Teilleistungsstörungen Legasthenie, Dyskalkulie Dr. Andreas Vogel Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie, Universitätsklinikum des Saarlandes, Homburg Definition Voraussetzungen: Intakte Sinnesorgane Intellektuelle Leistungsfähigkeit im Normbereich Keine schwere emotionale Grundstörung Definition Beginn in der frühen Kindheit Umschriebene Defizite in einem Bereich Durchschnittliche Fähigkeiten in allen anderen Bereichen Klassifikation F 80 Umschriebene Entwicklungsstörungen des Sprechens und der Sprache F 80.0 Artikulationsstörung F 80.1 Expressive Sprachstörung F 80.2 Rezeptive Sprachstörung F80.3 Erworbene Aphasie mit Epilepsie (Landau-Kleffner-Syndrom) Klassifikation F 81 Umschriebene Entwicklungsstörungen schulischer Fertigkeiten F 81.0 Lese-Rechtschreibstörung F 81.1 Isolierte Rechtschreibstörung F 81.2 Rechenstörung F 81.3 Kombinierte Störung schulischer Fertigkeiten Klassifikation F 82 Umschriebene Entwicklungsstörungen motorischer Funktionen F 88 Sonstige Entwicklungsstörungen Legasthenie Hauptmerkmal ist eine umschriebene und eindeutige Beeinträchtigung in der Entwicklung der Lese- und Rechtschreibfertigkeiten, die nicht durch das Entwicklungsalter, durch Visusprobleme oder unangemessene Förderung oder Beschulung erklärbar ist Der Prozentrang liegt unter/gleich 10 Die Diskrepanz zwischen der Rechtschreibleistung und der Grundintelligenz beträgt mehr als 1,5 Standardabweichungen. Lagasthenie Die Diskrepanz zwischen Leseleistung in einem definierten Lesetest und der Grundintelligenz beträgt mehr als 2 Standartabweichungen, die Rechtschreibleistung ist schwach, erfüllt aber nicht das Diskrepanzkriterium. Prävalenz Global wird eine Häufigkeit von 4 – 5 % angegeben (Ramus, 2000; Warnke, 2001;Schulte-Körne und Remschmidt, 2003) Jungen sind 2 – 3 mal häufiger betroffen, als Mädchen Symptomatik Störung der Trennschärfe: optisch: d,b,q,p akustisch: d/t, g/k, p/b, e/ä, r/ch z.B. gluk, gebroren Störung der Wortdifferenzierung ( Synthese der Buchstaben zum Gesamtwortbild ) z.B. NT, Katofl Ätiologie Geschichte der Legasthenieforschung Angeborene Wortblindheit Legasthenie Anti Legastheniebewegung Neuorientierung der Forschung Wie lernt man lesen und schreiben? 2 Wege Modell nach Coultheart Visuelle Analyse unterscheidet in bekannt und unbekannt Zugriff auf das orthographische Lexikon oder Phonem/Graphem Zuordnung führt zur Worterkennung Voraussetzungen: Zusammenkommen von Buchstabenbild und Buchstabenton und die Synthese zu größeren Einheiten Mehrebenen – Ursachenmodell der LRS Genetische Disposition Wahrnehmung und Verarbeitung akustischer Informationen Sprachentwicklung ist oft verzögert Wahrnehmung und Verarbeitung visueller Informationen Intelligenz, Gedächtnis, Aufmerksamkeit Umweltfaktoren Typische Fragen Warum wird Legasthenie oft erst spät erkannt? Welche Auswirkungen hat sie auf andere Fächer? Gibt es typische Legastheniefehler ( Wahrnehmungsfehler, Regelfehler ) ? Warum schreibt das Kind zu Beginn eines Diktates weniger Fehler? Hirnanatomie Asymmetrie des planum temporale Asymmetrie im planum parietale Atypische Zellgruppen im Bereich der Hirnrinde Magnozellulärer Bereich des Thalamus: Umschaltstation, in der visuelle Reize schneller Bewegungen an eine bestimmte Region des primären Sehzentrums weitergegeben werden Weitere Befunde Verminderte Stoffwechselaktivität im planum temporale bei Wortanalysen Schwächere Aktivierung der Region des makrozellulären Systems bei bewegten Reizen Bei bestimmten Aufgaben werden beim Nichtlegastheniker motorisches -, sensorisches Sprachzentrum und ein auf