erlebt er die Situation, wenn er schliesslich an die Reihe kommt und nicht weiss, wo er weiterlesen muss? So, wie ich ihn einschätze, wird es ihm ziemlich peinlich sein. Letzte Woche hat er mir gesagt, dass Herr Berger ihn oft auch einfach so drannehme, wenn er gerade nicht aufpasse und dass er das ziemlich gemein finde. Sein Lehrer möchte, dass er mehr liest und besser aufpasst und nimmt ihn deshalb häufiger dran, Georg empfindet es aber als Schikane? Ja, es nervt ihn. Wie erlebt Georg Lesen sonst? Sagt er manchmal etwas darüber? Inzwischen hasst er alles, was damit zu tun hat. Manchmal sagt er auch, dass er es sowieso nicht lernen wird. Die LeseHausaufgaben sind dann auch immer ein Kampf zwischen uns. Letzte Woche hat er gesagt, dass die anderen manchmal über ihn lachen, wenn er mit dem Lesen an der Reihe ist. Für ihn sind starke, negative Gefühle mit dem Lesen verbunden und er fühlt sich auch hilflos und denkt, dass er es nicht lernen kann? Fassen wir doch kurz zusammen, was wir bis jetzt wissen: Georg war in den ersten zwei Schuljahren oft krank und hat wahrscheinlich aus diesem Grund viel weniger Übung beim Lesen. Er liest langsamer und schlechter als seine Mitschüler. Bei den Leseübungen in der Schule gerät er ins Hintertreffen, steigt deshalb innerlich aus und hat so im Vergleich zu seinen Klassenkameraden noch weniger Übung. Wenn er in der Schule drankommt, dann erlebt er dies sehr negativ, es ist ihm peinlich, weil er nicht weiss, wo er steht oder er wird während des Lesens ausgelacht. Eine Art Teufelskreis. Weil er bisher zu wenig geübt hat, liest er langsamer, übt deswegen noch weniger und kann es im Vergleich mit den anderen noch schlechter, was ihm aber peinlich ist. Dadurch wird das Lesen noch unangenehmer und er 68 will diesem noch stärker aus dem Weg zu gehen, wodurch die Lücken aber noch grösser werden. Ja, gerade wenn wir bedenken, dass die Kinder, die gerne lesen, in diesem Alter zusätzlich anfangen, in der Freizeit Comics oder Harry Potter zu lesen, während Georg allem ausweicht. So gesehen wird der Abstand noch grösser. Zeichnen wir doch den Teufelskreis kurz auf (an dieser Stelle erarbeiten wir gemeinsam am Flipchart den Teufelskreis) Ich glaube, so könnte es etwa zusammenhängen. Es wird viel klarer auf diese Weise, aber es sieht auch viel schlimmer aus. Es zeigt aber auch, wo wir ansetzen könnten. Die Lücken sollten gefüllt werden. Das sicher, aber ganz zentral finde ich das Feld mit den Misserfolgen. Die untergraben seine Motivation? Ja, kein Mensch beschäftigt sich gerne mit Dingen, in denen er dauernd Misserfolge erlebt. Es ist ganz natürlich, dass wir solchen Beschäftigungen eher ausweichen wollen. Umso mehr, wenn wir das Gefühl haben, dass wir sowieso keine Chance haben, uns zu verbessern. Wir müssen darauf Acht geben, dass Georg beim Lesen Erfolge erlebt? Und dass er allgemein viele positive Gefühle dabei erlebt. Sicher werden Leseübungen auf Georg zukommen. Wir werden jedoch überlegen müssen, wie wir diese möglichst motivierend gestalten könnten. Bisher haben wir eher allgemein über Georgs Leseprobleme gesprochen, jetzt möchte ich gerne auf die spezifischen Situationen eingehen, wenn Sie mit ihm zusammen lesen. Für die Planung der späteren Leseübungen wäre es hilfreich zu wissen, wie solche Situationen, in denen Sie mit ihm zusammen lesen, ablaufen, z.B. wenn er Hausaufgaben hat, bei denen er einen Textabschnitt lesen soll. Können Sie mir schildern, wie das aussieht? 69 Ja. Manchmal geht es eigentlich ganz gut, vor allem, wenn der Nachmittag schulfrei ist und wir relativ bald, also etwa eine Stunde nach dem Essen anfangen. Wir sind dann beide meistens gut gelaunt und Georg möchte fertig werden, damit er den Nachmittag frei hat. Schwieriger ist es, wenn er nachmittags Schule hat, schon müde ist und sich nicht mehr so gut konzentrieren kann - dann reagiert er schnell gereizt. Wenn er am Nachmittag schulfrei hat, geht es besser. Das ist wichtig zu wissen. So können wir die Übungen eher für diese Tage einplanen. Sie sagten, er reagiere gereizt – worauf genau, was passiert da im Vorfeld? Vor allem, wenn ich ihn korrigiere und manchmal macht er halt fünf bis sechs Fehler in einem Satz. Das ärgert ihn sehr, manchmal sagt er dann auch, dass ich ihn endlich mal in Ruhe lesen lassen soll, aber ich muss ihn doch korrigieren? Oder ist es doch besser, wenn ich ihn da einfach machen lasse? Wenn er praktisch kaum einen Satz lesen kann und ständig unterbrochen wird, wirkt das demotivierend. Es gibt meines Erachtens zwei Möglichkeiten. Einerseits könnte man darauf achten, dass die Korrekturen so gegeben werden, dass sie Georg möglichst wenig nerven – dazu könnten wir ihn fragen, was ihn besonders nervt und wie es ihm weniger ausmachen würde. Eine Mutter war beispielsweise völlig überrascht, als ihr Sohn gesagt hat, dass sie bei manchen Fehlern immer leicht die Augen verdreht: ihren Sohn hat das völlig auf die Palme gebracht, sie hat es gar nicht bemerkt. Ein anderer Schüler hat mit seiner Mutter abgemacht, dass sie zunächst nichts sagt, sondern einfach ein kurzes Stoppzeichen mit der Hand macht. Viele Kinder bevorzugen es, wenn man ihnen nonverbale Zeichen gibt, ihnen beispielsweise kurz die Hand auf den Arm oder auf das Bein legt und ihnen Zeit lässt, um sich selbst zu korrigieren. Das könnte ich ihn einmal fragen. Vielleicht mache ich wirklich bestimmte Dinge, die ihn besonders reizen. Und die zweite Möglichkeit? 70 Genau, die zweite Möglichkeit bestünde darin, wirklich weniger zu korrigieren. Beispielsweise könnten Sie mit Georgs Lehrer besprechen, welche Fehler systematisch auftauchen und sich darauf konzentrieren, nur diese zu korrigieren. Diese Möglichkeit gefällt mir. So wäre es auch möglich, dass er ab und zu ein paar Sätze oder Abschnitte liest, ohne dass ich ihn unterbrechen muss. Ich notiere das. Kommen wir noch einmal auf die Situation zurück, wo Georg die Geduld verliert. Wie geht es da genau weiter, wie reagieren Sie darauf? Oft gelingt es mir, ihn zu beruhigen. Manchmal, wenn er wirklich wütend ist, lasse ich ihn zehn Minuten spielen, bevor wir weitermachen. Sie bestehen aber darauf, dass die Hausaufgaben erledigt werden? Ja, ich möchte nicht, dass er lernt, auf diese Weise seinen Kopf durchzusetzen. Nach dem kurzen Unterbruch macht er dann auch wieder mit. So dass er nicht lernen kann: Wenn ich nur wütend genug bin, bin ich die lästigen Hausaufgaben los? Das ist gut. Ich denke auch. Wie ich mit ihm umgehe, wenn er wütend wird, weiss ich eigentlich. Wichtiger wäre mir wirklich, es gar nicht so weit kommen zu lassen, aber dazu haben wir ja schon ein, zwei Ideen diskutiert. Ja, wie wir die genau umsetzen wollen und wie gut es klappt, werden wir dann sehen. Noch eine Frage, wie reagieren Sie, wenn Georg einen Satz richtig liest, sich wirklich Mühe gibt oder ohne zu murren anfängt? Also wenn es rund läuft? Ich denke, da reagiere ich nicht gross. Vielleicht lobe ich da zu wenig, aber ich will halt auch nicht 71 immer gleich in Lobeshymnen ausbrechen, nur weil er einen Satz korrekt gelesen hat. Oder nehme ich es als zu selbstverständlich? Wenn wir uns in Georg hineinversetzen und schauen, wie viel Anstrengung es ihn kostet und wie ungern er solche Hausaufgaben macht, dann wäre es vielleicht doch wichtig, mehr zu loben. Es muss ja nicht gerade eine Lobeshymne sein. Wir wurden halt als Kinder selten gelobt. Das fällt mir auch irgendwie schwer. Dann schauen wir uns das doch in der nächsten Stunde an. Vor allem, was kleine ermutigende Gesten und Kommentare betrifft. Überlegen wir uns doch auf nächste Woche beide, wie wir die Leseübungen, die Georg erwarten, möglichst motivierend gestalten könnten. Darf ich Ihnen das als Hausaufgabe mitgeben? Mit den Übungen starten wir noch nicht diese Woche. Ja, ich überlege einfach, wie wir die Leseübungen möglichst angenehm machen könnten... Und wie wir Georg zu Erfolgserlebnissen beim Lesen verhelfen könnten, ja. Gut, ich schreibe mir das auf. Bis nächste Woche. Bis nächste Woche. Kommentar Georgs Geschichte zeigt, dass nicht immer Defizite im Intelligenzbereich oder bei gewissen Fähigkeiten (wie der phonologischen Bewusstheit) vorliegen müssen, um Lese- oder andere Lernprobleme zu entwickeln. Auch Umstände oder Ereignisse, die nichts mit der intellektuellen Leistungsfähigkeit des Kindes zu tun haben, können sich negativ auf die Schulleistung auswirken; so z.B. häufiges Kranksein, ein Umzug, der das Kind zwingt, sich an einer neuen Schule 72 einzuleben, die Scheidung der Eltern oder Versagensängste. Ganz davon abgesehen, aus welchem Grund ein Kind erste Leistungsprobleme entwickelt: Der nachfolgende Teufelskreis, der die Probleme verschlimmert, ist fast immer der gleiche. Das Kind erlebt Misserfolge. Diese lösen negative Gefühle wie Angst, Ärger, Scham oder Hilflosigkeit aus und führen zu Gedanken, die oft selbstwertschädigend sind oder sich gegen ein bestimmtes Fach oder die Schule richten. Das Kind versucht, einer Beschäftigung mit diesem Fach aus dem Weg zu gehen, was aber die Lücken und Probleme vergrössert. An diesem Punkt muss etwas unternommen werden. Je weniger Misserfolge das Kind inzwischen erlebt hat, desto einfacher und schneller kann geholfen werden. Was das Kind unbedingt braucht, sind konkrete Erfolge, die ihm sagen: „Hey, ich kann etwas! Wenn ich mich anstrenge, dann schaffe ich es!“ Die zweite Stunde zeigt, wie man dabei vorgehen könnte. Die zweite Sitzung Frau Sieber, schön Sie wiederzusehen. Hallo, ich habe schon einige Ideen. Sehr schön, setzen wir uns doch erst. Also, heute sprechen wir über unser Ziel, über die Leseübungen und darüber, wie wir diese motivierend gestalten können. Sie haben schon Ideen zum letzten Punkt? Ja. Zunächst mal, dass das Buch ihn wirklich interessieren sollte. Wir haben vor etwa einem Jahr „Ronja Räubertochter“ im Fernsehen gesehen: Er hat diesen Film geliebt, und als ich am Montag in der Bücherei war, lag gerade das Buch dazu in der Auslage. Es ist ziemlich gross geschrieben, was einem das 73 Gefühl vermittelt, vorwärts zu kommen und ausserdem: Schauen Sie mal, die Zeichnungen haben wirklich Atmosphäre. Vom Text her ist es auch nicht zu schwierig, wunderbar. Ein geeignetes Buch hätten wir also schon. Dann wäre da noch: Er möchte seit langem ein ferngesteuertes Auto. Dazu müsste er aber schon drei bis vier Monate wirklich gut mitmachen. Oder ist es doch eher problematisch, wenn wir ihn so mit Geschenken locken? Ich finde es eher problematisch. Bei materiellen Belohnungen besteht immer ein wenig die Gefahr, dass sie sehr schnell zum Hauptgrund werden, weshalb man etwas tut. Ich denke, wir müssen sie nicht ganz ausschliessen, aber wir müssen etwas aufpassen, wenn wir im Endeffekt erreichen möchten, dass Georg Freude am Lesen gewinnt. Schliesslich möchten wir, dass er liest, weil ihn die Geschichte interessiert und nicht, weil eine Belohnung auf ihn wartet. Also das Auto doch lieber zu Weihnachten? Ja. Ich fände es aber durchaus in Ordnung, wenn Sie ihm die DVD mit dem Film zum Buch schenken, sobald er es fertig gelesen hat – aber eher als Überraschung, anstatt als Belohnung, die Sie ihm bereits jetzt in Aussicht stellen. Und natürlich schenken Sie ihm ja auch das Buch selbst. Gut, bis jetzt haben wir ja vor allem das spannende Buch an sich, das ihn motivieren könnte. Ich denke, das wird nicht ausreichen, so wie ich ihn erlebe, wenn er etwas zum Lesen als Hausaufgabe hat. Er macht es zwar wirklich oft ohne zu quängeln, aber Gefallen daran findet er gar nicht. Es ist leider auch so: Bei diesem Buch wird er den Sinn kaum verstehen können, wenn er es selbst liest. Er hat noch solche Mühe, die Buchstaben und Wörter zu entziffern, dass nicht viel Kapazität frei bleibt, um den Inhalt nachzuvollziehen? 74 Ja. So nützt es wenig, wenn das Buch spannend ist. Ich hätte aber eine Idee. Sie machen mich neugierig. Ich lasse Georg etwa einen Fünftel einer Seite lesen und lese ihm dann die ganze Seite vor. Was meinen Sie? Das fände ich ausgezeichnet! Ja? Ja. So kommen Sie in der Geschichte schnell genug voran, damit es spannend bleibt und Georg versteht den Sinn. Ausserdem gibt es auf diese Art nach jedem anstrengenden Leseabschnitt einen entspannenden Part des Zuhörens, den Georg geniessen darf – also eine direkte Belohnung nach jedem Abschnitt. Und darüber hinaus machen Sie ihn mit dem Vorgelesenen bereits wieder neugierig darauf, wie die Geschichte weitergehen wird. Es ist wirklich eine gute Idee. Ja, die werde ich sicher noch einigen Klienten empfehlen - danke. Gern geschehen. Also, jetzt haben wir einiges. Das spannende Buch, die DVD als Überraschung, Vorlesen als Motivierungshilfe nach jedem Abschnitt. Zudem werde ich den Lehrer noch fragen, ob es Fehler gibt, auf die ich achten sollte – so muss ich weniger oft korrigieren. Ausserdem musste Georg am Donnerstag einen Text als Hausaufgabe lesen, da habe ich ihn bereits gefragt, ob ihn etwas besonders nerve, wenn ich ihn korrigiere. Sehr gut, was hat er gesagt? 75 Ehrlich gesagt, ich hätte es nicht erwartet, aber eigentlich stimmt es, also es ist vor allem, wenn ich selbst etwas gereizt bin und dann Dinge sage wie: „Jetzt schau doch hin! Was steht da?“ Sie verlieren da manchmal auch etwas die Geduld? Ich hab’s gar nicht so gemerkt. Aber ja, gerade, wenn ich tagsüber viel zu tun hatte... Und dann auch müde sind und etwas anderes machen möchten. Schauen wir doch, dass wir die Leseübungen auf Tage verlegen, an denen Sie weniger ausgelastet sind. Machen wir. Nur, es bleiben ja noch die Hausaufgaben. Die müssen an diesem Tag erledigt werden, ja. Wie könnten wir da vorgehen? Ich könnte einfach zu Beginn kurz überprüfen, wie es mir geht. Und wenn ich mich zu gestresst fühle, verschieben wir sie auf nach dem Abendessen oder ich passe ganz bewusst ein wenig auf, wie ich die Fehler kommentiere. Das klingt gut…Ach ja, ich habe mir noch notiert, dass wir noch auf das Thema „loben“ eingehen wollten. Sie sagten, dass Sie etwas Mühe damit haben, weil Sie als Kind auch selten gelobt wurden? Wir wurden selten gelobt und wenn, dann eher, wenn wir wirklich etwas geleistet hatten. Beispielsweise bei einem guten Zeugnis oder beim Lehrabschluss. Für besondere Leistungen also. Ich denke aber bei Georg eigentlich nicht an Lob, sondern eher an kleine positive Rückmeldungen und ermutigende Kommentare. Wie meinen Sie das genau? 76 So kleine Dinge, wenn er einen Satz richtig gelesen hat oder sich korrigiert hat, dass sie ihm dann zunicken, ihn anlächeln oder so etwas sagen wie: „So ist es gut“, „richtig“, „genau“. Aha so. Ja, das könnte ich mir vorstellen. Mir kommen da nur nicht so viele Ideen. Machen wir doch zusammen eine Liste (An dieser Stelle erarbeiten wir eine Liste mit möglichen verbalen und nonverbalen Zeichen von Wertschätzung und Ermutigung). Das werde ich ein wenig üben müssen, bis es natürlich kommt. Ja, am Anfang muss man ziemlich darauf achten, aber irgendwann geht es automatisch. Was wir jetzt noch besprechen müssten, ist, wie oft die Leseübungen stattfinden sollten und wie lange diese dauern. Genau, ich hätte jeden Tag Zeit für ihn, ausser am Dienstag und Donnerstag, weil ich da noch nebenbei arbeite und dann abends zu müde bin. Und es sind auch die Tage, an denen Georg am längsten Schule hat. Dann fände ich es am besten, wenn wir tägliche Leseübungen vereinbaren, mit Ausnahme von Dienstag und Donnerstag. Auch am Wochenende? Wenn das für Sie möglich ist, ja. Der Lerneffekt ist grösser, wenn häufig geübt wird, dafür aber wirklich nur für eine kurze Zeit. Der Widerstand des Kindes ist meistens auch kleiner, wenn die Übungen fast täglich stattfinden, am besten zu einer fest abgemachten Zeit und wenn sie nicht länger dauern als 15 bis 20 Minuten. Glauben Sie, 15 bis 20 Minuten reichen, damit er es schafft? Ohne wiederholen zu müssen, meine ich. Ehrlich gesagt, ich weiss es nicht. Mir wäre es wichtig, Georg zunächst zum Lesen zu motivieren, ihm zu mehr Übung und Erfolgserlebnissen zu 77 verhelfen und mit einem für ihn zumutbaren Aufwand die Lesefertigkeiten zu verbessern. Wäre es schlimm für Sie, wenn er dieses Jahr nicht versetzt wird? Oh, also ich bin eigentlich schon gekommen, um... also ich habe darüber gar nie nachgedacht. Es war für Sie klar, dass wir darauf hinarbeiten? Ja. Hmm. Also ich möchte schon, dass er es schafft. Das wäre wirklich schön. Es besteht einfach eine Gefahr, der ich aus dem Weg gehen möchte. Sehen wir uns einmal diese beiden Vorgehensweisen an. Die eine Möglichkeit wäre: Wir vereinbaren mit Georg fünf Leseübungen zu jeweils 15 Minuten pro Woche, was von ihm doch eine ziemliche Zusatzleistung erfordert. Diese gestalten wir so motivierend wie möglich mit dem Ziel, seine Lesefertigkeiten zu verbessern. Wir freuen uns über Fortschritte, lassen ihm aber die Zeit, die er braucht, auch wenn es für die Versetzung nicht reicht. Die andere Möglichkeit wäre die Vereinbarung, dass wir auf Georgs Versetzung hinarbeiten und darauf achten, soviel zu üben, wie dafür nötig ist. Bis zum Klassenübertritt bleiben uns noch vier Monate. Wie fühlen sich diese Ziele für Sie an? Hmm, ich sehe es, das zweite ist mit mehr Druck verbunden. Ja. Es würde Druck bedeuten. Für Sie, für mich und in der Folge wahrscheinlich auch für Georg. Er würde es spüren, denke ich. Weil im Hintergrund immer der Gedanke wäre: Geht es schnell genug voran? Schaffen wir es? 78 Das möchte ich wirklich nicht. Es wäre aber schon eine Enttäuschung, wenn er ein Jahr verliert. Wenn er ein Jahr verlieren würde? Klingt eigentlich blöd, wenn man das bei einem Kind sagt. Naja. Und wenn er dadurch ein Jahr gewinnt? Ein Jahr gewinnt? Also das verstehe ich nicht so ganz. Wenn wir es etwas anders sehen? Georg repetiert, wir holen weiter auf beim Lesen und plötzlich in der neuen Klasse merkt er: Ich bin genauso gut oder noch besser als die anderen. Ich komme in der Klasse mit. Der Lehrer sieht, dass ich es kann... Dass er dadurch viel gewinnen könnte. Ja, ein Jahr, das wir bewusst in sein Selbstvertrauen investieren. Auf diese Weise ein gewonnenes Jahr. So habe ich das bisher nie gesehen. Doch ich bin einverstanden, wenn wir die Vereinbarung so treffen. Dann freuen wir uns, wenn es reicht und wenn er repetieren muss, dann achten wir darauf, dass es eine gute Erfahrung für ihn wird. Ich fühle mich erleichtert, muss ich sagen. Dann schreiben wir doch das Vorgehen jetzt auf. Wir könnten sogar einen Vertrag daraus machen, den Georg und Sie unterschreiben. Einen Vertrag? Klingt komisch, aber erzählen Sie mal. Also, wir vereinbaren mit Georg zusammen, dass Sie ihm helfen, sich beim Lesen zu verbessern. Dann setzen Sie feierlich einen Vertrag mit ihm auf – Kinder mögen es häufig, wenn man solche Sachen ernst angeht und sie dabei 79 wie Erwachsene behandelt. Auf dem Vertrag muss stehen, was das Ziel ist, was Georg bereit ist dafür zu tun, was er dafür bekommt, wann und wie geübt wird und wie lange der Vertrag gilt. Ich zeige Ihnen ein paar Beispiele… Das könnte ich mir gut vorstellen. Wie gehe ich am besten vor, wenn ich das mit ihm bespreche? Sie könnten ihm am Mittag sagen, dass Sie nach dem Essen gerne etwas Wichtiges mit ihm besprechen möchten. Sie können ihn beispielsweise fragen: Georg, möchtest du gerne besser lesen können? Denken Sie, dass er da ja sagt? Ich glaube schon, für ihn ist es ja auch schlimm, immer das Gefühl zu haben, es nicht zu können. Gut, wenn er ja gesagt hat, können Sie ihn fragen, ob er bereit wäre, ein wenig Zeit zu investieren. Sie können ihn auch fragen, ob er etwas dafür möchte, nichts Materielles, aber vielleicht ein Spiel mit Ihnen machen oder fünfzehn Minuten länger aufbleiben, wenn ihr rechtzeitig und ohne Theater anfangen konntet und er mitgemacht hat, ohne wütend zu werden. Kinder nehmen den Vertrag ernster, wenn sie bei der Ausgestaltung mitreden durften. Auf fünf Übungen pro Woche zu jeweils 15 Minuten können Sie bestehen, aber ihn beispielsweise bei der Zeit oder bei der Belohnung mehr mitreden lassen. Etwas länger aufbleiben wird ihm sicher gefallen und fünfzehn Minuten würden drin liegen. Er könnte entscheiden, ob er lieber gleich nach dem Essen beginnt oder zuerst eine halbe Stunde spielen will. Gut. Ich werde Ihnen noch dieses Blatt mit Hinweisen zur Ausgestaltung von Verträgen mitgeben. Dann könnten Sie diese Woche den Vertrag aufsetzen und bereits mit den Leseübungen beginnen. Sehr gut. Sehen wir uns nächste Woche wieder? 80 Falls alles gut geht, könnten wir uns auch in zwei Wochen sehen. Schicken Sie mir doch den Vertrag per Mail, damit ich sehe, was sie und Georg abgemacht haben. Ich werde den Termin um die gleiche Zeit, gleichen Tag für nächste Woche provisorisch reservieren. Falls es gut geht, können Sie mir bis am Vortag ein Mail schreiben, dann sehen wir uns in zwei Wochen wieder. Ginge das so? Ja sicher. Bin gespannt, wie er reagiert. Eine schöne Woche noch. Ihnen auch. Der konkrete Vertrag sah schliesslich folgendermassen aus: VERTRAG zwischen Georg und seiner Mutter Mein Ziel Ich, Georg, möchte mich gerne beim Lesen verbessern. Was bin ich bereit, dafür zu tun? Ich bin bereit, jeden Tag ausser Dienstag und Donnerstag 15 Minuten mit meiner Mutter zu lesen. Die Leseübungen beginnen genau eine halbe Stunde nach dem Mittagessen. Sie finden immer am Wohnzimmertisch statt. Ich schaue selbst auf die Uhr und komme um diese Zeit mit dem Buch ins Wohnzimmer. Wenn ich es vergesse, darf meine Mutter mich rufen und ich komme ohne zu nörgeln. 81 Was bekomme ich dafür? Wenn ich gut mitmache, wenn ich also ohne zu murren 15 Minuten lese, erhalte ich von meiner Mutter einen Gutschein, auf dem steht, dass ich 15 Minuten länger aufbleiben darf. Meine Mutter hilft mir beim Lesen, indem sie mir immer die Seite vorliest, nachdem ich einen Fünftel der Seite gelesen habe. Dieser Vertrag gilt zunächst für zwei Wochen Unterschriften: Georg Sieber ______________________ Irene Sieber __________________ Die restlichen Sitzungen Georgs Mutter besuchte mich in grösser werdenden Abständen noch vier Mal. Georg machte deutliche Fortschritte und konnte schliesslich doch versetzt werden. In den Sommerferien gelang es ihm, sich weiter zu verbessern und am Ende des darauffolgenden Schuljahres war er bezüglich seiner Lesefertigkeiten im Mittelfeld seiner Klasse. Die Leseübungen konnten eingestellt werden, da Georgs Interesse geweckt war und er nun auch freiwillig Asterix, Lucky Luke und Donald Duck las und schliesslich im fünften Schuljahr mit Begeisterung die ersten Bände der Harry Potter-Reihe verschlang. Georgs Mutter nahm in die folgenden Sitzungen jeweils Videobänder von Leseübungen mit, damit wir bei Problemen 82 ganz konkret intervenieren und die Leseübungen so anpassen konnten, dass sie für Georg den grösstmöglichen Nutzen erbrachten. (Das Vorgehen bei Leseproblemen wird im Kapitel Leseprobleme genauer beschrieben.) Besonders hilfreich erwies sich die Hilfe von Georgs Lehrer. Dieser erklärte sich nach einem Gespräch damit einverstanden, Georg nicht mehr überraschend aufzurufen. Wenn er sich nicht sicher war, dass Georg mitkam, zeigte er ihm gleich die Stelle, an der er weiterlesen sollte, und lobte ihn häufiger. Nach der fünften Woche behielt er Georg mit dem Hinweis, er müsse ihm noch etwas sagen, im Klassenzimmer. Georg war zunächst etwas nervös und freute sich dann umso mehr, als sein Lehrer ihm sagte, dass er grosse Fortschritte gemacht habe und er sehr stolz auf ihn sei. Schon beim Öffnen der Türe rief er seiner Mutter zu: „Der Berger hat auch gemerkt, dass ich besser werde!“ Dieses Kompliment motivierte ihn ungemein und bestätigt eine Ansicht, die ich seit langem hege: Ein ernst gemeintes Kompliment einer wichtigen Bezugsperson kann mehr bewirken als die beste Beratungssitzung. 83 Mein Kind macht nicht mit – wie soll ich reagieren? Im vorhergehenden Kapitel haben wir gesehen, wie wichtig es ist, Kindern während des Lernens Zuneigung, Wärme und Wertschätzung entgegenzubringen, ihnen positive Kontrollerfahrungen zu ermöglichen und ihnen für ihre Anstrengungen Anerkennung zu zeigen. Auf diese Weise verstärken Sie als Eltern das Lernverhalten Ihres Kindes und es wird mit der Zeit die Hausaufgaben reibungsloser erledigen, sich öfter mit Lesen, Rechnen oder Schreiben beschäftigen und dies auch lieber tun. Lernen Kinder jedoch aufgrund vieler vorhergegangener negativer Erfahrungen nur ungern und hat sich deshalb beim Kind der Wunsch oder das Ziel aufgebaut, Lernen zu vermeiden, wird es schwierig. Vielleicht ist Ihr Kind bockig, wenn es lernen soll, verweigert die Mitarbeit, fängt dauernd an zu weinen, wenn es etwas schreiben soll, oder verwickelt Sie in einen Machtkampf, wenn es darum geht, die Hausaufgaben zu erledigen. Dieses Vermeidungsverhalten wird noch häufiger werden, wenn das Kind einen Nutzen daraus zieht. Bei den meisten Kindern lässt sich bei genauerem Hinschauen erkennen, dass sie durch das Vermeidungsverhalten ihre Bedürfnisse besser befriedigen können, als durch das Lernverhalten. Dies ist beispielsweise dann der Fall, wenn Eltern mit viel Verständnis auf solches Verhalten reagieren, es trösten, ihm gut zureden und es so zum Weitermachen motivieren möchten. In der Beratung kann ich oft beobachten, wie Eltern während des Lernens kühler und ungeduldiger werden, auf Fehler mittels Blicken oder Sätzen wie „das haben wir doch gestern geübt“ strafend reagieren und einen kritischen Gesichtsausdruck aufsetzen. Sobald das Kind aber beginnt, das Lernen zu vermeiden, indem es weinerlich oder wütend wird, sich weigert 84 oder innerlich aussteigt, reagieren die Eltern verständnisvoll, trösten, nehmen das Kind in den Arm und versuchen, es wieder aufzumuntern. Aus Sicht der Eltern ist dieses Verhalten verständlich und logisch: Dem Kind geht es schlecht, also versuche ich über die Beziehung seine Stimmung wieder zu verbessern, damit wir weitermachen können und es dem Kind wieder besser geht. Unmerklich, weil unbewusst, geschieht etwas ganz anderes. Das Kind lernt die folgenden Zusammenhänge: Ich lerne Meine Eltern ignorieren mich oder reagieren negativ Wenn ich lerne, geht es mir schlecht Ich werde bockig, weine etc. Meine Eltern wenden sich mir zu, trösten mich Wenn ich bockig bin, bekomme ich Zuwendung Das Kind erhält die angenehmen Reaktionen nicht für das Lernen, sondern für seinen Widerstand. Dieser wird dadurch immer stärker, bis sich das Kind gar nicht mehr auf das Lernen einlässt. 85 Stärker wird Widerstand, wenn das Kind: Dadurch Zuneigung erhält Das Lernen abbrechen darf Einen Machtkampf gewinnt Dies ist umso stärker der Fall,: Je weniger Zuwendung und Wärme das Kind während dem Lernen erhält Je mehr Misserfolge es während dem Lernen erlebt (und je schwieriger der Lernstoff ist) Als Eltern können Sie Widerstände abbauen, indem Sie darauf achten, dass das Lernen für Ihr Kind angenehmer und nützlicher ist als der Widerstand. Ihr Kind muss lernen, dass von nun an das genaue Gegenteil gilt: Wenn ich lerne, geht es mir gut! Wenn ich Widerstand zeige, erreiche ich damit nichts! Widerstand abzubauen ist nicht einfach. Es wird Ihnen als Eltern Konsequenz und Durchhaltewillen abfordern. Umso wichtiger ist es, dass Sie überzeugt sind, für Ihr Kind das Richtige zu tun. Sprechen Sie mit Ihrem Partner, Ihrer Partnerin das genaue Vorgehen ab. Es ist notwendig, dass Sie als Eltern zusammenhalten und auf die gleiche Weise reagieren. Und so können Sie vorgehen: 1. Schritt Achten Sie darauf, dass Sie in nächster Zeit so oft wie möglich positiv reagieren, wenn Ihr Kind lernt. Machen Sie ihm bewusst, wie sehr Sie es schätzen, wenn es sich auf das Lernen einlässt. Geben Sie Ihrem Kind mindestens zwei Wochen Zeit, diese 86 Erfahrung zu machen, bevor Sie mit dem zweiten Schritt beginnen. 2. Schritt Sagen Sie Ihrem Kind, was Sie von ihm erwarten und dass Sie sein schwieriges Verhalten von nun an nicht mehr beachten bzw. nicht mehr tolerieren werden. Zeigen Sie ihm von diesem Moment an ganz klar, dass es Ihnen ernst ist und Sie nicht mehr bereit sind, sich auf ewige Diskussionen einzulassen. Es stehen Ihnen einige Wege offen, um dies zu erreichen. Ich werde Ihnen im Folgenden mehrere Methoden vorstellen – fragen Sie sich einfach, mit welcher Sie sich am wohlsten fühlen und auf welche Ihr Kind am ehesten reagieren würde. Die Situation verlassen Viele Kinder haben im Laufe der Zeit gemerkt, dass sie die ungeliebten Hausaufgaben etwas hinauszögern können, wenn sie ihre Eltern in Diskussionen verwickeln. Diese beginnen mit Sätzen wie: „Mann, muss das jetzt sein?“, „Kann ich nicht noch eine halbe Stunde spielen?“, „Das stinkt mir, warum muss ich das machen?“ etc. Die Eltern versuchen daraufhin das Kind zu überzeugen, liefern Argumente für die Hausaufgaben, sagen ihm, dass es doch viel schneller ginge, wenn es endlich anfangen würde, das ganze doch gar nicht so viel sei, es längst spielen gehen könnte, wenn es gleich begonnen hätte usw. Mit der Zeit wird die Diskussion hitziger und es fallen Argumente wie: „Meinst du, mir macht das Spass?“, „Ich hätte auch Besseres zu tun!“, „Ich habe es so satt, dass wir jedes Mal das gleiche Theater haben“. 87 Falls es Ihnen auch so geht, könnte es hilfreich sein, die Situation einfach zu verlassen. Jedes Argument von Ihnen löst ein Gegenargument des Kindes aus – Sie können sich dabei die Diskussion als Feuer vorstellen und die Argumente als Holzscheite, die man hineinwirft. Das Feuer hört erst auf zu brennen, wenn man aufhört, Holz hineinzuwerfen. Und so können Sie dabei vorgehen: Mirko: Mann, muss das sein, Mam? Mutter: Komm schon…es geht viel schneller, wenn du jetzt einfach vorwärts machst. Mirko: Immer müssen wir solchen Mist machen. Mutter: Du Mirko, ich bin nicht bereit, mit dir darüber zu diskutieren. Ich möchte, dass du dich auf die Hausaufgaben einlässt und wir vorwärts machen können. Mirko: Das stinkt mir! Mutter: Gut, du bist jetzt nicht bereit. Ich gehe in die Küche und mache den Abwasch. Ruf mich, wenn du soweit bist. Mirko: Ist ja schon gut… Mutter: Nein, ich glaube, du brauchst wirklich etwas Zeit, um runterzukommen und dich neu darauf einzustellen. Ich gehe jetzt in die Küche und ich möchte, dass du mich erst dann holst, wenn du bereit bist, mitzumachen. An dieser Stelle steht die Mutter auf und geht. Wenn es sein muss, macht sie dies an diesem Tag noch ein paar Mal und am nächsten Tag wieder – sooft, bis Mirko merkt, dass seine Mutter nicht mehr bereit ist, auf seine Argumente einzugehen. 