Menschenrechte und Soziale Arbeit

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Tagungsunterlagen „Menschenwürde statt Almosen“
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B. Verwendungsmöglichkeiten des Leitfadens
Menschenrechte und Soziale Arbeit
Ein Handbuch für Ausbildungsstätten der Sozialen Arbeit und für den
Sozialarbeitsberuf.
5. Die Materialien, die der Leitfaden zur Verfügung stellt, sind für alle Ebenen der
Sozialarbeitsausbildung brauchbar, die Fortbildung im Praxisbereich eingeschlossen. Der
Leitfaden richtet sich demnach an ein breites Publikum: Lehrende, Studierende und
praktizierende SozialarbeiterInnen. Er lässt sich selbstverständlich aber auch an die Schulung
anderer Gruppen anpassen, die von Berufs wegen oder als Freiwillige im sozialen Bereich
tätig sind.
Hrsg. v. Vereinte Nationen – Zentrum für Menschenrechte / Internationaler Verband der
SozialarbeiterInnen (ISFW) / Internationale Vereinigung der Ausbildungsstätten für Soziale
Arbeit. zit. nach: Soziale Arbeit – Arbeitsmaterialien Heft 1/1997 (4. Aufl. 2000) aus dem
Fachbereich Sozialwesen der Fachhochschule Ravensburg-Weingarten. Hochschule für
Technik und Sozialwesen. Pf. 1261, D-88241 Weingarten
I. PRINZIPIELLES
A. Zweck des Leitfadens
1. Der Leitfaden hat den Zweck, bei DozentInnen und Studierenden im Bereich der
Sozialarbeit ebenso wie bei praktizierenden Sozialarbeiterlnnen Verständnis und Offenheit für
Menschenrechtsfragen und für Anliegen sozialer Gerechtigkeit zu wecken. Im gesamten
Leitfaden dient der Begriff 'Menschenrechte' dazu, eine Vorstellung der Gesamtheit von
Rechten zu vermitteln, wie sie von den Vereinten Nationen artikuliert wurden.
2. Der Internationale Verband der Sozialarbeiterlnnen (International Federation of Social
Workers; IFSW) und die Internationale Vereinigung der Schulen für Sozialarbeit
(International Association of Schools of Social Work; IASSW) halten es für ein
unabdingbares Erfordernis, dass sich diejenigen, die auf dem Gebiet der Sozialen Arbeit
lehrend, lernend und praktizierend tätig sind, unmissverständlich und rückhaltlos der
Förderung und dem Schutz der Menschenrechte wie auch der Aufgabe einer Befriedigung
grundlegender sozialer Ansprüche verschreiben. Deshalb wurde dafür Sorge getragen, dass
der Leitfaden umfassende Materialien und Informationen für Quellenarbeits- und
Unterrichtszwecke enthält. Außerdem soll der Leitfaden dazu beitragen, die Berufstätigen im
Bereich der Sozialen Arbeit mit den vorhandenen internationalen und regionalen
Menschenrechtsdokumenten vertraut zu machen.
3. Zwar lässt sich sagen, dass
die Soziale Arbeit ihrem Selbstverständnis nach eine Menschenrechtsprofession ist, da
sie vom Grundsatz des unteilbaren Wertes jedes einzelnen menschlichen Wesens
ausgeht und da eines ihrer Hauptziele die Förderung gerechter sozialer Verhältnisse
ist, die den Menschen Sicherheit und Entfaltungsmöglichkeiten bieten während sie
ihre Würde schützen. (IFSW.- International Policy Papers (1988), Einleitung (1) 3)
dennoch sind IFSW und IASSW der Überzeugung, dass eine größere Kenntnis und ein
besseres Verständnis der Menschenrechte den Handlungen und Eingriffen der in der
Sozialarbeit Tätigen zuträglich sein und denen, die auf die Dienste der letzteren angewiesen
sind, zugute kommen werden.
7. Ausbildungsstätten für Soziale Arbeit sind entschieden aufgefordert, kreative Methoden zu
entwickeln, um in ihre Lehrstelle menschenrechtsspezifische Inhalte zu integrieren. Einige
könnten separate Wahlfächer anbieten, manche von ihren Studierenden verlangen einen
Menschenrechtskurs zu belegen und andere könnten Menschenrechtsinhalte in alle
angebotenen Grundkurse integrieren. Diese Methoden müssen sich nicht gegenseitig
ausschließen, da sie alle Vor- und Nachteile haben. Ein eigener Menschenrechtskurs bietet die
Möglichkeit, die Probleme in ihrer Relevanz für die Soziale Arbeit gründlich zu studieren.
Handelt es sich indes um einen fakultativen Kurs, so erreicht er nur die StudentInnen, die ihn
wählen. Die Thematik in sämtliche Grundkurse einzubringen hat den Vorteil, dass - wie auch
im Falle eines Pflichtkurses - alle Studierenden erreicht werden; hinzu kommt, dass auf diese
Weise demonstriert wird, wie sehr die Menschenrechtsproblematik mit allen Formen und
Bedingungen der Sozialarbeitspraxis in ihren unzähligen Erscheinungsweisen verknüpft ist.
Menschenrechtsprobleme in ohnehin bereits überfrachtete Kurse einzubringen, verursacht
allerdings viele Herausforderungen. Bei den Lehrenden braucht es dazu Engagement und
einen erhöhten Kenntnisstand.
8. Wie immer das Lehrmaterial zum Thema Menschenrechte eingesetzt wird, entscheidend
ist, dass in den Grundsätzen, den Unterrichtsformen und der Struktur des
Ausbildungsprozesses ebenso wie in den Inhalten die Menschenrechtsdimension und die
Perspektive der sozialen Gerechtigkeit ihren Niederschlag finden. Hinsichtlich des
Unterrichtsprozesses kommt es insbesondere auf vier wesentliche Bereiche an. Erstens
müssen Grundsätze und Auftrag der Ausbildungsstätten deutlich artikuliert sein und den
Unterrichtsprozess erkennbar durchdringen und bestimmen. Zweitens muss in der Struktur der
Ausbildungsstätten die Rücksicht auf die Menschenrechte zum Ausdruck kommen, und zwar
4. SozialarbeiterInnen arbeiten mit ihren KlientInnen auf einer Vielzahl von Ebenen: der
Mikroebene des einzelnen und der Familie, der Mesoebene des lokalen Gemeinwesens der
Organisationen und der Makroebene der Gesellschaft - im nationalen und im internationalen
Maßstab. Ihre Sorge um die Menschenrechte müssen Sozialarbeitende auf allen Ebenen und
immer wieder neu sichtbar werden lassen. Diese Perspektive zu eröffnen ist Aufgabe des
vorliegenden Leitfadens.
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6. Die Materialien lassen sich auf vielfältige Weise verwenden. So lässt sich ein Wahl- oder
Pflichtkurs zum Thema Menschenrechte an Ausbildungsstätten für Soziale Arbeit
veranstalten, in dem der Leitfaden den Dozierenden als Anleitung und den Studierenden als
Textgrundlage dient. Die Materialien lassen sich auch an die Anforderungen eines Workshops
oder Seminars oder eines kurzen Fortbildungskurses anpassen. Eine andere
Verwendungsmöglichkeit für das Material bestünde darin, in das bestehende Unterrichts
Pflichtprogramm etwas von der Menschenrechtsthematik einfließen zu lassen. Das würde
bedeuten, dass man sich bemüht, die Menschenrechtsthematik mit Fragen der praktischen
Sozialarbeit zu vermitteln und in den Mikrobereich (die unmittelbare Praxis) wie auch in die
Makrodimension (etwa das Eintreten für eine Politik des Sozialen, Forschung, soziale Aktion,
Bewusstseinsprozesse) der beruflichen Funktionen der Sozialen Arbeit einzubeziehen. Mit
dieser Methode des Einfließenlassens wird bezweckt, die Inhalte, die das Curriculum bereits
enthält, durch spezifische Vorstellungen und Bestimmungen aus dem Bereich der
Menschenrechtsthematik anzureichern. Dadurch, dass Menschenrechtselemente immer wieder
in die Sozialarbeitsausbildung eingebracht werden, finden sich Dozieren und Studierende
ermuntert, die Weit und ihre eigene Rolle unter dem Gesichtspunkt sozialer Gerechtigkeit ins
Auge zu fassen.
