"Der Kommunist radebrechte in seinem östlichen Akzent" oder

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"Der Kommunist radebrechte in seinem östlichen Akzent"
oder
kommunistischer Widerstand im Westmünsterland1
von Kai Schmidt-Soltau
Die Nationalsozialisten versuchten schon lange vor 1933, jeden kommunistischen Einfluß
in der deutschen Arbeiterklasse mit fremdländischem und feindlichen "östlichen" Einfluß
zu erklären und so zu diffamieren. Aber wo kamen die Kommunistinnen und
Kommunisten des Westmünsterlandes her? Wie und warum wurden sie Kommunisten?
Warum blieben sie es auch während der "tausend Jahre"? Wo stehen sie heute? Ja, gibt es
sie noch?
Max Reimann, der Kommunist, der am 7.2.1931 in Stadtlohn "östlich radebrechte" - so
zumindest NSDAP Kreispropagandaleiter Bockhoff aus Ahaus -, kam wirklich aus dem
Osten, aus Ahlen, das zugegebenermaßen östlich des heutigen Kreises Borken liegt. Aber
auch im Westen des Münsterlandes gab es und gibt es Revolutionäre. Sie haben ihre
Wurzeln vor allem in den zu Beginn unseres Jahrhunderts zahlreichen Textilbetrieben.
Diese Betriebe siedelten hier, weil einerseits viele Bauern durch das Erbrecht aller Söhne
immer kleinere Höfe (50% bis 0,5 ha) bewirtschaften mußten und so neben Köttern und
Heuerlingen als billige Arbeitskräfte in Frage kamen, andererseits weil durch die
Bahnerschließung bis 1906 der Transport der Rohstoffe und Fertigprodukte von und zu
den Märkten sichergestellt war. Die Arbeitsbedingungen waren katastrophal, so beklagte
noch 1938 der Leiter des Amtes für Volksgesundheit, daß die Arbeit zutiefst
"gesundheitsschädigend" sei, da durch die "dauernde Beschäftigung in geschlossenen
Räumen mit oft staubiger Luft" "Tuberkulose und chronische Bronchitis weit verbreitet"
seien, durch eine "einseitige Beanspruchung der Muskulatur" es nicht selten "zu
Verkümmerungen" kam und so eine "Weiterverwendung für andere Arbeiten" ausschloß,
es durch die Arbeit in Wechselschicht fast immer zu "nervösen Folgeerscheinungen" kam
und schließlich der "in fast allen Textilbetrieben herrschende nervenzermürbende Lärm
der Maschinen oft zu einer Schädigung des Gehörs" führen würde. Daß sich gegen diese
unmenschlichen Arbeitsbedingungen nicht massenhaft Protest und Widerstand entwickelte, ist nicht zuletzt auf den großen Einfluß der Kirche zurückzuführen. So stellte der
Regierungspräsident zu Münster 1909 zufrieden fest, daß "der Volksverein für das
katholische Deutschland, sowie die Arbeiter-, Gesellen-, Jünglings- und Kriegervereine
einen festen Damm gegen die Bestrebungen der Sozialdemokratie bilden". Selbst im
November 1918, als der erste Weltkrieg schon längst verloren war und die Menschen
teilweise verhungerten, erklärte der christliche Textilarbeiterverband des Münsterlandes
seine "Treue zur Monarchie" und seine "Ergebenheit zu seiner kaiserlichen Exzellenz
Kaiser Wilhelm II.". Eine solche Haltung wurde von den Fabrikbesitzern honoriert. Am
30.10.1919 wurde die christliche Gewerkschaft als gleichberechtigter Tarifpartner der
münsterländischen Textilindustrie durch den ersten Tarifvertrag anerkannt. Offene
Klassenkämpfe wie im Ruhrgebiet gab es auf dem Gebiet des heutigen Kreises Borken
bis zur großen Krise 1923 nicht. Die christlichen Gewerkschaften setzten vor allem auf
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in: 8.Mai 1945 Tag der Befreiung - 50 Jahre danach - Erinnerung an antifaschistische
Persönlichkeiten aus dem Kreis Borken; Stadtlohn 1995; S.2-9.