88 Gerade wenn Kinder wütend werden, kann es sehr hilfreich sein, ihnen Zeit zu geben und zu gehen, anstatt auf sie einzureden. Alleine kann man sich viel besser abkühlen und wieder ruhiger werden, als wenn jemand auf einen einredet. Die Zeit begrenzen Alternativ können Sie auch die Zeit begrenzen. Mirkos Mutter könnte wie folgt reagieren: Mirko: Das stinkt mir! Mutter: Mirko, ich nehme mir genau bis um 15 Uhr Zeit, um dir zu helfen – wenn du dich bis dahin nicht darauf einlässt, musst du die Hausaufgaben alleine machen. Mirko: Mann! Mutter: Ich meine es ernst…ich hole uns jetzt etwas zu trinken und du überlegst unterdessen, ob du die Hausaufgaben jetzt mit mir oder später alleine machen willst. Wenn du sie mit mir zusammen machen willst, muss es jetzt sein – und ich erwarte, dass du mitmachst. Danach ist es wichtig, konsequent zu bleiben. Wenn sich die Mutter um 17 Uhr trotzdem hinsetzt und Mirko hilft „weil die Aufgaben ja gemacht werden müssen“, nützt alles nichts: Mirko bleibt am längeren Hebel und lernt, dass er mit seiner Mutter machen kann, was er möchte. Manchmal ist es auch hilfreich, negatives Verhalten zu ignorieren. Ignorieren 89 Oft ist viel gewonnen, wenn man als Eltern konsequent die Aufmerksamkeit auf das positive Verhalten richtet und Trotz und Widerstand ignoriert. Dadurch wird das positive Verhalten für das Kind attraktiver und das trotzige Verhalten wird uninteressant. Ignorieren ist vor allem dann sinnvoll, wenn ein Kind mittels Widerstand Aufmerksamkeit und Zuwendung erhalten möchte oder bisher das Lernen abbrechen durfte, sobald es begonnen hatte zu weinen. Indem Sie dieses Verhalten Ihres Kindes nicht weiter beachten, bringt es ihm keinen Nutzen mehr und wird seltener werden. Gleichzeitig ist es wichtig, dass Sie sofort positiv reagieren, wenn Ihr Kind sich wieder auf das Lernen einlässt. Denken Sie daran, Ihr Kind soll die folgenden Zusammenhänge lernen: Wenn ich lerne, geht es mir gut Widerstand bringt gar nichts Schauen wir uns ein Beispiel an, bei dem wichtige Bezugspersonen, eine Mutter und eine Lehrerin, durch verstärktes Beachten von positivem Verhalten und Ignorieren von Widerstand ein sehr ungünstiges Verhalten abbauen und Freude am Lernen aufbauen konnten. Sibylle weinte öfters und aus scheinbar nichtigen Anlässen. Die Eltern fanden sie sehr sensibel. Mit den Hausaufgaben ging es gar nicht – sobald es etwas schwieriger wurde, begann Sibylle zu weinen. Die Eltern mussten sie trösten und nicht selten schrieben sie Sibylle eine Entschuldigung für die Lehrerin: Liebe Frau Berger, Sibylle konnte die Hausaufgaben gestern leider nicht machen. Sie waren für sie zu schwierig. 90 Mit herzlichen Grüssen, Frau Friedrichs Der Lehrerin fiel Sibylles Verhalten auf. Sie machte sich Sorgen, weil Sibylle keine Anstrengungsbereitschaft zeigte und bei der kleinsten Schwierigkeit aufgab. Am Elternabend sprach sie mit den Eltern und verdeutlichte ihnen, wie sehr sich Sibylle mit diesem Verhalten selbst schadet. Sie zeigte den Eltern ein einfaches Schema, um ihnen zu erklären, wie Sibylles Verhalten verfestigt wird. Situation Problemverhalten Wie reagieren wir als Eltern? Vor- und Nachteile für das Kind: Zusammen mit der Lehrerin füllten die Eltern das Schema für die Situation „Hausaufgaben erledigen und dabei auf Schwierigkeiten stossen“ aus. Insbesondere für die Mutter war es wichtig zu sehen, wie sehr das Weinen ihrer Tochter durch ihre Reaktionen gefördert wurde. Situation Problemverhalten Sibylle muss die Hausaufgaben machen und versteht etwas nicht auf Anhieb Sie beginnt zu weinen. Wie reagieren wir als Eltern Ich tröste sie Wenn sie gar nicht mehr kann, schreibe ich ihr eine Entschuldigung Vor- und Nachteile für das Kind: Sibylle erhält Zuwendung Sibylle muss ihre Hausaufgaben nicht machen 91 Sybille wird langfristig immer unselbständiger und gibt immer schneller auf Unter Mithilfe der Lehrerin konnten Sibylles Eltern erkennen, dass ihr Verhalten ihre Tochter zwar kurzfristig entlastet, langfristig aber viele negative Folgen nach sich zieht: Sibylle wird immer unselbständiger, sie ist immer weniger bereit, sich anzustrengen, gibt vorzeitig auf, kann mit negativen Gefühlen mit der Zeit nicht mehr umgehen und verpasst den Anschluss in der Schule. Sibylles Eltern stellten zudem fest, dass sie positivem Verhalten ihrer Tochter wenig Beachtung schenken und sich nur mit Trost und Zuwendung einschalten, wenn ein Problem vorliegt. Da oft ein Problem vorlag und Sibylle weinte, waren die Eltern natürlich heilfroh, wenn sie einen Moment Ruhe und etwas Zeit für sich selbst und andere Dinge hatten („Endlich ein wenig Ruhe.“). Dadurch wurde das positive Verhalten aber nicht verstärkt und Sibylle lernte immer deutlicher die folgende Regel: Wenn du willst, dass deine Eltern dich beachten und sich Zeit für dich nehmen, dann fange an zu weinen. Wie kann dieses negative Verhalten nun verändert werden? Sibylles Eltern stellten folgenden Plan auf, um das Verhalten ihrer Tochter zu ändern: In den ersten zwei Wochen achten wir nur darauf, dass wir: 92 Sybille verstärken, wenn Sie sich auf das Erledigen der Hausaufgaben einlässt. (Dieser Punkt ist sehr wichtig: Das Kind muss deutlich erkennen können, welches Verhalten gewünscht wird, bevor die Eltern das unerwünschte ignorieren) Uns vermehrt um sie kümmern und ihr Zuwendung schenken, wenn sie positives Verhalten zeigt, z.B. mit ihrem kleineren Bruder spielt, für sich ein Comics anschaut, mit ihren Puppen spielt etc. Wir setzen uns einfach dazu und spielen mit oder reden ein wenig mit ihr. Bleibt das Problem bestehen, schenken wir dem negativen Verhalten keine Beachtung mehr. Wir verlangen von Sybille, dass sie sich auf die Arbeit einlässt und ernsthaft versucht, ihre Hausaufgaben zu erledigen, auch wenn diese schwierig sind. Die Lehrerin besprach mit den Eltern, dass dabei zwei Dinge wichtig sind: 1. Sobald die Eltern anfangen, das negative Verhalten zu ignorieren, müssen sie dabei sehr konsequent sein. Nur so wird es in Zukunft seltener werden. Geben die Eltern ab und zu nach, dann bleibt das negative Verhalten ein lohnenswerter Versuch. 2. Das negative Verhalten wird zunächst stärker, bevor es schwächer wird. Wenn ein bestimmtes Verhalten bisher zum Erfolg geführt hat und nun plötzlich nicht mehr, dann scheint es logisch, das Ganze zu intensivieren, um zu sehen, ob es dann etwas nützt. Häufig lernen Kinder, dass sie nur noch lauter schreien müssen, wenn sie im Supermarkt ein Spielzeug möchten. Irgendwann ist der Punkt erreicht, wo es den Eltern zu peinlich wird. Sie geben nach, das Kind hat mit seiner Methode wieder einmal Erfolg. Solche Lernprozesse laufen meist unbewusst ab – für Kind und Eltern. Betrachten wir in einem kurzen Ausschnitt, wie die Eltern diese Regel umsetzen: Beispiel: Sybilles negatives Verhalten wird ignoriert Sybille: „Ich kann das nicht.“ Fängt an zu weinen 93 Mutter: „Du hast es gar nicht versucht. Versuch es zunächst. Was musst du als erstes machen?“ Die Mutter gibt nicht wie üblich gleich nach, sondern formuliert klar ihre Erwartungen Sybille: „Nein, ich kann es nicht!“ Weint. Die Mutter schweigt. Sie ignoriert Sybilles Verhalten. Sybille weint ganze 5 Minuten. Die Mutter entzieht dem negativen Verhalten die Grundlage, sie lässt es ins Leere laufen Schliesslich will sie aufstehen. Mutter: „Nein, du hast es noch gar nicht versucht. Du bleibst hier. Ich möchte, dass du die Aufgabe durchliest – ich weiss, dass du das kannst.“ Die Mutter formuliert nochmals ihre Erwartung und verhindert, dass ihre Tochter ausweicht Sybille weint weitere 5 Minuten, geht dann aber in ein Schluchzen über, bis auch dieses verstummt. Mutter: „Was musst du machen?“ Sybille: „Diese Bildergeschichte beschreiben. Ich kann das nicht!“ Mutter: „Was siehst du denn auf dem ersten Bild?“ Tochter beschreibt das Bild Mutter: „Sehr gut. Wie könntest du 94 Die Mutter geht zur Bearbeitung der Hausaufgaben über und lässt sich nicht davon abbringen das aufschreiben?“ Sybille weint wieder: „Ich weiss es nicht“ Die Mutter wartet geduldig, bis sie damit aufhört. Kleine Schritte in Richtung Aufgabenbearbeitung werden sofort aufgenommen und verstärkt, negatives Verhalten hingegen konsequent ignoriert. Mutter: „Du hast vorhin das Bild sehr gut beschrieben, was hast du zuerst gesagt?...Machen wir daraus einen Satz… Ja, das klingt doch gut. Du kannst das.“ Wie wir in diesem Beispiel gesehen haben, ignoriert die Mutter konsequent Sybilles Weinen, sagt ihr aber deutlich, was sie von ihr erwartet und bestärkt sie, sobald sie sich auf das Arbeiten einlässt. Sybille braucht Zeit, um zu lernen, dass sie die gewünschte Aufmerksamkeit nur noch erhält, wenn sie mitarbeitet und sie sich durch ihr Weinen und Jammern nicht mehr von den Hausaufgaben befreien kann. Das Weinen wird noch eine Zeitlang bestehen bleiben, allerdings dürfen wir davon ausgehen, dass es spätestens innerhalb einiger Wochen deutlich seltener werden und auch in seiner Intensität abnehmen wird (andernfalls wäre eine Lernberatung angezeigt). Häufig begreifen Kinder sehr schnell – nach ein bis drei Tagen – dass sie mit ihrem Verhalten nichts mehr erreichen. Alternativ können Sie auch Grenzen setzen. Klare Grenzen setzen Manchmal helfen die bisher beschriebenen Methoden nicht – es gibt zum Beispiel Kinder, die sich nicht beeindrucken lassen, wenn die Eltern den Raum verlassen und denken: Umso besser, dann mache ich die Hausaufgaben nicht! 95 In diesem Fall ist es notwendig, dass Sie als Eltern klare Grenzen setzen und auf deren Einhaltung bestehen. Werden die Grenzen missachtet, sollte dies für das Kind unangenehme Konsequenzen nach sich ziehen. Die richtigen Konsequenzen zu wählen ist keine einfache Sache. Sie sollten: Wirksam sein und dem Kind dabei helfen, sich auf das Lernen einzulassen Das Selbstwertgefühl des Kindes nicht untergraben Sofort erfolgen Nach klaren Regeln vergeben werden Und Ihnen als Eltern helfen, bestimmt, aber gelassen zu reagieren Mit „falschen oder schädlichen“ Konsequenzen sind solche gemeint, die: Unwirksam sind Das Selbstwertgefühl des Kindes schädigen Erst lange nach dem problematischen Verhalten erfolgen Für das Kind kaum vorhersagbar sind Und vor allem in einer Entladung von Frust, Wut und Enttäuschung auf Seiten der Eltern bestehen In diesem Kapitel wird es deshalb nicht nur darum gehen, Grenzen zu setzen und durchzusetzen, sondern auch, schädliche und sinnlose Strafen nach und nach abzubauen. Schädliche Strafen sind leider üblich! 96 Die meisten Strafen, die ein Kind im Bereich des Lernens erhält, entsprechen den Kriterien für schädliche Strafen. Schauen wir uns einige Beispiele an: Die Eltern reagieren während dem gemeinsamen Lernen gereizt Eltern sind oft ausgesprochen schockiert, wenn wir ihnen eine Videoaufnahme vorspielen, die sie beim gemeinsamen Lernen mit ihrem Kind zeigt. „Das bin doch nicht ich“, „da wäre ich auch bockig“, „mein Gott, so verhalte ich mich?“ sind häufige ungläubige Ausrufe, wenn sich Eltern zum ersten Mal von aussen betrachten und sich mit den Augen ihres Kindes wahrnehmen. Sie sehen, wie sie ihr Kind loben – mit einem bissigen Unterton und kaltem Gesichtsausdruck. Sie hören plötzlich all die kleinen giftigen Kommentare, das grobe „jetzt pass doch auf“, „schau doch hin“, „das haben wir doch schon geübt“ und nehmen wahr, wie sie ihrem Kind drohen „du wirst ja sehen, was die Frau Lindt sagt, wenn du das morgen nicht fertig hast“. Bei genauerem Hinsehen bemerken sie schliesslich, wie sie sich bei Fehlern zurücklehnen, wie sich ihre Mimik versteinert, sich Frust, Angst und Enttäuschung im ganzen Körper merklich ausbreiten und sich auf das Kind übertragen. Strafen dieser Art sind weit verbreitet. Sie sind gravierend, weil sie: Unbewusst und deshalb unkontrollierbar ihre destruktive Wirkung entfalten Das Selbstbewusstsein des Kindes schädigen Ängste und Ärger beim Kind schüren Das Lernen für beide Seiten unangenehm werden lassen Die Beziehung zwischen Eltern und Kind belasten Dauern Hausaufgaben- und Lernprobleme seit längerer Zeit an und hat sich der Teufelskreis bereits entwickelt, kann man fast 97 mit Sicherheit davon ausgehen, dass diese Art der Bestrafung eingesetzt wird. Ich kann mich an fast keine Beratung erinnern, bei der ich dieses Problem nicht bemerkt hätte, auch bei Eltern, die selbst Lehrer sind, Pädagogik studiert haben oder beteuern, ihre Kinder nicht zu bestrafen und mit Lernproblemen gelassen umzugehen. Die wenigsten Eltern sind sich bewusst, wie sie sich in dieser Situation verhalten. Davor ist man auch als Psychologe nicht gefeit. Ich kann mich erinnern, wie ich einmal in einer Beratungssitzung mit einer Mutter an diesem Thema gearbeitet habe und anschliessend am Abend mit meiner Frau einen Tangokurs besuchte. Es lief alles nicht so reibungslos („jetzt lass dich doch mal führen“, „wieso machst du jetzt wieder diesen Schritt?“). Am Ende musste ich mir von meiner Frau sagen lassen, dass ich „echt unangenehm“ und ungeduldig war und dabei hat sie – im Nachhinein betrachtet - deutlich untertrieben. Sie sehen: Es ist schwierig, eine lernförderliche Atmosphäre herzustellen. Als erstes müssen Sie sich bewusst werden, wie Sie reagieren. Haben Sie den Mut, genauer hinzusehen? Es lohnt sich! Und so könnten Sie vorgehen: Falls Sie eine Videokamera besitzen oder sich eine ausleihen können: Zeichnen Sie eine oder mehrere Hausaufgabensituationen mit Ihrem Kind auf. Schauen Sie sich die Aufnahme am Abend oder am folgenden Tag in Ruhe an. Die ersten zehn Minuten sollten Sie dabei überspringen – während dieser Zeitspanne sind sich die meisten Eltern bewusst, dass sie aufgenommen werden und verhalten sich anders. Danach vergisst man, dass die Kamera da ist und verhält sich natürlich. Achten Sie beim Anschauen in einem ersten Durchgang nur darauf, was Sie zu Ihrem Kind sagen und starten Sie dann einen 98 zweiten Durchgang, bei dem Sie nur auf Ihre Mimik, Gestik, den Tonfall und die Körperhaltung achten. Die Mimik und das nonverbale Verhalten können Sie noch besser beurteilen, wenn Sie dazu den Ton ausschalten. Schauen Sie sich das Video noch ein drittes Mal an und achten Sie nur darauf, wie Ihr Kind auf Sie und Ihre Reaktionen reagiert. Wie wirken Sie auf sich? Wie würden Sie sich als Kind fühlen? Halten Sie Ihre Eindrücke fest. Fast immer entdecken Eltern spontan vieles, was sie an ihrem Verhalten ändern möchten. Unbewusstes, eingefahrenes Verhalten lässt sich aber nur schwer verändern. Überfordern Sie sich nicht und nehmen Sie sich vor, sich nur in jeweils einem spezifischen Punkt anders zu verhalten. Falls Sie keine Kamera besitzen oder ausleihen können, möchten Sie vielleicht eine der folgenden Methoden ausprobieren: Lassen Sie sich von jemand anderem (Partner, Freund, Beraterin) während des Lernens beobachten. Diese Person hat die Aufgabe, sich in die Lage Ihres Kindes zu versetzen und Ihnen jedesmal eine Rückmeldung zu geben, wenn sie beginnt, sich unwohl zu fühlen. Fragen Sie Ihr Kind, wie es sich beim Lernen fühlt und ob es gerne mit Ihnen lernt. Lassen Sie sich von ihm eine Zeit lang jedesmal nach dem Lernen eine Note geben und fragen Sie nach, was Sie tun müssten, um eine gute oder sehr gute Note zu erhalten. Die einzelnen Methoden lassen sich natürlich auch kombinieren. Diese subtile Form von Strafen demotiviert ein Kind mehr als alles andere – wenn es Ihnen gelingt, sie abzubauen, haben Sie bereits sehr viel erreicht. 99 Ein Kind mit Lernproblemen erlebt aber noch weitere Strafen, die nur bedingt geeignet sind, eine positive Verhaltensänderung zu erzielen oder mehr schaden als nützen: Die Lehrperson oder die Eltern demütigen das Kind Ich wünschte, ich müsste diese Art der Strafe hier nicht erwähnen – aber sie kommt zu oft vor, um sie in dieser Aufzählung weglassen zu dürfen. Kinder werden heute von Eltern seltener geschlagen und (von seltenen Ausnahmen abgesehen) in der Schule gar nicht mehr. Sie werden aber weiterhin gedemütigt. Häufig werden Demütigungen als „Motivierungshilfe“ eingesetzt. Der Erfolg, den man sich davon verspricht, bleibt aus – dafür werden Ängste, Ärger, Unsicherheit und Schamgefühle aufgebaut. Ich kann mich gut an Situationen erinnern, in denen wir an die Tafel gerufen wurden – schaurige Erlebnisse. Die Lehrerin versprach sich wohl einen Motivationsschub oder eine bessere Mitarbeit. Auf jede Stunde mussten wir Vokabeln lernen und verbrachten die ersten Minuten der Stunde und im Falle einiger Mitschüler wohl auch die Schulstunde davor mit der bangen Frage „bin ich heute dran?“ Den unmotivierten Schülern war die ganze Show wohl noch am ehesten gleichgültig. Gelitten haben die fleissigen, diejenigen, die sowieso schon mit sozialen Ängsten zu kämpfen hatten, und die Schüler, die in der Klasse keinen Anschluss und keinen Rückhalt fanden. Wir haben uns oft gefragt, wieso man uns auf diese Art die Schule vermiest. Ging es darum, uns einzuschüchtern? Eigentlich waren wir doch brav genug? Ging es darum, uns fertig zu machen? Das hatten wir doch nicht verdient. Ging es darum, uns zum Lernen zu motivieren? Diesen Effekt konnten wir beim besten Willen nicht feststellen. 100 Heute glaube ich, dass es mangelndes Einfühlungsvermögen war. Manche LehrerInnen sind sich nicht bewusst, wie schlimm diese Situationen für einige SchülerInnen sind. Ich selbst bin mir dessen erst bewusst geworden, als ich anfing, prüfungsängstliche Studierende zu beraten. Ich musste merken, dass es manchmal Erlebnisse sind, die zehn oder fünfzehn Jahre zurückliegen, die Ängste geschürt haben und die das Selbstwertgefühl von Studierenden soweit untergraben haben, dass sie sagen: „Lieber gebe ich das Studium auf, als dass ich ständig Angst vor Prüfungen und Vorträgen haben muss“ „Tief in mir drin weiss ich, dass ich ein Versager bin – da helfen mir alle guten Noten nichts“ „Wenn ich einen Vortrag halten muss, merke ich, wie dumm und wertlos ich mich fühle“ Andere Studierende berichten mir, wie enttäuscht ihre Eltern bei schlechten Noten waren. Sie erinnern sich, wie sie als Neunjährige auf dem Nachhauseweg bei einer schlechten Note geweint haben und sich vor der Reaktion der Eltern fürchteten. Es handelt sich dabei praktisch kaum um unmotivierte Studierende, sondern um solche, die schon als Kind fast alles getan hätten, um ihre Lehrer und Eltern zufrieden zu stellen. Falls Sie sich als Mutter, Vater oder Lehrkraft bewusst geworden sind, dass Sie sich so verhalten, möchte ich Ihnen sagen: Durch Demütigung erreichen Sie nie die faulen und aufsässigen Schüler - Sie machen die ängstlichen ängstlicher und das Lernen und die Schule nicht nur zu einer unangenehmen, sondern auch zu einer verletzenden, kränkenden und bedrohlichen Angelegenheit. Es sind die fleissigen, diejenigen, die sich Mühe geben und sowieso Angst davor haben, im Umgang mit den anderen Fehler zu machen oder die Lehrperson zu enttäuschen, die Blut und Wasser schwitzen, mit verspanntem Körper dasitzen und auch dann noch (mit)leiden, wenn es einen anderen Unglücklichen erwischt hat, der es nicht kann und sich vor allen blamiert. 101 Auf diese Form der Strafe sollte unbedingt verzichtet werden! Man verlässt sich alleine auf den Lehrer Die meisten Lehrer kontrollieren, ob die Hausaufgaben erledigt werden. Dies ist wünschenswert und richtig, ist aber bei Kindern mit Lernproblemen meist nicht ausreichend. Ist das Lernen und die Erledigung der Hausaufgaben für ein Kind mit grossen Mühen verbunden und wird es als zu anstrengend und langweilig empfunden, bekommt man in der Beratung auch von 10 Jährigen zu hören: „Ich kann es am Morgen vielleicht von Florian abschreiben“ „Er kontrolliert nicht immer – vielleicht habe ich Glück“ „Lieber kurz „Schimpfis“ als den ganzen Nachmittag diesen Mist machen.“ Der Lehrer kann nur überprüfen, ob die Hausaufgaben vorliegen – ob das Kind sie abgeschrieben oder wirklich etwas gelernt hat, kann er nicht kontrollieren. Gerade für jüngere Kinder ist zudem die Zeitdauer, die zwischen dem Erledigen der Hausaufgaben und der Rückmeldung durch die Lehrperson liegt, zu gross. Das Videospiel heute ist wichtiger als die Rückmeldung am Tag darauf. Grenzen setzen: Keine leichte Sache Unangenehme Konsequenzen sind dann sinnvoll, wenn sie ein für das Kind langfristig schädliches Verhalten abbauen, ohne dabei viele ungute Gefühle auf Eltern- und Kindseite zu schüren. Sie sollten zudem bald eine Wirkung zeigen. Wenn Sie sich selbst sagen hören „das habe ich ihm schon hundertmal gesagt“ oder „wir haben immer wieder Druck aufgesetzt – ohne 102 Erfolg“, dann werden Sie damit auch in Zukunft keinen Erfolg haben und können es getrost bleiben lassen. Als Faustregel gilt: Wenn die Strafe innerhalb von zwei bis drei Wochen nicht zu einem deutlichen Abbau des Problemverhaltens führt, sollten Sie es mit etwas anderem versuchen oder eine Beratung in Anspruch nehmen. Und so können Sie vorgehen: 1. Definieren Sie, was sich ändern muss. Z.B.: a. Ich möchte nicht mehr jedes Mal einen Kampf führen, wenn es darum geht, die Hausaufgaben zu erledigen. b. Ich möchte nicht mehr, dass Florian trotzig wird und flucht, sobald wir mit der Leseübung beginnen. Hinweis: Verlangen Sie auf keinen Fall eine zu grosse Verhaltensänderung. Grössere Ziele sollten in kleinere Schritte zerlegt werden. So könnte von einem Kind verlangt werden, dass es zunächst 5 oder 10 Minuten mitmacht und nicht, dass es gleich die ganzen Hausaufgaben reibungslos erledigt. 2. Formulieren Sie eine konkrete Erwartung an Ihr Kind. Wie soll es sich genau verhalten? z.B.: a. Du beginnst mit den Hausaufgaben pünktlich eine halbe Stunde nach dem Mittagessen. Ich werde dich nur einmal daran erinnern. b. Ich möchte, dass du bei den Leseübungen richtig mitmachst und dich während diesen 10 Minuten konzentrierst. 103 Hinweis: Konkrete Erwartungen können von Kindern leichter erfüllt werden als die Aufforderung, „brav zu sein“. Es hilft Ihrem Kind, wenn Sie es zu Beginn (vor der Leseübung, nach dem Mittagessen) daran erinnern, was Sie erwarten. 3. Legen Sie fest, welche Konsequenzen es hat, wenn Ihr Kind der Aufforderung nicht nachkommt. a. Wenn du dich nicht daran hältst, gibt es heute kein TV und keine Computerspiele. b. Wenn du wütend und trotzig wirst, musst du es alleine machen. Hinweis: Die Konsequenzen sollten für das Kind unangenehm, aber nicht schädlich sein. Etwas weniger fernsehen oder Nintendo spielen wird Ihrem Kind nicht schaden. Fernsehentzug ist aber für die meisten Kinder schlimmer, als während der 10minütigen Leseübung mitzumachen. 4. Sagen Sie Ihrem Kind, was Sie von ihm von heute an erwarten und welche Folgen es hat, wenn es sich widersetzt. Setzen Sie die Regel konsequent um. Fallbeispiel Bernhard und seine Mutter verstrickten sich während des Lernens oft in Machtkämpfe. Obwohl ihr Sohn erst 10 Jahre alt war, wusste die Mutter kaum noch, wie sie ihm beikommen sollte. Bernhard wies grosse Lücken im Rechnen auf, die durch kurze, tägliche Übungen abgebaut werden sollten. Zu einem richtigen Lernen kam es allerdings kaum, wie der folgende Ausschnitt zeigt: 104 Mutter: Jetzt komm endlich und setz dich hin Bernhard: Mann… Mutter: Nur 10 Minuten Bernhard lässt sich von Anfang an nicht auf die Situation ein Bernhard (äfft sie nach): Nur 10 Minuten Die Mutter versucht es mit Bernhard sagt nichts, spielt mit den einer Aufmunterung, Fingern die nichts bewirkt Mutter: Komm schon, 7 x 7 ? Mutter: Bitte Bernhard, ich weiss, dass du Sie bittet Bernhard und lobt es kannst, 7 x 7 ? ihn Bernhard: 49 Mutter: Sehr gut! Bernhard schaut auf die Uhr: Eine Minute Was auch nichts ist um. nützt Mutter: 8 x 7 ? Bernhard verstärkt seinen Bernhard: Ist das öde! Trotz – die Mutter: Meinst du etwa, mir macht das Mutter wird wütend Spass?! Bernhard (gelangweilt): Von mir aus Bernhard kontert und die Mutter können wir es bleiben lassen. bittet ihn wieder, 105 Mutter: Bitte, konzentrier dich. 8 x 7? mitzumachen Bernhard: Weiss ich nicht Bernhard zeigt weiterhin Mutter: Du versuchst es gar nicht. Willst Widerstand – die Mutter droht du etwa sitzen bleiben? Bernhard: Mir doch egal! Mutter: Dann lassen wir es halt! – und gibt auf Bernhards Mutter fiel es schwer, Grenzen zu setzen und auf deren Einhaltung zu pochen. Ich war deshalb froh, dass sie auf meine Bitte, eine Hausaufgabensituation auf Video aufzunehmen, positiv reagiert hatte und das Video mitgebracht hatte. Es gelang uns an diesem Beispiel, einige wichtige Punkte zu diskutieren, die ich im Folgenden als Gespräch wiedergeben möchte: Danke für das Video. Läuft es bei den Rechenübungen meistens so ab? Ja. Hm. Ich möchte gerne mit Ihnen schauen, wie wir an diesem Ablauf etwas ändern könnten. Wie geht es Ihnen, wenn Sie sich das Video anschauen? Es ist mir peinlich. Ich müsste das hinkriegen. Es ist Ihnen peinlich – was genau finden Sie peinlich? Dass Bernhard mir so auf der Nase herumtanzt Hm. Diese Übungen sind wichtig. Ich will nicht, dass er noch mehr den Anschluss verpasst. 106 Und doch macht er nicht mit, weigert sich und Sie fühlen sich machtlos. Ja, wirklich machtlos. Beim Anschauen des Videos hatte ich das Gefühl, dass Bernhard es geniesst, wenn er die Macht hat, wenn er Sie dazu bringt, aufzugeben. Ja, er hatte am Ende für kurze Zeit wirklich einen zufriedenen Gesichtsausdruck. Ist ja auch schön, wenn man als Zehnjähriger die Kontrolle über die Mutter hat? (lächelt) Ja, das gefällt ihm. Und nicht nur über die Mutter. Kommt er auch sonst mit diesem Verhalten durch? Ja, die Lehrerin hat mir gesagt, dass er in der Schule immer frecher wird und sich kaum noch etwas sagen lässt. Er stört im Unterricht. Die anderen Kinder finden es lustig, was noch dazu beiträgt. Hm. Bernhard gewinnt ziemlich viel mit seinem Verhalten. Er muss die Übungen nicht machen, erlebt sich Ihnen und der Lehrerin gegenüber als mächtig und macht sich bei den Klassenkameraden beliebt. Ja. So betrachtet sind das einige Vorteile. Denen aber auch viele Nachteile gegenüber stehen. Klar. So lernt er das Rechnen nie…und es ist natürlich auch nicht positiv, wenn er lernt, sich auf diese Weise durchzusetzen. Ja. Und darf ich Sie noch etwas Persönliches fragen? Was denn? 107 Sie waren am Ende des Videos ziemlich wütend. Wie lange brauchen Sie danach, bis Sie sich wieder richtig auf Bernhard einlassen können – bis Sie wieder herzlich sein und ihn richtig annehmen können? Oha, erwischt. Das ist nicht einfach, oder? Nein. Ehrlich gesagt, ich habe manchmal ziemlich lange daran zu kauen. Letzte Woche war es besonders schlimm – Bernhard hatte mich eine doofe Kuh genannt. Ich habe zu meinem Mann gesagt, dass ich mich in solchen Situationen ab und zu sogar frage, ob ich ihn noch gern habe (fängt an zu weinen). Mein Gott, das habe ich mich wirklich gefragt. Es lastet sehr viel Druck auf Ihnen. Sie bemühen sich, nehmen sich Zeit und Bernhard trotzt und nennt Sie eine doofe Kuh. (Schluchzt) Ja, es ist wirklich eine grosse Anspannung. Unter der es Ihnen nicht mehr möglich ist, die Mutter zu sein, die Sie gerne sein möchten… Wie kann ich als Mutter so etwas denken? Darf ich Ihnen etwas sagen? Ja? Sie lieben Ihr Kind – diese Gedanken entstehen aus dem Druck heraus und aus der Wut, die Sie Bernhard gegenüber empfinden. Und wissen Sie was? Ich finde diese Wut durchaus berechtigt. Wirklich? Ja. Die Wut sagt Ihnen, dass Bernhards Verhalten ganz und gar nicht akzeptabel ist. 108 Ich weiss. Es ist nur – ich finde diese Dressur mit Strafen und diese ganze Gehorsamkeitserziehung einfach widerlich. Muss es denn auf Gehorsam hinauslaufen? Wie wäre es mit Respekt? Respekt? Ja, gegenseitigem Respekt. Würden Sie Bernhard als „doofe Kuh“ oder „blöden Kerl“ beschimpfen? Nein, sicher nicht! Warum sollte er das Recht haben, das mit Ihnen zu tun? Es geht nicht darum, dass er Erwachsenen gegenüber gehorsam ist. Aber spricht etwas dagegen, dass er Erwachsenen und ganz allgemein anderen Menschen gegenüber den gleichen Respekt zeigt, den er auch von Ihnen erhält? Nein, eigentlich nicht. Das gefällt mir, gegenseitiger Respekt. Sie nehmen sich Zeit, geben sich Mühe, ihm zu helfen, und erwarten, dass er diese Hilfe annimmt? Ja. Können wir das ganz konkret als Erwartung an Bernhard aufschreiben? (schreibt) Bernhard, wir werden jetzt 10 Minuten das 1 x 1 üben und ich will, dass du mitmachst und dir Mühe gibst. Sehr gut. Was tun Sie, wenn er sich weigert oder frech wird? Hm. Dann gibt es an diesem Tag kein TV und keine Computerspiele. Gut. Schreiben wir das auch noch auf. Ist das o.k. für Sie? 109 Ja. Es ist sicher besser, wenn er an einem Tag nicht vor der Glotze sitzt, als wenn ich den ganzen Nachmittag wütend auf ihn bin. Ja. Schauen wir uns noch einige wichtige Punkte an: Sagen Sie Bernhard in einem ruhigen Moment, dass Sie sich für diese Regel entschieden haben. Sie können ihm sagen, dass es Ihnen sehr wichtig ist, dass er in der Schule mitkommt und Sie diese Regel daher notwendig finden. Erinnern Sie ihn vor dem Lernen daran, was Sie von ihm erwarten. Wenn er sich nicht daran hält, können Sie ihn einmal daran erinnern, dann sagen Sie ihm einfach, dass TV und Computerspiele für heute gestrichen sind, stehen auf und gehen. Lassen Sie sich nicht auf eine Diskussion ein. Ist gut. Das wird mich einiges an Überwindung kosten. Ja, aber Sie werden es schaffen. Was mache ich, wenn er dann trotzdem sagt, dass er die Übung noch machen will? Dann sagen Sie ihm einfach, dass es für heute zu spät ist und er morgen gut mitmachen kann. Die Videoaufzeichnung vom ersten Tag zeigte folgenden Dialog: Mutter: Bernhard, wir fangen an. Du weisst, wie es läuft. Ich erwarte von dir, dass du dir diese zehn Minuten Mühe gibst und mitmachst. Bernhard: Mann Mami… Mutter: Ich möchte, dass du das sein lässt und mitmachst. 7 x 7 ? 