*** eineinhalb Jahre später *** Das Timing in Gerrys Beruf war manchmal richtig mies. Erst vor einer Woche waren wir in das neue Haus eingezogen und schon war er wieder unterwegs. Heute fand die Premiere statt, dass ich alleine mit Joel und Noah hier übernachten musste. Wie in der WG gewohnt, legte sich Joel zu mir in das große Bett. Gerade hatten wir die Gute-Nacht-Geschichte fertig gelesen und ich wartete darauf, dass er einschlief, da fragte er wie aus dem Nichts: „Mam, was ist eine Schlampe?“ „Das, mein Lieber, ist ein Schimpfwort, das ich von dir nicht hören möchte.“ Er überlegte. „Dann werde ich meine Oma nicht zeichnen.“ Als Hausaufgabe hatten sie für dieses Wochenende den Auftrag erhalten, die Familie zu zeichnen und wir hatten schon zuvor darüber diskutiert, wer denn bei ihm alles dazu gehöre, denn die Konstellation mit mir als zweiter Mutter hatte ihn zum Überlegen gebracht. Mein Tipp war gewesen, dass er selbst entscheiden könne, wer für ihn Familie war. „Warum?“, fragte ich etwas irritiert nach, denn seit Noah auf der Welt war, sprach er meine Mutter ebenfalls mit Oma an. „Mama sagt, meine Oma ist eine Schlampe, die einem das Leben aussaugt und alles vergiftet, was atmen kann.“ Nun gut, ich konnte ob dieser Wortwahl davon ausgehen, dass Melanie von ihrer eigenen Mutter gesprochen hatte. „Ich kenne deine Oma nicht, darum überlasse ich es ganz dir.“ Er nestelte herum, streckte ein Bein unter der Decke hervor und verkündete schließlich: „Ich kenne sie auch nicht. Wie sollte ich sie also zeichnen?“ „Problem gelöst. Schlaf jetzt!“, flüsterte ich. Damit war ich weit von dem entfernt, was ihn gerade beschäftigte. „Ich glaube“, murmelte er mit ganz wacher Stimme, „ich brauche noch mehr Papier.“ „Bekommst du“, versprach ich. „Auch buntes?“ „Auch buntes. Schlaf, du Schaf!“ Er kicherte. „Bekomme ich auch neue Stifte? Mit ganz vielen Farben?“ „Das hast du doch schon.“ Dagegen fiel ihm nichts ein. Neben uns seufzte Noah in seinem Gitterbett. „Du musst hier nicht liegen“, redete Joel noch immer putzmunter. „Ich kann schon alleine auf ihn aufpassen.“ Das brachte mich zum Lachen. „Du hast Recht!“ Wenn ich hier nicht warten musste, bis er endlich einschlief, umso besser. Es gab noch Kartons auszuräumen und Joel hätte dann auch keine Gelegenheit mehr zum Reden. Ich gab ihm einen Kuss. „Ich kuschele mich dann später an dich“, versprach ich und huschte nach draußen. Als ich zu Bett ging, lagen bereits beide Buben im Ehebett. Joel nahm seine Rolle als großer Bruder wirklich ernst – ich hatte den Kleinen nicht einmal gehört. Ich streichelte Joel über den Kopf und bekam dafür ein schlaftrunkenes „Ene mene Muh“ gemurmelt. Noah lutschte an seinem Daumen und hatte die Decke vollständig von sich gestrampelt. Dieses Kind genoss die herbstlich kühleren Nächte. Im Sommer war sein Schlaf auffallend unruhig gewesen, weil es ihm schlicht und ergreifend immer zu warm war. Wenn Gerry wieder zurückkam, wollte ich ihm sofort erzählen, dass ich erst heute herausgefunden hatte, dass bald noch mehr Leben in dieses Haus einziehen würde. Im Frühjahr konnte Joel noch mehr großer Bruder sein, denn ein weiteres Geschwisterchen war unterwegs und sofern dieser Einsatz wirklich nur die vorgesehenen drei Wochen dauerte, hatten wir eine Chance ihn zu überraschen, bevor sich der schlaue Joel selbst Gedanken darüber machen würde, warum ich langsam aber sicher an Körperfülle gewann. Marga Auwald – Kommando des Herzens+ (2013) 1 Diese eine Nacht blieb die einzige, die wir nur zu dritt im Haus verbrachten. Bereits am nächsten Morgen tauchten Mathias und Freddy mit Werkzeuggürtel auf und arbeiteten im Keller weiter an der Bar, die dort geplant war. Der Eigennutz war ganz sicher Hauptmotiv der beiden, doch mir war es recht. Später am Vormittag tauchten noch Sylvie und Nadine auf und am Nachmittag reiste mein Bruder Robert mit seiner Familie an. Mit dem Nachwuchs war es selten geworden, dass wir uns noch sahen und so freute ich mich, dass er mit seinen Kindern Ronja und Mino eine Weile bleiben würde. Joel begann sein Hausaufgabenprojekt und war stundenlang damit