Versorgungsforschung für demenziell erkrankte Menschen – Health Services Research for People with Dementia Symposium – Bonn 11.-12. Dezember 2008 (World Conference Center Bonn) Symposium S-7: ETHISCHE PROBLEME IN FORSCHUNG UND VERSORGUNG BEI DEMENZERKRANKUNGEN Ethische Überlegungen zum Umgang mit demenziell erkrankten Menschen Abstract (aus Abstractheft): In ethischer Hinsicht ist der Umgang mit demenziell erkrankten Menschen kein Sonderfall. Prinzipien wie Autonomie, Wohltun, Schadensvermeidung und Gerechtigkeit bleiben auch im Fall von Demenz in Geltung. Allerdings müssen im Unterschied zu anderen Problemstellungen des entstehenden und vergehenden personalen Lebens ethische Modifikationen und Revisionen vorgenommen werden. So sind vor allem Neubestimmungen des personalen Stand punkts, präzisierte Auffassungen der Identität der Person über die Zeit hinweg sowie praktische Anpassungen des Würdebegriffs an die Erfordernisse des Alltagslebens demenziell erkrankter Menschen vonnöten. In diesem Zusammenhang zeigt sich auch, dass wir in der vermeintlich normalen sozialen Praxis des Alltagslebens zu einseitigen Vorstellungen von Autonomie neigen, die ein einfaches Bedingungsverhältnis von aktiver Autonomie und lebens wertem Dasein unterstellen. Es gibt keinen ethischen Grund, demenziell erkrankte Menschen unangesehen durchgreifender Verhaltens- und Persönlichkeitsveränderungen nicht als Personen zu behandeln. Personale Identität kann über temporale Stadien hinweg erhalten bleiben, in denen kein ausdrückliches Bewusstsein der Identität über die Zeit hinweg mehr vorliegt. Dementsprechend ist die Frage, ob eine Person ihr Leben schätzt, von der Frage zu unterscheiden, ob sie ein Verständnis von ihrem Leben als Ganzem hat. Für den ethisch rechtfertigungsfähigen Umgang mit demenziell erkrankten Menschen muss eine neue Verantwortungskultur entwickelt werden, die auch im lebens praktischen Alltag die medizinethische Sensibilität erhöht und herkömmliche Vorstellungen von dem, was es bedeutet, das Leben einer Person zu führen, in Teilen revidiert. ----------------Dieter Sturma, Prof. Dr., Institut für Wissenschaft und Ethik e.V./Deutsches Referenzzentrum für Ethik in den Biowissenschaften (DRZE), Universität Bonn, 53113 Bonn E-mail: [email protected] Ethische Überlegungen zum Umgang mit demenziell erkrankten Menschen Dieter Sturma (Bonn) 1 1. Medizinethik und demenzielle Erkrankungen 2. An den Grenzen der Person 3. Ausblick auf eine neue Verantwortungskultur 2 1. Medizinethik und demenzielle Erkrankungen Prinzipien der medizinischen Bioethik Grundprinzipien Methoden Selbstzweckformel Autonomiegebot Instrumentalisierungsverbot Universalisierbarkeit VerfahrensgerechJgkeit Weltanschauliche Unabhängigkeit Folgenabwägung Prinzipien mi4lerer Reichweite Autonomie Wohltun Schadensvermeidung GerechJgkeit Anwendungsmodell Überlegungsgleichgewicht 3 1. Medizinethik und demenzielle Erkrankungen Ethische Problembereiche PaJentenautonomie Krankheitsbegriff Fürsorge AuPlärung Einwilligungsfähigkeit vergehende kogniJve Leistungen AllokaJon Sterbehilfe 4 1. Medizinethik und demenzielle Erkrankungen Erweiterte Fragestellungen Epistemische Unsicherheit Person Personalität Personale IdenJtät Asymmetrische Anerkennungsverhältnisse 5 2. An den Grenzen der Person Theorien zum Verhältnis von Mensch und Person - der essenJalisJsche Ansatz: „Mensch“ und „Person“ sind synonyme WesensbesJmmungen. - der speziesisJsche Ansatz: Menschen sind aufgrund ihrer GaWungszugehörigkeit Personen. - der Lebensinteresseansatz: Nicht alle Menschen sind Personen. - der Fähigkeitenansatz: Menschen sind aufgrund von Fähigkeiten und EigenschaZen Personen. - der szienJsJsche EliminaJvismus: Menschen sind keine Personen. 