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sowohl im Hinblick auf die Strategien, Verfahrensweisen und organisatorischen
Bestimmungen bei der Zulassung, Beratung, Einstufung und Beurteilung von StudentInnen
als auch hinsichtlich des Lehrpersonals. und der für es geltenden Anstellungs-, Beurteilungsund Beförderungspraktiken. Eine institutionelle Struktur, in der Sexismus, Rassismus,
religiöse und andere Formen von Unterdrückung herausgestellt und angeprangert werden, ist
unverzichtbar, wenn die Menschenrechte im Lehrplan wirklich zu Geltung gebracht werden
sollen.
Der dritte Bereich betrifft die Beziehungen zwischen Lehrkörper und Studentenschaft. Eine
Atmosphäre der Offenheit ist wichtig für den Unterricht und für die Entwicklung eines
Gefühls der Gleichberechtigung unter den StudentInnen und zwischen ihnen und dem
Lehrkörper. Ebenso wichtig ist die Anwendung von Lehr- und Lernmethoden, kraft derer sich
die Studentinnen ermächtigt fühlen, für soziale Gerechtigkeit einzutreten. Kurz, wer über
Menschenrechte lehren will, muss die Rechte der StudentInnen achten und schützen.
Ein vierter Bereich, dem das besondere Augenmerk gelten muss, betrifft die Methoden der
praktischen Sozialarbeit, die im Unterricht gelehrt werden. Wer ein Engagement für die
Menschenrechte erreichen will, muss dafür sorgen, dass auch die Methoden der Sozialarbeit
selbst vom Respekt vor den Menschenrechten getragen sind.
9. Das Bemühen, den unlösbaren Zusammenhang zwischen Sozialer Arbeit und
Menschenrechten in den Lehrgängen sichtbar werden zu lassen, stellt die Ausbildung in
Sozialer Arbeit vor eine große Herausforderung. Die Materialien dieses curricularen
Leitfadens sollen mit dazu beitragen, dass die Herausforderung erfolgreich gemeistert werden
kann.
C. Welche Rechte sind Menschenrechte?
10. In einer Veröffentlichung aus dem Jahr 1987 mit dem Titel 'Human - Rights: Questions
and Answers' geben die Vereinten Nationen folgenden Begriff von den Menschenrechten:
Als Menschenrechte lassen sich ganz. allgemein jene Rechte definieren, die unserer
Natur eigen sind und ohne die wir als menschliche Wesen nicht existieren können. Die
Menschenrechte und die grundlegenden Freiheiten erlauben uns, unsere menschliche
Eigenschatten, unsere Intelligenz, unsere Begabungen und unser moralisches
Bewusstsein Voll Zu entwickeln und zu gebrauchen und unsere geistigen und
sonstigen Bedürfnisse zu befriedigen, Sie gründen im zunehmenden Verlangen der
Menschheit nach einem Leben, in dein die unveräußerliche Würde und der Wert jedes
einzelnen Menschen Anerkennung und Schutz findet.
11. In der gleichen Veröffentlichung wird festgestellt:
Werden die Menschenrechte und die grundlegenden Freiheiten verweigert, so ist das
nicht nur für den einzelner) ein großes persönliches Unglück, sondern es wird noch
mehr sozialer und politischer Unfriede gesät; in den Gesellschaften und Nationen wie
auch zwischen ihnen wird der Boden für Gewalt und Konflikte bereitet. Die Achtung
für die Menschenrechte und für die Würde des Menschen ist, wie der erste Satz in der
Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte feststellt, 'die Grundlage von Freiheit
Gerechtigkeit und Frieden in der Welt.' (Vereinte Nationen, Human Rights: Questions
and Answers (1987), S.4 (2))
Gruppen dürfen nur dann eingeschränkt werden, wenn ihre Ausübung in einer bestimmten
Situation ähnliche oder vergleichbare Rechte anderer beeinträchtigt.
13. Es ist wichtig, sich mit der verbreiteten Vorstellung von drei Stufen der
Menschenrechtsentwicklung vertraut zu machen, von denen die erste die sogenannten
‚negativen Rechte' umfasst und in den bürgerlichen und politischen Rechten besteht, wie sie
in den Artikeln 2 bis 21 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte formuliert sind.
Diese Rechte sollen den einzelnen vor jeder Beeinträchtigung' seiner individuellen Freiheit
schützen.
Die zweite Entwicklungsstufe umfasst die sogenannten 'positiven' (ökonomischen, sozialen
und kulturellen) Rechte, wie man sie in den Artikeln 22 bis 27 der Menschenrechtserklärung
formuliert findet; diese Artikeln zielen darauf, soziale Gerechtigkeit, Freiheit von Armut und
Not und die Teilhabe am sozialen, ökonomischen und kulturellen Leben zu gewährleisten.
Auf der dritten geht es um die 'kollektiven' Rechte, wie sie andeutungsweise Artikel 28 der
Erklärung formuliert sind, wo es heißt, dass „jeder Anspruch auf eine gesellschaftliche und
internationale Ordnung hat, die eine Verwirklichung der in dieser Erklärung verkündeten
Rechte und Freiheiten erlaubt.“ Dass die Erklärung sich von einer bloßen Abwehrhaltung
gegenüber Unterdrückungsformen zu einer positiven Bekräftigung des Rechts auf die
Befriedigung materieller und nicht-materieller, geistiger Bedürfnisse und auf eine gerechte
Teilhabe an der Produktion und Verteilung der Existenzmittel fortentwickelt, ist logisches
Resultat des zunehmenden sozialpolitischen Bewusstseins und der fortschreitenden
ökonomischen Entwicklung, deren Träger hauptsächlich, wenn auch nicht ausschließlich, die
Industrienationen sind. In den Entwicklungsländern führt das schiere Ausmaß des Mangels,
und unter Umständen auch der Ausbeutung, zur kollektiven Vision von einem Recht auf
soziale und wirtschaftliche Entwicklung, das sich über das Recht des einzelnen hinaus auf die
Ebene nationaler und regionaler Gemeinschaften erstreckt und das letztlich auf das System
einer von internationaler Solidarität getragenen Entwicklungsförderung zielt.
14. In einer Welt, in der die gegenseitige Abhängigkeit zunehmend größer wird, gewinnt die
Anerkennung des inneren Zusammenhangs der drei Entwicklungsstufen der Menschenrechte
an Boden. Obwohl die Menschenrechte ihre Kodifizierung in verschiedenen internationalen
Dokumenten gefunden haben, werden sie als zusammenhängendes Ganzes wahrgenommen.
Eine Definition der menschlichen Pflichten, die Hand in Hand mit den Menschenrechten
Geltung beanspruchen, muss ergänzend zu dieser Wahrnehmung, hinzutreten. Vielleicht
dauert es nicht mehr lange, bis das Prinzip der unteilbaren Menschenrechte, das mit dem
ausgehenden zwanzigsten Jahrhundert an Boden gewinnt, durch eine
Menschenpflichts-Charta vervollständigt wird.