110 Die Mutter sagt Bernhard noch einmal, was sie erwartet Bernhard: Das scheisst mich an! Die Mutter reagiert Mutter: Ist gut. Heute kein TV und keine konsequent Computerspiele. Bernhard: Ich mach ja schon mit. Mutter: Du mitmachen. kannst morgen Und lässt sich gut nicht mehr umstimmen Die Mutter steht auf und geht. Bernhard flucht und mault noch etwas herum. Es dauerte drei Tage, bis Bernhard merkte, dass es seine Mutter ernst meint. Danach war er bereit, sich Mühe zu geben. Die Lage entspannte sich, Bernhard verbesserte sich im Rechnen und die Beziehung zwischen Mutter und Kind wurde wieder herzlicher und lockerer. In der Schule besserte sich die Situation ebenfalls, nachdem die Lehrerin nach einem Gespräch mit der Mutter Bernhard öfter für gutes Mitmachen lobte und ihn bei ersten Anzeichen von aufsässigem Verhalten jeweils alleine an ein Pult setzte. Die Checkliste auf der nächsten Seite kann Ihnen dabei helfen, klarere Grenzen zu setzen: 111 Checkliste „Grenzen setzen“ Folgendes Verhalten stört mich: __________________________________________________ __________________________________________________ __________________________________________________ Ich erwarte von meinem Kind: __________________________________________________ __________________________________________________ __________________________________________________ Wenn es sich widersetzt, reagiere ich folgendermassen: __________________________________________________ __________________________________________________ __________________________________________________ o Ich habe mich mit meinem Partner abgesprochen – wir stehen beide dahinter und werden gleich reagieren o Wir haben unserem Kind mitgeteilt, dass diese Regel von jetzt an gültig ist o Wir sind bereit, den anfänglichen Widerstand und die Wut, die diese Regel bei unserem Kind vielleicht auslösen wird, auszuhalten und die Regel konsequent durchzusetzen 112 Regeln und Grenzen: Etwas Altmodisches? Sind Regeln altmodisch? Geht es ohne? Als Reaktion auf die autoritäre, auf Gehorsam ausgerichtete Erziehung entstand die anti-autoritäre Erziehung. Wie sich allerdings zeigte, ist eine Erziehung, die alles zulässt, für Kinder nicht förderlich und schafft viele Probleme. Kinder brauchen Wertschätzung und Liebe. Sie brauchen aber auch klare Grenzen, wenn sie sich zu gesunden Erwachsenen entwickeln sollen. Grenzen schränken ein Kind nicht nur ein, sie geben ihm auch Halt und Orientierung und gehören zu einer gesunden Erziehung dazu. Respekt im Umgang mit anderen und Freundlichkeit sind Werte, die wir neben Selbstbestimmung unseren Kindern auch heute vermitteln sollten – sie werden es sonst später schwer haben. Inzwischen gibt es sehr viel Forschung zu verschiedenen Erziehungsstilen. Dabei werden in Anlehnung an Baumrind (1968) meist vier Stile unterschieden (mehr dazu findet sich in Fuhrer, 2009; Schneewind & Böhmert 2009; Bornstein & Zlotnik, 2007). Eltern, die einen autoritativen Erziehungsstil pflegen, zeigen ihren Kindern viel Wertschätzung und Wärme. Sie akzeptieren das Kind so, wie es ist, und fördern seine Selbständigkeit und Autonomie. Sie reden offen mit ihren Kindern und handeln Regeln aus. Sie achten darauf, dass ihr Kind Regeln einhält, und sie überprüfen, wie sich ihr Kind verhält und wie es ihm in der Schule geht. Sie fordern von ihrem Kind, dass es sich anstrengt und bieten so viel Hilfe wie nötig und so wenig wie möglich. Eltern mit einem autoritären Erziehungsstil ist es in erster Linie wichtig, dass ihr Kind gehorcht. Sie üben viel Kontrolle aus und bieten dem Kind wenig Gelegenheit, eigene Entscheidungen zu treffen und Autonomie zu entwickeln. Sie fordern zu viel von 113 ihren Kindern, achten vor allem auf Leistung und strafen härter als Eltern mit einem autoritativen Erziehungsstil. Eltern mit einem permissiven Erziehungsstil sind sehr warmherzig und fürsorglich, setzen dem Kind aber kaum Grenzen. Sie fordern das Kind nicht und weisen es kaum zurecht, wenn es sich aggressiv verhält oder daneben benimmt. Permissive Eltern – oft auch als antiautoritäre Eltern bezeichnet – glauben, dass es einem Kind schadet, wenn man es einschränkt und ihm Regeln aufzwingt. Sie verhalten sich dem Kind gegenüber eher wie Freunde, als wie Eltern. Schliesslich gibt es noch Eltern, die ihrem Kind weder Wertschätzung zeigen, noch Grenzen aufzeigen. Sie vernachlässigen ihr Kind. Dieser Erziehungsstil ist der einzige, bei dem die Eltern keine Erziehungsvorstellungen haben und sich keine Gedanken darüber machen, was für das Kind gut ist. Oft sind Eltern, die diesen Erziehungsstil pflegen, völlig überfordert, psychisch krank oder kämpfen mit grossen Problemen und haben deshalb keine Ressourcen, um sich ihren Kindern zuzuwenden. In Seminaren und Beratungen bin ich praktisch nie auf Eltern gestossen, die einen vernachlässigenden Erziehungsstil pflegen – diese würden kaum die Motivation aufbringen, ein Seminar zu besuchen. Die meisten pflegten einen autoritativen Erziehungsstil, viele zeigen Anzeichen eines permissiven Erziehungsstils und eher wenige einen autoritären. Prof. Perrez, der sich seit vierzig Jahren mit Erziehung befasst, meint rückblickend, dass er zu Beginn seiner Karriere bei Erziehungstrainings vor allem auf Eltern stiess, die einen autoritären Erziehungsstil pflegten und es sein wichtigstes Anliegen war, dass die Eltern lernten, ihren Kindern mehr Wertschätzung zu zeigen. Heute sei die Situation umgekehrt: Er 114 treffe auf viele Eltern, die den Kindern sehr viel Wertschätzung zeigen, sich jedoch kaum getrauen, klare Grenzen aufzuzeigen und verbindliche Regeln aufzustellen. Heute sei es eher seine Aufgabe, Eltern zu vermitteln, dass auch Halt und Orientierung für Kinder wichtig seien und sie Eltern brauchen, die eine klare Struktur vorgeben und Grenzen aufzeigen. Die Forschung zeigt ein ganz klares Bild: Kinder, deren Eltern einen autoritativen Erziehungsstil zeigen, die also viel Wertschätzung zeigen, Selbständigkeit fördern und dennoch klare Strukturen und Regeln schaffen, entwickeln sich am besten. Sie zeigen auch die höchste schulische Kompetenz, strengen sich mehr an, entwickeln bessere Lernstrategien, haben mehr Ausdauer, können mit Misserfolgen besser umgehen und entwickeln mehr Selbstvertrauen (mehr dazu findet sich in Aunola, Stattin & Nurmi, 2000; Fuhrer, 2009; Spera, 2005; Schneewind, 2003;). Kinder, deren Eltern einen autoritären Erziehungsstil pflegen, haben nicht unbedingt schlechtere Noten. Sie entwickeln jedoch kaum Eigenmotivation, haben weniger Selbstvertrauen, gehen Herausforderungen aus Angst vor Versagen aus dem Weg und entwickeln weniger hilfreiche Strategien. Sie haben weniger Freude am Lernen, sind weniger neugierig und strengen sich eher aus Angst vor Strafe und Zurechtweisung an (mehr dazu findet sich in Aunola, Stattin & Nurmi, 2000; Bornstein und Zlotnik, 2007; Ginsburg und Bronstein, 1993; Gonzalez, Greenwood & Wenhsu, 2001; Lamborn, Mounts, Seinberg und Dornbusch, 1991). Kinder permissiver Eltern zeichnen sich meist dadurch aus, dass sie wenig Ausdauer haben, schlecht mit Stress und Frustrationen umgehen können, kaum hilfreiche Strategien entwickeln und unselbständig sind. In einer Studie von Rhumberger und seinen Mitarbeitern zeigte sich, dass Jugendliche, welche die Schule abbrachen, meistens von Eltern mit einem permissiven Erziehungsstil erzogen wurden (für weitere Informationen: 115 Bornstein und Zlotnik, 2007; Gonzalez, Greenwood & Wenhsu, 2001, Rhumberger, Ghatak, Poulos, Ritter und Dornbusch, 1990). Kinder, die vernachlässigt werden, schneiden – wie zu erwarten – am schlechtesten ab. Sie zeigen oft Entwicklungsdefizite, eine deutlich unterdurchschnittliche Leistungsfähigkeit und wenig Selbstvertrauen (mehr dazu: Liebenwein, 2008; Darling 1999, Kindler 2006). Die Ergebnisse der Untersuchungen zeigen durchweg, wie wichtig es ist, dass Kinder Eltern haben, die auf der einen Seite viel Wärme und Liebe zeigen, sich auf das Kind einlassen, sich Zeit nehmen und die Selbständigkeit des Kindes fördern, die auf der anderen Seite aber auch bereit sind, mit dem Kind Regeln auszuhandeln, Grenzen zu setzen, für eine klare Struktur zu sorgen und konsequent zu reagieren. Im ersten Teil des Kapitels Motivation haben Sie erfahren, wie Sie wertschätzend auf das Kind reagieren, es fördern und fordern können. Im zweiten Teil wurden Sie mit Möglichkeiten vertraut gemacht, Grenzen zu setzen. Wenn Sie möchten, können Sie sich etwas Zeit nehmen und sich fragen, woran Sie eher arbeiten sollten. Wie nehmen Sie sich selbst wahr? Wie empfinden Ihr Partner oder andere Personen, die Sie gut kennen, Ihre Erziehung? Was fällt Ihnen schwerer – Grenzen zu setzen oder Wertschätzung zu zeigen? Falls Sie mehr zu diesem Thema wissen möchten, könnten Sie die praktischen und leicht lesbaren Ratgeber „Freiheit in Grenzen“ von Klaus Schneewind und Beate Böhmert (2009) interessieren. Die Bücher enthalten eine DVD, auf der die Erziehungsstile sehr anschaulich dargestellt werden. Mehr Informationen finden Sie auch auf www.mit-kindernlernen.ch 116 Selbständigkeit Viele Eltern wünschen sich, dass ihre Kinder die Hausaufgaben ohne Hilfe erledigen und Prüfungen selbständig vorbereiten. Wie schnell dieses Ziel erreicht werden kann, hängt stark von Ihrem Kind ab. Insbesondere, wenn Ihr Kind Lernschwierigkeiten hat und überfordert ist, kann Selbständigkeit nur in kleinen Etappen erreicht werden. Dennoch sollte dieses Ziel unbedingt verfolgt werden, wie mehrere Studien zeigen. Untersuchungen von D’Ailly (2003), Gurland & Grolnik (2005), Grolnik, Ryan & Deci, (1991) sowie Pomeranz, Moorman und Litawack (2007) weisen darauf hin, dass es sich in mehrerer Hinsicht günstig auf die Kinder auswirkt, wenn Eltern die Selbständigkeit ihrer Kinder unterstützen. Die Forschungsergebnisse dieser Autoren zeigen, dass nicht nur die Motivation, das Interesse und die Leistungsorientierung der Kinder durch Hilfe in Richtung Selbständigkeit gefördert werden konnten, sondern auch die tatsächliche Leistungsfähigkeit der Kinder. Kinder, die „Hilfe zur Selbsthilfe“ erfahren, entwickeln zudem ein positiveres Selbstkonzept: Sie vertrauen mit der Zeit stärker auf ihre schulische Leistungsfähigkeit. Joussemet, Koestner, Lekes und Landry (2005) untersuchten, inwieweit Eltern ihre fünf Jahre alten Kinder in ihrer Autonomie unterstützen. Einige Jahre später, als die Kinder in der dritten Klasse waren, untersuchten sie die Kinder erneut. Es zeigte sich, dass die Kinder von Eltern, die ihre Kinder schon früh in ihrer Selbständigkeit unterstützten, sozial besser zurecht kamen und besser lesen konnten. 117 Es lohnt sich also, in die Selbständigkeit des Kindes zu investieren. Falls Sie bisher viel geholfen haben, sollten Sie jedoch auf keinen Fall jegliche Hilfe von heute auf morgen einstellen, um auf diese Weise Selbständigkeit zu erzwingen. Dieses Vorgehen würde Ihr Kind überfordern. Doch wie können Sie als Eltern eigenverantwortliches Lernen fördern? Antworten auf diese Frage finden Sie in diesem Kapitel. Schritt für Schritt mehr Selbständigkeit Üben Sie die Selbständigkeit zunächst mit einfacheren Arbeiten und mit den Lieblingsfächern Ihres Kindes. Mit wachsenden Fertigkeiten kann Ihr Kind immer mehr Verantwortung übernehmen. Einfache Arbeiten sind z.B.: Einen Hefteintrag rein schreiben Etwas ausmalen Den Arbeitsplatz vorbereiten Den Rucksack für den nächsten Tag mit Hilfe einer Checkliste selbst packen Schwieriger sind die üblichen Hausaufgaben. Diese werden aber von den meisten Lehrern so gestellt, dass es den Kindern möglich sein sollte, sie selbst zu erledigen. Am schwierigsten ist die Vorbereitung von Prüfungen. Auf Ihre Haltung kommt es an 118 Wenn Sie bei Ihrem Kind selbständiges Verhalten fördern möchten, ist es unbedingt notwendig, dass Ihre Haltung und Ihr Verhalten als Eltern mit diesem Ziel übereinstimmen. Das klingt logisch, ist aber nicht so einfach umzusetzen. Häufig wird unselbständiges Verhalten von den Eltern unbewusst belohnt und selbständiges Verhalten „bestraft“. Bestraft wird Selbständigkeit, wenn die Eltern mit dem vom Kind erzielten Resultat unzufrieden sind. Muss das Kind die Aufgaben nochmals erledigen oder längere Korrekturarbeiten über sich ergehen lassen, liegt es nicht fern, zu denken: „Wenn ich es alleine nicht gut genug mache, dann frage ich gleich um Hilfe und erspare mir den Ärger!“ Auch gut gemeinte Hilfe der Eltern oder eines Nachhilfelehrers kann ein Kind unselbständig machen. Stellt Ihr Kind fest, dass es sich durch Ihre Hilfe weniger anstrengen muss oder schneller fertig wird, wird es die Hilfe nur zu gern in Anspruch nehmen. Solche Hilfe ist zu bequem, um sie sich entgehen zu lassen. Von aussen betrachtet ist es ganz witzig zu sehen, wie Kinder darauf reagieren. Zwei Kostproben aus unserer Praxis: „Naja, meine Mutter erklärt es mir dann. Wir gehen einfach Seite für Seite durch und sie erklärt es und macht Beispiele. Sie ärgert sich dann immer, wenn sie merkt, dass ich gar nicht mehr zuhöre.“ „Also ehrlich gesagt, in der Schule passe ich nicht so auf. Frau Hegel, meine Nachhilfelehrerin, erklärt es eh viel besser.“ Es ist nicht leicht, aber als Eltern können Sie bei Ihrem Kind nur auf mehr Eigeninitiative hoffen, wenn Sie mit dem Resultat gelassen umgehen. Das Ziel „Selbständigkeit“ muss Ihnen wichtiger sein, als die zu hundert Prozent korrekte Erledigung der Hausaufgaben. 119 Sobald Sie diese Einstellung verinnerlicht haben, können Sie einiges tun, um selbständiges Arbeiten zu fördern. Loben Sie gezielt Selbständigkeit und Eigenverantwortlichkeit Ihr Kind wird sich eher um Selbständigkeit bemühen, wenn Sie ihm zeigen, dass selbständiges Arbeiten für Sie besonders wichtig ist. Bringen Sie Ihren Stolz darüber zum Ausdruck und ermutigen Sie Ihr Kind, so weiterzufahren oder eine Aufgabe alleine zu versuchen: „Jetzt bist du aber sehr weit alleine gekommen.“ „Schön machst du das, so habe ich nachher Zeit für ein Spiel.“ „Was meinst du, willst du die nächsten zwei Rechenaufgaben einmal alleine versuchen? Ich glaube, du kannst das.“ „Also dass du sogar diese schwierigen Aufgaben alleine kannst, hätte ich nicht gedacht!“ „Das ist doch nicht schlimm, wenn ein paar falsch sind. Mir ist es wichtiger, dass du es selbst versucht hast.“ Eine Veränderung kann zudem besser und schneller erzielt werden, wenn Sie den Lehrer am Elternabend über Ihr Vorhaben in Kenntnis setzen. Es ist hilfreich, wenn der Lehrer weiss, dass evtl. schlechter gelöste Hausaufgaben nicht auf mangelnde Motivation oder Probleme Ihres Kindes zurückzuführen sind, sondern auf weniger elterliche Hilfe – so wird er angemessen darauf reagieren können. Planen Sie mit Ihrem Kind 120 In unseren Beratungen verknüpfen wir das Ziel Eigenverantwortung in einem Gespräch mit positiven Gedanken und Gefühlen. Kinder gehören gerne zu den Grösseren, den Älteren und Erwachseneren und natürlich gehört es zum Älter- und Grösserwerden dazu, wie ein Erwachsener mehr Verantwortung zu übernehmen und etwas alleine zu tun. Die Kinder hören meist gespannt zu und sind mit uns einer Meinung: Sie sind gross genug, um selbständiger zu werden. Manche finden es sogar etwas „bubi“, sich noch bei allem von den Eltern helfen zu lassen. Wenn die Kinder grundsätzlich damit einverstanden sind, eigenständiger zu lernen, fragen wir sie, was sie sich alles zutrauen. Als Eltern können Sie beispielsweise jeweils am Nachmittag mit Ihrem Kind einen Hausaufgabenplan erstellen. Lassen Sie sich von Ihrem Kind erklären, was es alles erledigen muss und wie es dabei vorgehen wird. Das Kind kann die Hausaufgaben von einfach bis schwierig in eine Reihenfolge bringen und bei den einfacheren Aufgaben beginnen. Dann macht es solange weiter, bis die Aufgaben so schwer werden, dass es das Gefühl hat, Hilfe zu benötigen. Nun kann es Sie rufen. Auch an diesem Punkt können Sie zunächst zusammen mit Ihrem Kind überlegen, wie es alleine weitermachen könnte oder ob es lediglich eine kleine Hilfestellung benötigt. Falls Sie als Vater über Mittag zu Hause sind, wird sich Ihr Kind vielleicht freuen, wenn Sie sich Zeit nehmen, um mit ihm die Hausaufgaben zu planen. Wie Sie dabei vorgehen können, zeigt das folgende Fallbeispiel: Tobias (vierte Klasse) macht einen Hausaufgabenplan Der Vater von Tobias hilft seinem Sohn jeweils nach dem 121 Mittagessen, einen Lern- und Hausaufgabenplan zu erstellen. Dies hat sich als festes Ritual etabliert. Tobias geniesst es, dass sein Vater sich kurz Zeit für ihn nimmt, bevor er wieder zur Arbeit geht. Besonders gut gefällt ihm, wie ernst sein Vater ihn nimmt. Aus dem Planen hat sich im Laufe der Zeit fast ein kleines Spiel entwickelt: V: Machen wir den Plan? T : Ja, ich hole das Hausaufgabenheft. V: Was hast du alles auf? T: Ein Blatt mit Rechnen, von hier bis da Lesen und am Donnerstag habe ich noch ein Diktat, das ich vorbereiten muss. Ah ja und da im Heft muss ich noch einen schönen Titel malen. V: Gut, wann und mit was willst du denn anfangen? T: Um zwei möchte ich anfangen und ich glaube, ich mache zuerst Mathe. V: Gut zuerst Mathe. Wie lange brauchst du für das ganze Blatt? T: 20 Minuten? V: Es sind ziemlich viele Rechnungen und schau mal, gegen Ende werden sie sehr schwierig. T: Eine halbe Stunde? V: Wenn du schnell bist, ja. T: Dann mach ich mal zunächst bis hierhin, das schaff ich in zwanzig Minuten. Dann eine kurze Pause. 122 V: Ja, schreibe das mal auf, zwanzig Minuten rechnen, dann 5 Minuten Pause. Was kommt dann? T: Lesen. Das schaffe ich in einer Viertelstunde, ist ja nicht so viel. V: Gut, dann lesen und nochmals ein kurze Pause? T: Ich glaube, ich mache dann gleich noch den Titel. Dann brauche ich nicht unbedingt eine Pause. Dazu kann ich Musik hören – ist ja nicht kompliziert. V: Also, zuerst zwanzig Minuten rechnen, eine kleine Pause, dann lesen und den Titel machen. Dann ist es fast drei und es bleiben noch das Diktat und der Rest der Rechnungen. T: Um drei möchte ich aber gerne zu Andreas. V: O.k. und wann machst du die Rechnungen und das Diktat? T: Die restlichen Rechnungen mache ich vor dem Abendessen und korrigiere sie mit dem Taschenrechner. V: Ja, das finde ich in Ordnung. Es wäre aber schon gut, wenn du das Diktat auch schon einmal übst. Was meinst du? T: Wenn es sein muss. V: Kompromiss? Ich diktiere dir nach dem Abendessen das halbe Diktat und wir schauen uns genau an, wie du dir die schwierigen Wörter in diesem Teil merken könntest? T: Also gut, Kompromiss. Tobias und sein Vater beachten in dieser kurzen Sequenz einige Prinzipien, die sich positiv auf Tobias Arbeitsverhalten 123 auswirken. Der Vater hält Tobias dazu an, ein sauberes Hausaufgabenheft zu führen, damit sie gemeinsam planen können. Bei der Planung achten Sohn und Vater darauf, Pausen und Freizeit einzuplanen, mit den Fächern abzuwechseln und etwas Einfacheres (Heftgestaltung) an eine Stelle zu setzen, wo mit einem Konzentrationsabfall zu rechnen ist. Das Diktat, das erst in drei Tagen geprüft wird, wird schon jetzt ein erstes Mal angeschaut. Der Vater lässt Tobias die Zeit einschätzen, die er für die einzelnen Aufgaben brauchen wird. Dabei korrigiert er ihn, wenn er sich überschätzt. Dies hilft Tobias, realistisches Planen zu lernen und motiviert ihn, sich an die von ihm selbst vorgegebenen Zeiten zu halten. Tobias wird zu Selbstständigkeit angehalten. Dies merkt man z.B. daran, dass er bereits selbst vorschlägt, die Rechnungen mit dem Taschenrechner zu korrigieren. Das wichtigste Prinzip verwirklicht der Vater aber im Umgang mit seinem Sohn. Er nimmt ihn ernst, begegnet ihm mit Wertschätzung und lässt ihn mitbestimmen. Dabei ist er auch zu Kompromissen bereit. In diesem Fallbeispiel wird ein wichtiger Punkt sichtbar: Selbstverantwortung können wir nur erwarten, wenn wir bereit sind, dem Kind ein gewisses Mass an Vertrauen entgegenzubringen und ihm auch erlauben, einiges selbst zu bestimmen. Manchmal heisst dies als Eltern nachzugeben, Kompromisse einzugehen oder darüber hinwegzusehen, dass nicht alle Hausaufgaben erledigt werden. Bieten Sie Hilfe zur Selbsthilfe 124 Beim Planen kann mit dem Kind bereits ausgehandelt werden, was es ganz alleine tun kann. Häufig reicht es aus, sich ab und zu die Frage zu stellen: Was könnte mein Kind auf welche Weise selbst erledigen? Kinder können zum Beispiel: Die Rechnungen mit dem Taschenrechner selbst korrigieren. Das Diktat auf Tonband sprechen und die Eltern lediglich die Korrekturen vornehmen lassen. Selbst überlegen, wie sie sich schwierige Wörter merken könnten. Den Text lesen und den Eltern erzählen, was sie gelesen haben, damit diese sie auf Passagen aufmerksam machen können, die sie nicht richtig verstanden haben. Bei anderen Aufgaben sind einige Kinder ohne Hilfe zunächst überfordert. Dann gilt es, als Eltern Hilfe zur Selbsthilfe zu leisten. Hilfe zur Selbsthilfe unterscheidet sich dabei wesentlich von reiner fachlicher Hilfe, wie sie Kinder nicht nur von Eltern, sondern leider häufig auch von Nachhilfelehrern erhalten. Fachliches Helfen zeichnet sich dadurch aus, dass die Eltern ihrem Kind den Stoff direkt vermitteln, ihm also Themengebiete erklären, den Text einfacher wiedergeben, Beispiele machen etc. Diese Art der Hilfestellung ist geeignet, um bei der nächsten Prüfung eine gute Note zu erzielen. Sie hilft dem Kind nicht, selbständiger zu werden und effiziente Lernstrategien zu entwickeln – es wird lediglich der jeweilige Stoff vermittelt. Nachhilfe, die nur aus fachlicher Hilfe besteht, kann „abhängig“ machen und dem Kind das Gefühl vermitteln, darauf angewiesen zu sein. Bei der Wahl eines Nachhilfelehrers sollten Sie deshalb unbedingt darauf achten, ob die Nachhilfe vermehrte Selbständigkeit zum Ziel hat, oder ob es im Gegenteil 125 darum geht, dass Ihr Kind durch die Nachhilfe und nur durch die Nachhilfe gute Noten erzielt. Sinn macht rein fachliche Nachhilfe dann, wenn ganz konkret auf ein bestimmtes Ziel wie eine Abschlussprüfung hin gelernt wird und es nicht darum geht, selbständiges Arbeitsverhalten zu lernen. Ansonsten sollte Eigenverantwortung und der Erwerb guter Lern- und Arbeitsstrategien immer ein Bestandteil der Nachhilfe sein. Hilfe zur Selbsthilfe ist darauf ausgerichtet, dem Kind Strategien zu vermitteln. Als Eltern aktivieren Sie Ihr Kind durch Fragen, um ein überlegtes Vorgehen beim Lernen und dem Lösen von Hausaufgaben zu fördern. Sie achten grundsätzlich darauf, Ihr Kind bei den Hausaufgaben zu unterstützen, ohne diese für das Kind zu erledigen. Schauen wir uns Schritt für Schritt an, wie die typische fachliche Hilfe () aussieht, die Kinder eher abhängig von weiterer Hilfe macht, und wie Hilfe zur Selbsthilfe () aussehen könnte: Sie geben dem Kind ein Beispiel Sie regen das Kind dazu an, ein Beispiel zu finden: o Kannst du dazu ein Beispiel geben? o Hast du so etwas schon einmal gesehen / gehört / erlebt? Sie erklären einen Text in einfacheren Worten. Sie helfen dem Kind, sich den Originaltext zu erarbeiten: o Was könnte das bedeuten? o Was hast du bisher verstanden? 126 o Findest du irgendwo im Text eine Erklärung, was dieses Wort bedeuten könnte? o Lies einmal weiter, auch wenn du nicht gleich alles verstehst. Vielleicht wird es später oder beim zweiten Mal Lesen klarer. o Willst du das Wort im Wörterbuch nachschlagen? o Erklär mir doch mal, was du bisher gelesen hast Sie sagen dem Kind, wie es vorgehen soll Sie fragen das Kind, wie es vorgehen könnte: o Wie willst du den Stoff bis zur Prüfung einteilen? o Wie viel Zeit wirst du dafür brauchen? o Letztes Mal hast du die Stoffmenge ein wenig unterschätzt, weisst du noch? Wie könnest du darauf achten, dass das diesmal nicht passiert? o Was scheint dir das Wichtigste zu sein? o Wie könntest du dir das am besten merken? o Was davon könntest du ganz alleine machen? Wie soll ich dir bei den restlichen Aufgaben helfen? o Erklär mal, wie hast du die letzte Aufgabe gelöst? Gut. Hilft dir das bei dieser Aufgabe? o Was musst du denn genau herausfinden? Wie könntest du das angehen? Sie starten gleich mit der Vermittlung von Wissen Sie zeigen Ihrem Kind, wieviel es bereits weiss und wecken Interesse: 127 o Was weisst du bereits über die Eskimos, vielleicht kannst du dich noch an diesen Film erinnern? o Was weisst du noch aus dem Unterricht über dieses Thema? Sehr gut, fällt dir sonst noch etwas ein? o Was könnte dich an diesem Thema interessieren? Sie lösen mit dem Kind zusammen einige Beispiele der Hausaufgaben Sie zeigen dem Kind das Vorgehen anhand einiger Beispiele ausserhalb der eigentlichen Hausaufgaben, um zu verhindern, dass das Kind die Hilfe als zu bequem empfindet. Sie legen viel Gewicht auf ein gutes Ergebnis: Sie zeigen, dass Ihnen Interesse und selbständiges Arbeiten wichtiger sind: o Gut, so würde ich auch vorgehen. o Ich habe ja gar nicht gewusst, wie eklig so eine Mumifizierung war, die richtig interessanten Dinge haben wir natürlich, als ich jung war, nicht durchgenommen. o Schön, wie du das alles alleine machst. o Hättest du das gedacht? o Komm, erzähl mir doch, was du alles gelernt hast. Hilfe zur Selbsthilfe besteht also vorwiegend aus Fragen, die Ihr Kind dazu anregen, selbst zu überlegen, wie es: 128 Die Prüfungsvorbereitung planen soll Sich schwierige Dinge merken könnte Sich einen Text erarbeitet Wichtiges von Unwichtigem unterscheidet Bei Mathematikaufgaben vorgeht Ein wichtiges Instrument ist geduldiges Zuhören. Die schlichte Frage: Was hast du bisher gelernt? und darauf folgendes Zuhören hilft Ihrem Kind, sich kompetent zu fühlen und Selbstvertrauen zu entwickeln. Das Kind erklärt, ist der Lehrer, und Sie, die Eltern, hören zu und stellen Fragen. Nicht nur das: Ihr Kind lernt auch, Antworten zu formulieren, sein Wissen abzurufen und zu strukturieren und Wissenslücken selbst zu erkennen. Hilfe zur Selbsthilfe ist zunächst mühsamer und scheinbar weniger erfolgreich als fachliche Hilfe. Es dauert länger, bis sich ein Kind auf diese Weise bestimmte Inhalte erarbeitet hat, und zu Beginn werden Sie immer wieder versucht sein, ihm einfach zu sagen, wie es vorgehen soll. Aber: Die Mühe lohnt sich! Hilfe zur Selbsthilfe stellt eine wirksame Möglichkeit dar, Ihrem Kind nicht nur Inhalte, sondern auch Lernkompetenzen zu vermitteln, Hilflosigkeit und Abhängigkeit zu reduzieren und an deren Stelle eine von Selbständigkeit, Selbstvertrauen und Selbstbewusstsein geprägte Arbeitshaltung aufzubauen. Ihr wichtigstes Ziel beim Helfen sollte es sein, bei Ihrem Kind Interesse zu wecken, Lernkompetenzen aufzubauen und das Selbstvertrauen zu fördern. 129 Gedächtnis und Gehirn Wie unser Gehirn lernt In diesem Kapitel wollen wir uns dem Gehirn zuwenden. Wir befassen uns zunächst kurz mit seiner Funktionsweise, um dann etwas länger bei der Frage zu verweilen, wie Sie dieses Wissen nutzen können, um Ihrem Kind das Lernen zu erleichtern. Wenn Sie mehrere der Hilfen, die im zweiten Teil dieses Kapitels beschrieben werden, beachten, werden Sie feststellen, wie viel schneller sich Ihr Kind neuen Stoff merken und wie viel länger es diesen im Gedächtnis behalten kann. Unser Gehirn Unser Gehirn wiegt ca. 1.4kg. Es besteht aus ca. 100 Milliarden Nervenzellen, sogenannten Neuronen, die zwei Fähigkeiten aufweisen. Sie können: 1. Miteinander Verbindungen eingehen und 2. Informationen weitergeben Schauen wir uns ein solches Neuron an: 130 Wie wir anhand der Zeichnung sehen, besteht ein Neuron aus einem Zellkörper, mehreren Dendriten, einem Axon und Synapsen. Nervenzellen erhalten von anderen Nervenzellen Impulse und schicken, je nachdem, wie stark der eingehende Impuls war, selbst einen Impuls über ihr Axon an andere Neuronen weiter. Die Übertragung des Impulses von einer Nervenzelle zur nächsten findet an den Synapsen statt. Auch das wollen wir uns anhand eines Bildes ansehen. 131 Entlang des Axons wird ein elektrischer Impuls weitergeleitet, der an der Synapse zu einem Ausstoss von Stoffen führt, sogenannten Neurotransmittern. Werden genügend Neurotransmitter freigesetzt, entsteht ein weiterer elektrischer Impuls bei der Empfängerzelle. Werden hingegen nur wenige Neurotransmitter ausgeschüttet, passiert nichts – es wird also keine Information weitergegeben. Neuronen und Neuronengruppen sind Informationsträger. So können wir uns vereinfacht vorstellen, dass eine bestimmte Gruppe von Neuronen immer dann einen Impuls von sich gibt, wenn ein bestimmtes Wort vorliegt, beispielsweise „Storch“. Lesen oder hören wir das Wort Storch, wird die Neuronengruppe aktiviert – das Wort wird dadurch in unserem Gehirn repräsentiert. Genauso könnten wir umgekehrt, indem wir diese Neuronen durch einen kleinen Stromstoss aktivieren, bewirken, dass wir an einen Storch denken. Wenn wir lernen, werden Neuronen aktiviert, wobei jeweils bestimmte neuronale Netzwerke aktiviert werden, je nachdem, womit wir uns beschäftigen. So kann man jeweils in anderen Hirnregionen Aktivität feststellen, je nachdem, ob man jemandem die Aufgabe gibt, an Hunde, seinen Partner oder den Satz des Pytagoras zu denken. Wie lernt nun das Gehirn? Neues zu lernen heisst, vereinfacht gesagt, Assoziationen (Verknüpfungen / Verbindungen) herzustellen. Wenn wir Lesen lernen, müssen wir zwischen bestimmten Schriftzeichen und bestimmten Lauten eine Verbindung herstellen. Beim Rechnen müssen Assoziationen zwischen Aufgaben, Lösungswegen und Resultaten geknüpft werden. Wenn wir über etwas nachdenken, werden Neuronen netzwerkartig aktiviert und die gelernten Assoziationen werden nach und nach wieder verfügbar. Wenn ich Ihnen den Namen einer bekannten Persönlichkeit nenne, 132 z.B. Bill Clinton, werden automatisch Assoziationen zu diesem Namen verfügbar – Sie erinnern sich vielleicht an sein Gesicht, seine Stimme, Monika Lewinski, den Krieg in Jugoslawien, seine politischen Erfolge etc. Dabei werden zunächst diejenigen Informationen verfügbar, die assoziativ am stärksten mit dem Namen verknüpft sind. Im Gehirn werden Assoziationen hergestellt, indem zwischen einzelnen Neuronen Verknüpfungen entstehen. Damit dies geschehen kann, müssen die Neuronen, die für die beiden Inhalte stehen, gleichzeitig aktiviert werden. Stellen wir uns dazu vor, dass ein Kind mit Hilfe einer Bezugsperson den Buchstaben A einübt. Die Bezugsperson zeigt dem Kind den Buchstaben und spricht ihn gleichzeitig aus: Die Neuronen, die das A repräsentieren, und diejenigen, die für den dazugehörigen Laut stehen, werden im Gehirn des Kindes gleichzeitig aktiviert. Diese Neuronengruppen bilden nun untereinander neue Verbindungen. Wie wir bei unserem Beispiel mit Bill Clinton gesehen haben, gibt es Informationen, die stärker mit dem Namen assoziiert sind als andere – an diese erinnert man sich leichter und schneller. Als Grundregel können wir davon ausgehen, dass die Assoziation umso stärker wird, je öfter zwei Inhalte gleichzeitig aktiviert werden. So ist beispielsweise die Verbindung zwischen Bill Clinton und Monika Lewinski besonders stark, wenn Sie die Geschehnisse nicht nur in den Nachrichten verfolgt, sondern auch mit Ihren Freunden darüber gewitzelt und mit Ihrem Partner darüber geredet haben. Auf der Ebene der Neuronen wird die Verbindung verstärkt, indem mehr Verbindungen geknüpft werden, die einzelnen Synapsen mehr Botenstoffe ausschütten und mehr Synapsen entstehen: 133 Schwache Verbindung Starke Verbindung Bei einer starken Verbindung wird der Buchstabe A fest mit dem dazugehörigen Laut verknüpft. Die Verbindung ist stabiler und es würde länger dauern, bis sie ohne Wiederholung wieder vergessen wird. Indem der Laut und das Schriftzeichen immer wieder gemeinsam auftauchen, lernt unser Gehirn: Diese zwei Dinge gehören zusammen. Es stellt also über die Verknüpfung von Nervenzellen, die für diese Dinge stehen, eine Verbindung her. Diese wird mit jedem Übungsdurchgang stärker und damit resistenter gegen ein Vergessen. Wird eine Verbindung über längere Zeit nicht mehr benützt, wird sie schwächer – Vergessen setzt ein. Beim Lernen sollte unser Ziel darin bestehen, möglichst starke Assoziationen herzustellen und diese zu wiederholen, bevor sie vergessen werden. Unsere Denkkapazität ist beschränkt Unser Gehirn kann zwar eine Unmenge an Informationen speichern, es kann aber nur mit einer kleinen Menge an Information bewusst hantieren. 