beschäftigt zu zeichnen. Pro Blatt hatte seiner Meinung nach nur eine Person Platz – es würde also ein meterlanges Familienportrait werden, denn er zeichnete nicht nur Gerry, Melanie, Noah und mich, sondern auch Jeff, Freddy mit Tanya, Mathias mit seiner Freundin, Tommy mit Familie und alle meine Neffen, die in seinem Alter waren. Für seine Mutter wählte er ein schwarzes Papier, denn er fand es praktisch, dass er dann ihre ganze Kleidung nicht mehr schwarz anmalen musste. Anschließend fabrizierte er massenhaft Sterne um sie herum, weil ihn die künstlerischen Möglichkeiten dazu inspirierten und er fand, dass seine Mama sicher jede Menge Schutzengel habe und die wurden durch die Sterne dargestellt. Mir zeichnete er Noah auf den Arm, damit das Dilemma gelöst werden konnte, dass er selbst zwischen Gerry und mir stehen wollte und sein Bruder deswegen einen anderen Sonderplatz brauchte. Außerdem schien es ihm gerechtfertigt, weil Noah erst seit kurzem laufen konnte. Jeff bekam monströse Oberarme, damit er sich ausgiebig den Tattoos widmen konnte und Freddy wurde in voller Kampfmontur dargestellt, der mit seinem Gewehr dem Bild über sich zuwinkte, wo man Tanya in einem Flugzeug bei der Arbeit sehen konnte. Gerry entwickelte sich zu einer extra Herausforderung, weil Joel nicht damit zufrieden war, seinen Vater in Freizeitkleidung zu malen. Es gab noch eine Variante im Tarnanzug, eine mit dem schwarzen Pick-up, in der Badehose – weil dadurch auch die Tätowierungen zur Geltung kamen – und schließlich noch ein einzelnes Bild, das nur uns vier vor dem neuen Haus darstellte. Kritisch blickte er auf diese letzte Zeichnung. „Etwas fehlt“, murmelte er. Die Katzen wurden ergänzt, trotzdem blieb er unzufrieden. „Vielleicht braucht es noch eine Schaukel im Garten?“, versuchte ich zu helfen. „Nächstes Jahr werden wir sicher eine aufbauen.“ „Nein.“ Einer plötzlichen Eingebung folgend griff er nach einem Stift. „Ich zeichne Pap auch noch ein Kind auf den Arm. Dann ist es auf beiden Seiten gleich. Das ist besser“, sprach er mehr für sich, doch ich horchte auf und legte meine Hand auf den Bauch. Im Grunde sah Joel gerade die Zukunft voraus. Plötzlich ging ein Geschrei los. Noah hatte eine der Zeichnungen zu fassen bekommen und stopfte sie sich in den Mund. Dieses Kind war auf Papier fixiert, wie andere auf Schokolade und die bunten Blätter schienen ihm besonders zu schmecken. Nur mit Mühe und viel Zureden konnte der gezeichnete Quentin – einer meiner Neffen – noch gerettet werden. Zerknittert und an einer Ecke angebissen, aber zum Glück noch intakt. Beleidigt packte Joel seine Werke zusammen und kündigte an, sie in seinem Zimmer in Sicherheit zu bringen. Jeff war nach der Arbeit vorbeigekommen und schnappte sich nun Noah. „Na, du kleiner Vielfraß?“, sagte er und deutete mit dem Zeigefinger auf ihn. Das war Noahs zweitliebstes Spiel. Finger schnappen und zubeißen. Mit lautem Schrei zog Jeff den Finger zurück. „Ich schaff es einfach nicht!“, beklagte er sich. „Ich gewinne nicht gegen den kleinen Furzer.“ Unsere Freunde versuchten ständig ihre Selbstbeherrschung zu testen, doch bisher hatte noch keiner sein Pokerface wahren können, während sich kleine, messerscharfe Milchzähne in die Haut bohrten. „Ich glaube, ihn belustigt einfach der geschockte Ausdruck von Erwachsenen, wenn er die Falle zuschnappen lässt“, überlegte Freddy und probierte selbst sein Glück. Es stimmte. Noah grinste wie ein Honigkuchenpferd, sobald dem Mann der Schmerz im Gesicht stand. Marga Auwald – Kommando des Herzens+ (2013) 2 Danach war Mathias an der Reihe, der ebenso ehrlos zurückwich. Nur Noah lachte dieses Mal nicht, sondern hielt die Zunge heraus. „Wäh!