38 SCHWE R P U N K T L ea d ersh i p 2 0 2 0 Mythen der Führung – Acht Thesen zu einer überfälligen Revision des Verständnisses von Führung Altbewährte Führungskonzepte sind in der Dr. Sven Grote ▶ studierte Psychologie in Marburg und war zwischen 1997 und 2006 wissenschaftlicher Mitarbeiter am ­Institut für Arbeits­wissen­schaft der ­Universität Kassel. Nach einer Professur an der Fachhochschule für angewandtes ­Management (2007–2012) ist er heute selbstständiger Unternehmens­ berater in Braunschweig. Victor W. Hering ▶ studierte Kulturwissen­ schaft und Literaturwissenschaft in Leipzig und war in den Jahren 1994 bis 2003 für Organisa­ tions- und Personalentwicklung bei Unilever Deutschland verantwortlich. Heute ist er selbst­ ständiger Unternehmensberater in Hamburg mit den Schwerpunkten Strategie, vernetztes Lernen, Kompetenzentwicklung und Coaching. Praxis noch immer weitverbreitet und werden nach wie vor in Seminaren Die Autoren gelehrt. Die klassischen Füh‑ rungsmodelle sind im Schnitt etwa 40 Jahre alt. Beispiele dafür sind das Verhaltensgitter von Blake und Mouton (1968), das 3‑D-Modell nach Reddin (1977), die situative Führungs­ theorie nach Hersey und Blanchard (1977), das Ent‑ scheidungsmodell von Vroom und Yetton (1973) oder die Kontingenztheorie Fiedlers (1967). Diese Ansätze mögen durch‑ aus ihre Berechtigung haben, schreiben Sven Grote und Victor W. Hering, auch wenn nicht zu übersehen sei, dass viele Ansätze in die Jahre gekommen seien. Mit ihren Thesen ziehen Grote und Hering in der Einleitung des aktuellen Sammelbands „Die Zukunft der Führung“ eine Zwischenbilanz, in welcher Hinsicht das Verständnis von Führung zu erweitern ist. PERSONALFÜHRUNG 12/2013 39 Zukunft der Führung Wie führt man Künstler, die verschiedener nicht sein könnten, zu Höchstleistungen und schafft obendrein ein Gesamtkunstwerk? John Neumeier, seit 1973 Ballettdirektor an der Hamburgischen Staatsoper, hat den Dreh raus. Foto: Probe zu „Dritte Sinfonie von Gustav Mahler“. PERSONALFÜHRUNG 12/2013 40 SCHWE R P U N K T L ea d ersh i p 2 0 2 0 D er letzte umfassende Band zum Thema „Führen und füh­ ren lassen“ stammt von Oswald Neuberger (2002) und darf zu Recht als ‚Klassiker‘ bezeichnet werden. Es ist also Zeit, zu fragen, womit Führungskräfte in den nächsten Jahren rechnen und umgehen müssen und wie man sich dieser Zukunft nähern kann. Die folgenden acht Thesen dekonstruie­ren vertraute und eingefleischte Mythen. Mythen sind, um mit Neuberger zu sprechen, oft bilderreiche, interpre­ tationsbedürftige und vieldeutige Erzählungen. Sie treten mit „Wahrheitsanspruch“ auf, bilden Wirklichkeit aber nicht umfassend, „sondern einseitig oder selektiv“ ab (Neuberger 2002, 101). Sie reduzieren Komplexität zum Preis der Einseitigkeit, denn „sie führen zu Simplifizierung und Stereotypisierung, so dass eine mögliche Sichtweise zur allein richtigen (v)erklärt wird“ (ebd.). 