Einführung in die Europäische Ethnologie Teil 4 WS 2010/11 Prof. Dr. Johannes Moser Folien unter: http://www.volkskunde.unimuenchen.de/download/index.html Einführung in die Europäische Ethnologie 2 Alltag • Kultur und Alltag sind zentrale Perspektiven, mit denen sich die Beziehungen zwischen Individuen und Gesellschaft sinnvoll erfassen lassen. • Alltag und Alltagskultur sind in der Volkskunde selbstverständliche – sozusagen alltägliche – Begriffe, so dass sie oft gar nicht mehr genauer bestimmt werden. • Auch für andere Disziplinen wie Geschichte und Soziologie ist der Alltagsbegriff bedeutend. Einführung in die Europäische Ethnologie 3 • In der Volkskunde gibt es schon früh Hinweise auf die Beschäftigung mit dem Alltag, so kann man bei Wilhelm Heinrich Riehl fündig werden, der über „alltägliches Daseyn“ schrieb. • Populär wurde der Begriff seit den 1970er Jahren, aber es gibt wie beim Kulturbegriff eine Fülle von Definitionen. • Norbert Elias hat 1978 in einem kurzen Überblick aufgezeigt, welche verschiedenen, sich teilweise überschneidenden Bedeutungen dem Begriff innewohnen. Und er hat deshalb auch vor der inflationären Verwendung des Begriffs gewarnt. Einführung in die Europäische Ethnologie 4 • Alltag unterscheidet sich nach Elias Definition vom Festtag, es umfasst den Familienalltag und die private Sphäre ebenso wie den öffentlichen Erwerbsarbeitsalltag. • Unter Alltag wird auch das Repetitive verstanden, die sich wiederholenden, routinisierten Handlungen, die dem Besonderen und Einmaligen entgegenstehen. • Oft wird unter Alltag auch das Leben der „breiten Masse“ verstanden im Gegensatz etwa zum Leben der Prominenz. Einführung in die Europäische Ethnologie 5 • Wir müssen uns zudem vergegenwärtigen, dass die Betrachtung des Alltags auch eine Frage der Perspektive ist: Für den einzelnen Menschen sind Geburt, Krankheit, Hochzeit oder Tod ganz besondere Ereignisse im Leben, aus der Wahrnehmung der Gesamtgesellschaft und aus einer Makroperspektive stellen sie nichts anderes dar als den Alltag von Menschen. • Schließlich ist der Alltag durch eine spezifische Wahrnehmungsform gekennzeichnet: durch ein spontanes und unreflektiertes Erleben und durch besondere erfahrungsbezogene und ritualisierte Interpretations- und Verhaltensmuster. Einführung in die Europäische Ethnologie 6 • Die Traditionen der modernen Alltagsforschung reichen zurück bis in die 1930er Jahre, als der Philosoph Edmund Husserl seine Theorie der Lebenswelt entwarf. Diese Lebenswelt nannte er auch Alltagswelt oder beschränkte Umwelt. • Diese Theorie der Lebenswelt beschreibt die konkrete anschauliche Welt, in die der Mensch hineingeboren wird. In dieser Welt lebt und kommuniziert man mit anderen Menschen. Und diese Welt ist für das Individuum wie für alle anderen darin lebenden Menschen die unhinterfragbare Wirklichkeit. • Alltag ist demnach das selbstverständlich Hingenommene, in dem Menschen sich und andere fühlend, denkend und handelnd erleben. Einführung in die Europäische Ethnologie 7 • Aus dieser alltäglichen „Seinsgestaltung“, wie Husserl das genannt hat, ziehen Menschen auch ihre Seinsgewissheit. Die gemeinsame Praxis verleiht nach Husserl dem Alltag eine intersubjektive „Geltungswirklichkeit“. • Für die moderne Alltagstheorie sind dann die Ausführungen von Alfred Schütz aus den 1950er Jahren zentral geworden, insbesondere seine Aussagen in dem mit seinem Schüler Thomas Luckmann verfassten Buch „Strukturen der