134 Mit Hilfe des Arbeitsgedächtnisses können wir Informationen bearbeiten, verknüpfen, verstehen und verändern. Die Kapazität dieses Gedächtnisses ist beschränkt und beträgt je nach Person ca. 5 bis 9 Einheiten (z.B. 5 bis 9 Buchstaben, Zahlen, Wörter etc.). Die Zeitspanne ist ebenfalls sehr kurz, die Information geht bereits nach einigen Sekunden wieder verloren oder wird durch neue Informationen überlagert. Damit sich stabile Verknüpfungen zwischen unseren Gehirnzellen bilden und wir die Information damit im Gedächtnis behalten können, muss damit gearbeitet werden – wir müssen darüber nachdenken, sie innerlich wiederholen, uns eine Vorstellung vom Inhalt machen und damit aktiv Assoziationen bilden. Nehmen wir an, Ihnen werden bei einer Hochzeitsfeier fünf neue Personen vorgestellt. Wenn Sie lediglich zuhören, werden Sie die meisten Namen gleich wieder vergessen. Sie müssen sich die Namen mehrmals in Gedanken aufsagen und die Personen dabei anschauen, damit Sie sich diese dauerhaft merken können. Dadurch werden die Neuronen, die diesen Namen repräsentieren und diejenigen, die für das Gesicht stehen, gemeinsam aktiviert und es können sich Verknüpfungen bilden. Je aktiver Sie zu den Namen Assoziationen herstellen, desto besser können Sie sich diese merken. Frau Messerli können Sie sich mit tausend Messern behangen vorstellen, sozusagen in einem Messerkleid. Frau Huber sieht zum Glück ähnlich aus, wie Ihre alte Nachbarin, die den gleichen Namen hatte, und Frau Schmid hat so kräftige Arme, dass man sie sich gut mit einem Hammer in der Hand vorstellen kann. Indem Sie auf diese Weise verschiedene Assoziationen bilden, werden im Gehirn weitere Bereiche mit dem Namen verknüpft. Nach einem Monat, wenn Sie die Person wieder treffen, ist die Verknüpfung zwischen dem Namen und dem Gesicht vielleicht zu schwach. Zum Glück ist die Verknüpfung zwischen den 135 starken Armen und dem Schmiedehammer stark genug, um Ihnen auf die Sprünge zu helfen. Nicht nur die Kapazität, sondern auch die Konzentrationsfähigkeit ist begrenzt. Die Zeitspanne, in der ein Kind seine Aufmerksamkeit gezielt auf einen Lerninhalt richten kann, dehnt sich mit dem Alter aus. Die durchschnittliche Konzentrationsspanne beträgt nach Keller (2005) bei: 5 bis 7 Jährigen 15 Minuten 7 bis 10 Jährigen 20 Minuten 10 bis 12 Jährigen 25 Minuten 12 bis 15 Jährigen 30 Minuten Lernen Eltern mit Ihren Kindern deutlich länger, ohne eine Pause einzuschalten, ermüden die Kinder und erleben das Lernen als anstrengend und unangenehm. Dieses letzte Gefühl beim Aufhören verknüpft sich mit dem Lernen und baut beim Kind die Überzeugung auf, dass Lernen mühsam ist. Die Eltern reagieren genervt und empfinden das Kind als unkonzentriert. Wird die Pause erst zu diesem Zeitpunkt gemacht, dauert es zudem viel länger, bis das Kind wieder erholt ist. Ich empfehle Ihnen, sogar etwas unter den angegebenen Zeiten zu bleiben und danach eine kurze Pause zu machen. Die Pausen zwischen einzelnen kurzen Lernabschnitten sollten lediglich 5 Minuten betragen. Erst nach zwei Lernphasen sollte eine grössere Pause von 20 bis 30 Minuten erfolgen. Die kurze Pause darf Ihr Kind nicht aus dem Lernrhythmus bringen. Sie sollte beispielsweise nicht mit dem Lesen von Comics oder Fernsehschauen verbracht werden, sondern mit etwas, das problemlos wieder unterbrochen werden kann. 136 Kurze Pausen könnten beispielsweise für kleine, entspannende Aktivitäten genutzt werden wie: Aus dem Fenster schauen Bewusst ein oder zwei Lieblingslieder hören Sich über etwas Belangloses unterhalten Kurz die Augen zumachen und vor sich hinträumen Etwas trinken Die längere Pause von 20 bis 30 Minuten dient der Erholung und darf mit einer für das Kind angenehmen und etwas länger dauernden Tätigkeit (Gesellschaftsspiel, Puzzle, Spaziergang etc.) verbracht werden. Auch hier sollte darauf geachtet werden, dass es dem Kind nicht zu schwer fällt, die Pause wieder zu unterbrechen. Ungünstig wäre z.B., das Kind fernsehen zu lassen und ihm das Versprechen abzunehmen, das Gerät nach einer halben Stunde wieder auszuschalten - so viel Disziplin bringen auch wir Erwachsene selten auf. Nicht alle Verknüpfungen werden gleich gut gelernt Unser Gehirn entstand im Laufe der Evolution und ist darauf ausgerichtet, bestimmte Inhalte besonders gut zu lernen. So: Können wir uns Gesichter besonders gut merken Lernen wir sehr schnell, vor Schlangen und Spinnen Angst zu haben Lernen wir Neues besonders gut Lernen wir Inhalte besser, die starke Gefühle auslösen Unser Gehirn ist darauf ausgelegt, Wichtiges zu behalten Wichtige Informationen können wir uns besser merken. Dummerweise können wir unserem Gehirn nicht direkt sagen, 137 was für uns wichtig ist. Vielmehr wird dies durch unbewusste Prozesse gesteuert, wobei die Regel gilt: Informationen, die bei uns Emotionen auslösen oder neu sind, werden als wichtig beurteilt. Diese können wir uns besser merken. So wissen Sie vielleicht noch, wo Sie sich am 11. September 2001 befanden und mit wem Sie zusammen waren, als Sie vom Terroranschlag auf das World-Trade-Center gehört oder die Geschehnisse am TV mitverfolgt haben. An den 10. Oktober 2001 werden Sie sich kaum erinnern können (es sei denn, es handelt sich dabei um Ihren Geburtstag oder Hochzeitstag). Vielleicht haben Sie auch festgestellt, dass Sie sich die Namen von Menschen, die Sie besonders attraktiv oder höchst unsympathisch finden, besser merken können. Und höchstwahrscheinlich ist Ihnen schon aufgefallen, wie viel besser wir uns Dinge merken können, die uns interessieren. Was bedeutet dies nun für das Lernen in der Schule? Zum einen, dass es eine grosse Hilfe ist, wenn es uns gelingt, ein Kind für den Schulstoff zu interessieren und dafür zu sorgen, dass das Lernen positiv erlebt wird. Diesen Aspekt haben wir bereits im Kapitel Motivation ausführlich beschrieben. Zum anderen bedeutet diese Erkenntnis aber auch, dass häufiges Wiederholen und eine aktive Verarbeitung ein unverzichtbarer Bestandteil des Lernens ist. Der Grundschulstoff ist nicht dazu geeignet, starke Gefühle auszulösen. Wenn es gilt, das Einmaleins, Rechtschreibregeln oder die Buchstaben auswendig zu lernen, so ist dies Knochenarbeit. Es ist schlicht unmöglich, bei allen Kindern so 138 viel Begeisterung zu wecken, dass das Einspeichern mit Leichtigkeit vonstatten geht. Hier endet unser kleiner Einblick in die Funktionsweise des Gehirns. Wenn Sie gerne mehr darüber erfahren möchten, empfehle ich Ihnen das spannende Buch „Lernen“ des Psychiaters Manfred Spitzer. Aus den Erkenntnissen können wir nun einige Schlussfolgerungen ziehen, die uns beim Lernen behilflich sind. Tipps zum besseren Behalten Wiederholungen verstärken die Verknüpfungen in unserem Gehirn Wiederholungen helfen uns, Wichtiges zu behalten. Wirksames Wiederholen ist jedoch keine einfache Sache und wird meist falsch angegangen. Ihr Kind wird viel schneller Fortschritte erzielen, wenn Sie beim Üben die folgende Regel beachten: Der neu zu lernende Stoff muss möglichst lange im Arbeitsgedächtnis gehalten und dort bearbeitet werden, damit er dauerhaft abgespeichert wird. Was bedeutet dies in der Praxis? Schauen wir uns zwei Beispiele an: Rahel soll das Einmaleins auswendig lernen. Dazu stellt ihr die Mutter die folgenden Übungsaufgaben: 139 5x5= 3x9= 4x4= 6x7= 2x2= 9x7= Dieser Übungsaufbau ist ungünstig. Rahel wird jedes Resultat mühsam ausrechnen und meist gleich im Anschluss wieder vergessen. Ein solcher Ablauf ist sinnvoll, um zu testen, wie gut Rahel die Reihen kann und nicht, um sie zu lernen. Rahel könnte sich die Ergebnisse zu den einzelnen Rechnungen besser merken, wenn die Mutter beim Üben folgendermassen vorgeht: 2x7= 4x7= 2x7= 3x7= 4x7= 3x7= Hier werden drei Aufgaben zur 7er Reihe immer wieder abgefragt. Rahel wird sich die Ergebnisse merken können, da die gleichen Rechnungen so kurz hintereinander auftauchen, dass die Ergebnisse im Arbeitsspeicher noch vorhanden sind, wenn die Rechnung wiederholt wird. Mit der Zeit gelangen diese ins Langzeitgedächtnis. Am nächsten Tag wird sich zeigen, dass Rahel mit der ungünstigen Übungsserie kaum Fortschritte erzielt hat, während sie sich beim günstigen Übungsaufbau an 2 oder sogar alle 3 Rechnungen erinnern kann. Ein Übungsaufbau, der mit kleinen Portionen arbeitet, vervielfacht den Übungserfolg. Noch besser wird sich Rahel die Rechnungen merken können, wenn ihre Mutter ihr jeweils etwas Zeit gibt, das Resultat zu wiederholen. Mutter: 3 x 7 ? Rahel: 21 Mutter: Genau, 3 x 7 gibt 21 140 Kurze Pause, in der Rahel das Ergebnis in Gedanken nochmals wiederholen kann Mutter: 2 x 7 ? Unterschiedliche Verknüpfungen erhöhen die Chance, dass etwas in Erinnerung bleibt Je besser es uns gelingt, bereits vorhandenes Wissen mit neuem Wissen zu verknüpfen und je mehr Verknüpfungen wir herstellen, desto grösser ist die Chance, dass uns irgendeine der hergestellten Verbindungen dabei hilft, uns an das neu Gelernte zu erinnern. Im Gehirn wurden schlicht mehr Verbindungen hergestellt. In der Praxis bedeutet dies, dass uns Beispiele und die Informationsaufnahme über mehrere Sinne dabei helfen können, das Gelernte besser zu behalten. Besonders deutlich wird dies beim Lernen von Texten. Nehmen wir an, Rahel muss im Sachunterricht verschiedene Texte zum Thema „der Mensch“ lesen und lernen. Sie könnte nun einfach die Texte 5 Mal durchlesen. Diese Strategie wäre höchst ungünstig, da diese passive Lernweise kaum dazu geeignet ist, Verknüpfungen herzustellen. Günstig wäre hingegen der folgende Übungsaufbau: 1. Rahel liest den Text zweimal langsam durch 2. Sie erzählt ihrer Mutter Abschnitt für Abschnitt, was sie gelesen hat 3. Rahel und ihre Mutter zeichnen ein Mind-Map (spezielle Lerntechnik, bei der Lerninhalte in einem Netzwerk 141 dargestellt werden) zum Text, suchen Beispiele oder überlegen sich, welche Fragen der Lehrer stellen könnte. Durch diese Lernstrategie geht Rahel aktiv mit dem Stoff um. Sie liest nicht nur, sondern erzählt auch, was sie gelesen hat. Dadurch werden andere Bereiche des Gehirns aktiviert und Rahel lernt, den Stoff in eigenen Worten wiederzugeben und Gelerntes zu formulieren. Die Mutter kann überprüfen, in wieweit ihre Tochter das Gelernte verstanden hat, und kann so mit ihr zusammen die Lücken füllen. Durch das Zeichnen eines Mind Maps, die Suche von Beispielen oder die Überlegung, welche Fragen dazu gestellt werden könnten, werden wiederum neue Assoziationen gebildet, die die Einspeicherung verbessern. Das Nachdenken über den Text fördert eine vertiefte Verarbeitung. Rahel lernt bei diesem Vorgehen, dass Lernen ein aktiver Prozess ist und wird mit der Zeit fähig sein, die Strategien selbst anzuwenden. Tipp: Eine Anleitung zur Erstellung von Mind-Maps finden Sie auf unserer Webseite www.mit-kindern-lernen.ch Abwechslung erhöht die Merkleistung Es gibt mittlerweile mehrere Studien, die zeigen, dass durch einen häufigen Wechsel der Lerninhalte die Aufmerksamkeit erhöht und die Merkleistung verbessert werden kann. Die Kinder ermüden dadurch weniger schnell. In der Praxis bedeutet dies: Statt montags zu lesen, dienstags die Rechenprüfung vorzubereiten und mittwochs das Diktat zu üben, ist es besser, jeden Tag 10 Minuten zu lesen und die Vorbereitung der Rechenprüfung und des Diktats auf drei Tage zu verteilen. 142 Die Konzentration wird zusätzlich erhöht, wenn zwischen jedem Block eine kurze Pause eingeschaltet wird. Die Hausaufgaben und die Zusatzübung könnten in der folgenden Reihenfolge gemacht werden: 15 Minuten Rechnen üben Mini-Pause Den Hefteintrag gestalten Die Lesehausaufgaben erledigen Längere Pause Die Rechenhausaufgaben machen Können statt Wissen: Warum es so wichtig ist, die Grundlagen zu beherrschen Wichtiges Grundlagenwissen wie das Einspluseins, das Einmaleins, die Zuordnung von Buchstaben zu Lauten und Rechtschreibregeln sollten wir nicht nur wissen, sondern können. Solange wir beispielsweise die Rechtschreibregeln nur bewusst wissen, sie aber nicht automatisch anwenden, sie also nicht können, haben wir mit vielen Nachteilen zu kämpfen. Wenn wir bewusst darüber nachdenken müssen: Sind wir langsamer Benötigen wir sehr viel mehr Denkkapazität Machen wir Fehler, sobald wir unsere Aufmerksamkeit auf etwas anderes richten Sie merken, dass Ihr Kind wichtiges Wissen noch nicht genügend kann, wenn Sie sich sagen hören: „Eigentlich kann er es ja, aber er ist einfach zu langsam“ 143 „Beim Üben zu Hause konnte sie die Grossschreibregeln noch, aber beim Aufsatz hat sie wieder alles falsch geschrieben“ Wie wir im ersten Teil dieses Kapitels gesehen haben, ist die Kapazität unseres Arbeitsgedächtnisses sehr beschränkt. Wir können nur über sehr weniges gleichzeitig bewusst nachdenken. So wird ein Kind, das die Gross- und Kleinschreibregeln gerade lernt, diese anwenden können, wenn es bewusst darüber nachdenkt. Richtet es seine Aufmerksamkeit im Aufsatz jedoch auf den Inhalt oder ist es beim Diktat nervös und wird dadurch abgelenkt, tauchen die Fehler wieder auf. Dank moderner Technologien können wir mittlerweile beobachten, was in unserem Gehirn passiert, wenn wir nachdenken. Die folgenden zwei Abbildungen sind dabei besonders spannend: Auf der linken Zeichnung sehen wir die Aktivität (dunkler, gestrichelter Bereich) des Gehirns einer Person, die eine Aufgabe löst, die sie verstanden, aber noch nicht gut geübt hat. 144 Auf der rechten Seite sehen wir, was passiert, wenn die Aufgabe gut eingeübt ist: Es lässt sich viel weniger Aktivität feststellen! Diese Person wäre nun in der Lage, die frei gewordene Kapazität für eine weitere Aufgabe zu verwenden. Wissen Sie noch, wie es war, als Sie autofahren gelernt haben? Wie schwierig es war, an alles zu denken: Die Kupplung und das Gaspedal bedienen, schalten, in den Rückspiegel schauen, auf die Verkehrszeichen achten etc. Bei Ihnen liegt die Prüfung vielleicht schon länger zurück und Sie haben inzwischen einige Jahre geübt. Sie können autofahren – Sie wissen nicht nur, was Sie tun müssen, sondern können es ohne nachzudenken. Die freigewordene Kapazität steht Ihnen frei, um sich während des Fahrens mit Ihrem Partner zu unterhalten oder Radio zu hören. Es ist für Ihr Kind ein grosser Vorteil, wenn es die Grundfertigkeiten in den Fächern Lesen, Schreiben und Rechnen soweit automatisiert hat, dass es sie im Schlaf anwenden kann – so wird immer wieder genügend Kapazität frei, um einen weiteren Schritt bewusst einzuüben. Wir haben zu schnell das Gefühl, dass ein Kind etwas beherrscht, nur weil es die Regel bewusst anwenden kann („das hast du verstanden, gehen wir weiter“). Im Übungsteil zu den einzelnen Fächern finden Sie deshalb Anleitungen, die Ihrem Kind helfen sollen, das Gelernte soweit einzutrainieren, dass eine Automatisierung stattfindet. Allgemein lässt sich sagen, dass unser Gehirn über Beispiele lernt. Es braucht zu jeder Regel viele, viele Beispiele, um diese zu automatisieren. Der Lohn dafür ist, dass wir die Regel mit der Zeit verinnerlichen und nicht mehr bewusst darüber nachdenken müssen. Rechtzeitiges Wiederholen spart Arbeit 145 Leider vergessen wir Gelerntes auch wieder. Damit dies nicht geschieht, muss repetiert werden. Normalerweise repetieren wir zu spät. Das muss ich auch bei mir selbst immer wieder feststellen. Ich lese lieber zunächst alles einmal durch, bevor ich mich an die mühsame Arbeit des Wiederholens wage. Beim Lernen für die Lizentiatsprüfung habe ich mir aber die Mühe gemacht, rechtzeitig zu repetieren, und habe dadurch sehr viel Zeit eingespart. Rechtzeitig heisst beim Lesen, einen Abschnitt zu lesen, sich zu erzählen, was man gelesen hat, die Lücken zu füllen und dann einen weiteren Abschnitt zu lesen. Am nächsten Tag wird kurz kontrolliert, ob man sich noch an alles erinnern kann. Allfällige Lücken werden aufgefrischt, bevor weitergegangen wird. Wenn Sie mit Ihrem Kind lernen, ist es günstig, jeweils zunächst das Gelernte vom Vortag aufzufrischen, bevor weitergegangen wird. Ende der Woche sollte nur wiederholt und nichts Neues geübt werden. Je länger bis zum Wiederholen gewartet wird, desto mehr wird in der Zwischenzeit vergessen und muss neu gelernt werden. Das verdeutlicht die folgende Grafik: Wissen Wissen Zeit Zeit Der erste Schüler repetiert erst nach längerer Zeit und muss bei jedem Durchgang sehr vieles wieder neu lernen (gestrichelte Linien). Er wird frustriert sein, weil er fast alles wieder vergessen hat und scheinbar nichts hängen geblieben ist. Der zweite 146 Schüler braucht nur einen Bruchteil der Zeit für die Repetition. Er wird denken: „kann ich, kann ich, weiss ich noch, ah ja, das muss ich nochmals anschauen, kann ich, kann ich.“ Er wird das Wiederholen als weniger lästig empfinden und im Endeffekt sehr viel weniger Zeit damit verbringen. Beim Wiederholen ist es eine grosse Hilfe, wenn Sie einen Zettelkasten verwenden. Wiederholen mit dem Zettelkasten Müssen Inhalte auswendig gelernt werden, wie das Einspluseins, Einsminuseins, Einmaleins und Einsdurcheins, die Buchstaben oder Vokabeln, stellt das Zettelkastensystem von Leitner eine effiziente und wirksame Methode dar. Der Zettelkasten ist eine längliche Box mit 5 nach hinten grösser werdenden Fächern, die Sie selber anfertigen (Schuhschachtel, etc.), oder in einer Papeterie kaufen können. Zusätzlich zum Zettelkasten benötigen Sie DIN A7 Karteikarten, auf die Sie die Rechnungen oder Vokabeln schreiben, mit denen Ihr Kind Schwierigkeiten hat. Als Eltern haben Sie oft eine schönere Handschrift als Ihr Kind. In diesem Fall könnten Sie Ihrem Kind die Arbeit des Schreibens abnehmen und ihm so auch das Gefühl geben, dass sie wirklich als Team arbeiten. Eine schöne Handschrift ist wichtig, um sich das Schriftbild merken zu können. Schreiben Sie auf die Vorderseite der Karte die Rechnung (z.B. 6 x 6), das deutsche Wort oder den Buchstaben und auf die Rückseite die Lösung. 147 Wie wird der Zettelkasten verwendet? Rahels Mutter möchte mit ihrer Tochter das kleine Einmaleins lernen. Sie ist sich bewusst, dass Lernen in kleinen Portionen und regelmässiges Repetieren wichtig sind, um Fortschritte zu erzielen, und benutzt für das Lernen den Zettelkasten. So geht sie dabei vor: Am Montag übt die Mutter mit Rahel die ersten vier Rechnungen der Zweierreihe: 1 x 2 / 2 x 2 / 3 x 2 und 4 x 2. Sie schreibt die Rechnungen in klarer und grosser Schrift auf Karteikarten und übt diese mit Rahel ein, bis sie die Resultate nach 5 Minuten für alle vier Rechnungen in Windeseile aufsagen kann. Sie legt die 4 Kärtchen ins erste Fach. Am Dienstag wiederholt die Mutter zunächst diese vier Rechnungen. Drei davon kann Rahel aus dem Ärmel schütteln. Diese wandern ins zweite Fach. Bei der Aufgabe 4 x 2 muss Rahel hingegen überlegen. Die Mutter nimmt deshalb nur drei neue Rechnungen hinzu: 5 x 2, 6 x 2 und 7 x 2, da sie ihre Tochter nicht überfordern und die Übungszeit von 10 Minuten nicht überschreiten möchte. Rahel kann nach 8 Minuten alle vier Rechnungen einwandfrei und die Mutter legt sie ins erste Fach. Am Mittwoch werden zunächst die Rechnungen, die sich im zweiten Fach befinden wiederholt, dann die vom ersten Fach. Rahel kann sie alle und sie wandern je ein Fach weiter. Die Mutter nimmt drei neue Rechnungen hinzu: 8 x 2, 9 x 2 und die erste Rechnung der 3er Reihe - 2 x 3. Nachdem Rahel auch diese Rechnungen kann, werden sie ins erste Fach gelegt. Am Donnerstag werden zunächst die Rechnungen vom dritten, zweiten und ersten Fach in dieser Reihenfolge repetiert. Die gut 148 gekonnten wandern ein Fach weiter. Bei zwei Rechnungen musste Rahel überlegen. Diese wandern zurück ins erste Fach. Da das Repetieren bereits 3 Minuten in Anspruch genommen hat, nimmt die Mutter zu den zwei nicht gekonnten nur eine neue Rechnung hinzu: 3 x 3. Am Freitag hat Rahel Pause. Am Samstag und Sonntag repetiert die Mutter nur das bisher Gelernte, wobei die ersten Rechnungen im fünften Fach landen. Diese werden vorerst nicht mehr wiederholt. Durch das Wiederholen am Wochenende befindet sich am Montag der zweiten Woche nur noch eine Rechnung im ersten Fach. Die Mutter kann nun drei neue Rechnungen hinzunehmen: 4 x 3, 5 x 3 und 6 x 3. Bis zum Ende der Woche kann Rahel die 2er und die 3er Reihe bereits sehr gut. Am Wochenende werden alle Rechnungen repetiert, auch diejenigen, die sich im letzten Fach befinden. Nicht gekonnte wandern wieder ins erste Fach. Die Rechnungen aus dem fünften Fach, die Rahel beim Wiederholen sehr gut kann, werden aus dem Zettelkasten herausgenommen und mit einem Gummiband zur Seite gelegt. Diese werden erst in einigen Wochen wiederholt. Rahel und ihre Mutter üben weiter. Nach vier Wochen kann Rahel bereits die 2er, die 3er, die 4er und die 5er Reihe. Sie freut sich sehr über ihre Fortschritte. In der fünften Woche repetiert die Mutter nochmals alle Rechnungen, die bereits mit dem Zettelkasten gelernt wurden, durcheinander, dabei kommen 5 wieder ins erste Fach. Die anderen kann Rahel und sie werden zur Seite gelegt. 149 Die Mutter von Rahel verwendet den Zettelkasten sehr gewinnbringend. Sie achtet auf mehrere Dinge, die das Lernen mit diesem System erfolgreich machen: Sie beginnt jeweils zuerst mit dem Wiederholen Sie nimmt immer nur so viele neue Rechnungen, dass die Übungszeit von 10 Minuten nicht überschritten wird Sie legt die Rechnungen vom fünften Fach zur Seite, wenn Rahel diese kann, und verhindert so, dass der Zettelkasten immer voller wird Sie repetiert nach längerer Zeit wieder alle bisher gelernten Rechnungen Das Lernen mit dem Zettelkasten kann aber auch ineffizient sein. Die häufigsten Fehler, die beim Lernen mit diesem System gemacht werden, sind die folgenden: Der Zettelkasten ist überfüllt Viele SchülerInnen und Eltern beginnen mit einem vollen Zettelkasten oder füllen diesen nach und nach immer mehr auf. Je mehr Lernkarten sich im Zettelkasten befinden, desto länger dauert es jedoch, bis eine Karte wiederholt wird. Das Lernen in kleinen Portionen, die genügend oft wiederholt werden, entfällt und damit auch der wichtigste Vorteil des Systems. Achten Sie darauf, dass sich in den ersten 4 Fächern nie mehr als 15 Lernkarten befinden. Sobald sich mehr Karten darin befinden, sollten Sie einen Tag einlegen, an dem Sie nur wiederholen und keine neuen Karten hinzunehmen. Der Zettelkasten wird nur unregelmässig benutzt Der Zettelkasten ist nur dann sinnvoll, wenn regelmässig damit gearbeitet wird. Wird jede Woche einmal für eine Stunde geübt, 150 führt auch der Zettelkasten nicht dazu, dass rechtzeitig wiederholt wird. Das Kind schreibt die Karten selbst Dies ist vor allem dann ein Problem, wenn das Kind über kein schönes Schriftbild verfügt. Die kraklige Schrift lässt sich viel schlechter einprägen. Jugendliche bitte ich oft, ihre Zettelkästen ins Lerntraining mitzubringen. Diese sind oft nicht nur hoffnungslos überfüllt, es finden sich darauf auch viele Fehler. Bei einem Jungen, der sehr schlecht in Englisch war, befand sich fast auf jeder dritten Lernkarte ein Schreibfehler. Hier ist es hilfreich, wenn Sie sich als Eltern auch den Zettelkasten eines älteren Kindes von Zeit zu Zeit ansehen und überprüfen, ob es ihn richtig nutzt. Das Üben mit dem Zettelkasten bringt mehrere Vorteile mit sich: Sie machen die Fortschritte für Ihr Kind sichtbar und ermöglichen ihm so Erfolgserlebnisse. Nicht beherrschte Lerninhalte werden so häufig wiederholt, bis Ihr Kind sie kann Überflüssiges Wiederholen von bereits gelerntem Material bleibt erspart! Unnötiger Übungsaufwand wird somit vermieden. Durch das sinnvolle Wiederholen kann das Kind das Gelernte dauerhaft behalten. Die Kärtchen können, nachdem sie aus dem Zettelkasten entfernt wurden, jederzeit wieder hervorgenommen und erneut wiederholt werden. Artikel zu weiteren Lernstrategien und Videos zu den Gedächtnistipps finden Sie auf unserer Webseite www.mitkindern-lernen.ch 151 Wenden wir uns nun den einzelnen Fächern zu. In den folgenden Kapiteln erfahren Sie, wie Sie Ihrem Kind bei Rechen-, Lese- und Rechtschreibschwierigkeiten unter die Arme greifen können. Rechnen lernen in einfachen Schritten Wie entstehen Rechenschwierigkeiten? Manche Kinder weisen spezifische Schwächen im Bereich Rechnen auf Kinder starten mit ganz unterschiedlichen Bedingungen in die Schulzeit. Sie sind unterschiedlich intelligent und weisen unterschiedliche Begabungen im Bereich Rechnen auf. So konnte die Forschung zeigen, dass Rechenschwächen durch ein ganzes Ursachenbündel entstehen. Neben psychischen, sozialen und emotionalen Ursachen spielt die Vererbung eine bedeutende Rolle (mehr dazu in Simon & Grünke, 2010). Je nach Ausgangslage hat es ein Kind zu Beginn in der Schule leichter oder schwerer. Es wird zu wenig geübt, um die Grundfertigkeiten zu automatisieren Rechenprobleme werden besonders gravierend, wenn zu einer geringen Begabung mangelnde Übung hinzukommt und sich Lücken bilden. Dies rächt sich später bei vielen weiteren Aufgabentypen. Hat ein Kind das Plusrechnen im Zehnerraum nicht verstanden oder nie soweit geübt, dass es diese Rechnungen aus dem Gedächtnis sicher und schnell abrufen kann, so hat dies negative Auswirkungen auf seine Leistung beim Lösen von Plusrechnungen im Hunderterraum, schriftlichen Additionen, schriftlichen Multiplikationen etc. 152 Kinder, die Schwächen aufweisen, sollten unbedingt mehr üben als ihre Klassenkameraden. Meist geschieht das genaue Gegenteil. Schon im Unterricht sind diese Kinder langsamer und lösen deshalb weniger Übungsaufgaben. Beim mündlichen Rechnen passen sie weniger auf oder verlieren den Anschluss. Die Hausaufgaben fallen ihnen schwerer als anderen Kindern und beanspruchen mehr Zeit – entsprechend oft geben die Kinder früher auf und schreiben bei ihren Klassenkameraden ab. Zu einem Mangel an Übung haben auch diverse Bildungsreformen beigetragen. Im Laufe der Zeit hat sich die Schule vom Einpauken relativ sinnfreien Materials wegbewegt. Heute soll vor allem begriffen und verstanden werden. Diese Richtungsänderung war wichtig und sinnvoll. Dabei wurde jedoch Folgendes ausser acht gelassen: Lernen heisst begreifen und verstehen – damit diese Prozesse möglich sind, ist aber ein Auswendiglernen und Trainieren von Basiswissen und grundlegenden Fertigkeiten notwendig! Wer das Lesen von Buchstaben nicht soweit automatisiert hat, dass das Erkennen schnell und praktisch fehlerfrei abläuft, kann einen Text nicht verstehen. Wer ständig überlegen muss, wie bestimmte Verben einer Fremdsprache konjugiert werden, kann sich kaum auf den Sinn einer Unterhaltung konzentrieren und niemand würde von einem Pianisten erwarten, dass er ein Stück von Mozart oder Beethoven interpretieren kann, wenn er beim Lesen der Noten unsicher ist. Ähnlich verhält es sich beim Rechnen. Gute und kreative Leistungen sind nur möglich, wenn Grundfertigkeiten bis zur Automatisierung geübt werden und praktisch ohne bewusstes Nachdenken eingesetzt werden können. 153 Auswendiglernen und Automatisieren stehen also nicht im Widerspruch zu Verstehen und kreativen Leistungen, vielmehr sind sie deren Voraussetzung! Die Schwierigkeiten Ihres Kindes könnten durch ungünstiges Lernmaterial und ungenügende Übungsmöglichkeiten bei grundlegenden Fertigkeiten entstanden sein. Sie merken dies insbesondere daran, dass Ihr Kind zu langsam ist. Die Übungen in diesem Kapitel legen Wert auf eine ausreichende Automatisierung und werden Ihrem Kind dabei helfen, schneller zu werden und die grundlegenden Fertigkeiten soweit einzuüben, dass es sich bei komplexeren Aufgaben weniger schnell überfordert fühlt. Unwirksames und fehlerhaftes Üben Rechenschwierigkeiten nehmen zu, wenn auf unwirksame oder ungünstige Weise geübt wird. Gerade beim Rechnenlernen ist es besonders schwierig, effektiv zu üben. Wenn ein Kind in diesem Bereich eine Schwäche hat, können viele Fehler gemacht werden – doch woher sollen Eltern wissen, worauf geachtet werden sollte? Die folgende Aufzählung wird Ihnen helfen, die häufigsten Fehler zu vermeiden. Es wird jeweils für die nächste Prüfung gelernt Meist lernen Eltern mit ihren Kindern für die jeweils nächste Prüfung. Fällt einem Kind das Rechnen seit längerer Zeit schwer, wird es aber wahrscheinlich Lücken aufweisen, die weiter zurückliegen. Schauen wir uns an, was dann passiert: 154 Florian hat nächste Woche eine Mathematikprüfung. Kernthema ist das schriftliche Multiplizieren. Florians Vater hat seinem Sohn einige Blätter mit Übungsaufgaben erstellt, damit sein Sohn dieses Mal „endlich eine gute Note nach Hause bringt“. Obwohl Florian die ganze Woche über jeden Abend eine halbe Stunde übt, schreibt er in der Prüfung wieder eine ungenügende Note. Der Vater versteht die Welt nicht mehr. Sie haben doch so viel geübt. Der Vater äusserte in der Beratung sein Unverständnis und seine Enttäuschung über die Leistung des Sohnes, insbesondere aber auch darüber, wie wenig das viele Üben für die letzte Prüfung gebracht hat. Im Rechentest zeigte sich, weshalb die Übungsblätter des Vaters für Florian nicht hilfreich waren. Sein Sohn konnte zwar die für das schriftliche Multiplizieren notwendigen Rechenschritte, hatte jedoch grosse Mühe beim Einspluseins und Einmaleins. Ob wir schnell und sicher schriftlich multiplizieren können, hängt davon ab, ob wir diese grundlegenden Fertigkeiten beherrschen. Bei Florian zeigte sich beim Lösen von schriftlichen Multiplikationsaufgaben (235 x 25), dass er für das Addieren im letzten Rechenschritt teilweise noch die Finger benutzte und beim kleinen Einmaleins hochaddierte („5 mal 5 gibt, hm… 5, 10, 15, 20, 25). Florian beherrschte die Reihen nicht. Konnte Florian zu Hause mit Hilfe dieser zeitraubenden Strategien die Rechnungen noch lösen, war dies aufgrund des Zeitdrucks in der Prüfung nicht mehr möglich. Mit dem Vater wurde deshalb vereinbart, mit seinem Kind zunächst das Addieren im Zehnerraum und das Einmaleins zu üben. Florian machte wieder Fortschritte und machte seit langem wieder einmal die Erfahrung: „Hey, ich kann’s!