6 2. An den Grenzen der Person Personalität Personalität setzt sich aus akJven und passiven Komponenten zusammen. Eine Person ist ein selbstreferenzielles System von AkJvitäten, das Ansprüche erhebt, Erwartungen hegt und Verpflichtungen erfüllt. Eine Person ist aber auch Adressat von Ansprüchen, Erwartungen und Verpflichtungen anderer Personen. Im Falle von Erkrankungen, Verletzungen und Behinderungen, die das selbstreferenzielle System von AkJvitäten auf gravierende Weise schädigt, bleiben die passiven Komponenten der Personalität bestehen. Durch den Wegfall der AkJvitäten kommt es sogar zu einem KompensaJonsphänomen, das die Fürsorgepflichten auf Seiten der anderen Person erhöht. 7 2. An den Grenzen der Person Entwicklungsstadien menschlicher Personen mögliche Personen Embryonen werdende Personen Kleinstkinder akJve Personen lebensgeschichtlicher Normalfall des Erwachsenenlebens verhinderte Personen anenzephale Kinder vergehende Personen demenziell erkrankte Personen in einem späten Stadium vergehende Personen Menschen mit irreversiblen Schwerstschädigungen des Gehirns vergangene Personen Leichname 8 2. An den Grenzen der Person Diskurs‐ und Begründungsgrenzen a) Personstatus …… b) moralischer Status a) Personstatus …… b) Lebensrecht a) Personstatus …… b) moralische Verpflichtung a) personale AkJvität …… b) personale Passivität 9 2. An den Grenzen der Person Medizinethische Erweiterungen 1. Nicht zusJmmungsfähigen Personen können bessere oder schlechtere Zustände zugeschrieben werden, ohne dass diese mit ausdrücklichem Selbstbewusstsein begleitet sein müssen. 2. Die besseren oder schlechteren Zustände von nicht zusJmmungsfähigen Personen sind in irgendeiner Weise mit Zuständen anderer Personen vergleichbar. 3. Mit den nicht zusJmmungsfähigen Personen lässt sich eine PerspekJve oder ein Standpunkt verbinden – ohne dass es sich dabei um eine ausdrücklich selbstbewusste PerspekJve handeln muss. 10 2. An den Grenzen der Person Der Verlust des Lebensplans „By the Jme the demenJa has become advanced, Alzheimer's vicJms have lost the capacity to think about how to make their lives more successful on the whole. They are ignorant of self— not as an amnesiac is, not simply because they cannot idenJfy their pasts—but more fundamentally, because they have no sense of a whole life, a past joined to a future, that could be the object of any evaluaJon or concern as a whole. They cannot have projects or plans of the kind that leading a criJcal life requires. They therefore have no contemporary opinion about their own criJcal interests.“ Ronald Dworkin: Life‘s Dominion. An Argument About AborOon, Euthanasia, and Indvidual Freedom 11 2. An den Grenzen der Person Aufmerksamkeit ohne Selbs4hemaOsierung „Die Nacht kam heran. Ich erblickte den Himmel, einige Sterne und ein wenig Grün. Diese erste Empfindung war köstlich. Ich empfand zunächst mein Dasein einzig durch sie. Ich ward in diesem Augenblick zum Leben geboren und erfüllte, wie mich dünkte, alle Gegenstände, die ich um mich sah, mit meiner flüchJgen Existenz. Ganz dem GegenwärJgen hingegeben, erinnerte ich mich an nichts; ich haWe keinen klaren Begriff von mir selbst, nicht die geringste Vorstellung von dem, was mir zugestoßen war; ich wußte weder, wer ich war, noch wo ich war; ich fühlte weder Schmerz noch Furcht noch Unruhe. Ich sah mein Blut fließen, wie ich einen Bach häWe fließen sehen, ohne auch nur im geringsten daran zu denken, daß dies Blut von mir sein könnte. Ich fühlte in meinem ganzen Wesen eine köstliche Ruhe, der, sooZ ich mich ihrer entsinne, keines der Vergnügen gleichkommt, die ich je genossen habe.“ Jean‐Jacques Rousseau: Les rêveries du promeneur solitaire / Die Träumereien des einsamen Spaziergängers 12 3. Ausblick auf eine neue Verantwortungskultur Asymmetrische Verantwortungsverhältnisse Autonomie Selbstbestimmung Paternalismus Fürsorge 13