Moritz Jörgens Goethe-Universität Frankfurt Förderung eigenständigen Lesens ? Überlegungen zur Leseförderung insbesondere schwacher LeserInnen durch Unterstützung des Leseengagements und Entwicklung lesekultureller Fähigkeiten. 1 Förderung eigenständigen Lesens Gliederung 1 2 3 4 5 6 Schwache LeserInnen Maßnahmen und Ziele der Leseförderung Studie zur Wirksamkeit Unterstützter Stiller Lesezeiten Eigenständiges Lesen Leseengagement Lesekulturelle Fähigkeiten 2 1 Schwache Leser Vorleseprobe (1 Minute): • Murat: 117 wpm / 2 Fehler • Stefano: 107 wpm / 4 Fehler • Beide: lesen ohne Betonung; Satzzeichen kaum beachtet • = Lesen ist eher anstrengend • = eher schmales / unvollständiges mentales Textmodell Lesen wirkt eher wenig ‚belohnend‘ Folgen • geringe Motivation, geringes Durchhaltevermögen • Lesemenge gering • verbessern lesebezogene Fähigkeiten langsam / stagnieren • versuchen geringe Kompetenz zu verbergen / überspielen 3 1 Schwache Leser Idealtypischer Erwerbsprozess des Lesens Leselehrgang im ersten Grundschuljahr Automatisierung der Worterkennung Viellesephase ab der späten Kindheit Weiterentwicklung der Worterkennung und der Leseflüssigkeit durch eigenes Lesen; „langer Leseatem“; Positives Selbstkonzept als LeserIn Am Ende der Kindheit Lesen ist auf der hierarchieniedrigen Ebene mental mühelos geworden; kognitive Ressourcen stehen für höhere Textverstehensleistungen bereit. Gelingt bei rund ¼ der SchülerInnen nicht. Diese SchülerInnen werden in der Schule nicht systematisch unterstützt und bleiben daher schwache Leser. 4 Förderung eigenständigen Lesens Gliederung 1 2 3 4 5 6 Schwache LeserInnen Maßnahmen und Ziele der Leseförderung Studie zur Wirksamkeit Unterstützter Stiller Lesezeiten Eigenständiges Lesen Leseengagement Lesekulturelle Fähigkeiten 5 2 Maßnahmen und Ziele der Leseförderung Wie fördert man schwache Leser/innen? • Leseanimation • Lautleseverfahren • Lesestrategien • Vielleseverfahren 6 2 Leseförderung: Leseanimation Von der Förderung der Lesemotivation erhofft man sich eine erhöhte Wertschätzung des Lesens und, indirekt, Effekte auf die Leistung. Die Wirksamkeit von Maßnahmen zur Förderung der Lesemotivation ist umstritten. Allgemeine Befunde: •Bessere Leistung korreliert mit höherer Motivation (z.B. PISA 2009); •Lesemotivation auf einer bestimmten Altersstufe sagt Leseleistung zu späteren Zeitpunkten vorher; •Lesemotivation nimmt im Verlauf der Schülerbiografie ab, die Lesekompetenz verbessert sich trotzdem (Retelsdorf / Möller 2008; Swan / Coddington / Guthrie 2010). Förderung der Lesemotivation unterstützt nicht direkt konkretes lesebezogenes Verhalten 7 2 Leseförderung: Lautleseverfahren und Strategietrainings Lautleseverfahren und Strategietrainings zielen auf eine Verbesserung der Leseflüssigkeit bzw. kognitiver und metakognitiver Fähigkeiten. Man erhofft sich Transfer auf die Leistung (Flüssigkeit; Verstehen) und, nachrangig, auf die Motivation. Programme zu Lautleseverfahren und Strategietrainings sind gut evaluiert und leicht einsetzbar (vgl. z.B. Nix 2010; Nix, Rosebrock 2012; Gold 2006). •Training der Leseflüssigkeit z.B. durch „Paired Reading“ und „Repeated Reading“ •Strategietrainings z.B. durch „Textdetektive“, „PQ4R“ Lautleseverfahren und Strategietrainings unterstützen direkt konkretes lesebezogenes Verhalten 8 2 Leseförderung: Vielleseverfahren Von Maßnahmen zur Steigerung der Lesemenge erhofft man sich beiläufige Effekte auf verschiedene Ebenen der Lesekompetenz (Lesemotivationen, -interesse, literarbezogenes Wissen, Prozessebene des Lesens) Befunde: •NRP hat Durchführung Stiller Lesezeiten in den USA zugunsten von Flüssigkeitstrainings untersagt (Reutzel, 2008) •Studien zu Stillen Lesezeiten: Unterschiedliche Befunde. Deutsche Studie: keine signifikanten Verbesserungen auf verschiedenen Ebenen der Lesekompetenz (Flüssigkeit, Verstehen, Motivation). Erhebliche Unterschiede zwischen den verschiedenen Klassen. (Rieckmann 2010; 14 Hauptschulklassen, n=230). Vielleseverfahren – in der klassischen Form – unterstützen nicht direkt