“ 155 Weitere schriftliche Multiplikationen hätten Florian nicht geholfen, da er die Rechenprozedur verstanden hat, ihm jedoch das notwendige Vorwissen fehlt. Wird an der falschen Stelle geübt, sind Fortschritte kaum möglich. Wo Sie genau beginnen sollten, erfahren Sie durch die Lückenanalyse in diesem Kapitel. Fehlstrategien werden nicht erkannt und bleiben bestehen Fortschritte können auch ausbleiben, weil Kinder Fehlstrategien benutzen, die von Eltern und Lehrern nicht erkannt werden. Die beiden häufigsten Fehlstrategien sind das Hoch- und Runterzählen beim Addieren und Subtrahieren sowie das Hochaddieren beim Multiplizieren. Manche Kinder benutzen beim Zählen gut sichtbar die Finger, andere haben gelernt, ihre Hilfsstrategien zu verbergen und drücken kaum sichtbar die Finger gegen die Pultplatte oder zählen innerlich. Diese Strategien verschwinden mit der Zeit bei den meisten Kindern wieder. Einige Kinder jedoch behalten sie bei. Sie reagieren bei Plus- und Minusrechnungen automatisch mit Zählen und erreichen auf diese Weise mit der Zeit eine beachtliche Geschwindigkeit. Die Strategie versagt, sobald der Zehnerraum verlassen wird – nun werden die Kinder langsamer als ihre Klassenkameraden, die die Ergebnisse aus dem Gedächtnis abrufen. Um den Kindern zu helfen, müssen wir deshalb beim Üben darauf achten, dass sie ihre Fehlstrategien aufgeben. Schauen wir uns dazu das Beispiel von Jonas an: Er rechnet noch vorwiegend mit den Fingern. Mit dieser Strategie ist er zu 156 langsam. Kinder, die gut rechnen können, merken sich Rechnungen und die dazugehörigen Resultate. Jonas Mutter liess ihren Sohn dreimal pro Woche eine halbe Stunde ein Arbeitsblatt lösen. Da die Aufgaben schriftlich waren, griff Jonas immer auf seine Zählstrategie zurück. Wir wollten aber, dass Jonas lernt, sich die Resultate zu merken, ohne dabei zu zählen. Wir überlegten uns, wie wir Jonas dabei helfen könnten, seine gut eingeübte Strategie zugunsten einer neuen, hilfreicheren aufzugeben, und nutzten eine bewährte Methode, die in vielen Büchern zum Thema Rechenschwäche beschrieben wird (z.B. in Born und Oehler, 2008; Jansen und Streit, 2006). Bei dieser Methode wird dem Kind das Zählen verunmöglicht, indem man ihm keine Zeit dazu lässt: F.G.: Jonas: F.G.: Jonas: F.G.: Jonas: F.G.: Jonas: F.G.: Jonas: F.G.: Jonas, schau mal, ich habe hier drei Rechnungen auf Kärtchen geschrieben. Vorne die Rechnung, hinten die Lösung. Ich möchte, dass du mir einfach die Resultate sagst, die du bereits auswendig weisst – du brauchst nicht zu zählen. Wenn du es nicht weisst, dann drehe ich die Karte einfach um und zeige dir das Resultat. Alles o.k.? Also, 3 + 4? ... (wirkt angestrengt) Nicht anstrengen! Schau, es gibt 7 (kurze Pause). Machen wir das gleich noch mal: 3 + 4? (möchte mit Zählen beginnen) 7 (kurze Pause). Komm wir versuchen es nochmals. 3 +4? 7 Sehr gut. 3 + 4 ? 7 Gut, jetzt nehme ich eine neue dazu, 2 + 6 ? ... Schau, es gibt 8…. 2 + 6 ? 157 Jonas: F.G.: Jonas: F.G.: 8! Gut, 3 + 4 ? (Wie aus der Pistole geschossen) 7! Bravo! Jonas gelang es auf diese Weise, sich innert 5 Minuten vier Rechnungen zu merken und die Ergebnisse aus dem Gedächtnis abzurufen. Er war stolz auf seinen Erfolg und erklärte sich bereit, mit seiner Mutter jeden Abend vor dem Schlafengehen zwei bis drei neue Rechnungen zu lernen und die bisherigen zu repetieren. Da es lediglich 45 Plusrechnungen im Zehnerraum gibt, war Jonas nach einigen Wochen schneller als seine Klassenkameraden und rechnete von da an ausgesprochen gern. Jonas sollte erkennen, dass er erfolgreicher ist, wenn er sich die Resultate zu den Rechnungen merkt. Sobald Bedingungen geschaffen wurden, die es Jonas erleichterten, die richtige Strategie anzuwenden, waren Fortschritte wieder möglich. Falsche Rechenprozeduren werden nicht erkannt Erfolgreiches Üben wird geradezu unmöglich, wenn Kinder falsche Rechenprozeduren verwenden. Manchmal übersehen Eltern und Lehrer, wie Kinder auf ihre Ergebnisse kommen. Sie gehen davon aus, dass es sich bei Fehlern um Flüchtigkeitsfehler handelt. Vielfach benutzen Kinder aber systematisch falsche Rechenregeln. Doch, wie erkennt man, wie ein Kind auf seine Ergebnisse kommt? Die Lösung für dieses Problem ist erstaunlich einfach: Sie müssen nur wissen, was im Kopf Ihres Kindes vorgeht, wenn es rechnet. Sagen Sie ihm, es solle alles, was es denkt, aussprechen, und fragen Sie Ihr Kind immer wieder, wie es beim Rechnen vorgeht. 158 Simons Mutter wunderte sich darüber, dass ihr Sohn keine Fortschritte beim Addieren von zweistelligen Zahlen machte. Bisher war er ein guter und schneller Rechner, aber im Hunderterraum mit Zehnerübergang (z.B. 19 + 28) machte er plötzlich viele Fehler, die sich auch durch Übung nicht reduzieren liessen. Wir liessen Simon einige Aufgaben lösen und baten ihn darum, beim Rechnen laut zu denken. Schnell wurde deutlich, warum die vielen zusätzlichen Arbeitsblätter nutzlos waren. Simon hatte nicht verstanden, wie er die Zahlen zusammenzählen musste. Er addierte eine Rechnung wie 19 + 28, indem er die Zehner und Einer in willkürlicher Reihenfolge zusammenrechnete: 1 + 8 = 9 und 9 + 2 = 11, ergibt 20. Das Beispiel zeigt, dass Simon nicht simple Flüchtigkeitsfehler macht, sondern Fehler mit System. Er hatte die richtige Folge der Rechenschritte noch nicht verinnerlicht. Die Übungsblätter waren dadurch eher schädlich – Simon repetierte mit diesen Blättern immer wieder eine falsche Schrittfolge. Wir vermittelten Simon daher zunächst mittels geeigneten Anschauungsmaterials den Unterschied zwischen Zehnern und Einern und gingen zu mündlichen Übungen über, die wir in den folgenden Etappen durchführten: 1. Die Mutter löste laut einige Aufgaben und Simon wiederholte sie. 2. Danach löste Simon einige Aufgaben, wobei er laut dachte. Die Mutter achtete darauf, dass er immer die richtigen Rechenschritte anwandte. 3. Simon gestaltete sich ein Blatt, auf dem er die Rechenschritte anhand eines Beispiels aufschrieb. 4. Schlussendlich löste er zunächst anhand dieses Blattes und schliesslich ohne Hilfe die Übungsblätter alleine. 159 Macht Ihr Kind keine Fortschritte, lohnt es sich, die Methode des lauten Denkens einzusetzen. Auf diese Weise wird deutlich, ob Ihr Kind Flüchtigkeitsfehler macht oder falsche Rechenschritte verwendet. Emotionale Probleme aufgrund der Schwierigkeiten Weist das Kind eine Schwäche im Fach Rechnen auf, kommen zu mangelhaftem und falschem Üben mit der Zeit meist emotionale Probleme hinzu, die das Problem verfestigen und verschlimmern. Kinder mit Schwierigkeiten bräuchten mehr: Lob Ermutigung Positive Erlebnisse Erfolge Beweise, dass sich Anstrengung auszahlt Und weniger: Kritik Enttäuschungen Misserfolge Negative Reaktionen anderer Normalerweise ist das Gegenteil der Fall. Das Kind befindet sich in einer Negativspirale, die Probleme verschlimmern sich. 160 Günstige und ungünstige Entwicklung Das folgende Schema zeigt eine günstige Entwicklung. Das Kind bringt eine natürliche Begabung mit sich. Es erlebt sich als kompetent und übt deswegen gerne. Da es dem Unterricht folgen kann, sind die Übungen jeweils genau auf den bisherigen Wissensstand zugeschnitten – es übt an der richtigen Stelle. Die erlebten Erfolge verstärken den positiven Bezug zum Fach Rechnen. Das Kind bringt eine hohe Begabung mit Es übt gerne und oft Es übt jeweils an der richtigen Stelle, weil es die bisherigen Schritte beherrscht Es erlebt Rechnen aufgrund der Erfolge als angenehm und baut eine positive Beziehung zu diesem Fach auf 161 Kinder mit Rechenschwächen geraten dagegen oft in einen Teufelskreis. Die anfängliche Schwäche führt dazu, dass das Kind weniger übt. Mit der Zeit bilden sich Lücken – der aktuelle Schulstoff baut auf mangelndem Vorwissen auf und das Kind übt an der falschen Stelle. Die erlebten Misserfolge lassen das Fach immer unangenehmer werden. Das Kind erlebt sich als unbegabt und versucht, dem Rechnen aus dem Weg zu gehen: Das Kind hat eine Schwäche im Fach Rechnen Es übt deshalb weniger - Lücken entstehen Ungünstige Übungen an der falschen Stelle oder Fehlstrategien erschweren Fortschritte Es erlebt Rechnen aufgrund der Misserfolge als Belastung und versucht, das Üben zu vermeiden 162 Diese Entwicklung ist kein unabwendbares Schicksal. Das nächste Beispiel zeigt, was möglich ist, wenn richtig reagiert wird. Das Kind hat zwar eine Rechenschwäche, Eltern und Lehrer erkennen diese jedoch früh und reagieren mit wirksamen Zusatzübungen. Das Kind ist durch diese Zusatzübungen in der Lage, in der Schule mitzuhalten – Lücken werden verhindert und das Kind übt jeweils an der richtigen Stelle. Durch die Übungen, die sich am Wissensstand des Kindes orientieren, die unterstützende Beziehung der Eltern und den günstigen Aufbau der Übungen werden trotz der Schwäche Erfolge erzielt. Das Kind gewinnt an Selbstvertrauen – die Rechenstunden werden wieder angenehmer: Das Kind hat eine Schwäche im Fach Rechnen Eltern und Kind üben deshalb etwas mehr Sie üben aufgrund der Lückenanalyse an der richtigen Stelle mit wirksamen Übungen Das Kind erlebt Erfolge und macht Fortschritte - es erlebt sich als kompetent und ist bereit, sich anzustrengen Ein Kind mit einer Schwäche wird nie so gut rechnen können wie ein rechenbegabtes Kind. Wird jedoch richtig reagiert, kann es seine Schwäche zu einem Grossteil wettmachen. 163 Lückenanalyse: Wo beginnen die Schwierigkeiten? Wenden wir uns also der Frage zu, wie Sie als Eltern feststellen können, wo Ihr Kind Lücken aufweist. Die in diesem Teil beschriebene Lückenanalyse soll Ihnen als Eltern helfen, die Lücken zu erkennen, um diese mit den dazugehörigen Übungen zu schliessen. Sie finden zunächst eine allgemeine Beschreibung des Tests, dann jeweils die einzelnen Testaufgaben und die Übungen. Und so gehen Sie vor Die Lückenanalyse führt Sie Schritt für Schritt durch den Stoff der Grundrechenarten. Wenn Ihr Kind die Aufgaben eines Schritts zügig lösen kann, gehen Sie einen Schritt weiter (konkretere Angaben, was zügig heisst, finden Sie bei den einzelnen Testaufgaben). Ist dies nicht der Fall, brechen Sie den Test ab und üben mit Ihrem Kind diesen Schritt, bis er ausreichend automatisiert ist. Dann nehmen Sie den Test wieder hervor und fahren mit dem nächsten Schritt fort. Es kann in seltenen Fällen vorkommen, dass ein Kind nur bei bestimmten Stellen Mühe hat, während es bei einem darauf folgenden Punkt keine Probleme aufweist - beispielsweise können beim Addieren Schwierigkeiten auftreten, beim Multiplizieren hingegen nicht. Oft finden sich bei solchen isolierten Lücken Ereignisse, die das Kind zu diesem Zeitpunkt von der Schule abgelenkt haben, wie z.B. ein Umzug oder ein längerer krankheitsbedingter Schulausfall. Die Lückenanalyse ist keine Prüfung Viele Kinder mit Mathematikproblemen reagieren gestresst, wenn sie mit prüfungsähnlichen Tests konfrontiert werden. Sie fürchten sich vor weiteren Misserfolgen. Damit die 164 Lückenanalyse nicht als Prüfungssituation erlebt wird, bereiten wir Kinder in unserer Praxis folgendermassen auf die Analyse vor: „Also Stefanie, du hast ja vorhin gesagt, dass du gerne besser im Rechnen sein möchtest. Damit wir gut vorwärts kommen, werden wir zuerst schauen, was du kannst und was dir noch Mühe macht. Ich werde dir ein paar Rechenaufgaben stellen, aber ich möchte nicht, dass du dir zu viel Mühe gibst.“ Um Ihrem Kind die Angst zu nehmen, ist es günstig, bei den einfacheren Tests anzufangen, auch wenn Sie wissen, dass diese kein Problem darstellen. So erlebt Ihr Kind Erfolge und Sie können ihm zeigen, was es bereits kann. Der Test wird als weniger belastend erlebt, wenn Sie ihn abbrechen, sobald die ersten Schwierigkeiten sichtbar werden. Bevor Sie mit den Übungen beginnen ist es motivierend, wenn Sie Ihrem Kind verdeutlichen, was es kann und was jetzt geübt werden soll. Nehmen wir an, beim Subtrahieren im Zehnerraum werden erste Schwierigkeiten deutlich. An dieser Stelle reagieren wir folgendermassen: „O.k. hören wir hier auf. Das Plusrechnen bis zehn kannst du schon sehr gut und die Übung mit den Legos hast du problemlos gekonnt. Ich denke, wir beginnen gleich mit dem Üben von Minusrechnungen bis zehn. Die sind ein bisschen schwieriger, aber ich bin mir sicher, dass du das bald so gut kannst wie das Plusrechnen.“ An dieser Stelle zeigen wir dem Kind, wie wir üben werden und achten darauf, dass es einen ersten Erfolg erlebt. Dann fragen wir es, ob es bereit wäre, jeden Tag 10 bis 15 Minuten auf diese Weise zu üben. 165 Automatisierung und flexible Anwendung: Wie stehen sie zueinander? Durch die Automatisierung wird – wie wir im Kapitel zum Gehirn gesehen haben – Kapazität frei, die dem Kind die Möglichkeit gibt, sich dem Verstehen des Aufgabentyps zuzuwenden. Es ist deshalb sinnvoll, zunächst Ergebnisse bzw. Rechenwege zu automatisieren, bevor eine Anwendung im Rahmen verschiedener Aufgabentypen geübt wird. Zur Automatisierung eignen sich Aufgaben, die: Immer gleich oder zumindest ähnlich aussehen Immer das gleiche oder ein ähnliches Vorgehen verlangen Keine ablenkenden Informationen enthalten Sich oft wiederholen Zur Flexibilisierung eignen sich hingegen Aufgaben, die: Unterschiedlich aussehen Unterschiedliche Vorgehensweisen ermöglichen Vom Kind fordern, dass es die wichtigen Informationen herausfiltert Viele moderne Schulbücher, wie beispielsweise das Zahlenbuch, bieten fast nur Aufgaben des zweiten Typs. Sie merken das daran, dass Sie fast auf jeder neuen Seite zunächst überlegen müssen, was zu tun ist. Die Aufgabentypen sind vielfältig und abwechslungsreich, die Lösungswege unterschiedlich, die relevanten Informationen müssen gesucht werden. Begabteren Kindern bereitet dieser ständige Wechsel der Anforderungen sehr viel Spass – Kinder mit Rechenschwierigkeiten reagieren hingegen verwirrt und frustriert. Kaum haben sie verstanden, was sie tun müssen, und beginnen, sich etwas sicherer zu fühlen, wird wieder etwas anderes verlangt. 166 Wenn Ihr Kind Mühe hat, braucht es mehr Aufgaben des ersten Typs. Da das Zahlenbuch und andere neue Rechenbücher zur Flexibilisierung bestens geeignet sind, habe ich mich deshalb in diesem Buch vollständig auf Aufgaben zum Verständnis und zur Automatisierung der Grundfertigkeiten konzentriert. Diese helfen Ihrem Kind dabei, sich die Basisfertigkeiten zu erarbeiten, schneller zu werden und sich sicherer zu fühlen. Arbeiten Sie zunächst bei jedem Rechenschritt an der Automatisierung. Helfen Sie dann Ihrem Kind anhand der Aufgaben im Schulbuch sein Wissen flexibel anzuwenden. Lückenanalyse: Überblick Test Untertest 1 Untertest 2 Untertest 3 Untertest 4 Untertest 5 Untertest 6 Untertest 7 Untertest 8 Inhalt Zahlen- und Mengenverständnis Verständnis der natürlichen Zahlenfolge Addieren im Zehnerraum Subtrahieren im Zehnerraum Addieren und Subtrahieren im 20er / 100er Raum ohne Zehnerübergang Addieren und Subtrahieren mit Zehnerübergang Multiplikation und Division – das kleine Einmaleins und Einsdurcheins Schriftliches Rechnen 167 Für jede Lücke die richtige Übung Untertest 1: Zahlen- und Mengenverständnis Das Erste, was sich ein Kind im Fach Mathematik erarbeiten muss, ist ein grundlegendes Verständnis von Zahlen und Mengen. Es muss die Zahlen von 1 bis 10 kennen und einer bestimmten Menge von Objekten eine Zahl zuordnen können. Kleine Mengen bis 4 sollte es ohne zu zählen auf einen Blick erfassen können. Um zu überprüfen, ob Ihr Kind ein Mengen- und Zahlenverständnis aufgebaut hat, eignet sich ein einfacher Test, den Sie beispielsweise mit Klötzchen oder Legosteinen durchführen können. Lassen Sie Ihr Kind zunächst eine von Ihnen vorgegebene Anzahl Legosteine legen. Die Anweisung an das Kind lautet: „Lege mir 3, 7, 5 Legosteine.“ Der nächste Test ist schon etwas schwieriger. Sie legen eine kleine Anzahl Legosteine in eine Reihe, ohne dass Ihr Kind Sie dabei beobachten kann. Dann decken Sie die Steine auf und fragen, wie viele es sind. Grössere Mengen sollte es richtig abzählen können. Testaufgaben: Lege mir 3, 9, 5 Legosteine Wie viele Legosteine sind das (4, 2, 3)? Wie viele Legosteine sind das (9, 7, 8, 6)? 168 Mein Kind war in der Lage: □ Die richtige Anzahl Legosteine zu legen □ Eine Menge bis 4 Legosteine ohne Zählen richtig zu benennen □ Eine Menge von 6 bis 10 Legosteinen richtig abzuzählen Wenn Sie alle drei Kästchen ankreuzen konnten, können Sie weitergehen zum Untertest 2. Ansonsten hilft Ihnen die folgende Übung, das Mengenverständnis bei Ihrem Kind zu fördern: Übung zum Mengenverständnis Das Mengenverständnis kann spielerisch verbessert werden. Genau wie beim Untertest können Sie hier mit Legos oder Bauklötzen üben. Legen Sie eine bestimmte Anzahl Legosteine zwischen 1 und 10 vor Ihr Kind und fragen Sie es, wie viele Steine es vor sich hat. Um die Übung abwechslungsreich zu gestalten, können Sie das Legen der Legosteine zwischendurch auch Ihrem Kind überlassen und es dann sagen lassen, wie viele Steine es gelegt hat. In einem nächsten Schritt können Sie mit derselben Übung fortfahren, mit dem kleinen Unterschied, dass Ihr Kind beim Legen der Legosteine nicht mehr zusehen sollte. Sie können dazu wie beim Untertest ein Tuch verwenden oder sich abdrehen. Üben Sie so lange, bis Ihr Kind eine kleinere Menge bis zu 4 oder 5 Legosteinen auf einen Blick erfassen kann. 169 Untertest 2: Verständnis der natürlichen Zahlenfolge Die wissenschaftliche Forschung konnte zeigen, dass wir Zahlen in unserem Gedächtnis in Form eines Zahlenstrahls sehen. Das erlaubt es uns, sofort zu sagen, dass 50 eine grössere Zahl ist als 35 – wir sehen die Zahlen auf einer Geraden und können quasi nachsehen, wo die beiden Zahlen liegen. Wie gut ausgebaut die Vorstellung des Zahlenstrahls ist, variiert bei Erwachsenen je nachdem, wie oft sie sich mit Zahlen beschäftigen und wie begabt sie in diesem Bereich sind. Testen Sie sich selbst und beantworten Sie so schnell wie möglich ohne weiterzulesen die folgende Frage: Was liegt zwischen eins und einer Milliarde? Haben Sie richtig gelegen oder haben Sie wie sehr viele Erwachsene eine Million gesagt? Richtig wären 500 Millionen. Ihr Kind sollte die natürliche Zahlenfolge so gut kennen, dass es ohne nachzudenken oder abzuzählen weiss, welche von zwei 170 Zahlen die grössere ist oder welche Zahl vor und nach einer bestimmten Zahl steht. Diese Leistung ist gar nicht so selbstverständlich. Es braucht Zeit, um eine innere Vorstellung des Zahlenraums aufzubauen, die uns dabei hilft, diese Fragen schnell und richtig zu beantworten. Vergleichbar schwierig für Sie als Eltern könnte die folgende Aufgabe zum Alphabet sein: Welche Buchstaben stehen vor und nach dem Q / S / V? Konnten Sie alle Antworten ohne zu zögern oder zu überlegen geben? Die meisten Erwachsenen können es nicht. Um zu überprüfen, ob Ihr Kind die Zahlenfolge ausreichend automatisiert hat, können Sie ihm Fragen folgender Art stellen: Welche Zahl kommt nach der 3? Welche Zahl kommt vor der 5? Welche Zahl ist kleiner: 9 oder 7? Ihr Kind sollte dabei in der Lage sein, innerhalb einer Sekunde zu antworten. Die Antworten sollten also automatisch – wie aus der Pistole geschossen – gegeben werden. Nur so kann sichergestellt werden, dass Ihr Kind wirklich eine Vorstellung der Zahlen bis 10 aufgebaut hat und die Aufgaben nicht mit Abzählen löst. Ein gutes Zahlenverständnis wird Ihrem Kind helfen abzuschätzen, ob ein Resultat stimmen kann. 171 Testaufgaben: Welche Zahl kommt nach der 2, 7, 3 ? Welche Zahl kommt vor der 9, 3, 5 ? Welche Zahl ist grösser, 5 oder 7, 6 oder 4 ? Welche Zahl ist kleiner, 9 oder 8, 7 oder 2 ? Falls Ihr Kind bereits mit dem 100er Raum vertraut ist, können Sie den Test ausweiten: Welche Zahl kommt nach der 23, 77, 38 Welche Zahl kommt vor der 45, 16, 20, 70 Welche Zahl ist grösser, 57 oder 62 ? Welche Zahl ist kleiner, 28 oder 91 ? Mein Kind war in der Lage, innert einer Sekunde: □ Zu sagen, welche Zahl vor oder nach einer anderen Zahl kommt □ Zu entscheiden, welche Zahl grösser oder kleiner ist Ja: Weiter zu Untertest 3 Nein: Übung zur natürlichen Zahlenfolge 172 Übung zur natürlichen Zahlenfolge Hat Ihr Kind noch keine genügende Vorstellung des Zahlenraums, können ihm einfache Übungen helfen, einen mentalen Zahlenstrahl aufzubauen. Üben können Sie dies beispielsweise mit einem Meterband. Je nachdem, ob Ihr Kind bisher erst den 10er oder schon den 100er Raum kennengelernt hat, arbeiten Sie mit 10cm oder dem ganzen Meter. Beginnen Sie mit einer einfachen Übung und lassen Sie Ihr Kind bestimmte Zahlen suchen: Wo ist die 16, 97, 33 ? Sobald Ihr Kind etwas schneller wird und automatisch in der Nähe der Zahl mit der Suche beginnt, können Sie sich mit ihm einen kleinen Wettkampf liefern. Nennen Sie sich abwechselnd Zahlen und schauen Sie, wer sie schneller findet. Ist Ihr Kind ziemlich schnell, können Sie die Übung mit Hilfe eines kleinen Spiels erschweren. Zeichnen Sie einen Strich von einem Meter Länge und nehmen Sie zwei Klötzchen, Schachfiguren oder andere Spielfiguren. Nun nennen Sie und Ihr Kind abwechselnd Zahlen. Der eine Spieler nennt eine Zahl, der andere schätzt, wo sich diese befindet und stellt seine Figur auf die Linie. Dann wird gemessen. Die Abweichungen werden aufgeschrieben und am Ende zusammengerechnet. Wer nach 10 Durchgängen weniger stark danebenlag und somit genauer geschätzt hat, gewinnt. 173 Untertest 3: Addition im Zehnerraum Im Zehnerraum (die Summe der Additionen ergibt höchstens zehn) sollte Ihr Kind fähig sein, Plusrechnungen innerhalb eines Augenblicks (einer Sekunde) mündlich zu lösen. Dies ist deshalb wichtig, weil ein Kind die Ergebnisse zu solchen Aufgaben aus dem Gedächtnis abrufen sollte, sie also auswendig wissen muss. Braucht es länger, benutzt es vermutlich eine Fehlstrategie wie Zählen mit den Fingern oder inneres Hochrechnen. Im Zweifelsfall sollten Sie Ihr Kind fragen, wie es auf die Lösung gekommen ist und es darum bitten, beim Rechnen laut zu denken. Löst das Kind die Aufgaben zählend, sollte hier trotz richtiger Ergebnisse mit dem Üben begonnen werden. Ansonsten wird das Kind Schwierigkeiten bekommen, sobald die Rechnungen über den Zehnerraum hinaus gehen. Der Test besteht schlicht darin, dass Sie Ihrem Kind einige Aufgaben zur Addition im Zehnerraum stellen und darauf achten, ob es innerhalb einer Sekunde richtig antworten kann. Testaufgaben: Was ergibt: 1 + 2 / 3 + 4 / 6 + 3 / 4 + 4 ? Welche Zahl kommt vor der 9, 3, 5 ? Welche ist grösser, 5 oder 7, 6 oder 4 ? Mein Kind war in derZahl Lage: Welche Zahl ist kleiner, 9 oder 8, 7 oder 2 zu ? nennen □ Die Ergebnisse innerhalb eines Augenblicks Ihr Kind Ja: Weiter zu Falls Untertest 4 bereits mit dem 100er Raum vertraut ist, können Sie den Test ausweiten: Nein: Übung zur Addition im Zehnerraum Welche Zahl kommt nach der 23, 77, 38 Welche Zahl kommt vor der 45, 16, 20, 70 174 Welche Zahl ist grösser, 57 oder 62 ? Welche Zahl ist kleiner, 28 oder 91 ? Übung zur Addition im Zehnerraum Die folgende Übung hilft Ihnen dabei, das Einspluseins und Einsminuseins mit Ihrem Kind so zu üben, dass ein Anwenden von Fehlstrategien durch die Art des Übens verhindert wird, Ihr Kind Erfolge erlebt und möglichst schnell Fortschritte erzielt. Sehen wir uns zunächst an, was Ihr Kind können sollte. Es muss ein Verständnis dafür entwickeln, was addieren bedeutet und es sollte die Ergebnisse der Additionen im Zehnerraum aus dem Gedächtnis abrufen können. Insgesamt handelt es sich lediglich um 45 Additionen. Wenn wir davon ausgehen, dass Ihr Kind bemerkt, dass beispielsweise 4 + 3 und 3 + 4 dasselbe ergibt und es schon einige einfachere Rechnungen auf Anhieb lösen kann, bleibt nicht mehr viel zu tun. Sie können zunächst am Verständnis arbeiten. Dazu eignen sich die Veranschaulichungshilfen im Schulbuch, spezielles Material wie die Rechenhexe von Mosaik (http://shop.mosaik-berlin.de) 175 oder die Finger. Wichtig ist, dass die Kinder das Material oder die Finger nicht mehr als Abzählhilfen benutzen und jedes Mal neu mit dem Zählen beginnen, sondern eine Vorstellung von Mengen entwickeln. Für Kinder mit grösseren Schwierigkeiten ist beispielsweise mit der Zahl 4 oft keine Menge verbunden – sie ist für sie lediglich eine Zahl in einer Abfolge – so wie für uns das D im Alphabet. Diese Kinder müssen zunächst verstehen, dass die Zahl 4 für eine bestimmte Menge steht und unterschiedlich dargestellt werden kann. Diese Vorstellung kann aufgebaut werden, indem mit den Kindern trainiert wird, eine bestimmte Zahl auf verschiedene Weise mit den Fingern darzustellen. Die 4 kann z.B. mit den Findern dargestellt werden, indem verschiedene Finger ausgestreckt werden: Alle Finger einer Hand mit Ausnahme des Daumens Alle Finger einer Hand mit Ausnahme des kleinen Fingers Zwei Finger an einer und zwei an der anderen Hand Drei Finger an einer und ein Finger an der anderen Hand Als Eltern können Sie das Kind nun dazu anleiten, mit den Fingern zu rechnen: 176 „Wenn du an einer Hand zwei Finger hast, wieviele Finger brauchst du noch mit der anderen Hand, damit es 4 Finger sind? Genau, zwei und zwei sind vier!“ „Wenn du an dieser Hand nur einen Finger hast, wieviele brauchst du dann an der anderen Hand, damit es vier sind? Ja, eins und drei sind auch vier!“ Sie können die Rechnungen, die anhand der Finger oder der Rechenhexe dargestellt wurden, nun aufschreiben. „Schau, du hast gerade gerechnet: 2 plus 2 gleich 4. Schreiben wir das auf: 2 + 2 = 4. Lass uns daraus ein Kärtchen machen.“ Schreiben Sie nach und nach die Rechnungen auf Kärtchen und lassen Sie Ihr Kind diese mit dem Zettelkastensystem (Siehe Kapitel: Gehirn) üben. Auf die Vorderseite des Kärtchens kommt die Aufgabe und auf die Rückseite das Resultat. Achtung: Gehen Sie nicht der Reihe nach. Vorderseite 4+3 Rückseite 7 Achten Sie nun – wie zu Beginn dieses Kapitels beschrieben – darauf, dass das Kind keine Zeit hat, zu zählen. Drehen Sie dazu die Karte immer gleich um und zeigen Sie dem Kind das Resultat, wenn es sich an dieses nicht innerhalb eines Augenblicks erinnern kann. Erstellen Sie jeden Tag die neuen Kärtchen für Ihr Kind. Damit Sie keine Aufgaben vergessen, können Sie diese auf der folgenden Tabelle ankreuzen: 177 1+1 1+2 1+3 1+4 1+5 1+6 1+7 1+8 7+1 7+2 7+3 2+1 2+2 2+3 2+4 2+5 2+6 2+7 2+8 8+1 8+2 3+1 3+2 3+3 3+4 3+5 3+6 3+7 4+1 4+2 4+3 4+4 4+5 4+6 5+1 5+2 5+3 5+4 5+5 6+1 6+2 6+3 6+4 9+1 Falls Sie die Kärtchen nicht selbst schreiben möchten, können Sie bereits vorbereitete, stabile und abwaschbare Kärtchen genau dieser Art auf der Webseite www.montessori-material.de bestellen. Spielerisches Üben einfacher Additionen und Subtraktionen ist mit dem Ravensburger Spiel „Rechen-Kapitän“ möglich. Untertest 4: Subtrahieren im Zehnerraum Für das Subtrahieren gelten dieselben Anweisungen wie beim Addieren. Auch hier sollte das Kind die Rechnungen im Zehnerraum automatisiert haben und keine Fehlstrategien benutzen. Testaufgaben: Was ergibt: 2 -1 / 6 - 4 / 9 - 7 / 4 - 3 ? Welche Zahl kommt vor der 9, 3, 5 ? Mein Kind war in der Welche ZahlLage: ist grösser, 5 oder 7, 6 oder 4 ? 178 Welche Zahl ist kleiner, 9 oder 8, 7 oder 2 ? Falls Ihr Kind bereits mit dem 100er Raum vertraut ist, können Sie den Test ausweiten: Welche Zahl kommt nach der 23, 77, 38 □ Die Ergebnisse innerhalb eines Augenblicks zu nennen Ja: Weiter zu Untertest 5 Nein: Übung zur Subtraktion im Zehnerraum Übung zur Subtraktion im Zehnerraum Gehen Sie zur Einübung der Subtraktion im Zehnerraum auf die gleiche Weise vor wie beim Addieren in der Übung 4. Streichen Sie hier die Rechnungen durch, die Sie bereits auf Kärtchen geschrieben haben: 10 - 1 10 - 2 10 - 3 10 - 4 10 - 5 10 - 6 10 - 7 10 - 8 10 - 9 9-1 9-2 9-3 9-4 9-5 9-6 9-7 9-8 8-1 8-2 8-3 8-4 8-5 8-6 8-7 4-1 4-2 4-3 3-1 3-2 2-1 7-1 7-2 7-3 7-4 7-5 7-6 6-1 6-2 6-3 6-4 6-5 5-1 5-2 5-3 5-4 Untertest 5: Addieren und Subtrahieren im 20er / 100er Raum ohne Zehnerübergang Das Addieren und Subtrahieren im 20er oder 100er Raum ohne Zehnerübergang ist nur geringfügig schwieriger als das Rechnen im Zehneraum (2 + 7 oder 52 + 7). Einige Kinder denken 179 allerdings, dass diese Rechnungen aufgrund der Grösse der Zahlen schwieriger sein müssten. Kann das Kind diese Rechnungen innerhalb einer Sekunde nicht lösen oder reagiert es mit Ratlosigkeit, lässt sich das Problem mit den Veranschaulichungshilfen in den Übungen zum Zehnerübergang relativ leicht beheben. Testen Sie Ihr Kind, indem Sie ihm einige Rechnungen stellen, wobei Sie darauf achten, dass kein Zehnerübergang stattfindet. Testaufgaben: Was gibt 10 + 7 / 22 + 5 / 31 + 8 / 91 + 4 ? Was gibt 24 – 2 / 99 – 8 / 37 – 4 / 46 – 5 ? Mein Kind war in der Lage: □ Die Ergebnisse innerhalb eines Augenblicks zu nennen Ja: Weiter zu Untertest 6 Nein: Übung zur Addition und Subtraktion im Hunderterraum ohne Zehnerübergang Übung zur Addition und Subtraktion im Hunderterraum ohne Zehnerübergang Findet kein Zehnerübergang statt, ist Addieren und Subtrahieren im Hunderterraum praktisch genauso einfach wie das Rechnen im Zehnerraum. Es motiviert Kinder sehr, wenn sie bemerken, wie schnell sie Rechnungen wie 83 + 5 lösen können, nachdem 180 das Addieren und Subtrahieren im Zehnerraum automatisiert wurde. Dieser Schritt muss meist nur kurz eingeübt werden und dient eher der Motivation des Kindes. Ihr Kind muss nur folgendes verstehen: Gibt die Summe der beiden hinteren Ziffern weniger als zehn, ändert sich bei der Zehnerziffer nichts. Sie können ihm dies mit den Veranschaulichungshilfen verdeutlichen, die in der nächsten Übung zum Zehnerübergang beschrieben werden (ich habe mich entschlossen, das Material in der nächsten Übung zu beschreiben, da viele Eltern diese Übung überspringen). Lassen Sie Ihr Kind zunächst die Zahlen 52 und 7 mit Hilfe der Zehnerstangen und Einerwürfel legen. Gehen Sie wie folgt vor: Vater: „Was gibt 52 + 7?