D. Was ist Soziale Arbeit?
15. Die Soziale Arbeit entspringt sowohl humanitären als auch demokratischen Idealen. Die
Praxis der Sozialen Arbeit war von Anfang an darauf gerichtet, menschlicher Not zu
begegnen und auf die Entfaltung menschlicher Möglichkeiten und Ressourcen hin zu wirken.
"Soziale Arbeit ist eine Profession, die dem Zweck dient, soziale Veränderungen in der
Gesellschaft allgemein und in der individuellen Entwicklung ihrer Mitglieder
herbeizuführen.“ (IFSW: Definition of the Social Work- Profession (1982)
12. Die Menschenrechte sind universal und gelten unterschiedslos für jeden Menschen. Die
Achtung vor den Rechten des einzelnen gilt es jederzeit zu waren, ohne Rücksicht auf die
jeweiligen Umstände oder politischen Verhältnisse. Die Rechte einzelner Personen oder
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Professionelle SozialarbeiterInnen
widmen sich dem Dienst am Wohlergehen und der Selbstverwirklichung von
Menschen; der Entwicklung und disziplinierten Anwendung Erkenntnisse im Blick auf
menschliches und gesellschaftliches Verhalten der Erschließung und Erweiterung von
Ressourcen um individuelle, gruppenspezifische, nationale und internationale
Bedürfnisse zu befriedigen; und schließlich widmen sie sich der Durchsetzung sozialer
Gerechtigkeit. (International Code of Ethics (1976))
16. SozialarbeiterInnen sind daran beteiligt, vorbeugende soziale Maßnahmen und Strategien
im Dienste von Gruppen und Gemeinwesen zu planen, zu beurteilen, in die Tat umzusetzen,
zu prüfen und umzugestalten. Sie sind in zahlreichen gesellschaftlichen Teilsystemen
vertreten, arbeiten mit unterschiedlichen methodischen Ansätzen, sind in einem
breitgefächerten organisatorischen Rahmen tätig und erbringen für verschiedenartige Teile der
Bevölkerung auf der Mikro-, Meso- und Makroebene soziale Dienstleistungen. (siehe IFSW:
Definition of the Social Work Profession) Ziel der Sozialarbeitsausbildung ist es, der sozialen
Entwicklung und einer weltweit qualifizierten Bildung Vorschub zu leisten, den für die
Sozialarbeitspraxis erforderlichen Schulungs- und Wissensstand voranzutreiben, sowie
soziale Dienste und soziale Wohlfahrtsprogramme zu fördem. (Entwurf einer Stellungnahme
des IASSW zu ... der Ausbildungsstätten für Sozialarbeit rag der Ausbildungsstätten für
Soziale Arbeit)
E. Sozialarbeit und Menschenrechte
19. Das Gewicht, das die Sozialarbeit von Berufs wegen auf die menschlichen Bedürfnisse
legt, hat in ihr die Überzeugung gefestigt, dass wegen der grundlegenden Natur dieser
Bedürfnisse ihre Befriedigung keine Sache des Beliebens, sondern ein Gebot fundamentaler
Gerechtigkeit ist. So gelangt die Sozialarbeit dazu, die Menschenrechte als zweites
organisierendes Prinzip ihres beruflichen Wirkens zu betrachten. Der Übergang von der
Orientierung an Bedürfnissen zur Bekräftigung von Rechten wurde nötig angesichts der
greifbaren materiellen Not, der begegnet werden muss. Ein substantielles Bedürfnis lässt sich
in ein entsprechendes positives Recht übersetzen; der Leistungsanspruch, der aus diesem
Recht folgt, lässt sich vom Staat oder auch von übergeordneten Instanzen einfordern.
20. Demzufolge ist das Streben nach positiven Rechten und nach deren Anerkennung
untrennbar mit dem Kampf gegen Armut und Mangel verknüpft. In den unterschiedlichen
politischen Systemen, in denen sie arbeiten, wahren und verteidigen die Sozialarbeiter die
Rechte der Einzelpersonen und Gruppen, die sie betreuen, und bemühen sich um die
Befriedigung ihrer Bedürfnisse. Das tun sie, während häufig ihr Arbeitgeber die etablierten,
anerkannten Mächte sind; ihre Stellung als Vertreter des Staates oder Angestellte machtvoller
Institutionen stürzt viele von ihnen in schwierige Rollenkonflikte. Die berufliche
Treueverpflichtung gegenüber dem Dienstherrn muss mit der Pflicht in Einklang gebracht
werden, den Klienten der Sozialarbeitspraxis zu dienen. Dem berufsständischen Moralkodex
und dem erklärten Sendungsbewusstsein der Ausbildungsstätten für Sozialarbeit zufolge stellt
der Dienst an den Menschen die übergeordnete Rücksicht dar.
17. Die Soziale Arbeit findet stets in fünf Kontexten statt, die ein Ganzes bilden, auch wenn
sie sich getrennt analysieren lassen. Diese Kontexte sind der geographische, der politische,
der sozioökonomische, der kulturelle und der spirituelle.
(a) Geographischer Kontext: Jede Praxis spielt sich innerhalb bestimmter 'Grenzen' ab: in
einer Organisation des Sozialwesens, einer Nation, einem Staat, einer Region.
(b) Politischer Kontext: Jedes Land hat ein politisches System. Es bildet den Kontext und
Rahmen für Praxis, gleichgültig, ob das System liberal oder repressiv, sozialistisch,
sozialdemokratisch oder kapitalistisch ist.
(c) Sozioökonomischer Kontext: Ein angemessener Lebensunterhalt, Arbeit, gesundheitliche
Einrichtungen, Erziehung und, wenn möglich, Zugang zu Sozialversicherung und sozialen
Diensten sind grundlegende Ansprüche des Menschen. Der gesellschaftliche Zusammenhalt
in Gruppen oder Nationen hängt weitgehend von einer gerechten (equitable) Verteilung der
verfügbaren Ressourcen ab.
(d) Kultureller Kontext: Die Praktiken, Überzeugungen, Bestrebungen und Kulturformen von
einzelnen, Familien, Gruppen, Gemeinwesen und Nationen müssen respektiert werden,
allerdings ohne Voreingenommenheit gegenüber dem möglichen Wandel bestimmter
Praktiken und Überzeugungen. Wenn dies nicht geschieht, kommt es zu Diskriminierungen,
die sich auf die Gesellschaft zerstörerisch auswirken.
(e) Spiritueller Kontext: Keine Gesellschaft, in welcher Soziale Arbeit praktiziert wird, ist
wertfrei. Für die Soziale Arbeit und eine humanere Praxis ist entscheidend, dass man dem
Geist, den Werten, Einstellungen, Moralvorstellungen wie auch den Hoffnungen und Idealen
der Klientinnen Beachtung schenkt und dass die Sozialarbeiterinnen zugleich ihrer eigenen
Wertvorstellung bewusst sind.
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18. Die Analyse dieser fünf Rahmenbedingungen bekräftigt, wie wesentlich die Bemühungen
im Rahmen der Sozialen Arbeit (mögen sie groß oder klein, umfassend oder partiell sein) mit
der Solidarität und der Kraftanstrengung derer, die in der Menschenrechtsarbeit für die
gemeinsame Sache wirken, zusammengehören und zusammenhängen. Sein Augenmerk auf
den geographischen, politischen, sozioökonomischen, kulturellen und spirituellen Kontext zu
richten heißt, den Bestrebungen und der Praxis der Sozialen Arbeit eine bewusste
Orientierung zu verleihen und in der Sozialarbeit die menschenrechtsbezogenen
Komponenten sichtbar werden zu lassen.
