Von der Normal- zur Patchworkbiographie Heiner Keupp Vortrag bei der Tagung der Evangelischen Akademie Tutzing „Lebensgeschichte und Lebenssinn“ am 12. März 2004 in Rothenburg MULTIPLE IDENTITÄTEN "Ich gebe meiner Seele bald dieses, bald jenes Gesicht, je nach welcher Seite ich sie wende. Wenn ich unterschiedlich von mir spreche, dann deswegen, weil ich mich als unterschiedlich betrachte. Alle Widersprüche finden sich bei mir in irgendeiner den Umständen folgenden Form. (...) Von allem sehe ich etwas in mir, je nachdem wie ich mich drehe; und wer immer sich aufmerksam prüft, entdeckt in seinem Inneren dieselbe Wandelbarkeit und Widersprüchlichkeit, ja in seinem Urteile darüber. Es gibt nichts Zutreffendes, Eindeutiges und Stichhaltiges, das ich über mich sagen, gar ohne Wenn und Aber in einem einzigen Wort ausdrücken könnte. (...). Wir bestehen alle nur aus buntscheckigen Fetzen, die so locker und loseaneinander hängen, dass jeder von ihnen jeden Augenblick flattert, wie er will; daher gibt es ebenso viele Unterschiede zwischen uns und uns selbst wie zwischen uns und den anderen." Quelle: de Montaigne: Essais 1998 Professor Heiner Keupp » Reflexive Sozialpsychologie « MULTIPLE IDENTITÄTEN Novalis Eine Person ist „mehrere Personen zugleich.“ „Der vollendete Mensch muss gleichsam zugleich an mehreren Orten und in mehreren Menschen leben.“ „pluralism ist unser innerstes Wesen.“ Quelle: Novalis: Schriften. Hrsg. P.Kluckhohn & R.Samuel, Band 3: Das Philosophische Werk II. Stuttgart: Kohlhammer 1983 Professor Heiner Keupp » Reflexive Sozialpsychologie « MULTIPLE IDENTITÄTEN Friedrich Nietzsche: sagt von sich selbst, er sei „einer, dem bei der Historie nicht nur der Geist, sondern auch das Herz sich immer neu verwandelt und der, im Gegensatz zu den Metaphysikern, glücklich darüber ist, nicht ‘eine sterbliche Seele’, sondern viele sterbliche Seelen in sich zu beherbergen“. Professor Heiner Keupp » Reflexive Sozialpsychologie « MULTIPLE IDENTITÄTEN Friedrich Nietzsche: „Die Annahme des einen Subjekts ist vielleicht nicht notwendig; vielleicht ist es ebensogut erlaubt, eine Vielfalt von Subjekten anzunehmen, deren Zusammenspiel und Kampf unserem Denken und überhaupt unserem Bewusstsein zugrunde liegt?“ „Meine Hypothese: Das Subjekt als Vielheit“. Professor Heiner Keupp » Reflexive Sozialpsychologie « MULTIPLE IDENTITÄTEN Friedrich Nietzsche: "Scharf und milde, grob und fein, vertraut und seltsam, schmutzig und rein, der Narren und Weisen Stelldichein: dies Alles bin ich, will ich sein, Taube zugleich, Schlange und Schwein!" Quelle: Friedrich Nietzsche: Fröhliche Wissenschaften Professor Heiner Keupp » Reflexive Sozialpsychologie « MODERNE IDENTITÄTEN Max Weber: Moderne Identität als "Stahlhartes Gehäuse der Hörigkeit" "... indem die Askese aus den Mönchszellen heraus in das Berufsleben übertragen wurde und die innerweltliche Sittlichkeit zu beherrschen begann, half sie an ihrem Teile mit daran, jenen mächtigen Kosmos der modernen, an die technischen und ökonomischen Voraussetzungen mechanisch-materieller Produktion gebundenen Wirtschaftsordnung zu erbauen, der heute den Lebensstil aller einzelner, die in dieses Triebwerk hineingeboren werden - nicht nur der direkt ökonomisch Erwerbstätigen - , mit überwältigendem Zwang bestimmt, vielleicht mitbestimmen