“, beklagte er sich und weigerte sich, den Mund zu schließen. Ich wischt mit meiner Hand kurz über die angewidert heraushängende Zunge und das schien ihm zu genügen, um den Geschmack zu vergessen. Alle anderen lachten lauthals und Mathias wurde zum Händewaschen geschickt. Die Tage vergingen. Eine Woche, zwei und drei, doch von Gerry keine Spur. Langsam wurde ich nervös. Was, wenn es dieses Mal wieder genau gleich ablief? Dass Gerry also nicht zurückkam, bis das Kind schon fast so weit war, auf die Welt zu kommen? Was, wenn ihm etwas passiert war? Ich wusste nicht genau, wie weit die Schwangerschaft schon fortgeschritten war, aber ich konnte den ersten Ansatz bereits erkennen. Ein Arzttermin stand an und ich hatte gehofft, dass Gerry dann dabei sein konnte. Alles, was mir im Moment zur Verfügung stand, waren meine Träume von ihm und die handelten meist ebenfalls von dem Baby. Auch in dieser Nacht besuchte er mich. Ich lag auf der Seite in meinem Bett und er kuschelte sich von hinten an mich heran. „Hi, Schatz“, murmelte ich und nahm seine Hand, um sie wie üblich auf meinen Bauch zu legen. „Du riechst so gut“, sagte er leise in mein Ohr. „Schön, dass du da bist.“ Er drückte mich und küsste meinen Nacken. „Wenn du wirklich kommst“, sprach ich weiter, weil ich tagsüber auch oft darüber grübelte, „dann darfst du mich nicht erschrecken.“ „Ach nein?“, fragte er belustigt. „Nein, das ist nicht gut für das Kind.“ „Natürlich nicht.“ „Ich bin nicht gerne ohne dich schwanger“, jammerte ich. „Simone, wach auf.“ „Das ist kein Traum. Ich bin wirklich schwanger!“, lachte ich. „Schöne“, drängte seine Stimme in meinem Ohr, „wach bitte auf!“ „Ich mag nicht.“ „Ich bin da. Wirklich. Komm schon, mach die Augen auf!“ Gerry legte einen Finger an mein Kinn und drehte langsam mein Gesicht zu ihm hin. Mit zwei Sekunden Verspätung verstand ich, dass er dieses Mal tatsächlich neben mir lag. Ich fiel ihm um den Hals und küsste ihn. Meine Finger strichen über seine Rückenmuskulatur und ich spürte auch die zahlreichen kleinen Narben, welche von Granatsplittern verursacht worden waren. Er war frisch rasiert und hatte sogar After-Shave aufgelegt. Ich ließ mich von ihm verführen und genoss, dass er jedem Zentimeter meiner Haut einzeln zu sagen schien, dass er wirklich und wahrhaftig hier war. „Wenn ich noch einmal gehe und in einer halben Stunde wiederkomme, begrüßt du mich dann noch einmal?“, grinste er mich an. Ich schlang meine Beine um seine Schenkel. „Ich lass dich gar nicht erst gehen!“ „Oh Mann!“, er küsste mich. „Ich glaube, ich bleibe wirklich.“ Mit dem Zeigefinger fuhr er meine Augenbrauen entlang, den Nasenrücken, meine Oberund Unterlippe und ließ ihn dann auf dem Kinn liegen. „Du redest lustiges Zeug, wenn du schläfst“, murmelte er. „Das ist nichts Neues“, gab ich zurück, wusste aber genau, auf was er anspielte. „Das nicht“, er legte seine Stirn sachte auf meine, „aber du hast mir noch nie gesagt, dass du schwanger seiest.“ Ich hielt kurz inne. „Vielleicht, weil ich es noch nie war?“ „Dann stimmt es?“ „Genau, wie wir es uns gewünscht haben“, verkündete ich fröhlich. Wir unterhielten uns kurz über die Neuigkeit und gerade, als wir uns entschieden hatten zu schlafen, wachte Noah neben uns auf. Marga Auwald – Kommando des Herzens+ (2013) 3 Gerry hob ihn aus seinem Bettchen und prüfte als erstes, ob er auch noch Pap sagen konnte, denn das hatte er vor seiner Abreise erst gelernt. Es brauchte ein paar Wiederholungen, doch dann plapperte Noah ganz brav „Pap“ und ließ sich lachend nach hinten fallen, wenn er am Bauch gekitzelt wurde. Ich tadelte ihn, weil er das Kind dadurch erst so richtig aufweckte, doch er ließ sich Zeit mit dem Spiel. Ich schlief schon fast wieder ein, als Gerry ein neues Wort mit Noah übte. „Sag mal Baby! Kannst du das? Wir bekommen ein Baby. B-a-b-y.“ Noah quietschte und versuchte Gerrys Finger zu fassen. „In Mamas Bauch“, machte der ungerührt weiter. „Da drin wohnt jetzt ein Baby.“ Dass es um mich ging, das hatte der Junge verstanden, drehte sich und warf sich jauchzend auf mich. Ich war müde, darum legte ich Noah neben mich und beschwor ihn zu schlafen. „Baby“, murmelte er und fasste in mein Auge. „Ja!“, strahlten Gerry und ich. „Genau! Baby!“ Und jetzt, da wir wieder alle zusammen waren, ich meine Neuigkeiten hatte teilen können und Noah die neue, wichtige Vokabel beherrschte, jetzt konnte ich endlich beruhigt schlafen. So zufrieden und erholsam, wie es eben nur mit meinem Mann an der Seite möglich war. Marga Auwald – Kommando des Herzens+ (2013) 4