Slide 1 - Hannah Arendt in Hannover

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Hannah Arendt Tage, Hannover
Weltarmut,
Menschenrechte und
unsere Verantwortung
Thomas Pogge
pantheon.yale.edu/~tp4
Leitner Professor of Philosophy and International Affairs, Yale University
with additional affiliations at
the Australian Centre for Applied Philosophy and Public Ethics (CAPPE)
0
and the University of Oslo Centre for the Study of Mind in Nature (CSMN)
#1. Unter den bestehenden
Weltwirtschaftsregeln sind
vorhersehbarerweise die
Menschenrechte der meisten
Menschen nicht erfüllt.
1
Das meistverletzte Menschenrecht
Jeder hat das Recht auf einen Lebensstandard,
der seine und seiner Familie Gesundheit und
Wohl gewährleistet, einschließlich Nahrung,
Kleidung, Wohnung, ärztliche Versorgung und
notwendige soziale Leistungen, sowie das
Recht auf Sicherheit im Falle von
Arbeitslosigkeit, Krankheit, Invalidität oder
Verwitwung, im Alter sowie bei anderweitigem
Verlust seiner Unterhaltsmittel durch
unverschuldete Umstände. [Artikel 25(1)].
Allgemeine Erklärung der Menschenrechte2
Die menschlichen Kosten der Armut
Von 6800 Millionen Menschen heute sind etwa
1020 Millionen unterernährt (FAO, Juni 2009),
2000 Millionen ohne Zugang zu lebenswichtigen Medikamenten
(www.fic.nih.gov/about/plan/exec_summary.htm),
884 Millionen ohne sicheres Trinkwasser (WHO/UNICEF 2008, 32),
924 Millionen obdachlos (UN Habitat 2003, p. vi),
1600 Millionen ohne elektrischen Strom (UN Habitat, ‘Urban Energy’),
2500 Million ohne sanitäre Einrichtungen (WHO/UNICEF 2008, p. 7),
774 Millionen Erwachsene Analphabeten (www.uis.unesco.org),
211 Millionen Kinder (im Alter von 5-17) verrichten Lohnarbeit
ausserhalb ihres Haushalts, oft unter sklavereiähnlichen
Bedingungen: als Soldaten, Prostituierte, Hausangestellte,
Landarbeiter, Bauarbeiter, Fabrikarbeiter oder Teppichknüpfer
(ILO: The End of Child Labour, Within Reach, 2006, pp. 9, 11, 17f.).
3
Ein Drittel aller Todesfälle
Jährlich sterben etwa 18 Millionen Menschen (50.000 pro
Tag), zur Hälfte Kinder, an armutsbedingten Ursachen,
die billig vermeidbar wären: durch bessere Ernährung,
sauberes Trinkwasser, Rehydrierungspräparate,
Impfungen und andere Medikamente. In Tausenden:
Durchfall (2163) und Mangelernährung (487),
Tod von Mutter (524) oder Kind (3180) bei der Geburt,
Kinderkrankheiten (847 — besonders Masern),
Tuberkulose(1464), Meningitis (340), Hepatitis (159),
Malaria (889) und andere Tropenkrankheiten (152),
Atemweginfektionen (4259 — bes. Lungenentzündung),
HIV/AIDS (2040), Geschlechtskrankheiten (128)
(World Health Organisation: The Global Burden of Disease:
2004 Update , 2008, S. 54-59.).
4
Millionen von Todesfällen
Armutstode weltweit
1990-2009
>300
Zweiter Weltkrieg
1939-45
55
Maos Grosser Sprung
nach vorn 1959-62
30
Stalins Repression
1924-53
20
Erster Weltkrieg
1914-18
15
Russischer Bürgerkrieg
1917-22
9
Congo Free State
1886-1908
7.5
Korea und Vietnam
1951-54, 1965-74
5.5
0
50
100
150
200
250 300
#2. Mit einem alternativen
Design jener Regeln wäre
vorhersehbarerweise ein Großteil
dieses Menschenrechtsdefizits
leidlich vermeidbar.
6
Gegenargument
Armut entwickelt sich in verschiedenen
Ländern und Weltregionen unterschiedlich.
Das beweist, dass für das Fortbestehen
schwerer Armut lokale Faktoren
verantwortlich sind.
Konzeptuelle Antwort
auf’s Gegenargument
Es zeigt nur, dass lokale Faktoren
für das Fortbestehen schwerer Armut
mitverantwortlich sind. Es zeigt nicht,
dass lokale Faktoren allein
verantwortlich sind. Beispiel:
Lernerfolg von SchülerInnen in
derselben Lehrveranstaltung.
Globale
institutionelle
Ordnung
Nationale
institutionelle
.