Lebenswelt“. • Wesentliche Elemente sind auch in dem bis heute einflussreichen Werk „Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit“ von Peter Berger und Thomas Luckmann enthalten. Einführung in die Europäische Ethnologie 8 • Schütz meinte, die alltägliche Lebenswelt sei jener Wirklichkeitsbereich, an dem der Mensch in unausweichlicher, regelmäßiger Wiederkehr teilnimmt. In die alltägliche Lebenswelt kann der Mensch eingreifen und er kann sie verändern, indem er in ihr wirkt. Gleichzeitig wird er in diesem Bereich in seinen freien Handlungsmöglichkeiten durch andere eingeschränkt. • Nur in der alltäglichen Lebenswelt kann sich der Mensch mit seinen Mitmenschen verständigen und mit ihnen zusammenwirken. Nur in ihr kann sich eine gemeinsame kommunikative Umwelt konstituieren. Einführung in die Europäische Ethnologie 9 • Unter alltäglicher Lebenswelt soll demnach jener Wirklichkeitsbereich verstanden werden, den der wache und normale Erwachsene in der Einstellung des gesunden Menschenverstandes als schlicht gegeben vorfindet. Mit schlicht gegeben bezeichnen wir alles, was wir als fraglos erleben, jeden Sachverhalt, der uns bis auf weiteres unproblematisch erscheint. • Schütz zählt auch die „fraglosen“ Gegebenheiten der alltäglichen Lebenswelt auf, die als Totalität für das handelnde Subjekt vorhanden sind: a die körperliche Existenz von anderen Menschen b dass diese Körper mit Bewusstsein ausgestattet sind, das dem meinen prinzipiell ähnlich ist; Einführung in die Europäische Ethnologie 10 c dass die Außenweltdinge in meiner Umwelt und in der meiner Mitmenschen für uns die gleichen sind und grundsätzlich die gleiche Bedeutung haben; d dass ich mit meinen Mitmenschen in Wechselbeziehung und Wechselwirkung treten kann; e dass ich mich – dies folgt aus den vorangegangenen Annahmen – mit ihnen verständigen kann; f dass eine gegliederte Sozial- und Kulturwelt als Bezugsraum für mich und meine Mitmenschen historisch vorgegeben ist, und zwar in einer ebenso fraglosen Weise wie die ‚Naturwelt’; g dass also die Situation, in der ich mich jeweils befinde, nur zu einem geringen Teil eine rein von mir geschaffene ist. Einführung in die Europäische Ethnologie 11 • Die Lebenswelt ist also eine intersubjektive Welt vertrauter Wirklichkeit, in der die einzelnen Menschen als Handelnde gefordert sind. • Für diese Lebenspraxis steht den Menschen nach Schütz der kulturell ererbte und enkulturierte Wissensvorrat zur Verfügung, aber auch die Eigenerfahrung situationaler Problemlösungen. • Es dürfte klar geworden sein, dass eine Bedingung des Zusammenlebens und der Interaktion in diesem Lebens- und Alltagsweltkonzept die Vorstellung der Wechselseitigkeit der Perspektiven ist. Einführung in die Europäische Ethnologie 12 • Das meint, dass auch der jeweils Andere in der Lage ist, meine Perspektiven zu verstehen; ja mehr noch wird vorausgesetzt, dass die Bedeutungssysteme der miteinander interagierenden Menschen übereinstimmen. Gemeinsame Wissensbestände und Interpretationsverfahren gehören dazu. • Um nun die Komplexität des Alltags zu reduzieren und Handlungen zu vereinfachen, bedient sich das praktische Alltagsdenken bestimmter Routinen – z.B. Festlegungen, was normal ist; oder Typisierungen von Situationen und Personen. Einführung in die Europäische Ethnologie 13 • Alles, was in diesen Wahrnehmungen stört und fremd ist, wird ausgeblendet oder gar ausgegrenzt, weil es nicht in das vorgefaßte Schema passt. • Diese