20 bis 25 Jahre (Reorganisationen, Prozessoptimierungen, Unter­ nehmensfusionen und Übernahmen) wichtig gewesen, um Ge­ schäftsmodelle veränderten Umweltbedingungen anzupassen und wettbewerbsfähig zu bleiben. In dieser Kaskade von Change-Projek­ ten wird Mitarbeitern gelegentlich noch zugestanden, Veränderungs­ Noch deutlicher fordert Gary Hamel in „The future of management“ (2007) eine Abkehr von veralteten Manage­menttechniken aus der Mitte des letzten Jahr­ hunderts. Führungskräfte müssten genauso diszipliniert an Managementinnovationen arbeiten, wie sie es sonst bei Produkt- und Dienstleistungsinnovationen tun. Viele Prak­ tiken und Rituale des vermeintlich modernen Manage­ ments seien 100 Jahre alt und hätten ausgedient: „Über­ all in Unternehmen herrschen Starrsinn, Unterordnung, Blockade und Kontrolle. Inspiration und Leidenschaft aber, die großen Mächte des Fortschritts, kommen kaum mehr zur Entfaltung.“ (Hamel 2008b, 102) Die folgenden acht Thesen entstanden aus der Zusam­ menarbeit mit Victor W. Hering als Herausgeber des Sammelbandes „Die Zukunft der Führung“ (2012). Mit diesen Thesen erheben wir nicht den Anspruch, alle nur denkbaren Facetten des heutigen Führungshandelns auf den Punkt zu bringen. Darauf haben wir in unserer Ein­ führung als Herausgeber mit einer neunten These hinge­ wiesen, deren Quintessenz diesem Beitrag vorangestellt sei: Zum Thema Führung ist eben noch längst nicht al­ les gesagt, weder mit acht noch mit neun Thesen. Insbe­ sondere der Blick in Nachbardisziplinen (z. B. die Sport­ psychologie) zeigt, dass jenseits der engeren Führungs­ forschung transferträchtige Ansätze und Konzepte zu entdecken sind. Darum haben wir sie in den Sammel­ band mit aufgenommen. Erklären, vormachen, nachmachen lassen, üben, Feedback geben… Ohne das geht es nicht, aber es reicht auch nicht. Mythos 1: Panta rhei – oder: Führungskräfte wollen Ver­än­derungen, Mitarbeiter nicht „Alles fließt“ und „Das einzig Beständige ist die Veränderung“ sind Leitsätze, die Mitarbeitern seit Jahren regelmäßig vorgetragen werden. Unbestritten sind viele Veränderungsansätze der letzten prozesse insgeheim skeptisch aufzunehmen. Oft genug müssen sie aber eine Veränderungswelle nach der anderen mittragen (bzw. auch ertragen). Aber auch Führungskräfte können sich erstaunlich „veränderungsresistent“ zeigen, wenn sie nicht bereit sind, aus be­ kannten Fehlern vergangener Veränderungsprozesse zu lernen. PERSONALFÜHRUNG 12/2013 41 Der Mythos „Alles fließt“ blendet die Tatsache aus, dass perma­ nen­te Veränderungsprozesse zu unerwünschten Nebenwirkungen führen können, wie etwa zu dem Phänomen „Zynismus gegenüber Veränderungen“ (Wanous et al. 2000). Insbesondere bei einem Füh­ rungsverständnis, das Veränderungsprozesse überzeichnet, übertreibt werden, als vielmehr daran, ob und wie unterschiedliche Verände­ rungsprozesse im Unternehmen sinnvoll dosiert und miteinander vernetzt werden. Zudem sollten Führungskräfte ihre Verände­ rungskompetenz weiterentwickeln, ihr Handeln den besonderen Bedingungen von Veränderungsprozessen anpassen, transforma­ tionale Führungsansätze realisieren und in Spannungs­ feldern Konflikte so balancieren, dass Mitarbeiter Halt und Orientierung finden. Mythos 2: Führung muss authentisch sein Die Forderung nach authentischer Führung landet in Umfragen bei Führungskräften und Mitarbeitern in der Regel auf den vordersten Plätzen. Authentizität wird da­ bei gern als unverstellte „Echtheit“ verstanden, als einfa­ ches „Sich-so-zeigen, wie man ist“ (Niermeyer 2008, 15). Durch die einschlägige Managementliteratur und Seminar­ angebote zieht sich die These, dass Führungskräfte authen­ tisch sein müssen, um