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Appelle an das soziale Ehrgefühl der Unternehmer, um so schrittweise zu einer
Verbesserung der Lebensumstände der Arbeiterinnen und Arbeiter zu gelangen.
Gegen diese Haltung regte sich 1920, anläßlich des Kapp-Putsches und dessen
Niederschlagung durch die Arbeiterklasse, die in der Bildung der Roten Ruhr Armee
mündete, erster Widerstand. Der revolutionäre Funke sprang zu einigen Fabriken in
Bocholt, Borken und Gronau über, wurde jedoch durch das geschlossene Auftreten der
Reichswehr, des Bürgertums und der katholischen Arbeiterschaft im Ansatz zerschlagen.
Erst 1923, als die Mehrheit der Textilarbeiter durch die Inflation für vier Monate von
Kurzarbeit betroffen war, kam es in verschiedenen Fabriken zu Protesten und Streiks.
Bei den Wahlen im Mai 1924 erreichten die beiden Arbeiterparteien zusammen rund 10
% der Stimmen, wobei die SPD mit 6% nur knapp vor der KPD lag. Deutlicher Sieger
blieb aber das katholische Zentrum, das 72% der Stimmen auf sich vereinigen konnte.
Insgesamt kann jedoch festgestellt werden, daß durch den ungebrochenen klerikalen
Einfluß die Zustimmung zu Veränderungen im gesellschaftlichen Leben im
Westmünsterland weit hinter dem Reichsdurchschnitt lag. Dort hatte die KPD 12,6% und
die SPD 22% erhalten.
Seit 1922 gab es erste Ansätze nationalsozialistischer Organisationen im Münsterland.
Sie setzten sich zumeist aus jungen Kaufleuten und ehemaligen Soldaten zusammen, die
für eine straffe Leitung des Staates und der Gesellschaft plädierten. Während die NSDAP
bei ihrer Erfolgswahl 1930 im Reichsdurchschnitt auf 18,3% der Wähler rechnen konnte,
waren es im Westmünsterland gerade mal 4,3% und in Arbeiterhochburgen wie Bocholt
sogar nur 3%. Man kann davon ausgehen, daß die Nationalsozialisten bis 1933 kaum
Rückhalt in der Arbeiterklasse gewinnen konnten, sondern ihre Stimmen vor allem aus
der Bürgerschaft rekrutierten.
In den Textilbetrieben konnten beide politischen Flügel vor der großen Krise 1930 kaum
Fuß fassen. Dort dominierte nach wie vor die kirchliche Arbeiterbewegung. In den
dreizehn Textilbetrieben in Stadtlohn waren 1930 gar alle 59 Betriebsräte konfessionell
gebunden und organisiert, aber auch in den anderen Kreisen sah es nicht besser aus. So
waren in Bocholt 77%, in Gronau 67% und in Ahaus 87% der Betriebsräte Mitglieder
des christlichen Textilarbeiterverbandes. Bevor sich die Textilindustrie noch von der
tiefen Krise 1923/24 erholen konnte, stürzte sie schon in eine neue Depression. 1926
wurde zeitweilig in 115 Betrieben des Münsterlandes die Produktion eingestellt und die
Arbeiter wurden, natürlich ohne Lohnfortzahlung, nach Hause geschickt. In diesen
Auseinandersetzungen zwischen Arbeitern und Unternehmern griffen die Arbeiter nach
und nach verstärkt auch zu Kampfmaßnahmen und stellten damit die von den christlichen
Gewerkschaften praktizierte Politik der Sozialpartnerschaft in Frage und zwangen diese,
selbst aktiv zu werden. Allerdings konnten die nun öfter durchgeführten Streiks der
Arbeiter aufgrund der grassierenden Arbeitslosigkeit im ganzen Münsterland sich kaum
zu einer wirksamen Waffe entwickeln. Insgesamt kann man aber sehen, wie sich die
christlichen Gewerkschaften durch den Druck ihrer Mitglieder in der Spätphase der
Weimarer Republik zunehmend zu einer Arbeiterbewegung wandelten, die diesem
Namen auch gerecht wird, wenn sie auch natürlich nie die Radikalität und
Entschlossenheit der politischen Gewerkschaften erreichten.