Strategien und Klassifikationsmuster haben in der Literatur durchaus unterschiedliche Wahrnehmungen und Wertungen erfahren. Den einen erscheint dieser Alltag häufig borniert und blind; die anderen überbetonen den so genannten „Eigensinn“, wie Carola Lipp kritisch anmerkte. • Auf jeden Fall meint Alltag in dieser hier vorgestellten wissenssoziologischen Theorie einen besonderen Typus der Erfahrung, des Handelns und des Wissens. Einführung in die Europäische Ethnologie 14 • Eine systematische Weiterentwicklung dieses Konzepts findet sich in der Schule des Symbolischen Interaktionismus und in der Ethnomethodologie. • Das sind – streng genommen soziologische Schulen –, die auf vielfältige Weise auch die Kulturwissenschaften beeinflusst haben. • Der symbolische Interaktionismus ist verbunden mit George Herbert Mead und Herbert Bulmer, im weitesten Sinn auch mit Erving Goffman. • Der symbolische Interaktionismus geht davon aus, dass die gesamte Interaktion zwischen Menschen auf dem Austausch von Symbolen besteht. Einführung in die Europäische Ethnologie 15 • Wenn wir mit anderen interagieren, so suchen wir ständig nach Anhaltspunkten, die uns sagen, welche Art von Verhalten im betreffenden Kontext richtig ist und wie das zu interpretieren sei, was der andere meint oder beabsichtigt. • Der symbolische Interaktionismus lenkt unsere Aufmerksamkeit auf die Details der interpersonellen Interaktion und darauf, wie diese Details verwendet werden, um dem, was gesagt und getan wird, Sinn zu verleihen. • Der symbolische Interaktionisus konzentriert sich vor allem auf face-to-face-Interaktionen in den Kontexten des Alltagslebens. Einführung in die Europäische Ethnologie 16 • Erving Goffman ist mit seinen Arbeiten diesbezüglich besonders prägend geworden. In der Goffmanschen Ausprägung bietet der symbolische Interaktionismus vielerlei Einblicke in die Natur unserer Handlungen im Laufe unseres täglichen sozialen Lebens. • Goffman hat etwa für die Analyse der sozialen Interaktion auf die Begriffe des Theaters zurückgegriffen. So zum Beispiel in seinem Buch „Wir alle spielen Theater. Die Selbstdarstellung im Alltag.“ Schon der Begriff der sozialen Rolle, der in den Sozialwissenschaften weit verbreitet ist, stammt aus dem Theatermilieu. Einführung in die Europäische Ethnologie 17 • Rollen sind sozial definierte Erwartungen, die eine Person, die einen bestimmten Status oder soziale Position innehat, erfüllt oder zu erfüllen hat. • Goffman verwendet ein dramaturgisches Modell, um das soziale Leben zu betrachten. So als handle es sich dabei um ein Schauspiel auf einer Bühne – oder auf vielen Bühnen, weil unser Handeln ja von verschiedenen Rollen geprägt ist, die wir zu verschiedenen Zeitpunkten einnehmen. • Menschen sind sehr sensibel gegenüber dem Bild, das andere von ihnen haben. Daher versuchen sie, diesen Eindruck zu manipulieren, damit andere Menschen in der gewünschten Form reagieren. Einführung in die Europäische Ethnologie 18 • Obwohl diese Manipulation in berechnender Weise geschehen kann, gehört es üblicherweise zu den Dingen, die wir tun, ohne ihnen besondere Aufmerksamkeit zu schenken. • Eine besondere Unterscheidung trifft Goffman mit den Begriffen „Vorderbühne“ und „Hinterbühne“. • Die „Vorderbühne“ ist jener Bereich der sozialen Kontakte und Anlässe, bei denen formale und stilisierte Rollen gespielt werden. • Die Hinterbühne ist jener weniger stark formalisierte Bereich, in dem das Tun auf der