“ Kind: „?“ Vater: „Was musst du denn beim Addieren machen?“ Kind: „Die Zahlen zusammenrechnen.“ Vater: „Ja…was passiert dann hier mit den Zehnerstangen und den Einern?“ Kind: „Ich muss die sieben Einer zu den 5 Zehnern und den zwei Einern dazu tun.“ Vater: „Sehr gut. Was gibt das?“ Kind: „5 Zehner und 9 Einer!“ Vater: „Und das gibt…?“ Kind: „Na 59!“ 181 Vater: „Sehr gut. Schauen wir uns das mit den Zahlen an. Also: 52 + 7 = ….was machst du?“ Kind: „Ich zähle die 7 Einer dazu. Das gibt 2 + 7, das sind 9…das gibt 59!“ Vater: „Sehr gut…machen wir gleich noch ein paar solche Rechnungen.“ Hat Ihr Kind das System mit den Zehnerstangen und den Einerwürfeln verstanden und gesehen, dass sich bei den Zehnern nichts ändert, sollten Sie unbedingt ohne Material weiterüben. Lassen Sie Ihr Kind noch einige solche Aufgaben lösen, bis Sie das Gefühl haben, es könne im Hunderterraum ohne Zehnerübergang praktisch genauso schnell rechnen wie im Zehnerraum. Das gleiche Verfahren eignet sich auch für die Subtraktion. Hier achten Sie wieder darauf, dass kein Zehnerübergang stattfindet und zeigen Ihrem Kind, dass es in diesem Fall nicht auf die Zehner achten muss. Falls Sie das Rechnen im Zehnerraum ausgelassen haben und jetzt bemerken, dass Ihr Kind länger als eine Sekunde braucht, um Rechnungen wie 2 + 7 oder 5 – 3 zu lösen, lohnt es sich, einen Schritt zurückzugehen und die Addition und Subtraktion im Zehnerraum aufzuarbeiten. Untertest 6: Addieren und Subtrahieren mit Zehnerübergang Als nächstes überprüfen wir, ob Ihr Kind die deutlich schwierigeren Additionen und Subtraktionen mit Zehnerübergang beherrscht. Die Geschwindigkeit ist hier weniger zentral. Wichtig ist das Einhalten der richtigen 182 Rechenschritte. Bitten Sie Ihr Kind laut zu denken, während es die Rechnungen löst, damit Sie als Eltern überprüfen können, ob es die richtigen Rechenschritte verinnerlicht hat. Die richtigen Rechenschritte sehen wie folgt aus: Addition: 6 + 9 Hier sollte Ihr Kind die folgenden Überlegungen anstellen: Schritt 1: „Wie viel brauche ich noch von 6 bis 10? 4“ Schritt 2: „4 habe ich schon dazugezählt, wie viel bleibt mir noch von der 9? 5 – die muss ich noch dazuzählen“ Schritt 3: „10 und 5 gibt 15“ Das Kind könnte natürlich auch umgekehrt vorgehen: Schritt 1: „9 und 1 ergibt 10.“ Schritt 2: „Jetzt bleiben mir noch 5“ Schritt 3: „10 und 5 gibt 15“ Zunächst wird also auf 10 ergänzt, was aufgrund der Übung zur Automatisierung der Additionen im Zehnerraum mühelos gelingen sollte. Danach schaut das Kind, wie viel noch übrigbleibt und rechnet diese Zahl zu 10 dazu. Dies sieht etwas kompliziert aus, Sie werden aber wahrscheinlich feststellen, dass Sie als Erwachsener genau diese Strategie benutzen. Die Fertigkeiten die hier geübt werden, sind später insbesondere beim schriftlichen Addieren wichtig. Bei der Subtraktion gehen Sie auf ähnliche Weise vor. Sie stellen Ihrem Kind eine Subtraktionsaufgabe, bei der ein 183 Zehnerübergang stattfindet, lassen es laut rechnen und achten darauf, ob es die richtigen Rechenschritte benutzt: Subtraktion: 14 - 8 Schritt 1: „14 – 4 gibt zehn“ Schritt 2: „4 Habe ich schon weggezählt, bleibt noch 4“ Schritt 3: „10 minus 4 ergibt 6“ Etwas schwieriger wird es, wenn Sie Ihr Kind mit zweistelligen Zahlen rechnen lassen. Achten Sie auch hier darauf, dass Ihr Kind die richtigen Rechenschritte verwendet. Das Problem bei den neueren Schulbüchern ist, dass sie nicht einen Weg trainieren, sondern den Kindern mehrere Vorschläge machen. Das Zahlenbuch 3, Lehrmittel für das dritte Schuljahr in der Schweiz, schlägt beispielsweise auf Seite 6 für die Addition 58 + 26 = die folgenden Varianten in der folgenden Darstellung vor: Daniel rechnet 58 + 26 = 78 + 6 = Zehner dazu, dann Einer dazu 58 + 20 = 6 Laura rechnet: 58 + 26 = 70 + 14 = Zehner Zehner plus 50 + 20 Einer plus Einer 8+ 6 Sabrina rechnet: 184 58 + 26 = 60 + 24 Vereinfachen Damit soll dargestellt werden, dass Rechnungen auf unterschiedlichen Wegen gelöst werden können. Es dürfte jedoch auch für viele Erwachsene nicht einfach sein, die einzelnen hier dargestellten Rechenwege nachzuvollziehen oder diese zu erklären. Rechenschwache Kinder werden durch solche „Erklärungen“ nur zusätzlich verwirrt. Auf was Sie achten müssen, wenn Sie Ihr Kind laut rechnen lassen, ist daher nicht, ob es eine bestimmte Schrittfolge gewählt hat, sonder darauf, ob es damit auf das richtige Ergebnis kommt und ob es klar zwischen Einern und Zehnern unterscheiden kann. Eine richtige Schrittfolge für die Addition 25 + 49 = wäre demnach: Schritt 1: „25 + 40 gibt 65“ Schritt 2: „Jetzt muss ich noch die 9 dazurechnen. Wie viel brauche ich von 5 bis 10? 5 - Das wären dann 70.“ Schritt 3: „Bleiben noch 4“ Schritt 4: „70 und 4 gibt 74“ Das Kind könnte aber auch so vorgehen, dass es – analog zum schriftlichen Addieren – zunächst die Einer zusammenzählt und dann die Zehner: Schritt 1: „Ich rechne zuerst 5 und 9 – das gibt 14. Ich schreibe hinten schon mal die 4 hin.“ Schritt 2: „Jetzt bleiben mir noch 10 und ich muss noch 20 und 40 dazurechnen. Das gibt 10, 30, 70…also 74.“ 185 Probleme zeigen sich hingegen meist dahingehend, dass Kindern der Unterschied zwischen Zehnern und Einern nicht klar ist. Typische falsche Rechenwege wären zum Beispiel: 25 + 49 = ? Kind: „Hm…25 und 4 ist 29 und 9 … gibt 38… Die Zehner der zweiten Zahl werden hier zu den Einern der ersten Zahl hinzugerechnet. Es handelt sich somit nicht um einen Flüchtigkeitsfehler, sondern um ein Verständnis-Problem. Wenn Sie bemerken, dass Ihr Kind bei den folgenden Testaufgaben solche Fehler begeht oder sich unsicher fühlt, wäre es wichtig, diesen Schritt weiter zu üben. 186 Testaufgaben: Was gibt 9 + 3 / 5 + 8 / 4 + 7 / 8 + 8 ? Was gibt 11 – 2 / 17 – 9 / 14 – 8 / 16 – 7 ? Und etwas schwieriger mit zweitstelligen Zahlen: Was gibt 19 + 12 / 23 + 38 / 26 + 59 ? Was gibt 41 – 29 / 56 – 48 / 92 – 63 ? Mein Kind war in der Lage: □ Die einstelligen Additionen mit Zehnerübergang mit Hilfe korrekter Rechenschritte zu lösen □ Die einstelligen Subtraktionen mit Zehnerübergang mit Hilfe korrekter Rechenschritte zu lösen □ Die zweistelligen Additionen mit Zehnerübergang mit Hilfe korrekter Rechenschritte zu lösen □ Die zweistelligen Subtraktionen mit Zehnerübergang mit Hilfe korrekter Rechenschritte zu lösen Ja: Weiter zu Untertest 7 Nein: Übung zur Addition und Subtraktion mit Zehnerübergang Übungen zur Addition und Subtraktion mit Zehnerübergang Addieren und Subtrahieren mit Zehnerübergang ist deutlich schwieriger. Hier wollen wir auch keine Automatisierung von 187 Resultaten mehr erreichen, sondern nur Automatisieren der richtigen Rechenschritte. noch ein Beim Zehnerübergang zeigt sich oft, wie gut die vorhergehenden Grundlagen verstanden und automatisiert wurden. Um diese Hürde zu schaffen, müssen die Kinder: Zahlen als Symbole für Mengen begreifen. den Unterschied zwischen Zehner- und Einerziffern verstanden haben. Sie müssen erkennen können, dass ein Zehner aus 10 Einern besteht. Schnell und sicher für jede Zahl bis 9 wissen, wieviel bis zur 10 noch fehlt. Fehlen diese Grundlagen, sollten die vorhergehenden Schritte noch besser geübt werden. Hat Ihr Kind Mühe mit der Unterscheidung von Zehnern und Einern, können zu Beginn wieder Veranschaulichungshilfen zum Verständnis beitragen. Ein geeignetes Hilfsmittel sind beispielsweise die Zehnerstangen und Einerwürfel, die in Buchhandlungen oder beispielsweise auf der Webseite www.spielundlern.de bestellt werden können: 188 Mit Hilfe der Stangen kann den Kindern verdeutlicht werden, dass ein Zehner aus zehn Einerwürfeln besteht. Zu Beginn eignen sich dazu einfache Aufgaben wie: Lege mir die Zahl 35. Wieviele Zehnerstangen und wieviele Einer brauchst du dafür? Lassen Sie Ihr Kind die Zahl aufschreiben und zeigen Sie ihm, dass die hinterste Ziffer für die Einer und die zweite Ziffer für die Zehner steht: Mutter: „Jetzt hast du 35 gelegt. Das sind 5 Einer und 3 Zehner. Wir schreiben die 5 in die Einerstelle und die 3 in die Zehnerstelle…“ Zehner 3 Einer 5 Relativ rasch sollte dabei das Material nicht mehr benutzt werden. Fragen Sie Ihr Kind, ohne dass es das Material dazu benutzen kann: Wie viele Zehnerstangen und wie viele Einer bräuchtest du für die Zahl 54? Vielleicht antwortet ihr Kind darauf zu Beginn, dass es 5 Einer und 4 Zehner bräuchte. Nun haben Sie die Gelegenheit, Ihr Kind die Zahl zunächst schreiben zu lassen und ihm dann nochmals zu erklären, dass die zweite Ziffer für die Zehner steht und die hinterste für die Einer. Im Deutschen haben wir hier die zusätzliche Hürde, dass wir die Einer zuerst nennen – Vierundfünfzig anstatt beispielsweise Fünfzigvier. Die Kinder verwirrt dies zu Beginn in ähnlicher Weise wie Franzosen oder Engländer, wenn sie unserer Sprache lernen. 189 Hat Ihr Kind den Unterschied zwischen Zehnern und Einern verstanden und weiss es, dass die hinterste Ziffer für die Einer steht und die zweite für die Zehner, können Sie beginnen, einfache Additionen und Subtraktionen mit Zehnerübergang zu lösen. Zuerst wieder mit dem Material, möglichst rasch aber ohne. Im ersten Schritt können Sie Ihrem Kind zeigen, dass es 10 Einer in eine Zehnerstange umtauschen kann: Vater: „Was gibt 9 + 2? Lege mir zuerst die beiden Zahlen…“ Kind: „So…9 und 2…jetzt muss zusammentun…das sind dann 11.“ ich sie einfach Vater: „Genau…jetzt hast du hier 11 Einerwürfel. Ich finde, das sieht etwas unübersichtlich aus. Was könntest du dagegen tun?“ Kind: „Ich könnte 10 von meinen Einern gegen eine von den Zehnerstangen hier eintauschen!“ Vater: „Sehr gut! Jetzt haben wir also einen Zehner und einen Einer. Lass uns das aufschreiben: Bei den Zehnern haben wir 1 und bei den Einern auch 1.“ Zehner 1 Einer 1 Versteht das Kind diesen Punkt, können Sie es etwas schwierigere Rechnungen lösen lassen. Beispielsweise einfachere Subtraktionen, die einen Zehnerübergang verlangen. Mutter: „Schau, hier liegen fünf Zehnerstangen. Wie viel gibt das?“ 190 Kind: „50!“ Mutter: „Genau. Was passiert, wenn du 5 davon abziehst?“ Kind: „Das geht gar nicht!“ Mutter: „Ja, mit den Zehnern geht das nicht. Was könntest du tun?“ Kind: „Ich könnte einen Zehner umtauschen in 10 Einer.“ Mutter: „Sehr gut. Mach das mal…gut…und jetzt zieh 5 davon ab.“ Kind: „Das gibt 45!“ Gehen Sie nach einigen Übungen mit dem Material dazu über, Ihr Kind solche Rechnungen im Kopf lösen zu lassen. Nehmen Sie dazu zunächst wieder nur einfach Aufgaben wie: 39 + 3 = 30 – 4 = Fühlt sich Ihr Kind sicher, können Sie zu schwierigeren Aufgaben übergehen, bei denen das Kind einen Schritt mehr machen muss. Die Mutter hat hier in weiser Voraussicht anstelle der fünften Zehnerstange bereits 10 Einer-Würfel hingelegt, um die Zahl darzustellen. Mutter: „Schau, ich habe dir 55 gelegt. Was passiert, wenn du 9 davon abziehst?“ Kind: „Ich kann schon mal 5 abziehen…“ Mutter: „Genau…was gibt das? 191 Kind: „50…und 5 sind hier schon weg…“ Mutter: „Genau, 5 hast du schon abgezogen und jetzt hast du noch 50. Was musst du jetzt noch tun?“ Kind: „Ich muss 9 abziehen…5 habe ich schon weggerechnet. Nun muss ich nochmals 4 wegzählen.“ Mutter: „Genau…mach das mal.“ Kind: „50 minus 4 …das gibt 46!“ Nach einigen Durchgängen lässt sich die Mutter vom Kind beschreiben, wie es bei den einzelnen Rechnungen vorgeht. Sobald sich das Kind sicher fühlt, wird das Material wieder entfernt und das Kind versucht, die Rechnungen im Kopf zu lösen. Nun können noch schwierigere Rechnungen zunächst mit dem Material und dann im Kopf gelöst werden. Beispielsweise: 14 + 47 = Das Kind kann dabei lernen, dass es zehn Einer wiederum in eine Zehnerstange umtauschen kann: Mutter: „Lege mir zuerst die 14 und die 47…gut. Rechne zuerst einmal die Einer zusammen…was gibt das?“ Kind: „4 und 7…das gibt 11“ Mutter: „Wieviele Zehner und Einer sind das?“ Kind: „Das ist ein Zehner und ein Einer!“ 192 Mutter: „Genau…jetzt hast du einen Einer und einen Zehner. Wie fährst du jetzt weiter?“ Kind: „Jetzt liegen hier noch ein Zehner und hier 4 Zehner…das sind sechs Zehner und ein Einer…61.“ Wichtig ist auch hier, dass das Kind versteht, dass es Zehner in Einer und Einer in Zehner umtauschen kann. Als Übergang können nun die Rechnungen aufgeschrieben werden: Mutter: „Komm, wir schreiben diese Aufgabe auf. Lege mir zuerst wieder die 14 und die 47…gut. Was hast du zuerst gemacht?“ Kind: „Die Einer zusammengerechnet. 4 und 7…das waren 11.“ Mutter: „Wieviele Zehner und Einer waren das?“ Kind: „Ein Zehner und ein Einer!“ Mutter: „Genau…Schau dir hier nochmals die Rechnung an: 14 + 47 =…was kannst du vom Ergebnis bereits aufschreiben?“ Kind: „Bei den Einern kommt eine Eins hin!“ Mutter: „Sehr gut! Schreib das hin… Kind: „Eine 1 bei den Einern. Jetzt habe ich noch einen Zehner übrig und in der Rechnung bleiben noch die Zehner: 10 und 40…das sind 6 Zehner, also kommt die 6 hier bei den Zehnern hin…61!“ Kann das Kind die Rechenschritte parallel zur Verwendung des Material sicher aufschreiben, kann das Material wieder 193 ausgeblendet werden. Dieser Schritt ist sehr wichtig: Das Kind soll nicht vom Material abhängig werden und die einzelnen Schritte deshalb immer wieder ohne Material versuchen. Sie können beim Übergang die Schrittfolge zusammen mit Ihrem Kind auf ein Blatt schreiben, welches es zunächst als Hilfe benutzen darf: Schritt 1: Ich addiere zuerst die Einer und schaue, wieviele Zehner und Einer es gibt Schritt 2: Ich schreibe die Einer auf die Einer-Stelle Schritt 3: Ich schaue, wieviele Zehner noch bleiben und rechne diese zusammen. Ich trage diese bei der Zehner-Stelle ein. Mein Beispiel: 24 + 28 = Schritt 1: Ich addiere zuerst die Einer und schaue, wieviele Zehner und Einer es gibt. 4 + 8 ergibt 12…das sind zwei Einer und ein Zehner Schritt 2: Ich schreibe die 2 in die Einer-Stelle: 24 + 28 = _2 Schritt 3: Ich schaue, wieviele Zehner noch bleiben und rechne diese zusammen. Ich habe noch einen Zehner von der 12 übrig und es bleiben mir 20 + 20…also nochmals 4 Zehner. Das sind zusammen 5 Zehner. Ich schreibe die 5 in die Zehner-Stelle: 24 + 28 = 52. Schwierige Subtraktion können analog dazu zunächst mit dem Material, dann mit den Rechenschritten auf dem Blatt und schliesslich ganz ohne Hilfsmittel gelöst werden: 194 56 – 27 = Mutter: „Lege mir bitte die 56. Schau dir die Rechnung an: Was musst du machen?“ Kind: „Ich soll von dieser Zahl hier (zeigt auf die ausgelegte 56) 27 abziehen.“ Gut…was machst du zuerst??“ Kind: „Ich ziehe schon mal sechs ab…jetzt habe ich hier 50 und habe hier 6 Einer, die ich abgezogen habe…was mache ich jetzt?“ Mutter: „Was hast du schon gemacht?“ Kind: „6 Einer abgezogen. Ich muss aber 7 Einer abziehen…“ Mutter: „Genau…wie geht das?“ Kind: „Ich muss zuerst wieder einen Zehner in Einer umtauschen…so….jetzt kann ich noch einen Einer abziehen.“ Mutter: „Gut. Was hast du bis jetzt gemacht und wie viel bleibt dir noch?“ Kind: „Jetzt habe ich 7 Einer abgezogen und es bleiben mir 49.“ Mutter: „Sehr gut. Und was musst du noch machen?“ Kind: „Jetzt noch 20 abziehen. wegnehmen…das sind dann 29!“ Ein Blatt aussehen: mit Rechenschritten Also könnte zwei Zehner folgendermassen 195 Schritt 1: Ich ziehe zuerst die Einer ab. Schritt 2: Ich schreibe die restlichen Einer in die Einer-Stelle Schritt 3: Ich ziehe die Zehner ab und schreibe die restlichen Zehner auf. Mein Beispiel: 56 – 27 = Schritt 1: Ich ziehe zuerst die 7 Einer ab. Schritt 2: Das ergibt 49…ich schreibe die 9 in die Einer-Stelle. Schritt 3: Jetzt ziehe ich die beiden Zehner ab. Das gibt 4 – 2…das sind dann 29. Ich schreibe die 2 in die Zehner-Stelle. Um den Zehnerübergang auf spielerische Weise zu üben, eignet sich das Ravensburger Spiel „Abenteuer auf dem Zahlenfluss“. 196 Untertest 7: Multiplikation – das kleine Einmaleins Heute wird in der Schule weniger Zeit darauf verwendet, das Einmaleins und das Einsdurcheins auswendig zu lernen. Das ist schade, denn diese Rechnungen tauchen – etwas versteckt – immer wieder auf. Nicht nur beim schriftlichen Multiplizieren und Dividieren, beim Bruchrechnen, in Textaufgaben und beim Prozentrechnen, sondern auch im Alltag. Verschaffen Sie Ihrem Kind also einen grossen Vorteil und lernen Sie mit ihm die Reihen auswendig, falls der folgende Test zeigt, dass es diese nicht ausreichend beherrscht: Testaufgaben: Was gibt 5 x 3 / 8 x 9 / 4 x 7 / 6 x 5 ? Was gibt 27 : 9 / 49 : 7 / 48 : 6 / 15 : 3 ? Mein Kind war in der Lage: □ Die Ergebnisse zum Einmaleins innerhalb eines Augenblicks zu nennen □ Die Ergebnisse zum Einsdurcheins innerhalb eines Augenblicks zu nennen Ja: Weiter zu Untertest 8 Nein: Übung zu den Reihen 197 Übung zum kleinen Einmaleins und kleinen Einsdurcheins Die Reihen auswendig zu lernen, scheint manchen Eltern ein grosses und mühseliges Unterfangen zu sein. Es wartet aber weniger Arbeit auf Sie, als Sie denken, und mit einem günstigen Übungsaufbau wird Ihr Kind schnell vorankommen. Insgesamt handelt es sich um 100 Multiplikationen und 100 Divisionen. Die Einer- und die Zehnerreihen können jedoch die allermeisten Kinder, wodurch schon 40 Rechnungen entfallen. Zudem begreifen die meisten Kinder sehr schnell, dass beispielsweise 5 x 7 der 7er Reihe und 7 x 5 der 5er Reihe das Gleiche ergeben, wodurch viel Arbeitsaufwand entfällt. Das gut gelernte Einmaleins bietet im weiteren eine perfekte Ausgangsbasis für das Einsdurcheins (5 x 5 = 25 / 25 : 5 = 5). 10 Minuten üben pro Tag reichen meist aus, um innert zwei bis drei Monaten gravierende Lücken in diesem Bereich aufzuarbeiten. Und das lohnt sich: Es gibt fast nichts, was einem mehr das Gefühl vermittelt, ein guter Rechner zu sein, als ohne mit der Wimper zu zucken die Resultate bei Aufgaben wie 8 x 9 nennen zu können. Ich selbst habe mich in der Schule und auch später im Alltag immer sehr gefreut, wenn Rechnungen aus der 7er Reihe aufgetaucht sind – diese konnte ich nämlich vollständig auswendig und damit war sie meine absolute Lieblingsreihe. Das geht soweit, dass mich eine Kollegin, die das Manuskript zu diesem Buch gelesen hat, gefragt hat, weshalb in allen Beispielen die 7er Reihe auftaucht. Ihr Kind könnte dieses Gefühl bei allen Reihen geniessen. Zum Üben eignet sich wieder das im Kapitel „Gehirn“ beschriebene Zettelkastensystem. Schreiben Sie die Rechnungen auf Kärtchen und lassen Sie Ihr Kind diese mit dem Zettelkasten üben. Erstellen Sie die Kärtchen so, dass auf der 198 Vorderseite die Aufgabe steht und auf der Rückseite die Lösung. Üben Sie eine Reihe nach der anderen ein. Achten Sie aber darauf, dass Sie innerhalb der Reihe nicht der Reihe nach gehen, damit das Kind nicht addiert (Bei der Dreierreihe könnten Sie am ersten Tag die Rechnungen 2 x 3, 4 x 3 und 9 x 3 einüben, um am nächsten Tag die Rechnungen 1 x 3, 5 x 3 und 8 x 3 hinzuzunehmen). Vorderseite Rückseite 3x9 27 Erstellen Sie jeden Tag die neuen Kärtchen für Ihr Kind (alternativ lassen sich auch hierzu vorgefertigte Karten auf www.montessori-material.de kaufen). Vielleicht können Sie Ihr Kind auch fragen, ob es bereit wäre, einen Teil der Reihen selbständig zu üben. Erklären Sie ihm dazu noch einmal genau, wie es mit dem Zettelkasten umgehen muss. Damit Sie keine Aufgaben vergessen, können Sie diese auf den nächsten Seiten durchstreichen. Das Einmaleins 1er Reihe 1x1=1 2x1=2 3x1=3 4x1=4 5x1=5 6x1=6 7x1=7 8x1=8 9x1=9 10 x 1 = 10 2er Reihe 1x2=2 2x2=4 3x2=6 4x2=8 5 x 2 = 10 6 x 2 = 12 7 x 2 = 14 8 x 2 = 16 9 x 2 = 18 10 x 2 = 20 3er Reihe 1x3=3 2x3=6 3x3=9 4 x 3 = 12 5 x 3 = 15 6 x 3 = 18 7 x 3 = 21 8 x 3 = 24 9 x 3 = 27 10 x 3 = 30 4er Reihe 1x4=4 2x4=8 3 x 4 = 12 4 x 4 = 16 5 x 4 = 20 6 x 4 = 24 7 x 4 = 28 8 x 4 = 32 9 x 4 = 36 10 x 4 =40 5er Reihe 1x5=5 2 x 5 = 10 3 x 5 = 15 4 x 5 = 20 5 x 5 = 25 6 x 5 = 30 7 x 5 = 35 8 x 5 = 40 9 x 5 = 45 10 x 5 = 50 199 6er Reihe 1x6=6 2 x 6 = 12 3 x 6 = 18 4 x 6 = 24 5 x 6 = 30 6 x 6 = 36 7 x 6 = 42 8 x 6 = 48 9 x 6 = 54 10 x 6 = 60 7er Reihe 1x7=7 2 x 7 = 14 3 x 7 = 21 4 x 7 = 28 5 x 7 = 35 6 x 7 = 42 7 x 7 = 49 8 x 7 = 56 9 x 7 = 63 10 x 7 = 70 8er Reihe 1x8=8 2 x 8 = 16 3 x 8 = 24 4 x 8 = 32 5 x 8 = 40 6 x 8 = 48 7 x 8 = 56 8 x 8 = 64 9 x 8 = 72 10 x 8 = 80 9er Reihe 1x9=9 2 x 9 = 18 3 x 9 = 27 4 x 9 = 36 5 x 9 = 45 6 x 9 = 54 7 x 9 = 63 8 x 9 = 72 9 x 9 = 81 10 x 9 = 90 10er Reihe 1 x 10 = 10 2 x 10 = 20 3 x 10 = 30 4 x 10 = 40 5 x 10 = 50 6 x 10 = 60 7 x 10 = 70 8 x 10 = 80 9 x 10 = 90 10 x 10 = 100 Das Einsdurcheins 1er Reihe 1:1=1 2:1=2 3:1=3 4:1=4 5:1=5 6:1=6 7:1=7 8:1=8 9:1=9 10 : 1 = 10 2er Reihe 2:2=1 4:2=2 6:2=3 8:2=4 10 : 2 = 5 12 : 2 = 6 14 : 2 = 7 16 : 2 = 8 18 : 2 = 9 20 : 2 = 10 3er Reihe 3:3=1 6:3=2 9:3=3 12 : 3 = 4 15 : 3 = 5 18 : 3 = 6 21 : 3 = 7 24 : 3 = 8 27 : 3 = 9 30 : 3 = 10 4er Reihe 4:4=1 8:4=2 12 : 4 = 3 16 : 4 = 4 20 : 4 = 5 24 : 4 = 6 28 : 4 = 7 32 : 4 = 8 36 : 4 = 9 40 : 4 = 10 5er Reihe 5:5=1 10 : 5 = 2 15 : 5 = 3 20 : 5 = 4 25 : 5 = 5 30 : 5 = 6 35 : 5 = 7 40 : 5 = 8 45 : 5 = 9 50 : 5 = 10 6er Reihe 6:6=1 12 : 6 = 2 18 : 6 = 3 24 : 6 = 4 30 : 6 = 5 36 : 6 = 6 7er Reihe 7:7=1 14 : 7 = 2 21 : 7 = 3 28 : 7 = 4 35 : 7 = 5 42 : 7 = 6 8er Reihe 8:8=1 16 : 8 = 2 24 : 8 = 3 32 : 8 = 4 40 : 8 = 5 48 : 8 = 6 9er Reihe 9:9=1 18 : 9 = 2 27 : 9 = 3 36 : 9 = 4 45 : 9 = 5 54 : 9 = 6 10er Reihe 10 : 10 = 1 20 : 10 = 2 30 : 10 = 3 40 : 10 = 4 50 : 10 = 5 60 : 10 = 6 200 42 : 6 = 7 48 : 6 = 8 54 : 6 = 9 60 : 6 = 10 49 : 7 = 7 56 : 7 = 8 63 : 7 = 9 70 : 7 = 10 56 : 8 = 7 64 : 8 = 8 72 : 8 = 9 80 : 8 = 10 63 : 9 = 7 72 : 9 = 8 81 : 9 = 9 90 : 9 = 10 70 : 10 = 7 80 : 10 = 8 90 : 10 = 9 100 : 10 = 10 Kann ihr Kind das Einmaleins bereits ein wenig, bietet das Spiel „1 x 1 Obelisk“ von Ravensburger etwas Abwechslung beim Üben. Untertest 8: Schriftliches Rechnen Beim Lösen schriftlicher Aufgaben stehen wieder die richtigen Rechenschritte im Vordergrund. Lassen Sie Ihr Kind einige schriftliche Rechnungen lösen. Überprüfen Sie bei Fehlern mit der Methode des lauten Denkens, ob Ihr Kind lediglich einen Flüchtigkeitsfehler gemacht hat oder die Schritte nicht ausreichend beherrscht bzw. eine falsche Strategie verwendet. Als Eltern haben Sie vielleicht seit längerer Zeit keine schriftlichen Rechnungen mehr gelöst. Machen Sie sich deshalb zunächst wieder mit den Rechenschritten vertraut, bevor Sie Ihr Kind die Testaufgaben lösen lassen. Die richtigen Rechenschritte sehen wie folgt aus: Schriftliche Addition: 8 4 3 2 + 1 3 9 8 1. Schritt: „8 und 2 gibt 10. Ich schreibe eine 0 unter die 8 und behalte 1.“ 201 8 4 3 2 + 1 3 9 8 1 0 2. Schritt: „Dann rechne ich die zweite Spalte. 9 und 3 ergibt 12, die 1 nicht vergessen! Das gibt 13. Also schreibe ich eine 3 unter 9 und behalte 1.“ 8 4 3 2 + 1 3 9 8 1 3 0 3. Schritt: „3 und 4 gibt 7 – und die 1 ergibt 8. Ich schreibe also eine 8 unter die 3 und muss nichts behalten.“ Usw. Schriftliche Subtraktion: 8 4 3 2 - 1 3 9 8 1. Schritt: „Ich fange bei den Einern an. Die untere Zahl ist eine 8, die obere ist eine 2. Da die 2 kleiner als die 8 ist, muss ich die 12 nehmen und überlegen, wie viel von der 8 zur 12 fehlt. 4. Dann schreibe ich eine 4 unter die 8 und behalte 1.“ 8 4 3 2 202 - 1 3 9 8 1 4 2. Schritt: „Jetzt gehe ich zu den Zehnern. 1 und 9 gibt 10, von 10 bis zur 13 fehlen mir 3. Also schreibe ich eine 3 unter die 9 und behalte 1.“ 8 4 3 2 - 1 3 9 8 1 3 4 3. Schritt: „1 und 3 gibt 4, von 4 bis zu 4 fehlt mir nichts, also 0. Ich schreibe eine 0 unter die 3.“ Usw. Schriftliche Multiplikation: 2 5 x 2 3 5 1. Schritt: „Ich beginne mit der 5 der ersten Zahl und multipliziere mit der 5 der zweiten Zahl. Das gibt 25. Ich schreibe 5 unter die 5 und schreibe eine kleine 2 unter die 3.“ 2 5 x 2 3 5 2 5 203 2. Schritt: „Nun rechne ich 5 mal 3. Das gibt 15. Dann nehme ich die kleine 2 und rechne sie dazu. Das ergibt 17. Ich schreibe eine 7 unter die 3 und behalte 1.“ 2 5 x 2 3 5 1 7 5 3. Schritt: „Das Gleiche mit der 2.“ 2 5 x 2 3 5 1 1 7 5 4. Schritt: „Jetzt setze ich eine 0 unter die 5 und rechne mit der 2 weiter. 2 mal 5 gibt 10. Ich schreibe eine 0 unter die 7 und behalte die 1.“ 2 5 x 2 3 5 1 1 7 5 1 0 0 Dasselbe für die 3 und die 2. 204 2 5 x 2 3 5 1 1 7 5 4 7 0 0 Letzter Schritt: „Jetzt muss ich noch 1175 und 4700 zusammenzählen.“ 2 5 x 2 3 5 1 1 7 5 4 7 0 0 5 8 7 5 Schriftliches Dividieren 2 6 0 : 2 0 = 1. Schritt: „Zuerst schaue ich, ob die 2 durch 20 teilbar ist (die meisten Kinder sehen das auf einen Blick und gehen direkt zur 26). Nein, also nehme ich die 26. Das geht 1 mal. Ich schreibe eine 1 neben das Gleichheitszeichen. Von der 20 bis zur 26 bleiben mir 6, darum schreibe ich eine 6 unter den Strich.“ 2 6 0 6 : 2 0 = 1 2. Schritt: „Ich hole die 0 herunter und schreibe sie neben die 6.“ 2 6 0 6 0 : 2 0 = 1 205 3. Schritt: „60 kann ich 3 mal durch 20 teilen. Ich schreibe eine 3 hinter die 1.“ 2 6 0 6 0 : 2 0 = 1 3 Sie wissen wieder, wie es geht? Dann schauen wir, ob Ihr Kind die Testaufgaben lösen kann: Testaufgaben: Schriftliche Addition: 3 4 2 + 1 4 3 7 8 4 3 2 + 1 3 9 8 Schriftliche Subtraktion: 8 9 5 - 7 5 3 8 4 3 2 - 1 3 9 8 206 Testaufgaben: Schriftliche Multiplikation: 2 5 x 2 3 5 4 7 x 8 9 2 Schriftliche Division: 2 6 0 : 2 0 = 5 2 0 : 1 3 = Mein Kind war in der Lage: □ □ □ □ Die schriftlichen Additionen zu lösen Die schriftlichen Subtraktionen zu lösen Die schriftlichen Multiplikationen zu lösen Die schriftlichen Divisionen zu lösen Nein: Übung zum schriftlichen Rechnen Schriftliche Rechenprozeduren üben 207 Beim schriftlichen Rechnen soll Ihr Kind fähig werden, die richtigen Rechenschritte anzuwenden. Auch hier spielt die Qualität des Übens eine grosse Rolle. Es nützt wenig, wenn das Kind ein Blatt nach dem anderen löst, solange es beispielsweise immer wieder eine falsche Schrittfolge verwendet und systematisch Fehler macht. Bewährt hat sich der folgende Übungsaufbau: 1. Erarbeiten Sie zusammen mit dem Kind die Schrittfolge – nehmen Sie dazu unbedingt das jeweilige Schulbuch zu Hilfe (es verwirrt Kinder, wenn sie unterschiedliche Erklärungen erhalten). 2. Malen Sie die einzelnen Schritte auf ein Plakat und hängen Sie dieses im Zimmer des Kindes auf. 3. Lassen Sie sich von Ihrem Kind die einzelnen Schritte aufzählen (zuerst mache ich…, dann addiere ich…). Es darf dazu das Plakat verwenden. 4. Lassen Sie Ihr Kind einfachere schriftliche Rechnungen mit Hilfe des Plakats lösen. Einfach sind solche, bei denen kein Zehnerübergang stattfindet (das Kind also keine 1 behalten muss). 5. Üben Sie mit schwierigeren Rechnungen, wenn sich das Kind bei Schritt 4 sicher fühlt. Das Kind darf weiterhin das Plakat als Hilfe verwenden. 6. Üben Sie nun zunächst einfachere, dann schwierigere Rechnungen ohne Plakat Tipps: 208 Lassen Sie Ihr Kind immer wieder laut rechnen, um den Lösungsweg zu überprüfen Lösen Sie selbst einige Rechnungen, wobei Sie jeweils laut denken und lassen Sie sich von Ihrem Kind dabei beobachten Repetieren Sie in grösser werdenden Abständen die einzelnen Rechenprozeduren, damit sie nicht vergessen werden Da wir uns in diesem Buch an Eltern von Primarschulkindern der 1. bis 4. Klasse wenden und den Rahmen nicht sprengen möchten, wird der Test nur bis zum Stoff dieser Klassenstufen beschrieben. Literaturtipp Mehrere der in diesem Kapitel dargestellten Übungen wurden bereits in vielen anderen Büchern zum Thema Dyskalkulie und Rechenschwäche beschrieben. Als sehr empfehlenswert erachte ich „Kinder mit Rechenschwäche erfolgreich fördern“ von Armin Born und Claudia Oehler (2008) – ich möchte es Eltern, die sich gerne vertieft mit Rechenschwierigkeiten auseinandersetzen möchten, wärmstens empfehlen. Kostenlose und qualitativ hochwertige Hilfen finden Sie auch auf der Internetseite www.rechenschwaeche.at 209 Checkliste Rechnen Vorgehen □ Ich habe die Lückenanalyse durchgeführt und eine erste Lücke entdeckt □ Indem ich mein Kind ab und zu laut rechnen lasse, versichere ich mich, dass es keine Fehlstrategien oder falsche Rechenregeln benutzt Motivation □ Ich habe mit meinem Kind einen Lernvertrag ausgehandelt □ Wir üben zu festgelegten Zeiten □ Wir üben höchstens 10 bis 15 Minuten pro Tag Gedächtnis / Gehirn □ Ich übe mit meinem Kind systematisch, indem ich oft wiederhole und beim Einspluseins oder Einmaleins den Zettelkasten einsetze □ Ich lasse meinem Kind genügend Zeit, um sich das Resultat der Rechnung zu merken □ Wir repetieren beim Einspluseins und Einmaleins zunächst die Rechnungen vom Vortag und beschränken uns auf 2 bis 4 neue Rechnungen pro Tag □ Ich achte darauf, dass wir einen Schritt zunächst automatisieren, bevor wir die flexible Anwendung mittels der Schulbuchaufgaben üben 210 Lesen und Schreiben Ursachen für Schwierigkeiten Wenn Kinder beim Schreiben und insbesondere beim Lesen Schwierigkeiten entwickeln, löst dies bei vielen Eltern grosse Angst aus. Zu grundlegend, zu wichtig sind den Eltern diese Kompetenzen und – oft im Gegensatz zum Rechnen – zu unverständlich die Schwierigkeiten. Viele Eltern können kaum verstehen, wieso es ihrem Kind dermassen schwer fällt, diese scheinbar simplen Fertigkeiten zu erwerben. Um es in den Worten eines sichtlich entnervten Vaters auszudrücken: „Warum kriegt der diese paar Buchstaben nicht in seinen Schädel, er ist doch sonst nicht blöd?!“ Einzelne Kinder unterscheiden sich in ihren Lesefertigkeiten beträchtlich. Während einige Kinder am Ende der ersten Klasse bereits fliessend lesen können, gelingt dies anderen bis zum Ende der Schulzeit nicht. Lese- und Rechtschreibschwierigkeiten entstehen nach aktuellen Forschungsergebnissen aufgrund bestimmter Fertigkeitsmängel, die zum Teil angeboren sind. Mehrere Studien zeigen, dass LeseRechtschreibschwächen in Familien gehäuft auftreten und beispielsweise das Risiko für ein Kind viel höher ist, wenn ein Elternteil oder beide eine Schwäche in diesem Bereich aufweisen (mehr dazu findet sich in Breitenbach & Weiland, 2010; Weber, 2003). Seit kurzem ist die Wissenschaft zudem in der Lage, mit sogenannten bildgebenden Verfahren zu beobachten, was während des Lesens im Gehirn passiert. Hier zeigen sich weitere Unterschiede zwischen Kindern, die eine LeseRechtschreibschwäche haben und Kindern, die durchschnittlich gut lesen können: Bestimmte Gehirnbereiche werden bei leseschwachen Kindern während des Lesens kaum aktiviert. 