1933 waren, als Auswirkung der Weltwirtschaftskrise, fast 90% der Textilarbeiter ohne
Arbeit. Dieses wurde auch in den Wahlen deutlich. Während die dominierende Stellung
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des Zentrums im Westmünsterland mit 65% nie in Frage gestellt wurde, bauten die
Arbeiterparteien ihren Stimmanteil beständig bis auf 16% bei der letzten "freien" Wahl
1932 aus, wobei die SPD mehr und mehr Stimmen an die KPD verlor, die fast 10% der
Stimmen erhielt, damit aber immer noch deutlich unter den 17% im Reichsdurchschnitt
lag. Natürlich gab es deutliche Unterschiede zwischen den einzelnen Wahlkreisen.
Absolute Hochburg der Linken war der Stadtkreis Bocholt, wo die KPD 19% und die
SPD 17% der Stimmen erringen konnten. Es gelang der kommunistischen Bewegung
aber nicht, diese Erfolge bei den Wahlen auch in neue Mitglieder und so in eine aktivere
und wirkungsvollere Politik umzuwandeln. Im Dezember 1933 hatte sie im ganzen
Unterbezirk Rheine nur 576 Mitglieder, wobei dieser Unterbezirk die heutigen Kreise
Borken, Steinfurt, Osnabrück, Münster und Coesfeld umfaßte. Nennenswerte Gruppen
gab es neben Münster und Rheine nur in Bocholt und Gronau. In Ahaus waren es 12, in
Stadtlohn 10 und in Vreden nur 9 Mitglieder. Dabei ordneten sich 90% der Mitglieder
selbst der Gruppe der Erwerbslosen zu und spiegelten damit die Massenarbeitslosigkeit
der Textilarbeiter in dieser Zeit wider. Betriebsgruppen des Einheitsverbandes der
Textilarbeiter Deutschlands gab es nur in 12 Firmen. Es gab also im Westmünsterland bis
1933 kein besonders ausgeprägtes Widerstandspotential der KPD oder anderer
sozialistischer Organisationen. Die KPD konnte jedoch durch den aktiven Widerstand
ihrer Mitglieder im Verhältnis zu ihrer personellen Stärke einen umfangreichen und
couragierten Widerstand entfesseln, der allerdings schon im Sommer 1933 fast restlos
zerschlagen worden war. Die Ursachen liegen dabei weniger in einer nachlassenden
Kampfbereitschaft als in der Tatsache begründet, daß die Kommunisten durch ihre
konsequente Haltung weit über ihre Kreise bekannt waren. Sie konnten sich nicht wie in
den Ballungszentren im Gewühl der Menschen verbergen oder auf ganze Stadtteile unter
kommunistischem Einfluß zurückgreifen, in die sich lange kein Faschist wagen konnte.
Während die einen von der neuen Obrigkeit verhaftet wurden, mußten andere fliehen,
ohne dadurch der Gefahr wirklich zu entkommen.