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21. Die Sozialarbeit kümmert sich um den Schutz individueller und gruppenspezifischer
Besonderheiten. Häufig muss sie zwischen den Menschen und staatlichen oder sonstigen
Behörden vermitteln, sich für besondere Anliegen einsetzen und Rückhalt gewähren, wenn
staatliches Handeln im Namen des öffentlichen Wohls die Rechte und Freiheiten bestimmter
Personen oder Gruppen bedroht (wenn zum Beispiel Kinder ihren Eltern weggenommen,
Unterstützungsleistungen verweigert, ältere oder behinderte Personen in Helme eingewiesen
werden oder wenn Konflikte um die Unterkunft zur Obdachlosigkeit führen).
22. Als eine Profession, deren Aufgabe der Brückenschlag ist, muss die Sozialarbeit sich ihrer
Wertvorstellungen klar bewusst sein und über eine solide Wissensgrundlage verfügen, um
sich in den zahlreichen Konfliktsituationen, mit denen sie in der Praxis konfrontiert wird,
zurechtfinden zu können. Während SozialarbeiterInnen durch ihre Tätigkeit den KlientInnen
in ihren Rechtsansprüchen sehr wohl eine Stütze sein können, kann es andererseits passieren,
dass sie durch Fehleinschätzungen jene Rechte gefährden. Die Betrachtung ihrer Arbeit aus
einer übergreifenden globalen Menschenrechtsperspektive hilft den in der Sozialarbeit
Tätigen, indem sie ihnen eine Vorstellung von Einheit und Solidarität vermittelt, ohne dabei
die konkreten Gesichtspunkte, Umstände und Erfordernisse aus den Augen zu verlieren, in
deren Rahmen sich die jeweilige Praxis bewegt.
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23. Stärker als in vielen anderen Professionen sind sich die in der Sozialarbeit Lehrenden und
Praktizierenden der Tatsache bewusst, dass ihre Belange aufs engste mit der Achtung für die
Menschenrechte verknüpft sind. Sie akzeptieren die Voraussetzung, dass Menschenrechte und
Grundfreiheiten etwas Untrennbares sind und, dass die volle Verwirklichung der
staatsbürgerlichen und politischen Rechte ohne den Genuss ökonomischer, sozialer und
kultureller Rechte ein Ding der Unmöglichkeit bleibt. Sie sind der Überzeugung, dass ein
dauerhafter Fortschritt in der Verwirklichung der Menschenrechte nur auf der Grundlage
wirksamer nationaler und internationaler Politik und Strategien zur Förderung der
wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklung erreichbar ist. Dank der unmittelbaren
Kenntnisse, die sie von gefährdeten und problematischen Bereichen der Gesellschaft haben,
können die in der Sozialarbeit Lehrenden und Praktizierenden bei der Formulierung
sozialpolitischer Ziele und Strategien wertvolle Beiträge leisten.
24. Die Menschenrechte sind untrennbarer Bestandteil der Theorie, der Wert- und
Moralvorstellungen sowie der Praxis der Sozialen Arbeit. Rechtsansprüche, die mit den
menschlichen Grundbedürfnissen korrespondieren, müssen geltend gemacht und gestärkt
werden; sie bilden die Rechtfertigung und den Beweggrund für das Handeln im Bereich der
Sozialarbeit. Für solche Rechte einzutreten, muss deshalb unabdingbarer Bestandteil der
Sozialen Arbeit sein, selbst wenn in Ländern mit autoritären Regimen für die in der Sozialen
Arbeit Tätigen selbst dieses Engagement ernste Konsequenzen haben kann.
F. Der Kontext
25. Menschenrechte und Soziale Arbeit müssen im Kontext der Verhältnisse betrachtet
werden, unter denen am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts die Menschen auf der Erde in der
Mehrzahl leben. Schätzungen zufolge haben allein im letzten Jahrzehnt mehr Menschen
aufgrund ökonomischer und sozialer Entbehrungen ihr Leben verloren, als im ganzen Zweiten
Weltkrieg umgekommen sind.
26. In einer Welt, in der Gewalt und Unterdrückung an der Tagesordnung sind, werden
zahllose Menschen umgebracht und gefoltert oder verschwinden spurlos. Systeme und
Strukturen, in denen Ausbeutung und Repression herrschen, bringen Diktaturen und autoritäre
Regimes hervor, unter denen Millionen von Menschen ihren Kampf um die Freiheit und ums
Überleben damit bezahlen, dass sie Opfer von Menschenrechtsverletzungen werden.
27. Jahr für Jahr sterben in den Entwicklungsländern 21,9 Millionen Kinder unter fünf Jahren;
in vielen dieser Länder sind fast die Hälfte der Erwachsenen Analphabeten. (UNICEF- The
State of World's Children (1993)) Den Angaben der Weltgesundheitsorganisation zufolge gibt
es allein in der Dritten Welt über eine Milliarde Menschen, die in unzulänglichen
Unterkünften hausen, wobei 100 Millionen von ihnen als obdachlos eingestuft werden.
(WHO: Decade Assessment Report (1990) ) Weltweit wird die Zahl der Flüchtlinge auf 17,5
Millionen geschätzt; über 25 Millionen Menschen führen auf Grund von Bürgerkriegen,
Hungersnöten und sonstigen Katastrophen in ihrem eigenen Land das Leben von
Vertriebenen. Annähernd 80 Prozent aller Flüchtlinge sind Frauen und Kinder; in einigen
Ländern machen Frauen und Kinder sogar 90 Prozent der Flüchtlingsbevölkerung aus.
(Refugee Women: IN the Spirit of Survival. (United Nations Focus, März 1991), S.1)
28. In der Statistik derer, die Armut und Mangel leiden, rangieren Frauen ganz oben. Zwei
Drittel der Analphabeten in der Welt sind Frauen. (Präambel zur weltweiten Erklärung über
Bildung für alle (Weltkonferenz zum Thema Bildung für alle. Jomtien/Thailand 1990))
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In den meisten Entwicklungsländern sind die Müttersterblichkeitsquoten hoch: In Afrika zum
Beispiel stirbt jede zwanzigste Frau im Wochenbett; in Asien beträgt das Verhältnis 1 zu 54,
in Südamerika 1 zu 73. Demgegenüber stirbt nur eine von über 10 000 Nordamerikanerinnen
im Kindbett. („From Crisis to Consensus: The United Nations and ehe Challenge to
Development"). (Programmatische Rede von Therese Sevigny der stellvertretenden
Generalsekretärin für Unterrichtung der Öffentlichkeit, auf der Eröffnungskonferenz
University of Ottawa Institute for International Development 14. November 1990))
29. Auch nach dem Ende des Kalten Krieges gibt es kaum Anzeichen eines Fortschritts; aufs
Ganze gesehen hält die kritische Situation unverändert an und hat sich in einigen Teilen der
Welt sogar noch verschärft. Fast ein Drittel der Gesamtbevölkerung in den
Entwicklungsländern, nämlich 1,3 Milliarden Menschen, leben in völliger Armut, während
die Zahl der Analphabeten nahezu eine Milliarde beträgt. (Human Development Report
(1993) S. 12). Die Rüstungsausgaben machen in den Industrieländern ebenso wie in den
Entwicklungsländern rund 15 Prozent des Bruttosozialprodukts aus. Während aber in den
Industrieländern die Rüstungsausgaben etwa halb soviel betragen wie die Ausgaben für
Gesundheit und Bildung zusammengenommen, sind in den Entwicklungsländern die beiden
Zahlen ungefähr gleich groß. (Weltbank- World Development Report (1991) S. 25)
Im Jahr 1993 mussten die Entwicklungsländer 20 Prozent ihrer Exporterlöse für die
Schuldentilgung ausgeben. Jedes Jahr werden Kapital- und Zinsrückzahlungen in Höhe von
143 Milliarden Dollar fällig. (The State of the World's Children (1993); Weltbank: World
Dept Tables)
Sogar wenn die ärmeren Nationen die Rückzahlungen nur teilweise leisten müssen, gefährdet
das ihre gesellschaftliche und wirtschaftliche Entwicklung und ruft in den ärmsten Schichten
der Bevölkerung große Not hervor. Nach Schätzungen der Weltbank wird sich die ungeheure
Schuldenlast der Entwicklungsländer und der osteuropäischen Länder, die sich insgesamt auf