konkretes lesebezogenes Verhalten 9 2 Leseförderung: Zusammenfassung •Von der Förderung der Lesemotivation alleine kann man sich eher keine Verbesserung der Lesekompetenz erhoffen; zumindest nicht für schwache LeserInnen. •Für Lautleseverfahren konnten signifikante Verbesserungen auf den für die Stillen Lesezeiten genannten Ebenen der Lesekompetenz im Post-Test nachgewiesen werden; sie scheinen auch längerfristig wirksam (Nix 2010). •Für Strategietrainings konnten Verbesserungen des Lesestrategiewissens und des Leseverstehens nachgewiesen werden. •Für Stille Lesezeiten können eher keine signifikanten Verbesserungen bei Leseflüssigkeit, Textverstehen und Lesemotivation nachgewiesen werden. Allerdings gab es in der Studie von Rieckmann (2010) große Unterschiede bei den Zuwächsen zwischen den Klassen. 10 Förderung eigenständigen Lesens Gliederung 1 2 3 4 5 6 Schwache LeserInnen Maßnahmen und Ziele der Leseförderung Studie zur Wirksamkeit „Unterstützter Stiller Lesezeiten“ Eigenständiges Lesen Leseengagement Lesekulturelle Fähigkeiten 11 3 Studie: Unterstützte Stille Lesezeiten Begründung für neue Studie zu Stillen Lesezeiten Lautleseverfahren • verbessern die Leseflüssigkeit • keine Heranführung an Lese-/Buchkultur, daher Transfer vom lauten zum eigenständigen stillen Lesen fragwürdig Stille Lesezeiten • Wirksamkeit nicht geklärt • schult lesekulturelle Fähigkeiten als Voraussetzungen für eigenständige Lektüre Hypothese • Nur eigenständiges Lesen erhöht die Lesemenge erheblich und ist daher entscheidend für die weitere Lesekompetenzentwicklung Forschung • Reutzel (2008) konnte mit Unterstützten Stillen Lesezeiten dieselben Effekte wie mit Flüssigkeitstrainings erzielen 12 3 Studie: Unterstützte Stille Lesezeiten Unterstütze Stille Lesezeiten? Stille Lesezeiten – aber unterstützt! Explorative Studie: • 3 x wöchentlich 20 Minuten still lesen • Eingeschränkte Bücherwahl: a) Passung von Lesefähigkeiten und Textanforderungen; b) Genreverpflichtungen • Vereinbarungen zur Lesemenge • Buchvorstellungen, Austausch über Bücher • Lesekonferenzen: Kontrolle Leseflüssigkeit & -motivation & Textverstehen; Lesevereinbarungen 13 3 Studie: Unterstützte Stille Lesezeiten 14 3 Studie: Unterstützte Stille Lesezeiten 15 3 Studie: Unterstützte Stille Lesezeiten 16 3 Studie: Unterstützte Stille Lesezeiten Explorative Studie: ½ Jahr Unterstütze Stille Lesezeiten; Prä-/Post-Design; 6. Klasse Hauptschule, n=15 Instrumente: •FLVT •SLS •Auswertung der Konferenzbögen •Interviews mit SchülerInnen •Beobachtungsbögen 17 3 Studie: Unterstützte Stille Lesezeiten Ergebnisse aus den Tests (FLVT, SLS): • Effekte der USL auf Lesefähigkeiten nicht nachweisbar Ergebnisse aus Interviews & Beobachtungen: •Missverhältnis zwischen geäußerter Lesemotivation & Lesepraxis •Changierendes Fähigkeitsbild (keine realistische Einschätzung) •Fake Reading (leichte Ablenkbarkeit) •Kaum Fähigkeiten zur / Erfahrungen mit Lektüreauswahl •Keine erfahrungsgesättigten Vorstellungen von Lesen als positiver Praxis •Sehr schwache Leser, die zuhause keine Unterstützung im Bereich Literalität erfahren 18 3 Studie Unterstützte Stille Lesezeiten Warum haben funktioniert? die Unterstützten Stillen Lesezeiten nicht Hypothesen: • Ausgesprochen schwache LeserInnen • Häufigkeit der Unterstützung nicht ausreichend • Unterstützungsqualität nicht ausreichend Kinder haben nicht aktiv gelesen - fake reading Hypothese: Stilles Lesen setzt bei schwachen Lesern sehr hoch an. Konsequenz: Flüssigkeitstrainings. Oder: Noch stärkere Unterstützung des Leseengagements. 