Das brutale Vorgehen der Nazis gegen Kommunisten, Sozialdemokraten und
Gewerkschaften erzeugte in der katholischen Arbeiterbewegung kein Gefühl der
Solidarität oder gar des Protestes. Man schien erfreut zu sein, die lästigen Mitbewerber
um die Vertretung der Textilarbeiterschaft los zu sein und widmete, wie der katholische
Arbeiterverein St. Paulus aus Bocholt, 3/4 seiner Zeit der Vorbereitungen von
lithurgischen Festen und organisatorischen Fragen. Auf einer Delegiertenkonferenz des
Bezirks Rheine am 9.4.1933, zu dem auch der heutige Kreis Borken gehörte, wurde die
"Anerkennung der gesetzlichen Autorität" beschlossen, da "Katholiken nicht revolutionär
sein können". Man kam überein, verstärkt an sozialistische Arbeiterfamilien
heranzutreten, um sie in die "Gemeinschaft der Katholiken" zu reintegrieren und so
"langsam aber sicher die kommunistische Tendenz zu bezwingen". Während die
Arbeiterparteien den Kampf gegen den Faschismus aufnahmen, wollte die katholische
Arbeiterbewegung durch "religiöse Weihestunden, gemeinschaftliche Kommunionen und
christliche Unterrichtskurse" die "Gemeinschaft der Gläubigen" festigen und erneuern
und orientierte auf eine Koexistenz von faschistischem Staat und Kirche, was nicht
zuletzt in der Zustimmung der Zentrumsabgeordneten zum Ermächtigungsgesetz seinen
deutlichsten Ausdruck findet. Ansätze zu einem christlichen Widerstand gegen die neue
Ordnung wurden von der Leitung der katholischen Arbeiterbewegung bewußt
verschwiegen. Der Münsteraner Bischof von Galen, der heute als Widerstandskämpfer
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geehrt wird, erklärte am 28.1.1934: "Mit heißem vaterlandsliebenden Herzen stehen wir
in diesem Kampf hinter dem Führer, den Gottes Vorsehung auf seinen
verantwortungsvollen Posten berufen hat." Von einem kirchlichen Widerstand kann also
in der Frühphase des Faschismus keine Rede sein. Die Katholiken des Münsterlandes
fügten sich der neuen Ordnung, und die christlichen Gewerkschaften formierten sich zu
rein kirchlichen Organisationen um und ließen die gerade erst errungenen Kampfmittel
der Arbeiter wieder fallen.
Sozialdemokraten und Mitglieder der "freien" unparteilichen Gewerkschaften vertraten
zu Beginn des Jahres 1933 eine sehr schwankende Position. Auf der einen Seite, so geht
aus dem Protokollbuch des Deutschen Textilarbeiterverbandes Gronau hervor, ging man
davon aus, "daß nur der gewerkschaftliche Zusammenschluß aller Arbeitnehmer die
sozialen Errungenschaften der Arbeiterschaft vor dem Faschismus und der Reaktion
bewahren" kann, auf der anderen Seite debattierte man auf den Sitzungen über Themen
wie "Prämienhöhe für neu geworbene Mitglieder" und "Rechtslage holländischer
Arbeiter". Von einem geschlossenen Widerstand kann von Seiten der Sozialdemokraten
und freien Gewerkschaften zu Beginn des Faschismus nicht gesprochen werden, auch
wenn zahlreiche Mitglieder individuell aktiv wurden.
Allein die KPD entfesselte in den ersten Monaten des Jahres 1933 eine Fülle von
Aktionen, um die Menschen und vor allem die Arbeiter auf die Gefahren des Faschismus
hinzuweisen und erste Schritte zu seiner Überwindung in die Wege zu leiten. Im
Mittelpunkt standen dabei vor allem Kundgebungen und Demonstrationen. Am 15.1
kamen in Gronau 800 und am 20.2. 350 Demonstraten zusammen, wovon nur "etwa ein
Drittel uns bekannte Sympathisanten waren. Die Übrigen waren Freigewerkschaftliche
oder kamen aus dem christlichen und bürgerlichen Lager." Es wurde ein
"Einheitsfrontkomitee" gebildet, in dem neben Kommunisten und Gewerkschaftern auch
Sozialdemokraten und Reichsbannerleute mitarbeiteten. Ein Fackelzug der SA, der in
Epe am 18.2.33 stattfinden sollte, wurde "auf dem Markt mit Rot Front begrüßt und
anschließend von den Arbeitern auseinandergejagt." Auf der anderen Seite machten sich
die Kommunisten nicht zuletzt wegen dieser anfänglichen Erfolge Illusionen, die weit
über ihre tatsächlichen Möglichkeiten hinausgingen. Diese große Erwartungshaltung kam
unweigerlich in Konflikt mit der sich immer stärker festigenden neuen Ordnung, und
nicht wenige resignierten, wie der damalige politische Leiter der KPD in Ahaus, der die
Partei im März 33 verließ, "weil die besten Genossen sich nicht auf der Liste für die
Kommunalwahlen aufstellen lassen wollen". Unter den konkreten Umständen war dies
zwar verständlich, aber es paßte nicht in das Bild des baldigen Sieges über die
Faschisten, das die KPD damals vertrat. Am 18.3 hatte die Polizei in Emsdetten zehn
führende Kommunisten verhaften können, darunter auch den Leiter der KPD des
Westmünsterlandes, den Arbeiter Bernhard Alfrink aus Rheine. Zu Verhaftungen und
Repressalien gegen Kommunisten kam es in fast allen Regionen des heutigen Kreises
Borken, zumeist gingen sie auf Denunziationen wegen Nichtigkeiten zurück, die aber
gerne zum Anlaß genommen wurden, den Widerspänstigen zu verdeutlichen, wer der
neue Herr im Staate war. Spätestens im Sommer 1933 war es der neuen Staatsmacht
gelungen, den kommunistischen Widerstand in seiner organisierten Form zu zerschlagen
und die organisatorisch und politisch führenden Köpfe auszuschalten, die seit Anfang
1933 eine Aktitvät entwickelt hatten, die dem Westmünsterland sonst eher fremd zu sein
schien.