Ordnungen der
verschiedenen
Entwicklungsländer
Arme und gefährdete
Menschen in den
Entwicklungsländern
9
Empirische Antworten
auf’s Gegenargument
Protektionismus gegen die Produkte der Armen
Medikamente zu Monopolpreisen
Vorschub für illegitime Herrschaft durch
Zuerkennung von Kredit-, Rohstoff-, Vertrags-
und Waffenimportprivilegien (Stützung von
Gewaltherrschern und Anreize zu gewaltsamer
Machtergreifung)
Globale institutionelle Ordnung
Medikamente
Arbeitsrecht
4 Privilegen
Korruption
Klimawandel
Protektionismus
Nationale
institutionelle
Ordnungen der
Entwicklungsländer
Die unter schwerer
Armut leidenden
Menschen
11
Segment der
Weltbevölkerung
globalen
Haushaltseinkommen
1988
globalen
Haushaltseinkommen
2002
Absolute
Änderung im
Einkommensanteil
Relative
Änderung im
Einkommensanteil
Ärmstes
Viertel
1.16
0.92
-0.24
-20.7%
Zweites
Viertel
2.37
2.06
-0.31
-13.1%
Drittes
Viertel
6.97
5.44
-1.53
-22.0%
Reichstes
Viertel
89.50
91.58
+2.08
+2.3%
Reichstes
Zwanzigstel
42.87
48.80
+5.93
+11.4%
Folgerung:
#3. Die bestehenden Regeln
der Weltwirtschaft verletzen
massiv die Menschenrechte.
13
Menschenrechte als moralische
Ansprüche an (globale) Institutionen
“Jeder hat Anspruch auf eine soziale und
internationale Ordnung, in der die in dieser
Erklärung verkündeten Rechte und Freiheiten
voll verwirklicht werden können.” (Artikel 28)
Allgemeine Erklärung der Menschenrechte
14
Erster Argumentationsschritt
#1. Unter den bestehenden Weltwirtschaftsregeln
sind die Menschenrechte der meisten Menschen
vorhersehbarerweise nicht erfüllt.
#2. Mit einem alternativen Design jener Regeln
wäre vorhersehbarerweise ein Großteil dieses
Menschenrechtsdefizits leidlich vermeidbar.
#3. Die bestehenden Regeln der Weltwirtschaft
verletzen massiv die Menschenrechte.
15
#4. Wer ohne hinreichend
kompensierende Reformoder Schutzanstrengungen
aktiv an der Gestaltung oder
Durchsetzung vorhersehbar
menschenrechtsverletzender
Regeln mitwirkt, verletzt
dadurch die Menschenrechte.
16
Globale institutionelle Ordnung
Medikamente
Arbeitsrecht
4 Privilegen
Korruption
Regierungen der
mächtigsten Länder
Klimawandel
Protektionismus
Nationale
institutionelle
Ordnungen der
Entwicklungsländer
Die unter schwerer
Armut leidenden
Menschen
17
Zweiter Argumentationsschritt
#4. Wer ohne hinreichend kompensierende
Reform- oder Schutzanstrengungen aktiv an der
Gestaltung oder Durchsetzung vorhersehbar
menschenrechtsverletzender Regeln mitwirkt,
verletzt dadurch die Menschenrechte.
#3. Die bestehenden Regeln der Weltwirtschaft
verletzen massiv die Menschenrechte.
#5. Die Regierungen der mächtigen Staaten
(G7), die die bestehende Weltwirtschaftsordnung gestalten und durchsetzen, verletzen
dadurch massiv die Menschenrechte.
18
Menschenrechte und Gerechtigkeit
Keine Konzeption von Gerechtigkeit ist heute
international konsensfähig. Als notwendige
Bedingung von Gerechtigkeit sind jedoch die
Menschenrechte weithin anerkannt, sofern man
sie eng versteht: absolute Priorität hat nur, bei
sozialen Regeln, die Erfüllung der Menschenrechte und nicht auch ihre Verrechtlichung —
und, bei Akteuren, nur ihre Nichtverletzung
(“respect”, negative Pflichten) und nicht auch
ihre Beförderung (“protect and fulfill”, positive
Pflichten). Auch: nur “absolute” Armut …
19
Globale institutionelle Ordnung
Medikamente
Arbeitsrecht
4 Privilegen
Korruption
Regierungen der
mächtigsten Länder
Konzerne und
Bürger der
mächtigsten Länder
Klimawandel
Protektionismus
Nationale
institutionelle
Ordnungen der
Entwicklungsländer
Die unter schwerer
Armut leidenden
Menschen
20
Dritter Argumentationsschritt
#6. Wer ohne hinreichend kompensierende Reformoder Schutzanstrengungen eine ungerechte Politik
seiner Regierung unterstützt oder duldet, wird so
mitverantwortlich für diese ungerechte Politik.
