Surveillance

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Schlimmer als Big Brother
Überwachungssysteme bedrohen nicht den Einzelnen, sondern die Demokratie
In England sind seit den Hausdurchsuchungen bei Pete Townshend und anderen Leuten,
die mittels Kreditkarte Kinderpornos im Internet heruntergeladen hatten, elektronische
Überwachungssysteme ein großes Thema. Auch die Kfz-Kennzeichen lesenden Kameras,
die Bürgermeister Ken Livingstone in London aufhängen ließ, um Autofahrern in der
Metropole seine Mautgebühr abzuknöpfen, haben Beunruhigung ausgelöst.
Sie kennen die Geschichte. Man nehme den einleitenden Absatz des neuen 655-seitigen
Werks CTRL [SPACE]: Rhetorics of Surveillance from Bentham to Big Brother (MIT
Press): „Mehr als je zuvor werden wir heute überwacht.“ Vom Kassenautomaten im
Supermarkt und Experian, der neuen Ratingagentur für Kreditkartenbesitzer, bis zu
Intranets und den Kontrollkästen auf den digitalen Fernsehgeräten von morgen – ITgestützte Überwachungsapparate gelten heute als ominöser, repressiver und
expandierender Bestandteil des täglichen Lebens.
Dazu gibt es die unterschiedlichsten Standpunkte. Manche halten Personalausweise (die
es auf meiner Seite des Kanals noch nicht gibt) für das noch am ehesten vertretbare
Hilfsmittel zur Aufklärung von Verbrechen. Andere bevorzugen die Speicherung der DNACodes der gesamten Bevölkerung in einer riesigen Datenbank. Hierzulande meinen viele,
der Rest der EU habe die Überwachung von Terrorismusverdächtigen mit konventionellen
polizeilichen Methoden besser im Griff als die britischen Behörden, denen der 2001
verabschiedete „Anti-Terrorism Act“ die Vollmacht einräumt, Verdächtige ohne
Gerichtsverfahren unter Verschluss zu halten. Offenbar wollen alle mehr Überwachung
und fürchten sich doch gleichzeitig vor ihr.
Michel Foucault, der französische Postmodernist, hat als erster die schon in Jeremy
Benthams 1787 veröffentlichtem Werk Panopticon ausgebreitete Idee der Strafanstalt als
Keimzelle des modernen Staats für ein internationales Publikum popularisiert. Foucault
beschrieb die Menschheitsgeschichte als unaufhaltsame Entfaltung von Strukturen der
Macht und Kontrolle. Seit 1977 sein Werk Überwachen und Strafen auf den Markt kam,
leben westliche Gesellschaften im zunehmend beängstigenden und zutiefst
Benthamschen Empfinden ständigen Beobachtetseins - auch wenn das alles in
Wirklichkeit nur halb so wild ist.
Bleiben wir bei Pete Townshend. Zur Rechtfertigung seiner pädophilen Neigungen verwies
er darauf, als Kind misshandelt worden zu sein. Damit bestätigte sich wieder einmal, dass
die allseitige Furcht vor Überwachung und Invasion der Privatsphäre mit dem seltsamen
Bedürfnis einherzugehen scheint, sehr private Angelegenheiten vor der Öffentlichkeit
auszubreiten. Wir sollten also einen Moment innehalten, bevor wir in die Klage über
bedrohliche Eingriffe in unsere Privatsphäre einstimmen.
Überwachungssysteme sind natürlich ein interessantes literarisches Motiv, von George
Orwells 1984 (1948) bis Philip Noyces The Truman Show (1998). Bemerkenswert nur,
dass die Kritik des Überwachungsstaats äußerst selten als resolute Verteidigung
demokratischer Werte auftritt. Meist zelebriert sie nur unsere Ängste, Unsicherheiten und
Ohnmachtsgefühle.
Dass Überwachungssysteme eine Gefahr für unsere bürgerlichen Freiheiten sind, räumt
selbst jeder vernünftige Polizeibeamte ein. Doch CTRL [SPACE] hat Recht: Was die Leute
heute mindestens genauso fürchten wie die Videoüberwachung, ist‚ dem Blick anderer
gänzlich entzogen zu sein. Millionen wollen in Big Brother auftreten. Und Millionen stört es
nicht, auf Videoüberwachungskameras mitgeschnitten zu werden, da sie – zu Recht –
meinen, sie hätten nichts zu verbergen. Nur wenige nehmen Anstoß daran, dass private
und öffentliche Stellen Aufzeichnungen über die Internetgewohnheiten der Bürger führen.
Das will mir nicht so recht gefallen. Selbstentblößung mag ja in Mode sein, doch warum
wird dieses Angebot von unserer Regierung so gerne aufgegriffen? Großbritanniens New
Labour sagt, man brauche die neuen IT-Systeme nur, um die üblichen Verdächtigen zu
kontrollieren, also Kriminelle, Terroristen und – in letzter Zeit besonders beliebt –
Asylsuchende. Zyniker meinen, hinter dieser Rhetorik stecke bloß die Anfälligkeit der
Regierung für Umgarnung seitens umsatzhungriger IT-Konzerne. Doch mir kommt es eher
so vor, als ob die Regierung mit dem ausufernden Einsatz elektronischer Kontrollsysteme
ihrem Misstrauen gegenüber den Bürgern frönt sowie dem Impuls, die eigenen Apparate
auszubauen.
Und das macht mir wirklich Angst. Staatliche Überwachung durch IT-Systeme ist nicht
deshalb beunruhigend, weil man jedem von uns wirklich überall nachspüren will, sondern
weil die Überwachungsmanie der Demokratie auf Dauer nicht zuträglich sein kann.
Aus dem Englischen übersetzt von Sabine Reul, Textbüro Reul GmbH, Frankfurt a. M.
(www.textbuero-reul.de).
Published in: Novo 67/68, May – November 2003
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