Vorderbühne vorbereitet oder begleitet wird. Einführung in die Europäische Ethnologie 19 • Ein besonders interessantes Buch von Erving Goffman heißt „Stigma. Über Techniken der Bewältigung beschädigter Identität“. Hier zeigt Goffman, dass „normale“ Menschen Personen mit einem Stigma oft äußerst wirksam, wenn auch oft gedankenlos, diskriminieren. • Stigmatisierte Personen wissen das und unternehmen dann Versuche, das zu korrigieren. Entweder indem sie die objektive Basis ihres „Fehlers“ beheben, indem sie diesen „Fehler“ zu verstecken suchen oder etwa indem sie zu beweisen suchen, dass sie in Tätigkeitsbereichen bestehen können, von denen andere annehmen, sie könnten das wegen gewisser Einschränkungen nicht erreichen. Einführung in die Europäische Ethnologie 20 • Wenn jemand mit einem Stigma versuchen will, andere zu täuschen, bedarf es eines immensen Aufwandes. Was für so genannte „Normale“ Routineangelegenheiten sind, kann für einen Diskreditierbaren, also jemanden der noch nicht durch sein Stigma diskrediert ist, zu einem richtigen Organisationsproblem werden. • Das Individuum mit einem geheimen Fehler muss sich demnach der sozialen Situation in der Art eines ständigen Abtastens von Möglichkeiten bewusst sein. Die für andere unkomplizierte Welt ist es für ihn keineswegs. Was für andere trivial ist, wird für den Diskreditierbaren zum Problem. Einführung in die Europäische Ethnologie 21 • Goffman greift immer auf eindrückliche Beispiele zurück. Sie führen ganz deutlich vor Augen, was in den theoretischen Ausführungen zur Alltags- und Lebenswelt theoretisch bereits ausgesagt wurde. • In der Alltagswelt vereinfachen wir, greifen auf Normalitätsvorstellungen und Deutungsroutinen zurück, die uns helfen, eine komplexe Umwelt in den Griff zu bekommen, in denen aber auch ein gehöriges Potential an Diskrminierungsmustern steckt. • Die Beispiele aus Goffmans Buch verraten gerade dadurch, dass sie stigmatisierte Menschen und ihre Umgangsweisen damit in den Blick nehmen, wie Kommunikation funktioniert. Einführung in die Europäische Ethnologie 22 • Hier setzt auch die Ethnomethodologie an. Sie ist die Untersuchung der Ethnomethoden, das sind die von Laien benutzten Methoden. • Diese Methoden werden angewandt, um den Sinn dessen, was andere Menschen tun, und vor allem dessen, was sie sagen, zu entschlüsseln. • Wir alle verwenden in der Interaktion mit anderen Menschen Methoden, um dem Handeln und Reden der anderen einen Sinn abzugewinnen, wobei wir diesen Methoden üblicherweise keine gesonderte Aufmerksamkeit schenken. • Oft können wir einer Situation nur Sinn abgewinnen, weil wir den sozialen Kontext kennen, der in den Worten selbst nicht in Erscheinung tritt. Einführung in die Europäische Ethnologie 23 • Selbst die unbedeutendsten Formen des alltäglichen Lebens setzen ein kompliziertes gemeinsames Wissen voraus. • Die in der alltäglichen Kommunikation verwendeten Wörter haben keine präzisen Bedeutungen und was wir sagen möchten bzw. das Verständnis des Gesagten wird durch die unausgesprochenen Annahmen festgelegt, die den verschiedenen Bedeutungen zugrunde liegen. • Wir haben also bei unserer tagtäglichen Kommunikation „Hintergrunderwartungen“ und für diese Hintergrunderwartungen etwa interessiert sich die Ethnomethodologie. Einführung in die Europäische Ethnologie 24 • Der Soziologe Harold Garfinkel hat durch Krisenexperimente versucht, Kommunikationsstrukturen und Hintergrunderwartungen offen zu legen. Das