mit Charisma wirksam und erfolg­ reich sein zu können (ausführlich Niermeyer 2007; 2008). Tanzen sei „instinktive Arbeit“, so Neumeier im Interview mit der „Für Sie“: Wissen müsse „verinnerlicht“ sein, dann beeinflusse es, wie man sich bewegt. und nicht mit anderen Projekten und Initiativen verbin­det, kann die Lösung selbst zum Problem geraten (Watzlawick et al. 2008). Zwischenfazit In Zukunft sollte die Qualität der Führung we­ niger daran gemessen werden, wie viele Veränderungen initiiert PERSONALFÜHRUNG 12/2013 Das Konzept der Authentizität ist stark durch die Ge­ sprächspsychotherapie geprägt, die zur Schule der Huma­ nistischen Psychotherapie gehört und wesentlich von Carl R. Rogers entwickelt wurde. Eine Grundannahme in die­ sem Kontext ist, dass Menschen von sich aus nach Selbstver­ vollkommnung und Selbstverwirklichung streben. Wenn es zu Störungen der persönlichen Entwicklung kommt, ist es Aufgabe des Therapeuten, ein günstiges Klima für den seelischen Wachstumsprozess zu schaffen. Rogers fragte danach, welche Bedingungen dazu führen, dass eine Person von sich aus über ihr Erleben spricht, sich dabei besser verstehen lernt und schließlich zu Einstellungsund Verhaltensänderungen gelangt. Für ihn lag ein Schlüs­ sel in dem einfühlenden Verstehen, der Anteilnahme, dem Respekt und der Echtheit des Therapeuten. Rogers’ Dimension „Echtheit“ wird auch als Authentizität (bzw. Kongruenz) beschrieben. Seine Variablen für eine erfolg­ reiche Therapie fanden auch Eingang in die Pädagogik und Erwachsenenpädagogik. Zudem fließen sie seit Ende der 60er‑Jahre in die Managementliteratur und in die Weiterbildungsszene für Führungskräfte ein. Nun sind aber Mitarbeiter nicht im Unternehmen, um sich persönlich zu entfalten, das gilt auch für die Angehörigen der Generation Y. Zumindest ist dies nicht der Hauptzweck. Vielmehr erbringen sie eine mehr oder weniger ge­ nau definierte Arbeitsleistung, im Gegenzug erhalten sie Lohn oder Gehalt. Führungskräfte sind weder wie Therapeuten in einem geschützten Raum tätig noch haben sie eine Schweigepflicht ge­ 42 SCHWE R P U N K T L ea d ersh i p 2 0 2 0 genüber Dritten, sondern sind unterschiedlichen Interessengrup­ pen verpflichtet. Sie müssen die Interessen von Stakeholdern über­ setzen, anpassen und unter Umständen mit disziplinarischen Maß­ nahmen durchsetzen. Führungskräfte müssen mikropolitisch in Spannungsfeldern zwischen Mitarbeiter- und Unternehmensinte­ ressen agieren. Dieser vollkommen andere Kontext erfordert an­ dere Kompetenzen, die in erster Linie an den Erfordernissen des Unternehmens orientiert sein müssen. Die Forderung nach Authentizität im Sinne von ‚Sei du selbst, sei, wie du bist‘, ver­ standen als Kongruenz zwischen Gefühlen und Verhalten, greift in einem hochgradig wettbewerbsorientierten sowie mikro­po­ litisch aufgeladenen Unternehmensalltag zu kurz. Mythos 4: Innovation – ein steiniger Weg in ein unbekanntes Land Allenthalben wird beschworen, dass die Leistungs-, Wettbe­ werbs- und letztlich die Überlebensfähigkeit von Volkswirtschaften auf das Engste mit der Innovationsfähigkeit der Industrie ver­ Zwischenfazit Es kommt darauf an, dass Führungskräfte ihre Kompetenzen erweitern und auf der gesamten Klaviatur spielen und zwischen verschiedenen Anforderungen und