1300 Milliarden beläuft, (Siehe Fußnote 12 ) vermutlich noch weiter vergrößern.
30. Durch bilaterale und multilaterale Hilfsprogramme werden die verderblichen
Auswirkungen der weltweiten Rezession auf die einkommensschwachen Länder ein wenig
abgemildert. Für die ganzen neunziger Jahre sagt indes die Weltbank effektiv beschränkte
Hilfsleistungen voraus.(Weltbank: Global Economic Prospects and the Developing Countries
(1993))
Als positive Entwicklungen verbucht die Bank, dass sich die Kriterien der Geberländer
verändert haben und dass unter anderem größeres Gewicht auf den Schutz der Umwelt, auf
eine ökonomisch wirksame Verwendung der Mittel, auf eine Senkung der Rüstungsausgaben
und auf die Respektierung der Menschenrechte und der gesetzlichen Ordnung gelegt wird.
(Ebd.) Dass seit 1987 die Rüstungsausgaben weltweit etwa um 240 Milliarden Dollar
zurückgegangen sind und dass die Zahl der in der Rüstungsindustrie Tätigen bis 1998
voraussichtlich um ein Viertel abgenommen haben wird, stimmt ähnlich hoffnungsvoll.
(Human Development Report (1993) S. 2)
3 1. Die oben angeführten Daten und Zahlen werden vermutlich für einige Jahre zutreffend
bleiben. Die Einstellungen allerdings sind im Wandel begriffen. Letztlich ruht die Hoffnung
auf eine Verbesserung der Lage in den Menschenrechtsdokumenten auf deren Verwirklichung
sowie in einem wachsenden internationalen Problem- und Solidaritätsbewusstsein. Dass
solche Solidarität eine Stärkung erfährt, dass die in den Menschenrechtsdeklarationen
niedergelegten Prinzipien in die Tat umgesetzt werden und dass damit der Weg für eine Welt
freigemacht wird, in der Menschen ihre dringendsten und legitimsten Bedürfnisse befriedigt
finden - dazu können SozialarbeiterInnen einen Beitrag leisten.
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waren, zu formulieren. Parallel zu dieserEntwicklung lenkten der Erste Weltkrieg und seine
Folgen weltweit die Aufmerksamkeit auf die wechselseitige Abhängigkeit der Menschen. Es
gab den gemeinsamen Wunsch nach einer Verurteilung des Krieges und nach der Ausbildung
eines institutionellen Rahmens für internationale Zusammenarbeit.
II. HISTORISCHE ENTWICKLUNGEN UND PHILOSOPHISCHE
WERTE
A. Die konzeptionelle Entwicklung der Menschenrechte
37. Die Gründung des Völkerbunds und der Internationalen Arbeiterorganisation sowie die
Stiftung von Wohlfahrtsorganisationen wie der Internationalen Konferenz für Soziale Arbeit,
des Internationalen Komitees sozialer Schulen und des Internationalen Ständigen Sekretariats
der SozialarbeiterInnen in den zwanziger Jahren waren Ausdruck dieser neuen Bereitschaft
zur Zusammenarbeit auf internationaler, regionaler und nationaler Ebene. Organisationen der
Sozialen Arbeit bündelten ihre Aufmerksamkeit auf die Einrichtung eines Berufsbildes und
dessen grundlegender Werte in den jeweiligen Ländern. Auch wenn die Menschenrechte das
Wertefundament der Sozialarbeit stützten und in zunehmendem Maß in ethischen Regeln
ihren Niederschlag fanden, die von nationalen Berufsverbänden beschlossen wurden, gab es
zum Thema Menschenrechte noch keine institutionalisierte Lehrpraxis.
32. Die historische Entwicklung der heutigen Vorstellung von Menschenrechten wird häufig
auf das Denken des achtzehnten Jahrhunderts und dessen Kulminationspunkt in der
amerikanischen Unabhängigkeitserklärung (1776) und in der französischen Erklärung der
Menschenrechte (1789) zurückgeführt. Es ist aber wichtig, sich klarzumachen, dass viele
zentrale Elemente des Menschenrechtskomplexes bereits seit altersher in westlichen und
nicht-westlichen Gesellschaften vorhanden und in Kraft waren. Das 18. Jahrhundert sorgte
nur für eine begriffliche Fassung der Menschenrechte auf der Grundlage der Rechte des
einzelnen auf Leben und Freiheit. Diese begriffliche Fassung ging aus den Grundlagen und
Traditionen hervor, die Erbteil der großen Zivilisationen der Vergangenheit sind.
33. Die Entwicklung der Menschenrechte hat sich in evolutionärer Form vollzogen. Dem
Interesse an bürgerlichen und politischen Rechten, das Auslöser für die begriffliche Fassung
der Menschenrechte im 18. Jahrhundert war, gesellte sich allmählich die Forderung nach
wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechten bei. Mittlerweile findet eine dritte
Entwicklungsstufe von Menschenrechten zunehmend Anerkennung als Ausdruck legitimer
universaler Menschheitsansprüche - das Recht auf Frieden, auf Fortschritt und auf eine vor
Zerstörung bewahrte saubere Umwelt.
34. Die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte setz(t)en sich langsamer durch als
die bürgerlichen und politischen Rechte. Die Ausbreitung demokratischer Strukturen durch
die Ausweitung des Wahlrechts, wodurch zuerst die männlichen Angehörigen der
Mittelschicht, dann die der Arbeiterklasse und schließlich die Frauen am politischen Prozess
beteiligt wurden, galt als Verwirklichung von Rechten, die wir heute als 'staatsbürgerliche und
politische Rechte' bezeichnen. Die Folgen der Industriellen Revolution - Verstädterung,
Ausbeutung der Arbeitskraft, am schlimmsten bei der Kinderarbeit, und die bittere Not der
arbeitenden Klassen - riefen schließlich sozialreformerische Bemühungen auf den Plan.
35. Anfänglich waren für diese Reaktion philanthropische Neigungen und individuelle
Mildtätigkeit maßgebend. Folge der Reforminitiativen war die Ausbildung eines gewissen
Bewusstseins kollektiver Verantwortung, das mit der Entstehung von
Sozialversicherungssystemen seinen Ausdruck in öffentlichen Zuwendungen fand. Aber
während des Ausgangs des letzten Jahrhunderts der Gesetzgebung Westeuropas die ersten
Anzeichen eines kollektiven Verantwortungsgefühls zu beobachten waren, unterwarf
Westeuropa gleichzeitig die westindischen Gebiete, Asien und Afrika verstärkt seiner
kolonialistischen Herrschaft. Die Wirkungen des Kolonialismus sind gut dokumentiert. Die
Unterwerfung von Völkern und Ländern hatte die Auflösung von Gesellschaftssystemen und
sozialen Strukturen zur Folge. Die traditionellen sozialen Beziehungen in diesen
Gesellschaften wurden zerstört; die Menschenrechte ganzer Gemeinschaften wurden von den
herrschenden Mächten mit Füßen getreten.