der Insel gelegenes Zentrum gleichzeitig aktiviert, beim Legastheniker das erste und das zweite nacheinander und das dritte gar nicht. Weitere Befunde Bei Männern werden bestimmte Zentren nur linksseitig aktiviert, bei Frauen werden beide Hirnhemisphären aktiv Ist deshalb Legasthenie bei Mädchen seltener, weil diese besser kompensieren können? Viele Ergebnisse sind noch widersprüchlich Zwillings – und Familienforschung Legasthenie wird zu einem hohen Anteil vererbt Etwa 50% der Varianz beim Erlernen des Lesens und etwa 60% der Varianz beim Erlernen des Rechtschreibens gehen auf genetische Faktoren zurück (Blanz) Es sind verschiedene Gene verantwortlich (polygene Vererbung) Legasthenie und gestörte Sprachentwicklung werden vermutlich zum Teil durch die gleichen Gene vererbt Genetik Anhand von Kopplungsanalysen und Assoziationsuntersuchungen wurden Regionen auf den Chromosomen 1, 2, 3, 6, 15 und 18 identifiziert, in denen für die Lese- und Rechtschreibfähigkeit relevante Gene vermutet werden (Shawitz, Schulte-Körne, Remschmidt, Warnke) Einige Kandidatengene (z.B. auf Chromosom 6p und 15q ) konnten bereits identifiziert werden (Cope, Marino) Diagnostik Intelligenztests ( K-ABC, Hawik IV ) Genormter Rechtschreibtest ( DRT, HSP, WRT ) Genormter Lesetest, z.B. Züricher Lesetest IQ größer 75 PR im RT nicht signifikant größer 10 Diskrepanz IQ/Rechtschreibleitung größer 1,5 Standartabweichungen ( 15 Pt beim T-Wert ) Diskrepanz IQ/Leseleistung größer 2 Standartabweichungen (20 Pt beim T-Wert) Ausschluss Hörschwäche, Sehschwäche, Fehlende Förderung, chron. Schuleschwänzen, schwere emotionale Störung Wahrnehmungsdiagnostik Es finden sich gehäuft: Störungen der akustischen Merkfähigkeit Störungen der optischen Merkfähigkeit ( Strehlow, Kaufman, Doktorarbeit Pyka 2007 ) Die Synthese der einzelnen Buchstaben zum Gesamtwortbild gelingt nicht, das Wortbild kann nicht gespeichert und abgerufen werden. Die Wortbildrepräsentation ist kortikal gestört ( Schulte-Körne, Remschmidt ) Therapie? Wier prauchen Keine Leerer, wier sint schoon selper slau. Therapie Aufklärung von Kind, Eltern, Schule Aufgabe unsinniger Übungen Das Kind dort abholen, wo es steht Arbeit mit plastischen Buchstaben, Silbensuchen, Schreiben auf dem Computer ( 2 Sätze täglich ) Trainingsprogramme ( Marburger Rechtschreibtraining, Kieler Lese- und Rechtschreibaufbau, ganzheitliche Förderung nach Kaufman ) Sinnvoll sind am Lese- und Rechtschreibprozess orientierte Maßnahmen Sinnvoll sind kurze, tägliche Trainingseinheiten Weitere Hilfen Nach dem Legasthenieerlass des jeweiligen Bundeslandes ist Nachteilsausgleich und Förderung möglich Weitere angebotene Maßnahmen Ergotherapie Training basaler kognitiver Leistungen z.B. Lautund Phonemtraining (durch Logopäden ) Training der Zeitverarbeitung ( brainboy ) Training der Blickmotorik Logopädie bei nachgewiesenen Sprachstörungen Es wurden durch diese Maßnahmen Verbesserungen in Teilbereichen, z.B. der Ordnungsschwelle, aber NICHT der Rechtschreibleistungen erzielt Folgen Schulische Misserfolge ( 14% ohne Abschluss ) Sekundäre emotionale Störungen: Depressive Störungen Aggressive Störungen Schulverweigerung Psychosomatische Beschwerden Häufige Komorbidität mit anderen Störungen, besonders HKS, ADHS, Tics Prävention Hören, lauschen, lernen, ein Training zur Förderung der phonologischen Bewusstheit Wird in Kindergärten von Erzieherinnen durchgeführt Dauert 20 Wochen Ist evaluiert Wirkt sich nachhaltig positiv auf den Erwerb der Leseund Rechtschreibfähigkeiten aus Wirkt der positive Effekt wirklich bei