Rollen­ erwartungen wechseln können. Führungskräfte müssen sich von einseitig persönlichkeitszentrierten Führungskonzepten wie dem der Authentizität verabschieden. Stattdessen sollten sie sich daran messen lassen, wie neuartige und teilweise spannungs­ reiche Anforderungen in modernen Unternehmenskontex­ten (z. B. Führung in Projekten, Führung auf Distanz, Manage­ment von heterogenen Teams und Belegschaften) für Mitarbeiter übersetzt werden. Mythos 3: Change Manager bedürfen selbst keiner Veränderung Neumeier ist selbst ausgebildeter Tänzer und hat noch mit 65 Jahren Ballett ge­ tanzt – beste Voraussetzung für den Dialog mit Tänzern. Zahlreiche Unternehmen werden mit einer Logik aus den 1920er- und 30er-Jahren geführt, kritisiert Rother (2009). „GMs Vorgehensweise erwies sich während der Phase von Wachstum und oligopolistischer Isolation vom weltweiten Wettbewerb bis in die 1970er Jahre hinein als sehr lukrativ. Sie wurde zu Vor­ bild sowie akzeptierter Managementpraxis und wird heute noch an den Business Schools gelehrt.“ (Rother 2009, 82) Die Orientie­rung an Managementpraktiken, die für die amerikanische Automobilin­ dustrie der 1920er-Jahre zielführend gewesen sein mögen, birgt jedoch die Gefahr des Verharrens in alten Mustern. Auch Führungsund Managementinstrumente bedürfen der Veränderung. Zwischenfazit Die Führungskraft der Zukunft sollte sich von der Vorstellung verabschieden, dass tradierte Managementtech­ niken und ‑systeme unveränderliche, nicht zu diskutierende und somit auch nicht entwickelbare Techniken und Instrumente dar­ stellen. Mit Konzepten aus dem letzten Jahrhundert allein lassen sich zukunftsfähige Veränderungen in Unternehmen nicht mehr umsetzen. Ein „kontinuierlicher Verbesserungsprozess der Füh­ rung“ ist gefragt. Das heißt, die Veränderung von Führungsinst­ rumenten sollte so selbstverständlich als Erfolgsgarant betrachtet werden wie die Neuentwicklung von Produkten und Dienstleis­ tungen. knüpft seien. In Gesprächen mit Führungskräften entsteht gele­ gentlich der Eindruck, dass es sich hierbei um ein nur sehr schwer, wenn nicht gar unerreichbares Ziel handele. Nicht selten fragen Praktiker, wie es anderen Unternehmen gelingt, dass ihre Mitarbei­ ter im Durchschnitt vier bis fünf Vorschläge pro Jahr einreichen. Andere zeigen sich überrascht, dass ein Unternehmen wie 3M so viele Innovationen hervorbringt. Dabei gibt es allein zum Thema Innovation eine Fülle sowohl theoretischer als auch praxisorientierter Literatur, die kaum noch zu überschauen ist. Das darf Unternehmen jedoch nicht von der Pflicht befreien, sich aktiv mit dem Thema Innovation auseinan­ derzusetzen. Kurzum – es existieren zahlreiche praktikable und erprobte Ansätze, Instrumente und Managementsysteme, die je­ doch von einem nicht unerheblichen Teil der Führungskräfte un­ beachtet bleiben. Zwischenfazit Wie Innovationen in Unternehmen gefördert werden können, ist sehr gut erforscht und verständlich beschrieben. Führungskräfte müssen sich eingestehen, dass es keinen Mangel an Ratschlägen und Tipps für Innovationen, wohl aber eine Umset­ zungslücke gibt. PERSONALFÜHRUNG 12/2013 43 Mythos 5: Führung wirkt zum Guten – frei von Nebenwirkungen Es erschien lange wie eine unausgesprochene Annahme in der Führungsliteratur, dass Führung nur