funktioniert etwa in der Form, dass man den Sinn der beiläufigsten Bemerkungen und allgemeiner Kommentare nicht einfach hinnimmt, sondern ichnen nachgeht, um ihren Sinn zu präzisieren. • Die Experimente sollen dazu beitragen, die grundlegenden Modi unseres Zusammenlebens zu verstehen. • Die Stabilität und Sinnhaftigkeit unseres täglichen sozialen Lebens hängt vom gemeinsamen Besitz unausgesprochener „kultureller“ Annahmen darüber ab, was warum gesagt wird. Einführung in die Europäische Ethnologie 25 • Wären wir nicht in der Lage, diese Annahmen vorauszusetzen, wäre sinnvolle Kommunikation unmöglich. • Jeder Frage oder jedem Beitrag zu einer Konversation müsste ein massives Suchverfahren folgen, wie es in Garfinkels Experimenten gezeigt wurde, die Interaktion würde schlicht zusammenbrechen. • Was also auf den ersten Blick als unwichtige Konventionen der Rede erscheint, stellt sich als fundamental für das Gewebe des sozialen Lebens heraus, weshalb der Verstoß gegen Konventionen eine so ernsthafte Sache ist. Einführung in die Europäische Ethnologie 26 • Ein anderer Ansatz der Alltagstheorie stellt eine eher gesellschaftspolitische Analyse der spätkapitalistischen Massenkonsumgesellschaften dar und kritisiert die entfremdeten Lebens- und Arbeitsbedingungen. Beispielhaft dafür steht Henri Lefèbvres „Kritik des Alltagslebens“, die viele Disziplinen beeinflusst hat. • Die Entdeckung des Alltags kann aus dieser Perspektive als das kulturelle Konstrukt einer „Generation der Entfremdung“ verstanden werden, meinte etwa die andere marxistische Denkerin des Alltags – Agnes Heller. Einführung in die Europäische Ethnologie 27 • So argumentierte Utz Jeggle in den „Grundzügen der Volkskunde“ 1978, es sei vom Alltag gesprochen worden, als er in die Krise gekommen sei, als das Gewohnte problematisch geworden sei. • Der Begriff Alltag war verbunden mit der Kritik an einem segmentierten, durch kapitalistische Produktionsverhältnisse geprägten Alltag, der nicht entlang den Bedürfnissen der Menschen organisiert war, sondern dem Diktat spätkapitalistischer Kulturindustrie folgte. • Das Thema Alltag war also politisch aufgeladen und hing in der Volkskunde – wie auch in anderen Fächern – mit der Diskussion um fachpolitische Standortbestimmungen zusammen. Einführung in die Europäische Ethnologie 28 • In der Volkskunde geht die Rezeption des Alltagsbegriffs einher mit der Neubestimmung der Volkskunde gegen Ende der 1960er und zu Beginn der 1970er Jahre. • Der Begriff Alltag tauchte programmatisch erstmals bei den Falkensteiner Diskussionen auf, bei denen 1970 über Selbstverständnis, Erkenntnisziel und Aufgaben der Volkskunde gerungen wurde. • Gerhard Heilfurth argumentierte bereits vor Falkenstein mit dem Begriff Lebenswelt und Ina-Maria Greverus forderte 1971 eine „Wende zur Lebenswelt“, weil sie die Volkskunde geradezu als prädestiniert ansah, die „alltägliche Lebenswelt des europäischen Menschen“ zu erforschen. Einführung in die Europäische Ethnologie 29 • Greverus legte bei der Neuausrichtung des Frankfurter Instituts und dessen Umbenennung in „Kulturanthropologie und Europäische Ethnologie“ ein klares Bekenntnis zur angelsächsischen Kulturund Sozialanthropologie ab, deren theoretische Basis ihr geeignet erschienen, die Kultur und Alltagswelt in europäischen Gesellschaften zu untersuchen. • In der zweiten Hälfte der 1970er Jahre setzte sich Greverus mit der kulturkritischen Position der neueren Alltagsdiskussion