211 Fertigkeitsmängel, die eine Lese-Rechtschreibschwäche begünstigen, sind insbesondere eine geringe phonologische Bewusstheit, phonologische Defizite und visuelle Verarbeitungsstörungen (Klicpera & Gasteiger-Klicpera, 1998; Klicpera, Schabmann & Gasteiger-Klicpera, 2007). Defizite bei der phonologischen Bewusstheit können bereits im Kindergarten aufgrund bestimmter Tests erkannt werden. Mit Hilfe dieser Tests lässt sich vorhersagen, welche Kinder beim Lesen Probleme entwickeln werden. Gemessen wird dabei die Fähigkeit, einzelne Laute aus der gesprochenen Sprache herauszuhören. Diese Fähigkeit lässt sich beispielsweise dadurch erschliessen, wie gut es einem Kind gelingt, Aufgaben der folgenden Art zu lösen: Reimt sich Rand auf Pfand? Was hörst du am Anfang von Affe? Welche Wörter fangen gleich an: Bär, Zebra, Biber Finde ein Wort, das sich auf Haus reimt. Kindern, die zu Beginn der ersten Klasse nur über eine geringe phonologische Bewusstheit verfügen, fällt es schwerer, einzelne Laute zu unterscheiden oder aus einem Wort herauszuhören. Sie entwickeln mit grosser Wahrscheinlichkeit eine LeseRechtschreibschwäche. Eine Negativspirale verstärkt die Probleme Werden bei einem Kind Schwierigkeiten beim Lesen und Schreiben festgestellt, ist es wichtig, so früh wie möglich einzugreifen. Wird dies nicht getan, können sich die Probleme in einem Teufelskreis immer weiter verschlimmern. 212 Die negative Entwicklung sieht ähnlich aus, wie sie bereits im ersten Kapitel im Rahmen des Teufelskreises und bei den Rechenschwierigkeiten beschrieben wurde: Aufgrund der Anfangsschwierigkeiten lernt das Kind die Buchstaben und die Zuordnung der Laute zu den Buchstaben langsamer als seine Klassenkameraden. Mit der Zeit wird der Unterschied grösser, das Kind liest deutlich schlechter als der Durchschnitt. In der Klasse kann es immer weniger mithalten. Es liest in der gleichen Zeit weniger, steigt evtl. beim Lesen in der Klasse innerlich aus und liest nur, wenn es an die Reihe kommt – dann allerdings sehr ungern, mit Scham- und Angstgefühlen. Eigentlich müsste dieses Kind nun ausserhalb der Schulzeit deutlich mehr lesen als seine Klassenkameraden, um den Rückstand nicht grösser werden zu lassen. Aufgrund dessen, dass ihm Lesen keinen Spass macht und es kaum in der Lage ist, dem Gelesenen Sinn zu entnehmen, tritt das Gegenteil ein. Im Rahmen einer Studie (zitiert nach Klicpera, Schabmann & Gasteiger-Klicpera, 2007) wurde das Freizeitverhalten von Kindern der fünften Klasse untersucht und dabei festgestellt, dass Kinder auf dieser Stufe im Durchschnitt ca. 13 Minuten pro Tag ausserhalb des Unterrichts lesen. Allerdings lesen Kinder, die sehr gut und deshalb gerne lesen bis zu 90 Minuten pro Tag, während Kinder, die schlecht lesen können, nicht einmal eine Minute pro Tag freiwillig in diese Aktivität investieren. Die folgende Grafik zeigt in etwa, wie viele Wörter schlechte, durchschnittliche und sehr gute Leser während eines Jahres ausserhalb des Unterrichts lesen: 213 5000000 4500000 4000000 3500000 3000000 2500000 2000000 1500000 1000000 500000 0 Schlechte Leser Durchschnittliche Leser Gute Leser Gelesene Wörter Schlechte Leser 50000 Durchschnittliche Leser 600000 Gute Leser 4500000 Die Unterschiede sind enorm, wobei wir davon ausgehen müssen, dass Kinder, die sehr ungern lesen, in ihrer Freizeit noch weniger als 50‘000 Wörter pro Jahr lesen – nur wäre dies auf der Grafik nicht mehr sichtbar. Dadurch, dass gute Leser das Lesen als schöne Freizeitbeschäftigung entdecken und auf diese Weise bis zu 100 Mal mehr freiwillig üben, wird die Kluft zwischen guten und schlechten Lesern immer grösser. Die Kinder bemerken die Unterschiede, Misserfolge werden häufiger und damit auch negative Gefühle, die den Umgang mit der Schrift immer mehr blockieren. In diesem Kapitel wird es deshalb darum gehen, wie Sie als Eltern reagieren können, wenn Sie bei Ihrem Kind Schwierigkeiten beim Lesen und Rechtschreiben feststellen. 214 Was Eltern tun können Kinder, die unter Lese- und Rechtschreibschwierigkeiten leiden, zeigen oft bis zum Ende der Schulzeit Schwierigkeiten in diesem Bereich. Die Förderung, die die Kinder erhalten, bestimmt jedoch, wie gravierend diese ausfallen. Dabei gilt: „Je früher eingegriffen wird, desto besser“ Mutmacher und beruhigende Sätze wie „das wächst sich aus“, „das kommt schon noch“ und „der Knoten wird schon noch aufgehen“ sind hier absolut fehl am Platz, weil die Zeit gegen die Kinder arbeitet. Die Unterschiede werden grösser, nicht kleiner. Die Forschung konnte zeigen, dass es sinnvoll ist, bereits im Kindergarten die zu Beginn angesprochene „phonologische Bewusstheit“ zu trainieren, wenn diese bei einem Kind zu gering ausgeprägt ist. Die Kindergärtnerin kann mit dem Schulpsychologischen Dienst Kontakt aufnehmen, damit ein entsprechender Test durchgeführt wird. Sprechen Sie die Kindergärtnerin in der Elternsprechstunde darauf an, sofern Sie gravierende Probleme beim Schreiben- und Lesenlernen bei: Sich oder Ihrem Partner In der weiteren Familie Oder einem Ihrer Kinder beobachten konnten. Wie bereits angesprochen, weisen LeseRechtschreibschwäche einen hohen erblichen Anteil auf. Hat ein Elternteil eine Lese-Rechtschreibschwäche, ist das Risiko für das Kind, diese Schwäche ebenfalls zu entwickeln ca. zehnmal so hoch wie bei anderen Kindern. Hat ein Kind diese Schwäche, beträgt das Risiko fast 50%, dass die Geschwister ähnliche 215 Schwierigkeiten entwickeln. Falls Sie dieses Buch lesen, weil Ihr ältestes Kind Mühe hat, Lesen und Schreiben zu lernen, lohnt es sich, nicht nur dieses Kind beim Schulpsychologischen Dienst anzumelden, sondern direkt oder über die Kindergärtnerin auch das jüngere Geschwister. Ein weiterer wichtiger Hinweis sind kleinere Auffälligkeiten in der Sprachentwicklung, so z.B. ein im Vergleich zu anderen Kindern verzögertes Sprechenlernen oder undeutliches Sprechen. Training der phonologischen Bewusstheit Mehrere Studien konnten zeigen, dass bei einem Training der phonologischen Bewusstheit im Kindergartenalter die Startschwierigkeiten deutlich geringer ausfallen und in vielen Fällen eine Lese-Rechtschreibschwäche gänzlich verhindert werden kann. Dazu eignet sich beispielsweise das Trainingsprogramm HörenLauschen-Lernen I von Küspert und Schneider (2006). Dieses besteht aus 57 Sprachspielen und sollte im letzten Halbjahr vor der Einschulung durchgeführt werden. Mittels Lauschspielen, bei denen die Kinder bestimmte Geräusche erkennen sollen, Reimen und Übungen zur Wort- Silben und Lauterkennung, wird das Gehör geschult und das Bewusstsein für die Sprache gefördert. Es ist ideal, wenn das Kind ca. ein Jahr vor Schulbeginn durch den schulpsychologischen Dienst abgeklärt wird und im letzten Halbjahr des Kindergartens an einer Trainingsgruppe teilnehmen kann. Falls Sie lange auf Termine für eine Abklärung warten müssen, ihnen gesagt wird, dass Sie bis zur Einschulung warten sollen oder nach einer Abklärung keine staatliche oder private 216 Institution finden können, die ein Training zur phonologischen Bewusstheit anbietet, können Sie das Training „Hören, Lauschen, Lernen I“ notfalls auch selbst mit Ihrem Kind durchführen. Das Programm wird von den Autoren sehr detailliert erklärt, sodass es auch ohne Schulung durchgeführt werden kann. Wichtig ist aber die konsequente, systematische und vollständige Durchführung. Die Reihenfolge muss eingehalten werden und das Programm setzt voraus, dass über 20 Wochen hinweg 10 bis 15 Minuten pro Tag geübt wird. Eltern sollten sich dazu auch die DVD kaufen, die das Programm noch verständlicher macht und das Üben zu Hause erleichtert. Zum Programm gibt es mittlerweile mehrere Studien, die es als wirksam ausweisen (Schneider, 2001; Bus & Ijzendoorn, 1999). Wichtig ist allerdings die Anwendung vor der Einschulung. Danach nützt das Training kaum noch etwas (Einsiedler, Frank, Kirschhock, Martschinke & Treinies, 2002). Sie können das Buch mit den Übungen in jeder Buchhandlung erwerben: Küspert, P. & Schneider, W. (2006). Hören, lauschen, lernen – Sprachspiele für Kinder im Vorschulalter. Göttingen: Vandenhoeck & Rupreckt. Die kostengünstige und empfehlenswerte DVD zum Training heisst: Küspert, P. & Schneider, W. (2007). Hören, lauschen, lernen – vorgespielt. Göttingen: Vandenhoeck & Rupreckt. Ein gutes Spiel, das die Fähigkeit, Worte in Silben zu zerlegen fördert, ist „Schloss Silbenstein“ von Ravensburger. 217 Ist Ihr Kind bereits in der Schule, können Sie als Eltern vieles tun, um Ihr Kind beim Lesen- und Schreibenlernen zu unterstützen. Im Folgenden möchte ich Ihnen ähnlich wie beim Rechnen zeigen, wie Sie Schwierigkeiten Ihres Kindes feststellen und gezielt darauf reagieren können. Lücken erkennen und schliessen Zunächst möchte ich kurz darauf hinweisen, dass Kinder bei Schuleintritt in ihrer Entwicklung sehr unterschiedlich weit fortgeschritten sind (siehe Betz und Breuninger, 1998; Largo und Beglinger, 2010; Sommer-Stumpenhorst, 2006). Falls sich bei einem Kind Ende der ersten oder zweiten Klasse gravierende Schwierigkeiten beim Lesen und Schreiben zeigen, kann neben gezieltem Förderunterricht auch das Wiederholen eines Schuljahres eine sinnvolle Strategie sein. Schauen wir uns nun genauer an, wie Kinder Lesen und Schreiben lernen. Als erstes lernen Kinder in der Schule die Buchstaben. Dabei müssen sie einerseits lernen, den Buchstaben einen Laut zuzuordnen (lesen) und andererseits den Lauten Buchstaben und Buchstabenfolgen zuzuweisen (schreiben). Diese Zuordnung zu erlernen und zu automatisieren ist für Kinder schwierig, wobei erschwerend hinzukommt, dass die Buchstaben nicht für die deutsche Sprache entwickelt, sondern aus dem Lateinischen übernommen wurden. Durch diesen Umstand fehlen für gewisse Laute einzelne Buchstaben, sodass diese durch Buchstabenkombinationen dargestellt werden, wie: ei, sp, ch, sch Andere Laute hingegen können gleich durch mehrere Schreibweisen oder Buchstaben ausgedrückt werden, was die Rechtschreibung zu einer schwierigen Angelegenheit macht. Dies zeigt sich im folgenden kurzen Dialog zwischen einer Mutter und ihrem Kind: 218 Mutter: „Schau mal, wie du das geschrieben hast.“ Kind: „Or, schreibt man es mit h?“ Mutter: „Das hört man doch … ooohr, das ist lang“ Ja, Ohr klingt lang. Tor aber auch. Und warum sollte man nicht Oor schreiben, mit zwei o, wie in Moor oder Moos? Sie sehen, es kommt einiges auf Ihr Kind zu, was Lesen und Schreiben zu einer Angelegenheit macht, die es noch Jahre beschäftigen wird. Aber kommen wir zurück zu unserem ersten Schritt: Der Buchstabenkenntnis. Die erste Hürde, die Ihr Kind nehmen muss, liegt darin, die einzelnen Buchstaben zu erkennen und mit Lauten zu verbinden. Zunächst müssen hierzu verschiedene waagrechte, senkrechte und diagnonale Linien und Rundungen erkannt und zu Buchstaben zusammengesetzt werden. Diese müssen dann als visuelles Gebilde erkannt und in einen Laut übersetzt werden. Diese Vorgänge müssen soweit geübt werden, dass sie blitzschnell und automatisch ablaufen. Achten Sie beim Lernen der Buchstaben als Eltern immer darauf, dass Sie die Buchstaben so aussprechen, wie sie beim Lesen klingen, dass Sie sie lautieren und nicht buchstabieren. Es ist für Kinder verwirrend, wenn sie in der Schule die Buchstaben lautieren und zu Hause buchstabiert wird. Die Kinder sollen zu Beginn lernen, nach dem Gehör zu schreiben und wenn Sie Ihrem Kind das K als Ka und das T als Te vorstellen, kann es passieren, dass es später Kater als Ktr schreibt - halt ein Ka und ein Te und Er. Die Kinder lernen meist erst später, in der dritten oder vierten Klasse, dass die Buchstaben Namen haben. 219 Test 1: Buchstaben erkennen Eventuell liegen die Leseprobleme Ihres Kindes darin begründet, dass es einzelne Buchstaben noch nicht schnell genug oder gar nicht erkennt bzw. mit anderen verwechselt. Es lohnt sich, den folgenden kleinen Test zu machen: Schreiben Sie alle Buchstaben (grosse und kleine), die Ihr Kind in der Schule bereits gelernt hat, auf Karteikarten. Achten Sie unbedingt darauf, dass Sie die gleiche Schreibweise benutzen wie die Lehrerin. Mischen Sie die Buchstaben, damit sie nicht dem ABC folgen, und zeigen Sie Ihrem Kind jeweils nur für einen Augenblick einen Buchstaben nach dem anderen. Ihr Kind hat die Aufgabe, die Buchstaben zu lautieren. Achten Sie als Eltern darauf, welche Buchstaben Ihrem Kind Mühe bereiten. Bilden Sie jeweils einen Stapel mit den Buchstaben, die Ihr Kind mühelos beherrscht und einen mit den Buchstaben, die noch besser gelernt werden sollten. Da die Buchstaben gut automatisiert werden müssen, bedeutet „Mühe bereiten“ hier auch: Ihr Kind nennt zunächst einen falschen Buchstaben, korrigiert sich dann aber gleich Ihr Kind zögert kurz, bevor es den Buchstaben benennt Ihr Kind wird bei einem Buchstaben ein wenig unsicher Es hilft Ihrem Kind, wenn Sie es auch während dem Test ermutigen und es darauf hinweisen, wie viele Buchstaben es bereits beherrscht. 220 Manche Eltern sind erstaunt, wie unsicher ihr Kind beim Lesen einzelner Buchstaben ist, da es ihm bisher gelungen ist, dies zu verbergen. Als mein Vater mit mir einen Text aus dem Lesebuch der Schule einüben wollte, übernahm er das Blättern, vergass es aber nach einer Weile und war ziemlich erstaunt, als ich ohne umzublättern weiterlas. Er fragte mich, wo ich gerade sei, worauf ich irgendwo auf den Text zeigte und antwortete „etwa da?“ Ich hatte den Text, der in der Schule bereits einige Male gelesen wurde, auswendig gelernt und tat nun so – mitsamt Lesefehlern und stockendem Lesefluss – als würde ich ihm diesen vorlesen. Viele Kinder benutzen solche Hilfsstrategien sie können einzelne Buchstaben nicht, erschliessen sie jedoch aufgrund des Textes oder des Rests des Wortes und umgehen mangelnde Buchstabenkenntnisse auf diese Weise. Indem Sie die Buchstaben abfragen, ohne dass diese in ein Wort oder einen Text eingebunden sind, können Sie fehlende Kenntnisse besser herausfiltern. Konnte Ihr Kind alle Buchstaben? Falls ja, können Sie gleich zu Test 2 weiterblättern. Ansonsten fahren Sie mit Übung 1 fort. Übung 1: Alle bisher gelernten Buchstaben trainieren Falls Ihr Kind einige Buchstaben nicht mühelos benennen konnte, können Sie die Kärtchen nun benutzen, um diese einzuüben. Schauen Sie sich dazu zunächst die Buchstaben an, die Ihrem Kind noch Mühe bereiten und teilen Sie diese in grosse und kleine Buchstaben auf. Wahrscheinlich kann Ihr Kind diejenigen Buchstaben noch nicht, die es erst vor kurzem gelernt hat oder die nur selten auftauchen (z.B. Q, X, Y). Vielleicht verwechselt es auch solche, die ähnlich aussehen oder ähnlich ausgesprochen werden wie d und b oder q und p. Früher dachte man, dass gerade solche 221 Drehfehler, bei denen die Buchstaben d,b sowie q,p vertauscht werden auf eine Leseschwäche hinweisen. Heute weiss man, dass alle Kinder Mühe haben, diesen Unterschied zu lernen, da Kinder zuerst auf die Form und erst später auf die Ausrichtung der Buchstaben achten. Die aktuelle Forschung hat gezeigt, dass es keine typischen „Legasthenie-Fehler“ gibt – Kinder mit LeseRechtschreibschwäche machen einfach mehr Fehler (vgl. Leemann-Ambroz, 2006). Um die Verwechslungsgefahr zu verringern, sollten ähnliche Buchstaben in möglichst grossen Abständen gelernt werden. Schauen wir uns hierzu ein Beispiel an. Nehmen wir an, Florians Eltern haben den Test durchgeführt und das folgende Ergebnis erhalten: Florian ist sich noch bei mehreren Buchstaben unsicher: B, C, D, E, H, P, Q, T sowie d, p, g, q, t, c Die Buchstaben sollten nun nicht dem Alphabet nach repetiert werden, sondern so, dass keine ähnlichen Buchstaben hintereinander gelernt werden. Florians Eltern beginnen mit den Grossbuchstaben und achten zunächst darauf, bei welchen Buchstaben Verwechslungsgefahr besteht: F und E, sowie B und P sehen ähnlich aus, B und P sowie D und T klingen ähnlich. Eine gute Abfolge wäre somit: B, F, D, Q, H, C, P, E, T. Um die Buchstaben zu lernen, werden diese systematisch geübt. Wie viele neue Buchstaben pro Woche eingeführt werden können und wie oft ein einzelner Buchstabe wiederholt wird, hängt alleine von der Lerngeschwindigkeit Ihres Kindes ab. Nehmen wir an, Florian hat grosse Schwierigkeiten mit den nicht gekonnten Buchstaben. Seine Mutter nimmt sich vor, 222 zunächst den Buchstaben B einzuüben. Dabei geht sie folgendermassen vor: Übungsablauf M: Schau Florian, das ist ein B. Kommentar Da Florian im Test den Buchstaben gar nicht benennen konnte, benennt ihn die Mutter zunächst selbst. M: Wie heisst dieser Buchstabe? Die Mutter zeigt Florian nochmals das Kärtchen und lässt ihr Kind antworten F: B M: Sehr gut M: Kannst du nochmals sagen, wie der Buchstabe heisst? F: B M: Gut. Und dieser? F: A M: und dieser? Die Mutter lässt nun ein wenig Zeit verstreichen und fragt nochmals denselben Buchstaben ab Die Mutter zeigt nun ein A, ein Buchstabe, den Florian sicher beherrscht Die Mutter zeigt wieder das B F:... M: B Indem die Mutter das A dazwischen-geschoben hat, hat Florian das B wieder vergessen. Die Mutter hilft ihm. M: Weisst du es noch? F: B M : und dieser? F: A M : und dieser? F: B M: Sehr gut. Die Mutter zeigt das B nochmals 223 Florian und seine Mutter fahren weitere 5 Minuten mit dieser Übung fort, wobei nur zwischen B und A abgewechselt wird. Am Abend im Bett wird die Übung vor der Gute-NachtGeschichte für 2 Minuten auf die gleiche Weise wiederholt. Am nächsten Tag wird zuerst das B repetiert, dann das F eingeübt und schliesslich zwischen F und B abgewechselt. Kann Ihr Kind die Buchstaben im Test benennen, aber nicht schnell genug, können Sie gleich mit zwei oder drei Buchstaben beginnen. Kann es alle Buchstaben sicher und schnell benennen, werden die ähnlichen Buchstaben absichtlich hintereinander abgefragt. Ihr Kind muss nun lernen, diese sicher unterscheiden zu können. Dieser Schritt erfolgt ausdrücklich erst dann, wenn Sie das Gefühl haben, dass die einzelnen Buchstaben sitzen. Sind auf diese Weise alle Grossbuchstaben gelernt, können Sie mit den Kleinbuchstaben nach demselben Schema verfahren. Am Ende können Sie grosse und kleine Buchstaben mischen und diese durcheinander abfragen. Zur Abwechslung können Sie auch das eine oder andere Spiel einbauen. Dabei sollten Sie jedoch darauf achten, dass das Lernen der Buchstaben im Vordergrund bleibt. Sie können beispielsweise selbst ein Memory basteln, bei dem jeweils eine Karte das Bild eines Tiers enthält und die andere den Anfangsbuchstaben dieses Tieres: A und das Bild eines Affen; B und das Bild eines Bibers etc. Kinder spielen auch gerne mit Buchstabenwürfeln, die sich in Buchhandlungen oder auf Amazon in jeglichen Formen und Farben kaufen lassen. In einer einfacheren Form könnten Sie den Würfel werfen und Ihr Kind nennt so schnell wie möglich 224 den Buchstaben. In der schwierigeren Form könnten Sie und Ihr Kind jeweils eine Kategorie nennen wie Tier, Name etc., den Würfel werfen und der andere muss den Buchstaben und ein Wort nennen, beispielsweise: E, Elefant oder S, Stefan (mehr dazu findet sich in Plume und Schneider, 2009). Spiele wie „Letra-Mix“, „Wort-Tüftel“ oder „Wörter Würfeln“ verbinden Buchstabenwürfel mit einer komplexeren Spielidee. Diese Spiele sind jedoch eher geeignet, wenn das Kind die Buchstaben bereits gut kennt und in der Lage ist, relativ schnell Wörter zu bilden. Spiele wie „Wort für Wort“ oder „E wie Elefant“ von Ravensburger sind zu Beginn hilfreicher. Achten Sie beim Kauf solcher Spiele immer darauf, dass sie das Kind nicht über- oder unterfordern. Test 2: Buchstaben schreiben Das Schreiben von Buchstaben ist deutlich schwieriger, da die Buchstaben hierbei nicht nur passiv wiedererkannt, sondern aktiv gebildet werden müssen. Gehen Sie beim Testen auf die gleiche Weise vor, wie beim Lesen der Buchstaben. Lassen Sie Ihr Kind zunächst die grossen, dann die kleinen Buchstaben schreiben. Sprechen Sie die Buchstaben vor und notieren Sie sich, bei welchen Ihr Kind unsicher ist. Denken Sie auch hier daran, die Buchstaben so auszusprechen, wie sie klingen, und sie nicht zu buchstabieren (k nicht ka). Wenn Ihr Kind alle Buchstaben kann, können Sie zu Test 3 weiterblättern. 225 Übung 2: Buchstaben schreiben Buchstaben sind ziemlich abstrakte Gebilde aus Rundungen und Strichen, die sich Kinder nur schwer merken können. Ihr Kind wird Zeit und Geduld aufwenden müssen, um alle Buchstaben sicher und schnell schreiben zu können und die Verbindung zwischen dem jeweiligen Laut und dem Zeichen abzuspeichern. Nehmen Sie die Buchstaben, die Ihr Kind noch nicht zügig schreiben konnte und legen Sie die Kärtchen - ähnlich wie beim Lesen lernen - in eine Reihenfolge, bei der ähnlich klingende oder ähnlich aussehende Buchstaben möglichst nicht hintereinander gelernt werden. Lassen Sie den Buchstaben zunächst von Ihrem Kind abmalen, damit es ein Gefühl dafür entwickelt. Achten Sie darauf, dass Ihr Kind nicht mechanisch und möglichst schnell arbeitet, sondern langsam und bewusst und dabei den Laut mitspricht. Fragen Sie das Kind nach einiger Zeit, ob Sie die Karte und die bereits geschriebenen Buchstaben zudecken dürfen. Schafft es Ihr Kind, den Buchstaben aus dem Gedächtnis richtig aufzuschreiben, können Sie es diesen noch einige Male üben lassen. Machen Sie dann eine kleine Pause, um zu schauen, ob Ihr Kind ihn behalten konnte: Mutter: Schau, ich lege dir das A hin, damit du siehst, wie es aussieht. Schreib es einmal ab. Kind: So Mutter: Sehr gut. Versuch jetzt mal, beim Schreiben mitzusprechen, aaa... 226 Kind: aaa Mutter: Gut, komm, wir machen das noch ein paar Mal Kind: aaa …. aaa. …aaa Mutter: Das sieht gut aus. Weisst du schon, wie es aussieht? Kind: Vielleicht? Mutter: Darf ich die mal abdecken (schiebt ein leeres Blatt darüber)? Versuch es nochmal. Kind: aaa – hat es so ausgesehen? Mutter: Du kannst die nachschauen. Karte wieder umdrehen und Kind: Stimmt Mutter: Sehr gut! Mach doch noch zwei oder drei, dann machen wir ein Spiel und schauen, ob du es danach immer noch kannst. Am nächsten Tag sollten Sie diesen Buchstaben noch einige Male üben, bis Sie einen weiteren Buchstaben mit einbeziehen. Dasselbe gilt für die folgenden Tage und Wochen. Gehen Sie nicht zu schnell vorwärts und seien Sie nicht enttäuscht, wenn Ihr Kind einzelne, scheinbar bereits gelernte Buchstaben wieder vergisst. Dies kann vor allem dann passieren, wenn ähnliche neue Buchstaben hinzukommen, ist aber auch ein Hinweis darauf, dass zu spät wiederholt wurde. Test 3: Buchstaben zusammenlauten 227 Manche Kinder kennen zwar alle Buchstaben und können diese einzeln sehr schnell erfassen, haben aber Mühe, mehrere Buchstaben zusammenzulauten. Unter Zusammenlauten versteht man das Zusammenziehen zweier oder mehrerer Laute, was einigen Kindern grosse Mühe bereitet. Sie lesen die Laute einzeln, z.B. als M…A anstelle von Ma. Eine zusätzliche Schwierigkeit entsteht im Deutschen dadurch, dass einige Buchstabenfolgen einen neuen Laut ergeben: ei, au, eu, sch, ch, ng, st, sp, ph während man andere Buchstaben nicht hört: ie, das stumme h sich einige im Klang nicht unterscheiden j, i, ie, y wie in Igel, Jäger, Spiegel, Yves V und F wie in Vogel und Förster und Buchstaben je nach Position und Wort anders klingen: Hose, nehmen, näher (stummes und hörbares H) Zeigen Sie Ihrem Kind einige Kärtchen, die Silben aus zwei bis drei Buchstaben enthalten und achten Sie darauf, ob Ihr Kind diese zusammenlauten kann oder ob es sie eher als einzelne Buchstaben liest. Mögliche Silben: 228 Ma, Ge, Ha, Zu, En, To, Ru, De Ein, Ver, Vor, Men, Mal, Bis, Kri Testen Sie auch, ob Ihr Kind die folgenden Buchstabenkombinationen, die einen neuen Laut ergeben, richtig lesen kann, sofern es diese in der Schule bereits durchgenommen hat: ei, äu, eu, sch, ch, ng, st, sp, ph Sie können diese auch in einem Wort vorgeben, z.B.: Ei, Häuser, Heu, Schlange, lachen, Hengst, Stolz, springen, Philip Notieren Sie, wobei Ihr Kind Mühe hatte: □ □ □ □ □ □ □ □ □ □ □ Zwei Buchstaben zusammenlauten Drei Buchstaben zusammenlauten ei äu eu sch ch ng st sp ph Bei Schwierigkeiten helfen die folgenden Übungen, diese Stufe zu nehmen. Beherrscht Ihr Kind das Zusammenlauten, können Sie zu Test 4 weiterspringen. Übung 3: Buchstaben zusammenlauten 229 Das Zusammenlauten stellt für viele Kinder eine besondere Schwierigkeit dar und es kann lange dauern, bis sie diese Hürde überwinden. Das Üben mit einzelnen Silben stellt hierzu eine gute Übungsform dar, weil Kinder auf diese Weise dazu angeleitet werden, diese als Einheiten wahrzunehmen. Können Silben aus zwei oder drei Buchstaben mit der Zeit auf einen Blick erfasst werden, erhöht dies das Lesetempo beträchtlich. Üben Sie das Zusammenschleifen zunächst mit Silben, die aus zwei Buchstaben bestehen und gehen Sie danach zu solchen mit drei Buchstaben über. Nehmen Sie einen Schulbuchtext Ihres Kindes und suchen Sie sich in einem Abschnitt alle Silben mit zwei Buchstaben heraus oder wählen Sie selbst einige häufige Silben aus, z.B. Ma, Mu, Mi, Mo. Üben Sie mit Ihrem Kind die Silben, bis es diese gut zusammenlauten und somit relativ fliessend lesen kann. Peter im folgenden Beispiel macht hier schnell Fortschritte: Kleinere Schwierigkeiten Kommentar M: Lies mal P: M...A M: Ja, kannst du es mal zusammen lesen? P: MA M: Sehr gut. Und dieses hier? P: M....I, MI M: gut. Und das? P (schnell): MA M: und das? P (schnell): MI Peters Mutter kann schnell weitere Kombinationen hinzu nehmen und ihren Sohn bald mit Kärtchen üben lassen, die Silben mit drei Buchstaben und kürzere Wörter enthalten. 230 M: Gut, und das? P: M…U, MU Manchen Kindern bereitet das Zusammenschleifen dagegen grosse Schwierigkeiten. Sie müssen diesen Schritt über längere Zeit täglich üben: Grössere Schwierigkeiten Florian hat sehr viel mehr Mühe mit dem Zusammenziehen. Obwohl nur Buchstaben verwendet werden, die zuvor intensiv geübt wurden, kann er sie schlecht zusammenlauten. M: Kannst du das mal lesen? F: M...A M: Gut, M und A. Jetzt hast du es so gelesen M, A M: Versuch jetzt einmal, es so zu lesen: MA. F: MMAA M: Sehr gut M: Benutz auch mal die Finger. F: MA M: Gut. Jetzt lies sie einmal einzeln F: M...A Kommentar Die Mutter legt den Finger auf das M und liest M, springt dann auf das A und liest A. Sie zeigt Florian damit, dass er die Buchstaben einzeln liest Jetzt gleitet die Mutter mit dem Finger in einer fliessenden Bewegung über die Buchstaben Die Mutter leitet Florian an, mit den Fingern fliessend über die Buchstaben zu fahren. Die Mutter hüpft wieder mit den Fingern vom A zum M M: Und jetzt nochmals 231 zusammen F: MA Florian lässt die Finger über die Buchstaben fahren und schleift sie zusammen Schreiben Sie auch die Buchstabenkombinationen ei, äu, eu, sch, ch, ng, st, sp, ph auf Kärtchen und üben Sie diese besonders ein, da sie einen neuen Laut ergeben. Mit der Zeit gelingt es den Kindern, häufig geübte Kombinationen von zwei oder drei Buchstaben auf einen Blick zu erfassen. Das Wort Mama besteht dann nicht mehr aus vier einzelnen Buchstaben, sondern aus zwei gut geübten Silben das Lesetempo wird deutlich erhöht. Wenn Sie einige häufige Silben und kürzere Wörter mit Hilfe des Zettelkastens geübt haben und Ihrem Kind das Zusammenschleifen relativ gut gelingt, können Sie zu einfachen Texten übergehen. Beim Lesen können Sie Ihrem Kind helfen, Wörter in Silben zu zerlegen, um sie silbenweise statt buchstabenweise zu erlesen. Hierzu eignet sich eine Lesehilfe. Schneiden Sie dazu ein Rechteck aus einer Karteikarte aus und decken Sie den Text Silbenweise auf: „Nicht aufgeben!“ rief der Va Das Ravensburger Spiel „Schloss Silbenstein“ kann auch für diesen Schritt verwendet werden. Test 4: Lautgetreues Schreiben 232 Beherrschen Kinder die einzelnen Buchstaben, kann mit dem Schreiben erster Wörter begonnen werden. In dieser Phase des Schreibens geht es darum, eine grundlegende Fähigkeit für das Schreiben zu trainieren: Kinder sollen in die Lage versetzt werden, einzelne Laute aus Wörtern herauszuhören und diese zu schreiben. In dieser Phase sollte unbedingt darauf geachtet werden, dass nur lautgetreue Wörter geschrieben werden – solche Wörter, die so geschrieben werden, wie man sie hört und nur eine Schreibweise zulassen. Was bedeutet das genau? Viele Wörter im Deutschen können nur dann richtig geschrieben werden, wenn das Kind bestimmte Rechtschreibregeln kennt oder das Schriftbild eines Wortes auswendig gelernt hat. Kann ein Wort falsch geschrieben werden und hört es sich beim Lesen dennoch richtig an, handelt es sich nicht um ein lautgetreues Wort. So könnte man statt: Zebra auch Cebra oder Tsebra lieb auch lib fühlen auch fülen stehen auch schteen schreiben. Dabei haben wir Erwachsene uns oft so an ein bestimmtes Schriftbild gewöhnt, dass wir glauben, dass die richtige Schreibweise auch die einzig mögliche sei. Dies birgt eine Gefahr: Wir unterliegen als Erwachsene der Illusion, dass man bei Wörtern, die nur über das Auswendiglernen des Schriftbilds oder Regelkenntnisse richtig geschrieben werden können, heraushören kann, wie man sie schreibt. Damit verbunden ist 233 eine der häufigsten und destruktivsten Aufforderungen beim Schreibenlernen: Kritiken oder „Das hört man doch!“ oder „hör noch mal genau hin!“ Ein Beispiel: Mutter: „Schreib mal: Er kannte ihn seit zwei Jahren“ Kind (schreibt): Er kante… Mutter: „Mit zwei n, das hört man doch!“ Tischkante hört sich genau gleich an, wird aber mit einem n geschrieben! Er kannte… wird mit zwei n geschrieben, weil es sich von kennen ableitet und nicht, weil es sich so anhört, als ob es mit zwei n geschrieben wird. Ob ein Wort mit ie, h, mit Doppelkonsonanten (nn, mm, ss) etc. geschrieben wird, lässt sich nicht heraushören. Beachten Sie, liebe Eltern, deshalb zwei Punkte: 1. Lassen Sie Ihr Kind in dieser Phase nur lautgetreue Wörter schreiben. 