19 Förderung eigenständigen Lesens Gliederung 1 2 3 4 5 6 Schwache LeserInnen Maßnahmen und Ziele der Leseförderung Studie zur Wirksamkeit „Unterstützter Stiller Lesezeiten“ Eigenständiges Lesen Leseengagement Lesekulturelle Fähigkeiten 20 4 Eigenständiges Lesen Hypothese: Eine hohe Lesekompetenz drückt sich in der Fähigkeit zu selbst initiierten und selbst gesteuerten Lesehandlungen aus: Gute Leser können Leseinteressen verfolgen und Grenzen ihrer literalen Fähigkeiten wahrnehmen. Eigenständiges Lesen ist das Zusammenspiel von Leseengagement und lesekulturellen Fähigkeiten (vgl. Jörgens / Rosebrock 2012) 21 Förderung eigenständigen Lesens Gliederung 1 2 3 4 5 6 Schwache LeserInnen Maßnahmen und Ziele der Leseförderung Studie zur Wirksamkeit „Unterstützter Stiller Lesezeiten“ Eigenständiges Lesen Leseengagement Lesekulturelle Fähigkeiten 22 5 Leseengagement Definition Leseengagement: „We […] defined reading engagement as interacting with text in ways that are both strategic and motivated. ... More broadly, we and our colleagues have described engaged readers as motivated to read, strategic in their approaches to comprehending what they read, knowledgeable in their construction of meaning from text, and socially interactive while reading ...“ (Guthrie 2012, S. 602). Eine engagierte Leserin • ... ist motiviert zum Lesen • ... will aus Texten lernen oder Texte verstehen • … interagiert aktiv mit dem Text (z.B. Strategieeinsatz) • ... ist lesebezogen sozial aktiv 23 5 Leseengagement Beispiel engagierter Leser: „For instance, Joaquin is a student in a fourth-grade classroom. (...) Looking at him for a few minutes, the outside observer can see he is intent on gaining meaning from the text (...). His absorption is sustained for periods of 10-15 minutes and is not distracted by others who are talking, sharpening their pencils, or leaving the classroom. (...) As an active reader, he reads approximately two hours per day for his own interest and under the guidance of the teacher (...). Joaquin thinks about what he is reading. He monitors his comprehension and will reread, if necessary, or ask a question (...). Joaquin enjoys talking about a text he has been reading (...). He has favorite topics, such as reptiles and football, but he will also read to extend his knowledge of other subjects (...)“ (Guthrie 2004, S. 2 f.). Beispiel nicht engagierte Leserin: „In contrast, Savannah is a disengaged reader in fourth grade. An observer in Savannah’s classroom would see her sitting, staring, talking, playing, or sharpening her pencil. Although she is not cognitively handicapped, she avoids reading and writing activities until the teacher compels her. She never desires to read, but she complies with the teacher’s explicit or insistent request. As Savannah reads, she usually does not know whether she has understood the text. (...) Asked to reread the page to answer a question, she complies and succeeds with an acceptable conclusion, showing she is not mentally handicapped“ (Guthrie 2004, S. 3). 24 5 Leseengagement Leser sind engagiert, wenn sie aktiv mit dem Text interagieren, motiviert zum Lesen sind, Strategien einsetzen und Texte verstehen wollen. Leseengagement ist empirisch zugänglich. Bestimmte Verhaltensindikatoren verweisen auf engagiertes Lesen. Vorschlag: Leseengagement kann daher auch - enger - als Verhaltensengagement beim Lesen gefasst werden „(…) we introduce the construct of behavioral engagement to this set of engagement processes. Specific indicators of behavioral engagement of reading include students’ report of effort and persistence (…), students’ report of time spent reading (…), and teachers’ observations of students’ reading behaviors (…)“ (Guthrie 2012, S. 602).” Verhaltensengagement = (Indikator für) engagiertes Lesen 25 5 Leseengagement Das Modell integriert verschiedene für die Entwicklung von Lesekompetenz bedeutsame Faktoren: Umgebung, Motivation, Verhalten. Viele Studien weisen einen Einfluss von Umgebungsfaktoren (A) und Motivationen (C) und Motivationen auf die Lesekompetenz nach. Der eigentliche Wirkmechanismus läuft aber, nach Guthrie et al, über den zentralen Pfad: Umgebungsfaktoren wirken auf die Motivation (D), diese auf Verhalten (E) und Verhalten wirkt auf Lesekompetenz (F). 