39. Die neuen Rahmenbedingungen für die internationale Zusammenarbeit hatten auch
Auswirkungen auf die Sozialarbeitsorganisationen auf nationaler wie auf internationaler
Ebene. Im Bewusstsein des Berufsstandes gewann ein weltumspannendes Solidaritätsgefühl
Geltung. Die Organisationen im Bereich der Sozialen Arbeit wurden zahlenmäßig stärker,
nahmen an Umfang zu und breiteten sich in der Welt immer weiter aus. Sie erkannten
allmählich, wie wichtig es war, in die Sozialarbeitsausbildung das Thema Menschenrechte
einzubinden; Frucht dieser Erkenntnis ist der vorliegende Leitfaden.
B. Philosophische Werte
36. Zur Entwicklung eines organisierten Konzepts sozialer Fürsorge kam es, als diejenigen,
die aktiv für soziale Reformen eintraten, erkannten, wie wenig einem kollektiven Problem
durch die Anstrengungen des einzelnen beizukommen war. Die SozialarbelterInnen begannen,
sich zusammenzuschließen, ihre Ideen und Erfahrungen auszutauschen, ihre Praxis
weiterzuentwickeln und eine kollektive Antwort auf die Probleme, mit denen sie konfrontiert
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38. Ironischerweise war es ein weiterer weltweiter Konflikt - der Zweite Weltkrieg -, der den
nächsten wichtigen Entwicklungsschritt im Hinblick auf die Menschenrechte initiierte. Der
Zweite Weltkrieg veranlasste Staaten rund uni die Weit, einen neuen Rahmen für die
internationale Zusammenarbeit zu schaffen. Man erkannte die Notwendigkeit, internationale
Verhaltensnormen in Rechtsform zu bringen. Seit 1948 vollziehen sich Entwicklung und
Fortschritt auf der Grundlage der 'Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte'. Der extreme
Nationalismus des neunzehnten Jahrhunderts ist zu guter Letzt einem stärker globalen
Bewusstsein gewichen, dank dessen die internationale Gemeinschaft nicht mehr stumm bleibt,
wenn in irgendeinem Land die Menschenrechte bedroht sind.
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40. Die Wertvorstellungen, die in diesem Abschnitt - wenngleich eher in illustrativer Form als
umfassend - behandelt werden, spielen in den Bemühungen der Sozialarbeiterlnnen und der
Ausbildungsstätten für Soziale Arbeit um ein alle Ebenen der Gesellschaft umfassendes
Wertebewusstsein ebenso wie in der Ausbildung von Professionellen eine zentrale Rolle.
Diese Wertvorstellungen unterstreichen die Dimension der Menschenrechte in der Ausbildung
von SozialarbeiterInnen und anderen. Viele der Probleme, denen SozialarbeiterInnen in den
verschiedenen Bereichen der Mikro-, Meso- und Makroebene begegnen, rühren auch von
einer grundlegenden Krise des Wertebewusstseins her. Die psychologischen und
ökonomischen Erklärungen für solche Probleme bedürfen einer Vertiefung durch das
Verständnis dieser anderen fast noch zentraleren Dimension und durch die Einsicht in die
Wechselwirkung zwischen psychischen, sozioökonomischen und wertspezifischen Strukturen
und Prozessen.
Cap Wörth, 23. – 25. Oktober 2006
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Tagungsunterlagen „Menschenwürde statt Almosen“
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(1) Leben
Welt, in denen Unfreiheit herrscht, bezahlen sie für die Forderung nach Einhaltung ihrer
Prinzipien oft den hohen Preis der Verfolgung und Unterdrückung.
41. Die Wertschätzung des Lebens ist unabdingbare Voraussetzung aller Arbeit im Bereich
der Menschenrechte. Der Wert des Lebens, des menschlichen und des nichtmenschlichen, ist
Quelle aller anderen Ideale und Wertvorstellungen, die sich daran anschließen. Das bedeutet
nicht nur Widerstand gegen die Verneinung des Lebens, sondern es schließt auch bejahende,
konstruktive Aspekte ein. Wo immer ihr das möglich ist, darf sich die Profession nicht darauf
beschränken, den Verletzungen von Menschenrechten entgegenzutreten, sondern sie muss alle
lebensfördernden und dem Leben zuträglichen Aktivitäten tatkräftig unterstützen. Das
geschieht im Interesse der Erfüllung menschlicher Existenzbedingungen. Das Leben steht in
allen seinen Bestandteilen und Formen, den menschlichen wie den nichtmenschlichen, von
Natur aus in einem Zusammenhang und in Wechselwirkung. Die Zerstörung eines der
Aspekte des Lebens beeinträchtigt das soziale Gefüge oder Gewebe des Lebens und schadet
auf diese Weise der Menschheit. Das Leben als Wert bedeutet, dass Leiden und Tod nicht
einfach nur Erscheinungen sind, die den einzelnen betreffen; sie berühren auch die anderen,
wie dies Freude, Glück und Lebendigkeit tun.
42. Körperliche Gesundheit ist ein wichtiger Aspekt des als ein Wert erfahrenen Lebens und
der Lebensqualität. Die Zerstörung der Umwelt, die Verknappung des Wassers einschließlich
seiner Verschmutzung, sowie der Mangel an Gesundheitsprogrammen beziehungsweise deren
Beschneidung sind gewichtige lebensbedrohende Faktoren.
43. In vielen Ländern haben die SozialarbeiterInnen mit KlientInnen zu tun, die unter diesen
Faktoren leiden. Sie sind auch in ihrer Praxis mit schwerwiegenden Problemen konfrontiert,
bei denen es um Dinge wie Empfängnisverhütung, Abtreibung oder den Umgang mit
tödlichen Erkrankungen geht. Überlegungen, die sich um Wert und Qualität des Lebens
drehen, können den SozialarbeiterInnen bei ihrer beratenden Tätigkeit behilflich sein.
(2) Unabhängigkeit und Freiheit
44. Das Prinzip, dass " alle Menschen von Geburt an frei sind", ist in den ersten beiden
Artikeln der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte niedergelegt. Die Grundfreiheiten das Recht auf bürgerliche Freiheit, die Freiheit von Sklaverei und Knechtschaft, die Freiheit
von der Folter und von grausamer, unmenschlicher oder entwürdigender Behandlung oder
Bestrafung, die Freiheit von willkürlicher Festnahme, Inhaftierung oder Vertreibung, die
Freiheit von willkürlichen Eingriffen in Privatsphäre, Familie, häusliches Leben oder
Korrespondenz sowie die Freizügigkeit der Ortswahl sind in den folgenden 19 Artikeln
kodifiziert.
(3) Gleichheit und Gleichbehandlung
46. Das grundlegende Prinzip der Gleichheit aller menschlichen Wesen ist in Artikel 1 der
Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte niedergelegt. Im tatsächlichen Leben findet es
sich allerdings nur unvollständig verwirklicht, und das gilt nicht zuletzt für die vielfältigen
Formen zwischenmenschlicher Beziehungen. Für die persönliche und professionelle
Einstellung der SozialarbeiterInnen ist die Gleichheitsvorstellung zentral. Sie bildet zugleich
den Eckstein für das äußerst wichtige Prinzip der Gerechtigkeit und fordert ernsthaftes
Nachdenken darüber, was im Blick auf biologische Faktoren, auf psychische, soziale,
kulturelle und spirituelle Bedürfnisse sowie auf Leistungen des einzelnen im Dienste seiner
Mitmenschen als gerechtfertigte oder ungerechtfertigte Gleichheit oder Ungleichheit gelten
kann.