#7. Die Verhandlungsstrategie der mächtigen Staaten
hinsichtlich der Weltwirtschaftsregeln wird von den
meisten Bürger dieser Staaten ohne hinreichende
Kompensation unterstützt oder geduldet. Und #5.
#8. Die meisten Bürger der mächtigen Staaten sind
mitverantwortlich dafür, dass die bestehende Weltwirtschaftsordnung Menschenrechte massiv verletzt.21
Fazit:
Zwei Punkte
zum Behalten
22
Schon immer lebte eine Mehrheit der Menschheit in bitterer Armut. Neu aber ist die leichte
Vermeidbarkeit von Armut: das groteske
Missverhältnis zwischen dem menschlichen
und dem ökonomischen Ausmass des
Weltarmutsproblems. Armutsbedingt sind ein
Drittel aller menschlichen Todesfälle und
mehr als ein Drittel aller menschlichen
Gesundheitsdefizite. Und doch ist das, was
den Armen an Einkommen fehlt, kaum ein
Prozent des globalen Sozialprodukts.
23
Um die Armut zu beenden, müssen wir sie
nicht nur bekämpfen — wie manche NGOs,
internationale Organisationen (UNICEF, WFS)
und auch meine Nachrednerin es vorbildlich
tun — sondern es an der Wurzel packen:
Beim Design und Redesign der fundamentalen
Regeln unserer globalen institutionellen
Ordnung müssen wir das Weltarmutsproblem
voll berücksichtigen, ja sogar als vornehmste
Aufgabe dieses Regelsystems in den
Vordergrund stellen.
24
25
Appendix 1
26
Ist schwere Armut hausgemacht?
“Rich countries cut their tariffs by less in the Uruguay
Round than poor ones did. Since then, they have found
new ways to close their markets, notably by imposing
anti-dumping duties on imports they deem ‘unfairly
cheap.’ Rich countries are particularly protectionist in
many of the sectors where developing countries are
best able to compete, such as agriculture, textiles, and
clothing. As a result, according to a new study by
Thomas Hertel, of Purdue University, and Will Martin,
of the World Bank, rich countries’ average tariffs on
manufacturing imports from poor countries are four
times higher than those on imports from other rich
countries. This imposes a big burden on poor
countries. The United Nations Conference on Trade and
Development (UNCTAD) estimates that they could
export $700 billion more a year by 2005 if rich
27
countries did more to open their markets. …
… Poor countries are also hobbled by a lack of know-how.
Many had little understanding of what they signed up to in
the Uruguay Round. That ignorance is now costing them
dear. Michael Finger of the World Bank and Philip Schuler
of the University of Maryland estimate that implementing
commitments to improve trade procedures and establish
technical and intellectual-property standards can cost more
than a year’s development budget for the poorest countries.
Moreover, in those areas where poor countries could benefit
from world trade rules, they are often unable to do so. … Of
the WTO’s 134 members, 29 do not even have missions at its
headquarters in Geneva. Many more can barely afford to
bring cases to the WTO”
The Economist, 25 September 1999, page 89
28
Das internationale Rohstoffprivileg
… we confer upon a group in power includes the liberty to
effect legally valid transfers of ownership rights in the
country’s resources. Thus a corporation that has purchased
resources from the Saudis or Suharto, or from Mobuto or
Sani Abacha, has thereby become entitled to be — and
actually is — recognized anywhere in the world as the
legitimate owner of these resources. This privilege has
disastrous effects in poor but resource-rich countries.
Whoever can take power in such a country by whatever
means can maintain his rule, even against widespread
popular opposition, by buying the arms and soldiers he
needs with revenues from the export of natural resources.
The resource privilege thus gives insiders strong incentives
toward the violent acquisition and exercise of political
power, thereby causing coup attempts and civil wars. It also
gives outsiders strong incentives to corrupt the officials of
such countries who, no matter how badly they rule, continue
to have resources to sell and money to spend.
Das internationale Kreditprivileg
… includes the power to impose internationally valid legal
obligations upon the country at large. Any successor
government that refuses to honor debts incurred by an ever so
corrupt, brutal, undemocratic, unconstitutional, repressive,
unpopular predecessor will be severely punished — at minimum
be excluded from the international financial markets. The
international borrowing privilege facilitates borrowing by
destructive rulers, and thus helps them maintain themselves in
power even against near-universal popular discontent and
opposition. It imposes upon democratic successor regimes the
often huge debts of their corrupt predecessors (Rwanda!),
thereby sapping the capacity of such democratic governments
to implement structural reforms and other political programs,
thus rendering such governments less successful and less
stable than they would otherwise be. And it strengthens
incentives toward coup attempts: Whoever succeeds in bringing
a preponderance of the means of coercion under his control
gets the borrowing privilege as an additional reward.