2. Verzichten Sie darauf, mit Ihrem Kind darüber zu streiten, ob man etwas hören kann oder nicht. Ob Ihr Kind bereits in der Lage ist, lautgetreue Wörter zu schreiben, können Sie herausfinden, indem Sie die folgenden Sätze diktieren: 234 Mama und Papa lesen ein Buch Lisa baut ein Haus Peter ist im Kino Die Maus hört den Hund Im Garten hat es Blumen Die Tante kocht Nudeln Menschen sind klug Ich schlafe gern Er ist böse auf Oma Meine Hose ist rot 235 Übung 4: Lautgetreues Lesen und Schreiben Damit Sie nicht immer überlegen müssen, ob ein Wort nun lautgetreu ist oder nicht, benutzen Sie zum Üben des lautgetreuen Lesens und Schreibens in den Klassen 1 bis 3 am besten die Unterlagen eines professionell erstellten LeseRechtschreibtrainings. Am besten verwenden Sie dazu eines, das sich in wissenschaftlichen Untersuchungen als wirksam erwiesen hat oder zumindest auf der aktuellen psychologischen Forschung beruht. Gute Trainings sind zum Beispiel: Jansen und Streit (2007). Lesen und Rechtschreiben lernen nach dem IntraActPlus-Konzept. Springer-Verlag. Reuter-Liehr, C. (2006). Lautgetreue Lese-Rechtschreibförderung Band 3. Lerngruppe I: 40 exakte Stundenabläufe je 90 Minuten für die Förderung ab Mitte 3. Klasse. Bochum: Winkler-Verlag. Dummer-Schmoch, L. & Hackethal, R. (2001). Kieler Rechtschreibaufbau. Veris-Verlag Spielerisch: Reuter-Liehr, C. (2006). Lautgetreue Lese-Rechtschreibförderung: Die SpielSpirale. Bochum: Winkler Viele Materialien und Anregungen finden sich in: Mahlstedt, D. (1999). Lernkiste Lesen und Schreiben: Fibelunabhängige Materialien zum Lesen- und Schreibenlernen für Kinder mit Lernschwächen. Beltz-Verlag. Weiterführende Fertigkeiten trainieren 236 Die ersten vier Tests und die jeweiligen Übungen und weiterführenden Materialien helfen Ihrem Kind, die Basisfertigkeiten für die Fächer Lesen und Schreiben zu entwickeln. Aufbauend auf dieser Basis verbessert sich das Kind über die gesamte Schulzeit hinweg in den folgenden drei Bereichen: 1. Lesetempo 2. Rechtschreibung 3. Textverständnis Die Prüfungen, die Ihr Kind in der Schule schreibt, geben Ihnen Aufschluss, womit Ihr Kind die grössten Schwierigkeiten hat. Hat Ihr Kind in einem Bereich grosse Mühe, können Sie es mit einer der folgenden Übungen unterstützen. Übungen zur Erhöhung der Lesegeschwindigkeit Zu langsames Lesen kann ein grosses Problem sein. Kinder, die zwar richtig lesen, aber im Schneckentempo, werden Bücher kaum spannend finden und weniger bereit sein, in ihrer Freizeit zu lesen. Die Lesegeschwindigkeit hängt davon ab, welche Strategie wir benutzen und wie gut wir die jeweilige Strategie anwenden können. Es lassen sich zwei Strategien unterscheiden: Wörter, die wir nicht kennen oder nur selten gesehen haben, wie z.B. „drainglufindar“ lesen wir buchstaben- oder silbenweise – als Erwachsene merken wir dies daran, dass wir langsamer werden. Häufige Wörter erkennen wir hingegen auf einen Blick. Sie gehören zu unserem Sichtwortschatz und erlauben es uns, eine hohe Lesegeschwindigkeit zu erreichen. Mit der Zeit gelingt es Kindern, mehr und mehr Wörter mit einem Blick zu erfassen. Wie schnell dies gelingt, ist von Kind zu Kind unterschiedlich, wobei es auch hier neben der 237 Begabung darauf ankommt, wie viel ein Kind in seiner Freizeit liest. Liest Ihr Kind sehr langsam und baut es die Wörter meist noch Buchstabe für Buchstabe auf, können Sie ihm aktiv dabei helfen, seinen Sichtwortschatz auszubauen. Schreiben Sie einige Wörter des Grundwortschatzes auf Kärtchen. Beginnen Sie mit kürzeren Wörtern wie ich, und, du, Vater, Haus, ist etc. Sie können hierzu z.B. die Lesefibel der Schule verwenden und einige häufigere Wörter auswählen. Ein tolles Buch hierzu ist: Sennlaub, G. (2006). Von A bis Zett: Wörterbuch für Grundschulkinder. Cornelsen-Verlag. Ansonsten gibt es auf einer Webseite der Uni Leibzig eine Liste mit den 100, 1‘000 und 10‘000 häufigsten Wörtern der deutschen Sprache: http://wortschatz.uni-leipzig.de/html/wliste.html Falls Sie wenig Lust haben, die Wörter selbst auf Karteikarten zu schreiben, empfiehlt es sich, im Buchhandel einen Zettelkasten mit dem Grundwortschatz der deutschen Sprache zu kaufen. Diese gibt es für die erste bis vierte Klasse: Gührs, L. (2008). Grundwortschatz Deutsch: Klasse 1. (2./3./4.). Sinnverstehend lesen und rechtschreiben. Aol im Aap Lehrerfachverlag. Nehmen Sie drei oder vier Kärtchen und lassen Sie Ihr Kind die Wörter lesen. Mit der Zeit zeigen Sie die Kärtchen für immer kürzere Zeit, indem Sie sie gleich wieder umdrehen. Üben Sie die Wörter ein, bis es Ihrem Kind gelingt, diese innerhalb von einer Sekunde zu erfassen. Sie können durch diese Übung ähnlich wie beim Addieren im Zehnerraum einen 238 Strategiewechsel initiieren – Ihr Kind entdeckt unbewusst, dass sich Wörter auch als Ganzes lesen lassen. Um den Sichtwortschatz aufzubauen ist es notwendig, dass Ihr Kind die gleichen Wörter in relativ kurzen Abständen immer wieder liest. Dies lässt sich ausser mit Karteikarten auch mit anderen Übungen erzielen. So macht es einigen Kindern Spass, einen Text so lange einzuüben, bis sie ihn fliessend vorlesen können. Kinder langweilen sich dabei weniger schnell, als man denkt (will Ihr Kind auch immer die gleiche Geschichte hören und seine Lieblingsfilme ein zwanzigstes Mal sehen?). Geeignete Texte finden Sie beispielsweise in den Lesebänden „Flüssig lesen lernen“ von Gero Tacke, die jeweils als Lehrerund Elternband für verschiedene Klassenstufen vorliegen. Beispielsweise: Tacke, G. (2005). Flüssig lesen lernen 2/3. Elternband: Ein Leseprogramm für die Klasse 2 und 3 der Grundschule. Mit Hilfe der Eltern. Übungen, Spiele und eine spannende Geschichte. Klett-Verlag. Achten Sie darauf, dass das Kind mitliest, auch wenn es den Text beinahe auswendig kann. Es hilft, wenn es eine Lesehilfe benutzt – die Karteikarte mit dem Ausschnitt, die den restlichen Text abdeckt oder einen Stift, mit dem es über den Text fährt. Die Rechtschreibung verbessern Die deutsche Rechtschreibung wartet mit vielen Schwierigkeiten auf. Daran hat auch die halbherzig durchgeführte Rechtschreibreform wenig geändert. 239 Viele Eltern sind unsicher, wie sie ihren Kindern bei der Verbesserung der Rechtschreibung helfen können. Meistens wird mit Diktaten geübt. Diktate sind jedoch nicht geeignet, um die Rechtschreibung zu trainieren – sie dienen lediglich der Überprüfung des Lernfortschritts. Ich bin immer wieder erstaunt, wenn mir Eltern erzählen, dass sie bereits seit Monaten oder Jahren Diktate üben, obwohl sich bisher kaum Fortschritte eingestellt haben. Haben Kinder gelernt, den Buchstaben Laute zuzuordnen, können sie bereits viele Wörter nach Gehör richtig schreiben. Im Deutschen lassen sich jedoch lediglich etwas über 70% der Wörter auf diese Weise richtig schreiben, die restlichen Rechtschreibprobleme unterteilen sich in solche, die über das Lernen und Einüben von Rechtschreibregeln gelöst werden können und solche, die sich über das Auswendiglernen des Schriftbilds einzelner Wörter reduzieren lassen. Wenden wir uns zunächst dem Einüben der Rechtschreibregeln zu. Rechtschreibregeln richtig einüben - Fehleranalyse Es gibt im Deutschen eine grosse Anzahl von Rechtschreibregeln, die jedoch unterschiedlich ins Gewicht fallen. Meist sind es einige wenige nicht verstandene oder mangelhaft eingeübte Rechtschreibregeln, die die meisten Fehler verursachen. Die folgende Grafik zeigt eine typische Fehlerverteilung. Die Mutter brachte dazu alle von der Lehrerin korrigierten Aufsätze und Diktate sowie einige Diktate, die sie selbst mit ihrer Tochter geschrieben hatte mit in die Beratung. Insgesamt wurden 219 Fehler ausgewertet und einzelnen Fehlerkategorien zugeordnet, die sich wie folgt verteilen: 240 Fehler 100 80 60 40 20 0 … … … … … … … … Dehnung Schärfung Gross-Klein Fehler Die Grafik verdeutlicht, dass ein Grossteil der Fehler, genauer gesagt 89 von 219, also über 40%, auf die Fehlerkategorie „Gross- und Kleinschreibung“ entfällt. Die ersten beiden Fehlerkategorien machen 66% der Fehler aus. Während die meisten Fehler auf einige wenige unverstandene oder zu wenig geübte Rechtschreibregeln zurückzuführen sind, fallen die restlichen Rechtschreibregeln kaum ins Gewicht. Das Kind macht zwar viele Fehler, bei näherer Betrachtung aber glücklicherweise nur in wenigen Kategorien. Diese können nun systematisch aufgearbeitet werden. Es motiviert Kinder ungemein, wenn aus den vielen einzelnen Fehlern plötzlich einige wenige Fehlerkategorien werden. Auf Seiten der Eltern nimmt die Hilflosigkeit ab, sobald klar ist, dass mit gezielten, auf einzelne Rechtschreibregeln ausgerichteten Übungen bereits ein bedeutender Teil der Fehler verhindert werden kann. Die Fehleranalyse ist etwas mühsam durchzuführen, lohnt sich aber. Und so gehen Sie vor: 241 1. Informieren Sie sich zuerst mittels der Schulhefte oder des Deutschbuchs, welche Rechtschreibregeln Ihr Kind in der Schule bereits durchgenommen hat. 2. Sammeln Sie alle Aufsätze, Diktate etc. Ihres Kindes, die von der Lehrerin korrigiert wurden. Falls Sie nur wenig Material haben, ist es günstig, mit dem Kind einige Diktate zu schreiben – nicht zu Übungszwecken, sondern um die Fehlerquellen zu finden. 3. Ordnen Sie die Fehler einzelnen Fehlerkategorien zu. Sie können hierzu das Schema auf der nächsten Seite verwenden. Machen Sie jeweils einen Strich pro Fehler. Sie werden bald feststellen, wie ungleich die Fehler verteilt sind. Fehlerkategorie Gross- und Kleinschreibung Schärfung (Doppel – n,m,s,t, z.B. kenen statt kennen, Strase statt Strasse, komen statt kommen) Dehnung (ie, h, aa, oo, z.B. Mer statt Meer, mer statt mehr, Zige statt Ziege) Das und dass verwechselt k und ck verwechselt z und tz verwechselt v und f verwechselt d und t verwechselt 242 Anzahl Fehler ö, ä, ü, i – Punkte vergessen Satzzeichenfehler (Komma vergessen etc.) Fehler bei der Zusammenund Getrenntschreibung Wortstammfehler (Fehler, die sich verhindern liessen, wenn Ihr Kind auf den Wortstamm achten würde. Z.B. helt statt hält – der Halt, halten) Fehler, die auf eine mangelhafte Übung des lautgetreuen Schreibens schliessen lassen wie: Buchstaben auslassen Buchstaben verwechseln Rechtschreibregeln richtig einüben Nach der Fehleranalyse wissen Sie, welche Rechtschreibregeln zuerst geübt werden sollten. Beim Üben sollten Sie immer wieder überprüfen, inwieweit Ihr Kind die Regel anwenden kann. Hierzu können Sie sich die folgenden Stufen zu Hilfe nehmen: Stufe 1: Mein Kind kennt die Regel nicht Erklären Sie Ihrem Kind die Regel. Achten Sie unbedingt darauf, dass Sie die Regeln auf die gleiche Weise erklären wie die Lehrerin Ihres Kindes – ansonsten ist der Frust vorprogrammiert. Malen Sie beispielsweise zusammen mit Ihrem Kind ein Plakat zur Regel, welches es sich im Zimmer 243 aufhängen kann. Schauen Sie dieses zusammen mit Ihrem Kind vor jeder Übung an. Stufe 2: Mein Kind kennt die Regel, hat aber Mühe, sie richtig anzuwenden Zeigen Sie Ihrem Kind anhand vieler Beispiele, wie die Regel anzuwenden ist, und fragen Sie es immer wieder nach der Regel. Beispiel: Schau dir diesen Satz an: lisa hat sich ein fahrrad gekauft. Welche Wörter schreibt man gross? Lisa und Fahrrad Sehr gut. Wieso? Kannst du die Regel nochmal sagen? Lisa ist ein Name und bei Fahrrad kann man der, die, das voransetzen. Sehr gut. Und bei diesem Satz:…? Stufe 3: Mein Kind kann die Regel anwenden, macht aber dennoch bei Diktaten und Aufsätzen viele Fehler. Auf dieser Stufe befinden sich viele Kinder mit Rechtschreibschwierigkeiten. Wenn sie bewusst auf eine Regel achten, können sie diese anwenden. Müssen sie jedoch bei einem Aufsatz gleichzeitig auf mehrere Regeln und zusätzlich auf den Inhalt achten oder werden sie wie bei einem Diktat Zeitdruck oder Stress ausgesetzt, tauchen die Fehler wieder auf. Die Regel ist nicht genügend automatisiert, um sie ohne nachzudenken anwenden zu können - das Kind braucht mehr Übung. Üben Sie auf dieser Stufe weiter, bis Sie das Gefühl 244 haben, dass Ihr Kind die Regel automatisiert anwenden kann. Sie erkennen dies an zwei Dingen: Ihr Kind kann die Regel sehr schnell anwenden (es braucht z.B. nicht mehr die Hilfsfrage „kann ich der, die, das davor setzen?“, um herauszufinden, ob ein Wort gross geschrieben wird. Es hat ein Gefühl dafür entwickelt). Es kann sich einen Satz wie „lisa hat sich ein fahrrad gekauft“ ansehen, mit dem Finger über die einzelnen Wörter fahren und sagen: Gross, klein, klein, klein, gross, klein! Ihr Kind muss sich kaum mehr anstrengen, um die Übungen zu dieser Regel korrekt durchzuführen. Stufe 4: Mein Kind kann die Regel schnell und sicher anwenden. Schön! Nun gilt es lediglich, ab und zu darauf zu achten, ob die Fehler wieder vermehrt auftreten, um in diesem Fall rechtzeitig repetieren zu können. Wo erhalte ich geeignetes Übungsmaterial? Schauen Sie zunächst im Heft Ihres Kindes nach, wie die Regel erklärt und welche Übungen dazu gemacht wurden. Beginnen Sie mit diesen Übungen und bitten Sie evtl. die Lehrerin Ihres Kindes um zusätzliches Material. Es gibt auch professionell gestaltete Trainings. Zur Gross-und Kleinschreibung und dem Erkennen der Wortarten (Nomen/Verben/Adjektive) eignet sich das folgende Programm: 245 Tacke, G. (2011). Eltern helfen ihrem Kind. Das 10-MinutenRechtschreibtraining: Ein Programm zum Aufbau der Rechtschreibkompetenz ab Klasse 3 der Grundschule. ... für das Lernen zu Hause. Grundkurs. Auer-Gmbh. Der Lernserver-Verlag bietet spezifische Übungsmaterialien zu einzelnen Rechtschreibregeln zu einem relativ günstigen Preis. Zum Beispiel : Schönweiss, P. (2006). Lernserver Fördermappe 7: Gross- und Kleinschreibung. Lernserver. Schönweiss, P. (2006). Lernserver Fördermappe 4: Dopplung. Lernserver. Schönweiss, P. (2006). Lernserver Fördermappe 6: Dehnung. Lernserver. Ein wissenschaftlich fundiertes und auf seine Wirksamkeit hin überprüftes Rechtschreibprogramm zum regelgeleiteten Schreiben ist das Marburger Rechtschreibtraining: Schulte-Körne, G. & Mathwig, F. (2009). Das Marburger Rechtschreibtraining. Bochum: Winkler. Einzelschreibungen lernen Die Schreibweise mancher Wörter lässt sich nicht über Regeln lernen – sie muss auswendig gelernt werden. Andere lassen sich über Regeln herleiten. In beiden Fällen lässt sich der Zettelkasten verwenden. Es kann hilfreich sein, den schwierigen Teil des Wortes besonders zu kennzeichnen (mit einer anderen Farbe oder durch Unterstreichen). Der folgende Ablauf ist dabei besonders hilfreich: Katrin hat das Wort „Aussehen“ falsch geschrieben – mit nur einem s. Sie geht nun folgendermassen vor: 246 1. Sie zerlegt das Wort in Silben und spricht es nach Beim Zerlegen in Silben wird das zweite s deutlich hörbar: Ausse-hen 2. Sie überlegt, wie sie sich die Schreibweise merken könnte Ihr fällt auf, dass das erste s zur Vorsilbe „aus“ und das andere zum Verb „sehen“ gehört. 3. Sie markiert die schwierige Stelle 4. Sie schreibt das Wort auf ein Kärtchen. Dann dreht sie die Karte um und schreibt das Wort nochmals. 5. Sie dreht die Karte wieder um und überprüft, ob sie das Wort richtig geschrieben hat 6. Sie legt das Wort in ihren Zettelkasten, um es in den nächsten Tagen nochmals zu wiederholen. Sie nimmt das nächste Wort, das sie falsch geschrieben hat: kante. Hier bespricht sie mit ihrer Mutter, wie sie sich das Wort merken könnte. Und so gehen die beiden vor: 1. Mutter und Kind überlegen, ob es eine Regel gibt oder eine andere Möglichkeit, sich das Wort einzuprägen. Die Mutter erklärt Katrin, dass kannte von kennen kommt und deshalb mit zwei nn geschrieben wird. Die (Tisch)kante hingegen schreibt sich mit einem n. 2. Sie überlegen, wie sich Karin die Schreibweise merken könnte. 247 Katrin schreibt dazu das Wort kennen auf eine Karte und setzt es in die Formen: Ich kenne, ich kannte. Sie zeichnet einen kleinen Tisch auf die Karte und schreibt das Wort Tischkante darunter. 3. Sie markiert die schwierige Stellen: ich kannte, Tischkante 4. Sie dreht die Karte um und schreibt beide Wörter nochmals. Dabei erklärt sie der Mutter, weshalb sie kannte mit zwei n schreibt. 5. Sie dreht die Karte wieder um und überprüft, ob sie das Wort richtig geschrieben hat 6. Sie legt das Wort in ihren Zettelkasten, um es in den nächsten Tagen nochmals zu wiederholen. Falls Sie mit Ihrem Kind für die Schule ein Diktat vorbereiten müssen, ist es hilfreich, wenn Sie Fehler mit Ihrem Kind auf diese Weise besprechen und es das Wort bewusst richtig schreiben lassen. Schreiben Sie das Diktat erst ein zweites Mal, wenn Sie davon ausgehen, dass Ihr Kind kaum einen der Fehler ein zweites Mal machen wird. Wiederholtes Diktieren ohne genauere Fehleranalyse und ohne Training der schwierigen Wörter bringt Ihr Kind kaum weiter. Wenn Sie ein Diktat mehrmals hintereinander diktieren und Ihr Kind jeweils die gleichen Fehler macht, wird es nur wahrscheinlicher, dass es sich die falsche Schreibweise einprägt. Das Textverständnis fördern Manche Kinder können zwar gut und flüssig lesen, haben aber Mühe, das Gelesene zu verstehen. Um das Textverständnis zu fördern, können Sie zwei Dinge tun: 248 1. Den Wortschatz des Kindes vergrössern 2. Die Aufmerksamkeit des Kindes auf den Inhalt des Textes richten Wissenschaftliche Untersuchungen konnten immer wieder zeigen, dass Kinder, die über einen grossen Wortschatz verfügen auch Texte besser verstehen (sofern sie schnell und gut genug lesen können). Dabei zeigt sich, dass es eine grosse Rolle spielt, wie oft Kindern in der Vergangenheit Geschichten vorgelesen wurden. Sie können den Wortschatz Ihres Kindes erweitern, indem Sie viel mit Ihrem Kind sprechen, ihm vorlesen und mit ihm gemeinsam lesen. Dabei gilt es eines zu beachten: „Passen Sie den Wortschatz des Kindes dem Buch an und nicht den Wortschatz des Buches Ihrem Kind“ Sofern Sie ein altersgerechtes Buch mit Ihrem Kind lesen oder ihm dieses vorlesen und dabei auf ein Wort stossen, welches Ihr Kind noch nicht kennt, sollten Sie ihm dieses erklären und ihm nicht die Geschichte in einfacheren Worten erzählen. Sie können den Wortschatz während der Schulzeit auch gezielt aufbauen, indem Sie Ihr Kind neue Wörter auf Karteikarten notieren lassen, ihm diese erklären und sie ab und zu wieder mit ihm durchgehen oder im Gespräch einfliessen lassen. Sie können die Aufmerksamkeit Ihres Kindes auf den Inhalt richten und das Textverständnis fördern, indem Sie mit ihm über den Text sprechen. Dabei haben sich die folgenden Methoden bewährt: Voraussagen: Überlegen Sie gemeinsam mit Ihrem Kind, wie sich die Geschichte entwickeln könnte. Die Kinder lernen auf diese Weise auch den Aufbau typischer 249 Geschichten kennen. So sind beispielsweise viele Geschichten so aufgebaut, dass sich eine oder mehrere Personen mit einem Problem konfrontiert sehen und bestimmte Mittel einsetzen müssen, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen. o Was meinst du, wie geht es wohl weiter? o Was passiert wohl als nächstes? o Wie denkst du, wird die Geschichte ausgehen? Fragen stellen: Stellen Sie Ihrem Kind immer wieder Fragen zum Text wie: o Was meinst du, wer ist der Bösewicht? Wieso? o Was möchte … erreichen? o Was würdest du in dieser Situation tun? o Welche Person in dieser Geschichte magst du am liebsten? o Gefällt dir die Geschichte? Zusammenfassen: Lassen Sie Ihr Kind die Geschichte ab und zu mündlich zusammenfassen: o Was ist bis jetzt passiert? o Was weisst du schon alles über Person x o Magst du mir die Geschichte einmal in eigenen Worten erzählen? Sie können dieselben Fragen auch beim Vorlesen verwenden. Bücher lesen Kinder sollten schon bald an das Lesen von sinnvollen Texten herangeführt werden, wobei darauf zu achten ist, dass sie Lesen als bereichernde und schöne Freizeitaktivität entdecken. In diesem Kapitel möchte ich Ihnen einige Wege zeigen, die Ihnen dabei helfen können, das gemeinsame Lesen angenehm 250 zu gestalten und bei Ihrem Kind Lesen als Freizeitbeschäftigung zu fördern. Eine Leseecke einrichten Wenn Sie mit Ihrem Kind zusammen lesen, können Sie daraus ein kleines Ritual gestalten. Richten Sie mit ihm zusammen eine kuschelige Leseecke ein und zünden Sie während des Lesens eine besondere „Lesekerze“ an. Gemeinsam lesen Lesen Sie abwechslungsweise mit Ihrem Kind. Dies ist insbesondere zu Beginn wichtig, wenn das Lesen für Ihr Kind noch anstrengend ist, es nur langsam vorankommt und den Sinn des Gelesenen nur unzureichend erfassen kann. Gerade zu Beginn sollten Sie die Zeilen, die das Kind gelesen hat, ebenfalls vorlesen, damit sich das Kind nun auf den Inhalt konzentrieren kann. Einige Eltern legen bei dieser Übung die Anzahl der Zeilen fest, die das Kind jeweils liest („du liest immer die ersten 5 Zeilen, dann lese ich dir die ganze Seite vor“), andere lassen das Kind bestimmen, wann die Eltern übernehmen sollen („gib mir einfach ein Zeichen, wenn du müde wirst, dann übernehme ich, bis du wieder willst“). Richtig korrigieren Eine besondere Bedeutung kommt dem Korrigieren während des Lesens zu. Um die Motivation des Kindes nicht zu untergraben und möglichst grosse Lernfortschritte zu erzielen, ist es gut, wenn Sie einige Punkte beachten: 1. Korrigieren Sie nicht zu häufig. Macht Ihr Kind viele Fehler, können Sie kleinere Fehler auch überhören und 251 unkorrigiert lassen. Die Motivation ist wichtiger als fehlerfreies Lesen. 2. Bei einer Korrektur ist es wichtig, nicht einfach die Lösung vorzugeben, sondern dem Kind die Möglichkeit zur Selbstkorrektur zu geben. Halten Sie Ihr Kind kurz an, indem Sie ihm z.B. die Hand auf den Arm legen oder ihm eine Anweisung geben wie: „Kannst du das Wort nochmals lesen?“ Ihr Kind kann Ihnen hierbei sagen, welche Form es weniger stört. 3. Besonders längere oder neue Wörter bereiten Kindern Schwierigkeiten. Sie können ihm helfen, indem Sie den Text mit einer Karte oder einem Blatt Papier abdecken und dann das Wort Silbe für Silbe aufdecken. Die gleiche Strategie können Sie verwenden, wenn Ihr Kind Wörter fabuliert, also beispielsweise nur auf die ersten Buchstaben achtet und versucht, das Wort zu erraten. 4. Wenn es Ihrem Kind innerhalb von ca. 5 Sekunden nicht gelingt, das Wort zu erlesen, können Sie es ihm vorlesen, sofern es dies möchte. Lesen vor dem Schlafengehen Fast alle Kinder würden abends gerne etwas länger aufbleiben. Diese Tatsache lässt sich nutzen, um das Lesen bei Kindern zu fördern. Schlagen Sie Ihrem Kind vor, dass es vor dem Einschlafen – sofern es dies möchte – noch 15 Minuten das Licht anlassen und lesen darf. Natürlich gehört ein spannendes, altersgerechtes Buch oder ein Comics auf das Nachttischchen. Sie können die Leselust Ihres Kindes zusätzlich steigern, wenn Sie ihm aus einem Buch vorlesen und dem Kind dann die Möglichkeit geben, selbst weiterzulesen. Halten Sie dabei feste Zeiten ein, damit Ihr Kind es nicht als Strafe empfindet, wenn Sie mit dem Vorlesen aufhören. Stellen Sie den Wecker z.B. auf 10 Minuten und lesen Sie während dieser Zeit vor. Stellen Sie den Wecker erneut auf 15 Minuten, während denen Ihr Kind 252 selbst weiterlesen darf, sofern es dies möchte. Üben Sie keinen Druck aus – verlassen Sie sich einfach auf die Neugierde des Kindes und die Wirkung der spannenden Geschichte. Dabei sollten Sie zwei Dinge beachten: 1. Wenn das Buch zu schwierig ist und Ihr Kind nicht fähig ist, den Sinn zu verstehen, wird es nicht lesen wollen. Bilderreiche Bücher oder Comics eignen sich zu Beginn besser. 2. Wenn im Kinderzimmer ein Fernseher, eine Videokonsole oder ein Gameboy steht, ist ein Buch chancenlos. Solche Geräte gehören nicht ins Kinderzimmer, sondern ins Wohnzimmer, auch wenn es etwas lästig ist. Ihr Kind wird Lesen sehr viel schneller als schöne Freizeitbeschäftigung entdecken, wenn es sich abends zwischen schlafen und lesen entscheiden kann und nicht zwischen schlafen, lesen und einem Videospiel. Bücher schenken Als wir Kinder waren, mussten mein Bruder und ich uns Computerspiele und andere Spielsachen von unserem Taschengeld kaufen. Bücher und Comics bekamen wir jedoch immer geschenkt – am Kiosk konnten wir einfach fragen: „Dürfen wir ein Comics?“ und uns eines aussuchen. Ich möchte dieses Vorgehen nicht generell als Tipp vorschlagen, ich kann nur aus eigener Erfahrung sagen, dass die leichte Verfügbarkeit von Lesestoff das Lesen bei mir und meinem Bruder sehr gefördert hat. Hätten wir uns zwischen einem Computerspiel und einem Buch entscheiden müssen, hätte das Spiel immer gewonnen. Und hätten wir jedesmal den Weg zur Bibliothek auf uns nehmen müssen, um uns Bücher zu besorgen, hätten wir höchstwahrscheinlich viel weniger gelesen. 253 Die Frage ist: Wie leicht gelangen Ihre Kinder an Lesestoff, der sie wirklich interessiert? Jede Hürde („ich möchte nicht, dass mein Kind Comics liest, sondern richtige Bücher“, „ich würde schon in die Buchhandlung mitgehen, wenn mich meine Kinder darum bitten würden und ich gerade Zeit hätte…“) verringert die Wahrscheinlichkeit, dass Ihr Kind liest. Bücher als Geschenk, spannende Geschichten auf dem Nachttisch, Comics und Witzbücher auf dem Klo, häufige Besuche von Buchhandlungen – Ihr Kind sollte von Büchern richtiggehend umzingelt sein. Zwingen Sie Ihr Kind nie, ein Buch zu Ende zu lesen, das ihm keine Freude bereitet – auch wenn es sich das Buch selbst ausgesucht hat. Die Bücher und das Lesen sollen ihm Freude bereiten und kein Ausdauertraining darstellen. Welche Bücher eignen sich? Welche Bücher eignen sich nun für Kinder? Sicher haben auch Sie Ihre Favoriten aus der Kindheit, die Sie Ihrem Kind empfehlen können. Ansonsten gibt es viele Möglichkeiten, sich über gute Kinderbücher zu informieren. Die Verkäuferinnen in Buchhandlungen wissen teilweise gut darüber Bescheid, welche Bücher von Kindern gerne gelesen werden. Ansonsten finden Sie auf Amazon jeweils gute Empfehlungen. Geben Sie einfach ein Buch ein, das Ihr Kind gerne gelesen hat und Amazon empfiehlt Ihnen Bücher, die ähnlich sind. Ansonsten hilft Ihnen vielleicht der folgende Literaturtipp weiter, in dem 100 gute Kinderbücher – nach Alter sortiert – vorgestellt werden: Gaschke, S. (2002). Hexen, Hobbits und Piraten: Die besten Bücher für Kinder. Deutsche Verlags-Anstalt. 254 Lernstrategien für Jugendliche Effektiv und mit Freude lernen zu können, ist eine Fertigkeit, die das ganze Leben positiv beeinflusst. Es lohnt sich, in diese Fertigkeit zu investieren. Mit unserem Newsletter erhalten Sie monatlich einen Tipp und gleichzeitig eine Erinnerung, um auf dem Weg zu bleiben. Auf unserer Webseite www.mit-kindern-lernen.ch finden Sie unter anderem: Das Buch „effektiv denken – effektiv lernen“ für Jugendliche als kostenlosen Download: Monatlich neue Artikel mit Lernmethoden für Kinder und Jugendliche. Videos Den kostenlosen online-Kurs „Mit Kindern lernen“ für Eltern und Lehrkräfte Unsere Seminare und Vorträge 255 Persönliches Schlusswort des Autors Es gibt Kinder, denen alles leicht fällt. Als Eltern kann man ihnen zuschauen, wie sie sich entwickeln und sich darüber freuen, wie sie jede Hürde meistern, interessiert und aus eigenem Antrieb lesen und schreiben lernen und die Aufgaben im Rechenbuch spielend lösen. Leider trifft dies nicht auf alle Kinder zu. Viele Kinder haben Mühe und brauchen Unterstützung. Wenn ich auf meine eigene Schulzeit zurückschaue, dann sehe ich einige Schwierigkeiten. Obwohl ich aufgrund meiner Verträumtheit ein zusätzliches Jahr den Kindergarten besuchen durfte, hatte ich in der ersten Klasse einige Startschwierigkeiten. Im ganzen ersten Jahr weigerte ich mich standhaft, etwas zu lesen und war überzeugt davon, das Lesen nie lernen zu können. Auf die beruhigenden Worte meiner Mutter: „Fabian, es sind doch nur 26 Buchstaben, das lernst du schon“ erwiderte ich „Nein! Es sind 52, es gibt grosse und kleine, ich habe sie genau gezählt, das lerne ich nie!“ Ich lernte es dann doch noch. Meinen Schwierigkeiten begegneten meine Eltern und meine Erstklasslehrerin mit viel Unterstützung, Geduld, Humor und Ermutigung und regelmässigen, kurzen und von mir nicht immer mit Begeisterung aufgenommenen Leseübungen in der zweiten Klasse. Anfang dritter Klasse las ich mein erstes Comics – von da an war es eher ein Problem, mich vom Lesen abzuhalten: „Fabian, jetzt bleibt das Licht aus, du musst morgen um 7 Uhr aufstehen.“ Man hört viele Geschichten von Erwachsenen, die eine schreckliche Schulzeit erlebt haben. Seltener hört man von den wahrscheinlich viel zahlreicheren schönen Geschichten. Ich selbst hatte das Glück, bei meinen Lehrerinnen und Lehrern 256 während der gesamten Schulzeit immer wieder auf wunderbare Menschen zu stossen, die mich ermutigt haben, mir mit Wertschätzung und Respekt begegnet sind und denen man anmerkte, dass sie ihren Beruf gerne ausüben. Meine Eltern haben mir beigebracht, dass Schwierigkeiten mit Geduld und in kleinen Schritten gemeistert werden können. Ihnen allen möchte ich für die liebevolle Unterstützung und die guten Schulstunden danken. Ich kann auf meine Schulzeit zurückschauen und – vom frühen Aufstehen einmal abgesehen – sagen, dass es eine schöne Zeit war. Mit diesem Buch möchte ich einen Beitrag dazu leisten, dass möglichst viele Kinder, die heute zur Schule gehen, später zurückblicken und das Gleiche sagen können. 257 Literaturverzeichnis Empfohlene Literatur Einige Bücher möchte ich Ihnen, liebe Leserin, lieber Leser, gerne empfehlen. Sie beruhen auf einem ähnlichen Konzept wie dieses Buch und eignen sich besonders, wenn Sie Ihr Wissen in bestimmten Bereichen noch vertiefen möchten. Sie werden beim Lesen feststellen, dass viele Methoden und Ideen dieser Autoren in mein Buch eingeflossen sind. Armin Born und Claudia Oehler (2007). Lernen mit ADSKindern – ein Praxishandbuch für Eltern, Lehrer und Therapeuten. Kohlhammer-Verlag. Armin Born und Claudia Oehler (2008). Kinder mit Rechenschwäche erfolgreich fördern: Ein Praxishandbuch für Eltern, Lehrer und Therapeuten. Kohlhammer-Verlag. Armin Born und Claudia Oehler (2009). Lernen mit Grundschulkindern: Praktische Hilfen und erfolgreiche Fördermethoden für Eltern und Lehrer. Kohlhammer-Verlag. Fritz Jansen und Uta Streit (2006). Positiv lernen. SpringerVerlag. Fritz Jansen und Uta Streit (2007). Lesen und Rechtschreiben lernen nach dem IntraActPlus-Konzept. Springer-Verlag 258 Verwendete Literatur Aunola, K., Stattin, H. & Nurmi, J. E. (2000). 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