Legasthenikern? Hören, lauschen, lernen Übungseinheit 1: 9 Lauschspiele ( Woche 1-3) Übungseinheit 2: 10 Reimspiele ( Woche1-4, spätere Wiederholungen ) Übungseinheit 3: Sätze und Wörter ( 8 Spiele, Woche 3-5) Übungseinheit 4: Silben ( 7 Spiele, Woche 5-9) Übungseinheit 5:Anlaute ( 8 Spiele, Woche 7-11, spätere Wiederholungen) Übungseinheit 6: Phonem (15 Spiele, Woche1120) Prognose Durch frühes Erkennen und gezieltes Training des Wortbildes lassen sich signifikante Verbesserungen erzielen Frühe Hilfen verhindern sekundäre psychische Beeinträchtigungen Teilweise wird von Spontanverbesserungen während der Pubertät berichtet, gezielte Studien darüber fehlen Dyskalkulie Definition: Dyskalkulie ist eine umschriebene Beeinträchtigung der Rechenfertigkeiten, die nicht durch eine Intelligenzminderung oder unangemessene Beschulung erklärbar ist. Sie betrifft die Beherrschung grundlegender Rechenfertigkeiten wie Addition, Subtraktion, Multiplikation und Division. Was ist Mathematik? Mathematik macht das Unsichtbare sichtbar Wir unterscheiden: Intuitive Mathematik (Grundlagen des mathematischen Wissens sind angeboren ) Kulturelle Mathematik ( Entwicklungsdyskalkulie ) Wie wird Mathematik erlernt? Bereits Babys haben Vorstellungen von Darstellungen und Veränderung von Mengen Vorschulzeit: Zählen, Begriff von mehr und weniger, Schätzen von Längen Grundschule: Verständnis von Zahlen und Mengen bis zu einer flexiblen Vorstellung von mathematischen Problemen Als „start up“ Mechanismus für Mathematik wird das gleichzeitig schnelle Erfassen von 4-5 Objekten angesehen. Dies ist bei Kindern mit Dyskalkulie deutlich verlangsamt. Prävalenz Die Häufigkeit wird nach verschiedenen Studien zwischen 4% und 6% angegeben Komorbidität besteht zu ADHS, Tics, depressiven Störungen, aggressiven Störungen bis hin zur Schulverweigerung Klinik / Symptomatik Nominalismus: fehlende Mengenvorstellung, Transferleistungen können nicht erbracht werden, keine Verbesserung durch intensives Üben Mechanismus: unreflektiertes mechanisches Rechnen ohne Verständnis der zu Grunde liegenden Verfahrenstechniken Konkretismus: unreflektierter Einsatz von Fingern und Veranschaulichungsmaterialien und Klammern an vorgestellte Zählhilfen Folgen: Zahlen und Mengen sind mit keinen oder falschen Vorstellungen besetzt, die innere Logik des Stellenwertsystems kann nicht erarbeitet, gespeichert und reproduziert werden. Ätiologie Genetische Faktoren Neuropsychologische Faktoren: visuelle Wahrnehmungsstörungen ( betreffen eher das „ganzheitliche Denken“, als das „einzelheitliche Denken“) Speicherschwierigkeiten Automatisierungsprobleme, graphomotorische Störungen Schulische Ursachen: mangelnde Beschulungskontinuität, Drillrechnen, Fehlender Gebrauch von Hilfsmitteln Ätiologie Soziokulturelle und familiäre Bedingungen: mangelnde Leistungsmotivation, impulsiver Kognitionsstil, Arbeitshaltung, Arbeitsdauer Sprachliche Schwierigkeiten Sie sind nicht Ursache, wirken aber verstärkend auf die Grundsymptomatik Diagnostik Intelligenztest ( K-ABC, Hawik IV ) Rechentests: RZD 2-6: hat Power- und Speedkomponente HRT 1-4: unterteilt Rechenoperationen und räumlich visuelle Funktionen, ist für 4 Quartale jeder Klassenstufe genormt Zareki, genormt von 90-132 Monaten in 3 Altersgruppen DEMAT 1+,2+ DORT-E: Dortmunder Test für die Eingangsstufe Untertests Rechnen aus K-ABC und Hawik IV, nur als Screening RZD 2-6 Zählfertigkeiten vorwärts, rückwärts) Zahlwörter Mengen zuordnen Transkodieren (Zahlen in arabischen Zahlzeichen schreiben) Schriftliches Addieren, Subtrahieren, Multiplizieren, Dividieren Größenvergleich