Appendix 2
31
Wann ist eine
institutionelle Ordnung
menschenrechtsverletzend?
Genau dann, wenn diese vier Bedingungen erfüllt sind:
1. Die institutionelle Ordnung geht mit einem massiven
Menschenrechtsdefizit unter ihren Teilnehmern einher.
2. Diese Korrelation ist durch ein alternatives Design dieser
institutionellen Ordnung leidlich vermeidbar.
3. Die Korrelation in (1) ist vorhersehbar.
4. Ihre Vermeidbarkeit (2) ist ebenfalls vorhersehbar: Wir
können wissen, dass das alternative Design die Menschenrechte der Teilnehmer viel besser erfüllen würde.
32
Moralische Verantwortung
Wenn eine institutionelle Ordnung ungerecht ist
(vorhersehbar massive Menschenrechtsdefizite
produziert, die durch ein alternatives Design
absehbar vermeidbar wären), dann verletzen
diejenigen, die ohne kompensierende Reformoder Schutzanstrengungen aktiv an der
Durchsetzung dieser Ordnung mitwirken, die
Menschenrechte derer, die die vermeidbaren
Menschenrechtsdefizite erleiden.
Appendix 3:
Ob die Millenniumziele
zu feiern sind?
34
Unser Versprechen, Armut bis
2015 zu halbieren: Erste Version
1996 Welternährungsgipfel in Rom verspricht,
1996-2015 die Anzahl extrem armer Menschen zu
halbieren. Dies impliziert eine jährliche Reduktion
um 3,58% (minus 50% in 19 Jahren).
“We pledge our political will and our common and
national commitment to achieving food security for all
and to an on-going effort to eradicate hunger in all
countries, with an immediate [!] view to reducing the
number of undernourished people to half their present
level no later than 2015.”
www.fao.org/docrep/003/w3613e/w3613e00.htm
Unser Versprechen, Armut bis
2015 zu halbieren: Zweite Version
1996 Welternährungsgipfel in Rom versprach, 1996-2015
die Anzahl extrem armer Menschen zu halbieren. Dies
impliziert eine jährliche Reduktion um 3,58%.
2000 Millennium Entwicklungsziel 1 verspricht,
2000-2015 den Anteil extrem armer Menschen an
der Weltbevölkerung zu halbieren. Dies impliziert
eine jährliche Reduktion um 3,40% (40% in 15
Jahren).
“to halve, by the year 2015, the proportion of the world’s
people whose income is less than one dollar a day and
the proportion of people who suffer from hunger.”
www.un.org/millennium/declaration/ares552e.htm
Unser Versprechen, Armut bis
2015 zu halbieren: Dritte Version
1996 Welternährungsgipfel in Rom versprach, 1996-2015
die Anzahl extrem armer Menschen zu halbieren. Dies
impliziert eine jährliche Reduktion um 3,58%.
2000 Millennium Entwicklungsziel 1 (MDG-1) versprach,
2000-2015 den Anteil extrem armer Menschen an der
Weltbevölkerung zu halbieren. Dies impliziert eine
jährliche Reduktion um 3,40% (minus 40% in 15 Jahren).
MDG-1, wie nachträglich von der UNO interpretiert,
verspricht, 1990-2015 den Anteil extrem armer
Menschen an der Bevölkerung der Entwicklungsländer zu halbieren. Dies impliziert eine jährliche
Reduktion um 1,25% (minus 27% in 25 Jahren).
www.un.org/millennium/declaration/ares552e.htm
Das verwässerte Versprechen
Basis
Jahr
Anzahl der
Armen im
Basisjahr
(Millionen)
Für 2015
versprochene
Reduktion
1996
1672
50%
836
3,58%
MDG-1
as
2000
adopted
1673
40%
1004
3,35%
1817.5
27%
1327
1,25%
World
Food
Summit
MDG-1
as
revised
1990
Für 2015
avisierte
Nötige
Zielzahl
jährliche
(Millionen) Reduktion
Was bedeutet die Verwässerung?
Die Verwässerung des großen Versprechens von Rom
fügt 491 Millionen Menschen der Zahl derer hinzu,
deren extreme Armut im Jahr 2015 (und auch in den
Folgejahren) moralisch akzeptiert — ja als Erfolg,
als Erreichen des ersten Millenniumziels gefeiert —
werden soll. 491 Millionen zusätzliche extrem Arme
in der Welt, das sind so etwa 6 Millionen zusätzliche
Todesfälle aus armutsbedingten Ursachen: in 2015
und auch in jedem der Jahre danach.
Zugehörige Unterlagen
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