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In der Textilindustrie des Westmünsterlandes gelang es den Faschisten nicht wie in
anderen Branchen, die Arbeiter durch soziale Maßnahmen auf ihre Seite zu ziehen. Die
Beschränkung der Rohstoffeinfuhr ab Mitte 1934, mit der die Nazis ihre
Autarkiephantasien durchsetzten wollten, traf die auf Baumwolle angewiesene
Textilindustie schwer und zog Arbeitslosigkeit und Kurzarbeit nach sich, die neben
Lohnkürzungen und Akkorddrückerei zu einer elementaren Verschlechterung der ohnehin schon katastrophalen Lebensbedingungen der Arbeiterinnen und Arbeiter führte.
1937/38 kam es zu einer neuen Textilkrise, in deren Verlauf, wie die politische Polizei
mitteilte, "namentlich im Bocholter Bezirk, in dem kurzgearbeitet wird, die Stimmung
nicht gut ist. Drucksachen kommunistischen Inhalts werden über die Grenze gefördert".
Schon bei der "Volksabstimmung" am 19.8.1934 wurde der mangelnde Rückhalt der
NSDAP in der Bevölkerung des Westmünsterlandes deutlich: Der Gau Westfalen-Nord
erzielt von Seiten der Nazis das "viertschlechteste Ergebnis im Reich". Im Durchschnitt
stimmten 16% gegen die neue Ordnung, in Stadtlohn sogar 40%, wobei klar ist, daß dies
nicht alles aktive Widerstandskämpfer waren. Erst mit Beginn der Hochrüstungsphase,
im unmittelbaren Vorfeld des Überfalls auf Polen, kam es durch die Umstrukturierung
auf Kriegsproduktion zu einem leichten Auffschwung der Wirtschaft im
Westmünsterland, allerdings brachte dies die zeitweilige Anhebung der
Wochenarbeitszeit für Frauen auf 58 und für Männer auf 64 Stunden mit sich. Die
großen Textilkonzerne van Delden, Laurenz und Kümpers nutzten ihre Vorteile als
"Wehrwirtschaftsführer", um in den Kriegswirren eine Konzentration der Produktion
durchzuführen. 1942 sollten allein in der Region Bocholt 11 Fabriken geschlossen
werden, was nur mit Mühe verhindert werden konnte, aber es kam zu einer ersten
Arbeitsplatzvernichtung in den Fabriken selbst. Arbeiteten 1938 noch 2500 Menschen bei
Laurenz in Ochtrup, so waren es 1945 nur noch 1000. Der Einzug von immer neuen
Soldaten zwang die Konzernherren, auf ausländische Arbeitskräfte zurückzugreifen, die
jedoch mit der näherrückenden Front ein stetig wachsendes Widerstandpotential
darstellten. 1944 wurde sogar überlegt, für die 5000 holländischen Arbeiter ein
Zwangsarbeitslager einzurichten, jedoch war allen Beteiligten klar, daß dann jegliche
Arbeitsmoral beseitigt sein würde.