auseinander und geht – in der Tradition der Kulturkritik – von einer Trennung von Kultur und Alltag aus. Einführung in die Europäische Ethnologie 30 • Der Alltagsbegriff verweist für sie auf eine „deformierte Umwelt“. Dem hält sie ihren Kulturbegriff entgegen, in dessen Zentrum die Vorstellung einer aktiv vom Menschen gestalteten Lebenswelt steht. • Der Mensch war für sie „Schöpfer und Geschöpf“ der Kultur und sie betonte die „Fähigkeit des Menschen zur aktiven Anpassung, zur Gestaltung und Veränderung der Umwelt wie der eigenen Verhaltensweisen“. • In Tübingen wiederum, wo sich das Fach Volkskunde in Empirische Kulturwissenschaft umbenannt hatte, war die Erforschung des Alltags zunächst von einem politischen Emanzipationsprozess geprägt. Einführung in die Europäische Ethnologie 31 • Später entwickelte sich daraus eine historisch orientierte Alltags- und Kulturforschung, die – vor allem durch Utz Jeggle – auch ethno-psychoanalytische Einflüsse erhielt. • Zunächst wurde – ebenfalls in der Tradition der kritischen Theorie – auf dem Hintergrund des Entfremdungsmodells argumentiert und es wurde versucht, die antagonistischen Widersprüche in der kapitalistischen Gesellschaft zu analysieren. • Danach wurde diese materialistische Alltagsforschung an die Entwicklung des Faches rückgebunden und führte zu einer verstärkten Erforschung von Gruppenkulturen. Dies zeigte sich unter anderem an der Arbeiterkulturforschung. Einführung in die Europäische Ethnologie 32 • In Tübingen wurde die historische Dimension des Alltagskonzepts besonders betont. • Der alltagsweltliche Zugang ist wegen der Zuwendung zu den Akteuren attraktiv. Aufgegriffen wurde er in den Geschichtswissenschaften, die über die traditionelle Struktur- und Herrschaftsgeschichte zu den historischen Subjekten vordringen wollte. • Daraus resultierte eine veränderte Wahrnehmung der gesellschaftlichen Verhältnisse. Man begann unter dem Signum der Alltagsforschung, sich mit dem „Blick von unten“ zu beschäftigen. Das beinhaltete auch eine dichotome Vorstellung von Kultur und Gesellschaft mit einem klar abgegrenzten Unten und Oben. Einführung in die Europäische Ethnologie 33 • Geprägt waren diese Formen der Alltagsforschung zunächst von der kritischen Theorie und von einem Klassenkonzept, das von kultureller Hegemonie und kulturindustrieller Manipulation ausging. • In der Arbeiterkulturforschung setzte sich dann das leninistische Zweikulturenmodell von unterdrückter und unterdrückender Klasse durch, das allerdings modifiziert wurde durch Einflüsse von Edward P. Thompson, der die Aneignungs- und Widerstandsformen der Arbeiterklasse betonte. • Aus dem Umfeld einer Alltagsgeschichtsforschung entwickelten sich einige viel diskutierte Ansätze. Einführung in die Europäische Ethnologie 34 • Vor allem aus der Beschäftigung mit den unteren Schichten vor der Industrialisierung, also in der Frühen Neuzeit, entstanden Konzepte, die fragten, wie Verhaltensmuster und Mentalitäten über einen längeren Zeitraum hinweg tradiert werden. • So entwickelte sich das Konzept des „Eigensinns“ der unteren Schichten. Dieser Eigensinn schreibt der Arbeiter- und Volkskultur eine inhärente Widerständigkeit gegen die herrschende Kultur zu, eine sich im Alltag formierende und formulierende Differenz, ein kollektives „Wir-Bewußtsein“. • Für diese Ausrichtung stehen etwa die Arbeiten des Historikers Alf Lüdtke, aber frühe Arbeiten des Europäischen Ethnologen Wolfgang Kaschuba.