47. Wenn das Gleichheitsprinzip akzeptiert wird, kann es keine Diskriminierung einzelner
Personen oder Gruppen mehr geben. Die Gleichbehandlung hat tatsächlich ihre Grundlage in
dem doppelten Prinzip der Gleichheit und der Menschenwürde. Sie schließt auch eine
ganzheitliche Vorstellung von der menschlichen Person ein, da Diskriminierungen die Person
partikularisieren und nach Geschlecht, Rasse, Hautfarbe, Religion oder wie auch immer
einstufen. Diskriminierung kann ein menschliches Wesen auf eine Funktion, eine Eigenschaft,
eine bestimmte Ansicht reduzieren; die Person wird nicht mehr in ihrer einzigartigen Vielfalt
und Ganzheit wahrgenommen.
48. Von Diskriminierung lässt sich dann sprechen, wenn bestimmte Personen oder
Personengruppen grundlegende und universal akzeptierte Rechte, die für alle Menschen
gelten, verweigert und die Betreffenden dadurch ausgeschlossen werden. Die Diskriminierung
kann verschiedene Formen annehmen. Die Gründe für Diskriminierungen, die in den
einschlägigen internationalen Dokumenten erwähnt werden, wie „Rasse, Hautfarbe,
Geschlecht, Sprache, Religion, politische oder sonstige Überzeugungen, nationale oder
soziale Herkunft, Besitz, Abstammung oder sonstige Statusmerkmale“, sind keine
erschöpfende Aufzählung. In dem Maß, wie in einer sich wandelnden Welt zusätzliche
Freiheiten in Anspruch genommen werden, neue Probleme entstehen und Entwicklungen auf
technischem Gebiet und in anderen Bereichen Veränderungen im Lebensstil und in den
Arbeitsgewohnheiten mit sich bringen, tauchen ständig weitere Gründe für Diskriminierungen
auf (beispielsweise sexuelle Orientierung, HIV/AIDS-Infektion). Das Prinzip, das die
Sozialarbeitenden verpflichtet, solchen neuen Diskriminierungsgründen entgegenzutreten,
verlangt von ihnen, dass sie sich ständig über ihre eigenen Überzeugungen, Einstellungen und
Handlungsmotive Rechenschaft ablegen müssen.
45. Frei geboren zu sein und auf Freiheit Anspruch zu haben bedeutet auch, dass jedes
menschliche Wesen frei darüber entscheiden können muss, wie es sein Leben führen will. Der
Genuss dieser Freiheit ist allerdings sehr häufig durch materielle oder sonstige Zwänge
beschränkt. Desgleichen unterliegt diese Freiheit dem einschränkenden Prinzip, dass sie die
Freiheit anderer nicht beeinträchtigen darf. Jedenfalls gilt die Freiheit als der neben dem
Leben kostbarste menschliche Wert und wird in engem Zusammenhang mit der Würde des
Menschen und dem Wert des menschlichen Lebens gesehen. Das Streben nach
Unabhängigkeit und Freiheit hat schon viele Völker zur Auflehnung gegen innere oder äußere
Unterdrückung bewogen. Das Streben nach Glaubensfreiheit und Freiheit des Geistes treibt
Menschen zu heldenhaften Widerstandshandlungen an. Auf der persönlichen Ebene kann
Freiheit von den eigenen Emotionen dienlich für Frieden und Harmonie sein.
SozialarbeiterInnen stehen beim Kampf um die Freiheit oft in vorderster Front. In Teilen der
49. Bei der Gerechtigkeit müssen verschieden Gesichtspunkte berücksichtigt werden:
gesetzliche, gerichtliche, soziale, ökonomische und andere Aspekte, die alle zusammen die
Grundlage einer Gesellschaft bilden, in der die Würde des Menschen gewahrt und seine
persönliche Sicherheit und Integrität gewährleistet bleiben. In ihren internationalen
Dokumenten haben die Vereinten Nationen wertvolle Prinzipien und bindende
Verpflichtungen formuliert, die unter anderem vor willkürlichen Freiheitsberaubungen und
Eingriffen ins Privatleben bewahren und Rechtsschutz bieten sollen. In Fällen von
Gesetzesübertretungen müssen die Betreffenden sicher sein können, dass ihnen ein rascher
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(4) Gerechtigkeit
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und fairer Prozess durch eine objektive gerichtliche Instanz gemacht wird. Werden sie
schuldig gesprochen, haben sie Anrecht auf humane Behandlung, deren Zweck die Besserung
und soziale Integration des Häftlings ist. Durchgängig wird hervorgehoben, wie wichtig eine
unabhängige Rechtsprechung ist.
50. Die SozialarbeiterInnen setzen sich schon seit langem für solche Prinzipien ein und sind
sich der Tatsache bewusst, dass der beste Schutz für die Menschenrechte ein Staatswesen ist,
das sich an die Gesetze hält. Ein unparteiisches Rechtswesen ist ein wichtiges Mittel, um die
Rechte der wehrlosen Mitglieder der Gesellschaft zu schützen, aus denen sich die von der
Sozialarbeit betreute Klientel in der Hauptsache rekrutiert.
51. Das Bemühen um Gerechtigkeit hat indes noch weiterreichende Implikationen, die sich
weniger leicht in Gesetzesform bringen lassen. Zur sozialen Gerechtigkeit gehört die
Befriedigung grundlegender Bedürfnisse und eine gleichmäßige Verteilung der materiellen
Ressourcen. Soziale Gerechtigkeit zielt auf die universale Zugänglichkeit grundlegender
Dienstleistungen im Bereich der Gesundheit und Bildung, auf Chancengleichheit, auf den
Schutz benachteiligter Personen und Gruppen und darauf, dass im Strafrecht, im
Konsumverhalten und im Profitstreben eine gewisse Mäßigung geübt wird.
52. Sozialreformer - zu ihnen zählen auch SozialarbeiterInnen -, die der Wunsch nach mehr
Gerechtigkeit verbindet, sehen in ihr und in der sozialen Gerechtigkeit den Hauptschutz gegen
jegliche Formen der Unterdrückung und die Basis für eine gerechte Entwicklung der
Menschheit.
(5) Solidarität
53. Solidarität ist ein weiterer zentraler Wert, der nicht nur erfordert, dass man für das Leiden
und die Not der Menschheit Verständnis und Mitgefühl aufbringt, sondern auch, dass man
sich mit den Leidenden und ihren Anliegen identifiziert und Partei für sie ergreift. Von
Sozialarbeiterlnnen ist zu erwarten, dass sie sich nicht nur für Menschen, die in Not sind,
engagieren, sondern dass sie auch in Wort und Tat ihre Solidarität beweisen, wenn in
irgendeiner Form den Menschen politische, bürgerliche, soziale, ökonomische, kulturelle oder
spirituelle Rechte vorenthalten werden. Die Solidarität kann sich über Einzelpersonen hinaus
auf Familien, Gruppen, traditionelle Gemeinwesen, Bevölkerungen und ethnische
Populationen oder Volksgruppen beziehen. Der Sozialarbeitsberuf verlangt die Identifikation
mit Opfern von Gewalt, Folter, Vertreibung und Freiheitsberaubung überall in der Welt.