Mengenschätzen Zuordnung von Zahlen am Zahlenstrahl Kopfrechnen in den Grundrechenarten Textaufgaben Transfer- und Analogieverständnis (z.B. 2+4,4+2) HRT 1-4 Schnell- Schreiben Plus Rechnen (Rechenoperationen ) Minus Rechnen (Ro) Zahlenfolgen (räumlich-visuelle Funktionen) Malnehmen/ Multiplikation (Ro) Teilen/ Division (Ro) Ergänzungsaufgaben (Ro) Größenvergleich (Ro) Längenschätzen (rV) Figuren Zählen (rV) Würfelaufgaben (rV) Zahlenverbinden (rV) Folgen Psychische Auffälligkeiten bei 46% lernschwacher Schüler ( Esser ) Depression Ängste ( Versagensängste, Ausweichverhalten ) Hänseleien, Strafen, niedriges Selbstwertgefühl Allgemeines Leistungsversagen Therapie Rechenschwache Kinder brauchen Unterricht mit graphisch visuellen Veranschaulichungen Hundertertafel Senkrechter Zahlenstrahl Prävention Simultanwahrnehmungstraining zur Verbesserung des schnelleren Erfassens von Mengen Verbesserung der inhaltlichen Mengenerfassung Grundbegriffe des Zählens und Rechnens sollten bereits zum Bildungsauftrag der Kindergärten gehören Lerntherapeutische Frühbegleitung bei rechenschwachen Schülern Verlauf / Prognose Durch frühes Erkennen und Förderung kann eine Verbesserung in kleinen Schritten erzielt werden Sekundäre psychische Störungen können verhindert werden Rechendefizite bleiben jedoch oft weiter bestehen Teilleistungsstörungen als Ursache / Mitursache von psychischen Störungen Was ist Wahrnehmung Wahrnehmung ist die Sinneswahrnehmung von Reizen aus der Außenwelt eines Lebewesens, also die bewusste und unbewusste Sammlung von Informationen über die verschiedenen Sinne. Diese werden laufend mit denen als Teil der inneren Vorstellungswelt gespeicherten Schemata verglichen. Was bewirkt intakte Wahrnehmung? Intakte Wahrnehmung dient der Anpassung an die Umwelt und gibt Rückmeldung über die Auswirkung des eigenen Verhaltens. Sie ermöglicht sinnvolles Handeln und den Aufbau mentaler Modelle der Welt und dadurch antizipatorisches und planerisches Denken. Sie ist damit die Grundlage von erfolgreichen Lernprozessen. Was passiert, wenn bestimmte Wahrnehmungsfunktionen beeinträchtigt sind? Es kommt zu einer Störung der Wahrnehmungskette an verschiedenen Punkten und damit zu einer bzw multiplen Fehlreaktionen auf Umweltreize. Adäquates Handeln ist beeinträchtigt oder sogar unmöglich. Folgen Störung der Interaktion von Mensch und Umwelt Unverständliches Sozialverhalten Chronisch soziale Missverständnisse Sekundäre emotionale Störung Störung der optischen Seriation Probleme soziale Reihenfolgen zu erkennen und sich danach zu richten Unflexibel, planlos Bekommt nichts gereiht Störung der akustischen Merkfähigkeit Kann verbale Informationen nur gering speichern und reproduzieren, Rückzug in eigene Welt Soziale Isolation Schulversagen Störung der Gesamtbilderfassung Einzeleindrücke können nicht in einen Gesamtzusammenhang gebracht werden Chronische Missverständnisse Aggressive Reaktionen Reaktive Einflüsse: Inkonsequente Erziehung, entweder harte Strafen oder Sonderstellung des Kindes Ambivalenz durch chronische Missverständnisse Diagnostik Ausführliche Anamnese mit Fremdanamnese Körperliche Untersuchung, EEG Testpsychologische Untersuchung ( K-ABC, HAWIK IV ) Differentialdiagnosen: Hyperkinetisches Syndrom, ADHS Reaktive Bindungsstörung Störungen des Sozialverhaltens Emotionale Störungen Autistische Störungen Therapie Psychoedukation, Beratung von Kind, Eltern, Kindergarten, Schule Fördern über den „stärkeren Kanal“ Übungsbehandlung (Ergotherapie, Logopädie ) Medikamentöse Behandlung (MPH) Danke für Ihre Aufmerksamkeit Fragen?