zum Guten wirken könne. So wurde einerseits untersucht und beschrieben, wie Mitarbeiter durch Zwischenfazit Die Beiträge guter Führung zum Unterneh­ menserfolg sind unbestritten, aber die Auswirkungen schlechter Führung auf den Unternehmenserfolg dürfen deshalb nicht aus­ geblendet werden. Wer sich dem verschließt und glaubt, dass in­ tensive Führung frei von Risiken und Nebenwirkungen wäre, sollte sich schleunigst Rat holen. Mythos 6: Führungskräfte und Mitarbeiter ­ müssen ein Leben lang hinzulernen Der Begriff des lebenslangen Lernens kann leicht so verstan­ den werden, dass den im Unternehmen bereits vorhandenen Führungsinstrumenten und ‑modellen kontinuierlich neue hinzuzufügen sind. In Personalentwicklungsabteilungen steht nicht selten die Vermittlung neuer Tools und Instrumente, möglichst auf der Höhe der aktuellen Trends, im Fokus. Häu­ fig wird dabei vergessen, dass auch das Verlernen von älteren und in die Jahre gekommenen Ansätzen von Bedeutung ist (vgl. Vester 1998). „Als Künstler ist man ohne Netz. Ich habe keine Sicherheit. Aber ich liebe, was ich mache, und glaube, dass das der Sinn meines Lebens ist.“ (Interview „Hamburger Abendblatt“) Führung zu mehr Motivation, Zufriedenheit, Commitment, Eigen­ verantwortung, Leistung und Bürgerverhalten (Organizational Citi­ zen­ship Behavior) geführt werden können, wie sie zu Markenbotschaf­ tern werden, und andererseits, wie Unternehmen zu mehr Innova­ tion, Veränderungen, Exzellenz und höherer Wettbewerbsfähigkeit gelangen müssen. In den letzten Jahren sind jedoch auch mögliche Nebenwirkungen der Führung in den Fokus des Interesses gelangt. Typische Beispiele dafür sind Zynismus gegenüber Verände­ rungen, Lästern, Jammern oder das Suchen nach Schuldigen bei Problemen. Auch negative Gerüchte kommen im Kontext von betrieblichen Veränderungsprozessen häufiger vor als positive. Dabei kann es um Arbeitsbedingungen, den Hintergrund des Veränderungsprozesses, das Change Management an sich, die Konsequenzen der Veränderungen im Hinblick auf die organisa­ tionale Leistung oder einfach nur um Klatsch gehen. Für Aufse­ hen sorgten zwischen 2008 und 2010 auch mehr als 40 Selbst­ morde bei der France Télécom. Zwar wird kontrovers diskutiert, inwieweit diese Anzahl sich tatsächlich statistisch signi­fi­kant von anderen Suizidraten unterscheidet. Dennoch haben externe Ex­ perten eine Verbindung zu einem brutalen Arbeitsklima und frag­ lichen Führungspraktiken hergestellt (Wüpper 2010). PERSONALFÜHRUNG 12/2013 Zwischenfazit Ebenso wichtig wie das lebenslange Lernen ist für Mitarbeiter und Führungskräfte das regelmäßige Verler­ nen (Hauser 2012). Die Überprüfung und Dekonstruktion von veralteten Denkmodellen können gelernt werden. Syste­ matische, evidenzbasierte und auch interkulturelle Kompeten­ zentwicklung, die das berücksichtigt, ist genauso gefragt wie die Beachtung von relevanten, nicht veränderbaren Persönlich­ keitsmerkmalen von Führungskräften. Mythos 7: Die Führungskraft als Held – das ist es, was ­Organisationen brauchen Führungskonzepte lassen sich auch danach beschreiben, wo sie sich in dem Spannungsfeld zwischen Sehnsucht nach und Ab­ schied von heldenhaften Führungskräften verorten. Neuberger sprach vom „Great-man-Mythos“, nach dem der Vorgesetzte alles im Griff habe (Neuberger 2002). Allerdings ignoriert diese Ansicht die Vielzahl von Einfluss­ prozessen in Organisationen, zum Beispiel Führung ‚von unten‘ʻ oder durch Kollegen. Tatsächlich findet sich in Unternehmen eine Kombination von entpersonalisierter und personalisierter Führung. Zudem können Helden große Schatten werfen, sodass zum Beispiel die Beiträge anderer nicht ausreichend wahrgenom­ men und geschätzt werden. Können Unternehmen heute also ohne ‚Helden‘ auskommen? Zunächst einmal stehen heldenhafte Führungskräfte im Kontrast zu den Prozessen der Organisationsentwicklung in den letzten 20 Jah­ ren. Die Entwicklung weg von zentral gesteuerten Einheiten hin zu Profitcentern, Segmentbildungen und kleinen, kennzahlen­ gesteuerten Einheiten mit hoher Autonomie führt zu neuartigen 44 SCHWE R P U N K T L ea d ersh i p 2 0 2 0 Abstimmungs- und Kooperationsprozes­ sen. Die Komplexität, das heißt die unter­ schiedlichen, hoch vernetzten, oft intranspa­ renten, mehrdeutigen und wechselseitig ab­ hängigen Variablen im Unternehmens­alltag lassen es nicht mehr zu, dass eine Führungs­ persönlichkeit allein das Steuer wie auf ei­ nem Supertanker in der Hand hält. Das Bild des Steuermanns führt aus verschiedenen Gründen in die Irre. Zwischenfazit Auch wenn das Bild ei­ nes starken Anführers im Kontext der ge­ schichtlichen Entwicklung eine Zeit lang stimmig gewesen sein mag, so zeigen sich bei der Übertragung auf Unternehmen im 21. Jahrhundert gravierende Schwächen. Führungskräfte müssen sich in Zukunft ih­ ren begrenzten Einfluss eingestehen und sich vom Leitbild des Heroen verabschieden. Mythos 8: Die Führungskraft führt allein (und zwar nur ihre Mitarbeiter) Dieser Mythos verweist auf zwei As­ pekte, die wie zwei Seiten einer Medaille im Zusammenhang zu betrachten sind. Ein Aspekt ist die Führung nach ‚unten‘, der (nach dem alten Sprachgebrauch) Unter­ gebenen. Der andere Aspekt betrifft die Führung ‚zur Seite‘ (Kollegen auf vergleich­ barer Hierarchieebene) und die Führung nach ‚oben‘ (Vorgesetzte). Führungskräfte haben oft mehr laterale Abstimmungspro­ bleme mit ihren Kollegen (die ebenfalls Führungskräfte sind) und ihren Vorgesetz­ ten als Probleme mit ihren Mitarbeitern. Ein Kern des Mythos besteht zunächst in der impliziten Annahme, es gebe einen Führenden, der a) einen permanenten und privilegierten Überblick über alle relevan­ ten Geschehnisse im Team hat und genau mitbekommt, was seine Mitarbeiter tun, und der dann möglicherweise feststellen muss, dass einer nicht tut, was ihm aufge­ tragen wurde. Demzufolge hätte er ein Füh­ rungsproblem mit dem Geführten, denn der Geführte muss der Führung folgen. Zur Lösung des Problems bucht der Vorge­ setzte dann b) ein Führungsseminar, um anschließend mit verfeinerten Methoden den Geführ­ten dazu zu bringen, dass die­ ser sich bessert. Dieses Vorgehen kann sich als vergebli­ ches Bemühen erweisen, wenn man den Istzustand in Unternehmen betrachtet. Dort wurden in den letzten Jahren Arbeitsformen umgesetzt, die Mitarbeiter explizit in Ent­ schei­dungsprozesse einbeziehen, deren zen­ trales Postulat darin besteht, dass die Mit­ arbeiter mehr Verantwortung übernehmen und sogar „Unternehmer im Unterneh­ men“ werden. In vielen Unternehmen ha­ ben sich Kooperationsstrukturen wie Grup­ penarbeit, Total