54. Solidarität lässt sich ebenso sehr auf Naturkatastrophenfälle ausdehnen und ist für die
vielen Tragödien von Belang, deren Ursache Mangel, ungleiche Verteilung von Ressourcen,
soziale Verwahrlosung und Ungerechtigkeit sind. Armut, Hunger, Entbehrungen,
Obdachlosigkeit und der Entzug der Mittel zum Lebensunterhalt zählen möglicherweise zu
den größten Menschenrechtsverletzungen, was allerdings nicht ausreichend Beachtung findet.
In den scheinbar weniger dramatischen Fällen, in denen ein vorhandener intensiver
Leidenszustand verdeckt und unsichtbar bleibt, ist Solidarität um so mehr gefragt. Erreichen
lässt sich in letzter Instanz nur dann etwas, wenn SozialarbeiterInnen und zahlreiche andere
Menschen und Organisationen entschieden für die Opfer von Menschenrechtsverletzungen
Partei ergreifen und dadurch die Widerstandskraft der Leidenden stärken und ihnen aus ihrer
Isolation heraushelfen.
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(6) Soziales Verantwortungsbewusstsein
55. Soziales Verantwortungsbewusstsein findet seinen Ausdruck in Handlungen, die man
zugunsten der Leidenden und der Opfer unternimmt, indem man sich für sie engagiert, sich
für ihre Sache stark macht und ihnen Beistand leistet. Von daher ließe sich soziales
Verantwortungsbewusstsein als praktische Konsequenz der Solidarität bezeichnen. Die
meisten religiösen und philosophischen Lehren huldigen dem Grundsatz, dass gute Gedanken
und gute Worte von guten Taten begleitet sein müssen. Die meisten Religionen schärfen ihren
Anhängern ein, dass die 'Privilegierten' unter ihnen gegenüber den Benachteiligten eine
Verpflichtung haben. Der Ausdruck 'privilegiert' ist relativ zu verstehen und bezeichnet nicht
unbedingt ein Leben im Reichtum; er soll einfach nur ausdrücken, dass sich jemand in
glücklicheren Umständen befindet als andere, die in ungünstigen Verhältnissen leben. Im
Begriff des 'sozialen Verantwortungsbewusstseins' ist auch die Vorstellung von einer
'Treuhandschaft' enthalten, demzufolge alles, was wir haben, uns zu treuen Händen übergeben
ist, auf dass wir es mit anderen teilen und zu ihrem Wohle nutzen. Die Vorstellung einer
'Treuhandschaft' bezieht sich nicht nur auf materielle Besitztümer, sondern auch auf
intellektuelle Begabungen und vorhandene Fertigkeiten, die wir in den Dienst der Menschheit
stellen und zu ihrem Vorteil gebrauchen sollen. Das Prinzip des sozialen
Verantwortungsbewußtseins ist für eine Profession wie die der Sozialen Arbeit von
ausschlaggebender Bedeutung, weil der Dienst an den Armen und Bedürftigen und das
Engagement für sie den Existenzgrund dieses Berufes bilden.
(7) Evolution, Friede und Gewaltlosigkeit
56. Die bislang genannten Werte und Prinzipien sind nicht nur Grundwerte, denen tragende
Bedeutung für die Menschenrechtsvorstellung zukommt, sondern sie sind zugleich
Bestimmungsfaktoren, die über die Qualität zwischenmenschlicher Beziehungen entscheiden.
Friede - im Sinne eines positiv zu definierenden Wertes und nicht bloß als Abwesenheit
organisierten Konflikts - stellt einen weiteren Wert Sozialer Arbeit dar. Er muss kultiviert und
erkämpft werden, damit sich in letzter Instanz Eintracht im eigenen Selbst, in den
Beziehungen zu anderen und im Verhältnis zur (Um-)Welt herstellen kann.
57. Konflikte, in den menschliche Beziehungen sind unvermeidlich, die Methoden zu ihrer
Lösung aber können friedlich oder gewalttätig, konstruktiv oder destruktiv sein. Die
revolutionäre Methode des 'Alles niederreißen und neu aufbauen' hat die Menschen durch die
Jahrhunderte immer wieder fasziniert; sie wurde stets mit dem unnennbaren Leid bezahlt, das
sie über die Betroffenen brachte. Die evolutionäre Methode ist langsamer und gewährt oft
weniger unmittelbare Befriedigung; letzten Endes aber sind ihre Ergebnisse haltbarer und
deshalb effektiver. Von SozialarbeiterInnen wird sie häufig für die Lösung von Konflikten
zwischen einzelnen und Gruppen angewandt. Konfrontation und Widerstand im Streben nach
Freiheit, Rechtmäßigkeit und sozialer Gerechtigkeit müssen -im Gegensatz zu Gewalt- nicht
gescheut werden.
58. Die Geschichte hat immer wieder gezeigt, dass Gewalt und Blutvergießen nur kurzlebige
Erfolge zeitigen und den Weg für weitere Umwälzungen ebnen, die zum Sturz der neu an die
Macht gekommenen Gruppen - der Unterdrückten von gestern führen. Hass gebiert Hass,
Vergeltung gebiert Vergeltung. Beharrlicher Widerstand oder gewaltloser Druck kann
dagegen bleibendere Ergebnisse erzielen.
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59. Auch wenn die Weit noch nicht reif dafür ist, den Waffengebrauch zu ächten, und auch
wenn es unzweifelhaft gerechte Gründe für Umstürze gibt, gilt es zu erkennen, dass Ausgleich
und Vermittlung wirksame Mittel sind, um scheinbar unversöhnliche Differenzen zu
überwinden, vorausgesetzt, sie werden konsequent und mit Respekt, Verständnis und
Sachkenntnis angewandt.
60. Für das Streben der Menschen nach Freiheit, Rechtmäßigkeit und sozialer Gerechtigkeit
und nach einer Welt, in der Konflikte auf gewaltlosem Wege lösbar sind, bleibt friedliche
Entwicklung das Ziel.
(8) Beziehungen zwischen Menschheit und Natur
61. Im Bewusstsein der Menschen des ausgehenden zwanzigsten Jahrhunderts schafft sich die
Achtung vor den anderen nichtmenschlichen Lebewesen und das Streben nach Einklang mit
der Natur allmählich Raum.
62. Die Umweltzerstörungen sind zu offensichtlich, als dass man sie noch länger ignorieren
könnte. Die Weltwirtschaftsordnung, unzulängliche Entwicklungsmodelle, ungleiche
Ressourcenverteilung auf allen Gebieten, die nukleare, industrielle und sonstige
Umweltverschmutzung sowie das Konsumverhalten in ' den Industrie- und den
Entwicklungsländern werden als Ursachen für den misslichen Zustand wahrgenommen, in
dem sich die Erde befindet. Unersättlicher Konsum und extreme Armut bedrohen die Natur
ebenso wie wehrlose menschliche Gruppen durch Gier, Unwissenheit oder Überlebensnot.
63. Umfassende politische Verfahren des Sozialen mit dem Ziel, die Schädigungen der
Umwelt zu unterbinden und, soweit möglich, wiedergutzumachen, bedürfen der Ergänzung
durch umfassende offizielle und inoffizielle Bildungsprogramme zum Thema Umwelt wie
auch durch Unterstützungskampagnen für umweltpolitische Anliegen. In diesem Prozess fällt
den SozialarbeiterInnen die bedeutsame Rolle zu, Verbindungen mit anderen Gruppen
herzustellen. Der überaus gravierenden Bedrohung, der die Menschheit und ihr Lebensraum
ausgesetzt sind, müssen sich auch die SozialarbeiterInnen bewusst werden.
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