Vor diesem Hintergrund formierten sich die oppositionellen Kräfte neu und einzelne
Aktionen wurden vorbereitet und durchgeführt. Die Arbeiter der Firma van Delden in
Gronau fanden im Oktober 1934 im Arbeitssaal ein Flugblatt, das dazu aufforderte:
"Heraus zum Kampf gegen den faschistischen Terror" und mit "Ortsgruppe der KPD
Gronau" unterzeichnet worden war. Am 17.2.1935 schwebte über Burlo bei Bocholt ein
an Luftballons befestigtes Transparent mit der Forderung: "Heraus mit Thälmann und
allen eingekerkerten Antifaschisten - Rote Hilfe". Im gleichen Monat wurden aber auch
in Vreden und Bocholt KPD-Gruppen enttarnt und zerschlagen, die, wie fast alle
Gruppen des Westmünsterlandes, antifaschistisches Material aus den Niederlanden über
die Grenze schmuggelten. Auch sozialdemokratische und gewerkschaftliche Flugblätter
wurden gefunden, ohne daß die Verteiler ausfindig gemacht werden konnten.
Anlaufstelle aller deutschen Antifaschisten war entweder das von der
sozialdemokratischen Partei der Niederlande und linken Gewerkschaften getragene
"Aktionszentrum in Hengelo" oder das von der kommunistischen Grenzlandleitung
getragene Agitationszentrum in Enschede, von wo aus Postkarten an Arbeiterviertel wie
"Klein-Moskau" in Gronau versandt wurden, die die Freilassung von Ernst Thälmann
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forderten und "Kampfesgrüße an die antifaschistischen Helden des deutschen
Proletariats" von der "Roten Hilfe Holland" übermittelten. Selbst die faschistische
politische Polizei mußte konstatieren, daß seit dem August 1935 "die illegale KPD sich in
Bocholt und Gronau neuerdings wieder organisiert und zusammengeschlossen hat. Nach
vertraulichen Mitteilungen gibt es kommunistische Zellen in einigen Textilbetrieben; man
hat dort wiederholt kommunistische Parolen an den Wänden gefunden." Selbst einzelne
Mitglieder der faschistischen Bewegung begannen, gegen ihre Führer zu opponieren, so
wurde in Anholt ein Blockwart der deutschen Arbeitsfront wegen kommunistischer
Mundpropaganda verhaftet. Am 18.7.1935 traten 32 Arbeiter der Westfälischen
Baumwollspinnerei in Gronau in einen Streik für höhere Löhne. Die Werksleitung ließ
daraufhin 140 Arbeiter aussperren, und erst die Gauleitung der deutschen Arbeitsfront
konnte den Streit schlichten. Im Januar 1936 verhaftete die Gestapo allein im
Westmünsterland 50 Mitglieder der KPD-Untergrundorganisation, die vor allem im
Verbund mit ihren holländischen Genossen Agitation unter den unzufriedenen
Beschäftigten des Textilindustrie betrieben, aber auch Materialien an Sozialdemokraten
und Kommunisten im Ruhrgebiet weiterleiteten. Im Laufe dieser illegalen Tätigkeit kam
es immer stärker zur Formierung einer proletarischen Einheitsfront aller Arbeiterparteien.
Ab 1936 kann von einem organisierten Widerstand kommunistischer, sozialdemokratischer und gewerschaftlicher Kräfte nicht mehr gesprochen werden. Die Aktiven befanden
sich entweder in Haft oder waren so isoliert, daß sie über eigene spontane Aktionen nicht
mehr heraus kamen. Erst mit der nahenden Befreiung kam es zu ersten Ansätzen einer
erneuten Verflechtung der einzelnen Widerstandskämpfer. Da der Widerstand zum
Großteil individuell war, muß man sich ihm auch individuell nähern. Die folgenden
Erinnerungen einzelner Kämpferinnen und Kämpfer aus dem Kreis Borken verdeutlicht
dies. Auch wenn heute einige Namen und Taten vergessen sind - Ihr Werk wird immer
unter uns sein.
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