wird, bis der letzte Zentner fossilen Brennstoffs verglüht ist". Quelle: Max Weber: Die Protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus (1920) Professor Heiner Keupp » Reflexive Sozialpsychologie « Die neue Qualität des Wandels: FLUIDE GESELLSCHAFT Individualisierung Grenzen geraten in Fluss, Konstanten werden zu Variablen. Wesentliche Grundmuster der FLUIDEN GESELLSCHAFT: Reflexivität Erlebnisorientierung Entgrenzung Fusion • Globaler Horizont • Arbeit~Freizeit (mobiles Büro) • Grenzenloser Virtueller Raum • Hochkultur~Popularkultur (Reich-Ranicki bei Gottschalk) • Kultur/Natur: z.B. durch Gentechnik, Schönheitschirurgie • ‚Echtes‘/‚Konstruiertes‘ • Crossover, Hybrid-Formate • Medientechnologien konvergieren Postmaterialismus Durchlässigkeit Postmoderne Globalisierung Digitalisierung • Größere Unmittelbarkeit: Interaktivität, E-Commerce Wechselnde Konfigurationen • Flexible Arbeitsorganisation • Fernwirkungen, Realtime • Patchwork-Familien, befristete Communities (z.B. Szenen) • Öffentlich/Privat (z.B. WebCams) • Modulare Konzepte (z.B. Technik) • Lebensphasen (z.B. ‚Junge Alte‘) • Sampling-Kultur (Musik, Mode) Professor Heiner Keupp » Reflexive Sozialpsychologie « Neue Meta-Herausforderung BOUNDARY-MANAGEMENT Dreischritt im Wertewandel: Identität 50er 60er 70er 80er 90er 2000er Außenorientierung Innenorientierung Innen/Außen-Orientierung Das Selbst passt sich an. Das Selbst emanzipiert sich. Maxime: Selbst-Kontrolle Maxime: Selbst-Verwirklichung Neue Vermittlung zwischen Selbst und Umwelt Maxime: Selbst-Management Identität als Gehäuse • Äußerliche Kriterien bestimmend: Geschlecht, Beruf, Rollen, Schicht • Identität ist relativ eindeutig und statisch • Stabiles Weltbild • Kriterien für Anerkennung sind klar definiert • Handlungsorientierung: „Man tut es so.“ Identität als Selbstbehauptung Identität als Prozess • Individuell und nonkonform sein • Stilisierung: Identität ist Erzählung und Performance • Identitätskrisen und Suche nach dem „wahren Kern“ • Identität ist relativ vieldeutig und offen • Konkurrierende Weltbilder • Weltbild-Patchwork • Kriterien für Anerkennung werden vielfältiger • Anerkennung wird mehr ausgehandelt • Authentizität als Echtheit • Authentizität als Stimmigkeit Professor Heiner Keupp » Reflexive Sozialpsychologie•« • Handlungsorientierung: „Ich will es so.“ Handlungsorientierung: 9 „Es entspricht mir.“ IDENTITÄT ALS PATCHWORKING Biographische Kernnarrationen Ebene Metaidentität Ebene Teilidentitäten z.B. Ebene situative Selbstthematisierungen Identitätsgefühl Dominierende Teilidentitäten Authentizitäts- und Kohärenzgefühl Handeln Geschlecht Unterhaltung/ Freizeit Arbeit Körper Politik Professor Heiner Keupp » Reflexive Sozialpsychologie « (= Viele einzelne situative Selbsterfahrungen) Identitätsprojekte RESSOURCEN DER LEBENSBEWÄLTIGUNG IN DER „REFLEXIVEN MODERNE“ v v v v v v v v Herstellung eines kohärenten Sinnzusammenhangs. Die Fähigkeit zum „boundary management“. Sie brauchen „einbettende Kulturen“. Sie benötigen eine materielle Basissicherung. Sie benötigen die Erfahrung der Zugehörigkeit. Sie brauchen einen Kontext der Anerkennung. Beteiligung am alltäglichen interkulturellen Diskurs. Sie brauchen zivilgesellschaftliche Basiskompetenzen. Professor Heiner Keupp » Reflexive Sozialpsychologie «