26 5 Leseengagement Idee: Lesebezogenes Verhalten entscheidet über Leistungsentfaltung Demgegenüber • bezeichnet Motivation ‚nur‘ den Wunsch oder die Absicht bestimmte Inhalte oder Fertigkeiten zu lernen bzw. bestimmte Aufgaben auszuführen (vgl. Schiefele; Köller, 2010; vgl. Guthrie, Wigfield, 1999). • bezeichnet Selbstwirksamkeit ‚nur‘ die Erwartung oder Überzeugung, bestimmte lesebezogene Leistungen in bestimmten Graden (nicht) erbringen zu können (vgl. Bandura 1977). • bezeichnen didaktische Maßnahmen nur einen Umgebungsfaktor (Noch) kein Verhalten! Lautleseverfahren fordern direkt lesebezogenes Verhalten Lesestrategieverfahren fordern direkt lesebezogenes Verhalten Stille Lesezeiten fordern zwar lesebezogenes Verhalten – allerdings indirekt 27 5 Leseengagement MRQ (Motivation for Reading Questionaire) vs. Reading-Engagement Revised MRQ (53 items, 11 constructs) Beobachtungsbogen Leseengagement 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11. 1. 2. Reading Efficacy (3 items) Reading Challenge(5 items) Reading Curiosity (6 items) Reading Involvement (6 items) Importance of Reading (2 items) Reading Work Avoidance (4 items) Competition in Reading (6 items) Recognition for Reading (5 items) Reading for Grades (4 items) Social Reasons for Reading (7 items) Compliance (5 items) 3. 4. 5. 6. 7. 8. reads often independently (behavioral), reads favorite topics and authors (motivation–intrinsic), distracts easily in self-selected reading (motivation–intrinsic reverse coded), works hard in reading (cognitive–effort), is a confident reader (motivation selfefficacy), uses comprehension strategies well (cognitive–strategies), thinks deeply about the content of texts (cognitive–conceptual orientation), enjoys discussing books with peers (motivation–social). ‚Engaged reading’ korreliert signifikant mit Leseleistung - MRQ nicht. Reading-Engagement auch unter verschiedenen Rahmenbedingungen entscheidende Variable für Leistung. 28 5 Leseengagement Zusammenfassung: Engagement • hat höhere Korrelationen zur Leistung als motivationale Faktoren allein • erklärt höhere Leistungen auch dann, wenn keine keine (positiven) Motivationen nachgewiesen werden können • erklärt Leistung auch unter unterschiedlichen Rahmenbedingungen • bietet ein Rahmenmodell zur Betrachtung von Fördermaßnahmen • nimmt Verhalten von SchülerInnen ernst 29 Förderung eigenständigen Lesens Gliederung 1 2 3 4 5 6 Schwache LeserInnen Maßnahmen und Ziele der Leseförderung Studie zur Wirksamkeit „Unterstützter Stiller Lesezeiten“ Eigenständiges Lesen Leseengagement Lesekulturelle Fähigkeiten 30 6 Lesekulturelle Fähigkeiten Eigenständiges Lesen ist das Zusammenspiel von Leseengagement und lesekulturellen Fähigkeiten (vgl. Jörgens / Rosebrock 2012) 31 6 Lesekulturelle Fähigkeiten Was sind lesekulturelle Fähigkeiten? •‚Passende‘ Bücher Texte auswählen können •Ausdauer & Engagement & Regulation des Leseprozess •Verstehen überwachen & Verstehensprobleme lösen können •Leseerfahrungen mit anderen Teilen können / soziale Integration Diese Fähigkeiten werden von der Schule i.d.R. vorausgesetzt und nicht explizit angezielt und gefördert 32 6 Lesekulturelle Fähigkeiten In unserer Studie zu Unterstützten Stilen Lesezeiten konnten wir ansatzweise zeigen, dass schwache LeserInnen •über Ansätze lesekultureller Fähigkeiten verfügen •diese lesekulturellen Fähigkeiten verbessern können; •jedoch ausdrücklich Unterstützung dabei benötigen •erhebliche Schwierigkeiten haben, gelernte lesekulturelle Fähigkeiten situativ sinnvoll einzusetzen. 33 Zusammenfassung •Leseförderung schwacher Leserinnen ist kein einfaches Geschäft -> „Verschleppte“ Defizite auf allen Lesekompetenzebenen. •Lesen lernt man wohl doch durch vieles Lesen. Allerdings entscheidet vermutlich die Qualität des Lektüreprozesses über Fortschritte -> Engagement-Perspektive. •Die Lesedidaktik sollte dem Training der Leseflüssigkeit im Anschluss an den Schriftspracherwerb und dem Übergang vom Training der hierarchieniedrigen Fähigkeiten zum eigenständige Lesen mehr Beachtung schenken -> Perspektive lesekultureller Fähigkeiten. •Kurzfristige, singuläre Maßnahmen sind vermutlich zu isoliert um schwache LeserInnen zu erreichen -> Lesende Schule o.ä.. 34 Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit! 35