Quality Management, Kai­ zen, Six Sigma oder Projektarbeit entwi­ ckelt. Dem hinkt der Mythos der allein und alles bestimmenden Führungskraft hinter­ her. Der mündig gewordene Mitarbeiter würde dann auf eine Führungskraft treffen, die noch einem patriarchalischen Leitbild entspricht (vgl. Baecker 2012). Die zweite Seite des Mythos betrifft die Frage, wer geführt wird. In diesem Zusam­ menhang erscheint folgende Anmerkung von Interesse: „In den drei Jahrzehnten Pra­ xis als Managementlehrer und ‑Consultant hat mir kaum jemand gesagt, das schwie­ rigste Problem sei das Management seiner Mitarbeiter. Diese Tatsache kontrastiert auf­ fällig damit, dass genau dieses Problem, die Mitarbeiterführung, das Exklusivthema von Literatur und Managementausbildung ist.“ (Malik 2005, 80) Diese Äußerung dürfte auf die Tatsache verweisen, dass die meis­ ten Abstimmungsprozesse, die kleinen, all­ täglichen Rituale und Kommunikations­ muster, die einen Betrieb am Laufen halten (oder blockieren), auf gleicher hierarchischer Ebene stattfinden. Zwischenfazit Wenn es zutrifft, dass die meisten Abstimmungsprozesse auf gleicher hierarchischer Ebene laufen, dann gilt es für Führungskräfte, ihre eigene Führungsrolle im Spannungsfeld von hierarchischer Füh­ rung des eigenen Bereichs versus laterale Einflussnahme auf Kollegen zu prüfen. • Literatur Baecker, D. (2012): Postheroisches Management, in: Grote, 475–490 Blake, R. R. / Mouton, J. S. (1968): Verhaltens­ psychologie im Betrieb. Das neue Grid-Ma­ nagement-Konzept, Düsseldorf / Wien Fiedler, F. E. (1967): A theory of leadership effec­ tiveness, New York Grote, S. (Hg.) (2012): Die Zukunft der Führung, Heidelberg Hamel, G. (2008a): Führen, nicht folgen. Inter­ view mit Prof. Gary Hamel, in: ManagerMaga­ zin, 5, 100–102 Hamel, G. (2008b): The future of management, New York Hauser, B. (2012): Navigation in unbekannten Welten – Dekonstruktion als zukünftige Füh­ rungsaufgabe, in: Grote, 347–365 Hersey, P. / Blanchard, K. H. (1977): Management of organizational behaviour. Utilizing Human Resources, 3rd ed., Englewood Cliffs, NJ Malik, F. (2005): Management. Das A und O des Handwerks, Frankfurt/M. Neuberger, O. (2002): Führen und führen lassen, Stuttgart Niermeyer, R. (2007): Müssen Manager authen­ tisch sein? www.faz.net/artikel/C30125/pround-contra-muessen-manager-authentisch-sein30221806.html (15.7.2011) Niermeyer, R. (2008): Mythos Authentizität. Die Kunst, die richtigen Führungsrollen zu spielen, Frankfurt/M. Reddin, W. J. (1977): Managerial effectiveness, New York Rother, M. (2009): Die Kata des Weltmarktfüh­ rers. Toyotas Erfolgsmethoden, Frankfurt/M. Vester, F. (1998): Denken, Lernen, Vergessen, München Vroom, V. H. / Yetton, P. W. (1973): Leadership and decision making, Pittsburgh, PA Wanous, J. P. / Reichers, A. E. / Austin, J. T. (2000): Cynicism about organizational change: Measurement, antecedents, and correlates, in: Group and Organization Management, 25 (2), 132-153 Watzlawick, P. / Weakland, J. H. / Fisch, R. (2008): Lösungen. Zur Theorie und Praxis menschlichen Wandels, Bern Wüpper, G. (2010): Ermittlungen gegen Chefs nach Selbstmord-Serie, in: Welt Online, www.welt. de/wirtschaft/article6894578/Ermittlungengegen-Chefs-nach-Selbstmord-Serie.html (23.3.2010) PERSONALFÜHRUNG 12/2013