Adjuvante Chemotherapie: Ist sie heute noch zulässig?

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NICHT-KLEINZELLIGES LUNGENKARZINOM
Adjuvante Chemotherapie:
Ist sie heute noch zulässig?
Die Begleittherapie des nicht-kleinzelligen Lungenkarzinoms basiert nach
Ansicht des Autors auf methodischen Fehlern in Studien. Ein Diskussionsbeitrag.
icht selten werden bestimmte klinische Praktiken und Denkweisen als bewiesen vorausgesetzt, obwohl sie es nach erkenntnistheoretischen
Methoden nicht sind (2). Im Hinblick auf die adjuvante Chemotherapie des nicht-kleinzelligen Lungenkarzinoms (NSCLC) sind meines Erachtens drei
Punkte noch nicht ausreichend diskutiert worden.
In der Onkologie ist bei den organbezogenen Tumoren eine adjuvante Chemotherapie üblich, wenn
nach einer Operation eines T1/2-M0-Stadiums der
Patient formal als geheilt gilt. Die Erfahrung zeigt jedoch, dass im Mittel bei etwa 50 Prozent schon zum
Operationszeitpunkt okkulte Metastasen vorhanden
sind. Aufgrund der Tumorbiologie mit weiterer Entdifferenzierung im Zeitverlauf erscheint diese frühe
Zytostatikatherapie an sich plausibel.
Beim NSCLC zeigten die randomisierten kontrollierten Studien (RCTs) dazu einen vergleichsweise
geringen, passageren Überlebensvorteil von fünf bis
zehn Prozent um drei bis vier Monate nach fünf Jahren beziehungsweise ein längeres rezidivfreies Intervall in der behandelten Gruppe (3, 4).
Die Ergebnisse sind abhängig vom Stadium; bei
Stadium IA zeigt die Chemotherapie eine erhöhte
Mortalität, so dass sie hier nicht mehr empfohlen
wird. Nach diesen RCTs (3, 4) wurde die adjuvante
Chemotherapie breit etabliert und in den Leitlinien
als gesichert empfohlen (5). Auch die aktuelle Cochrane-Analyse empfiehlt sie (6). Meist wird eine Kombination aus Cisplatin und Vinorelbin über vier Zyklen empfohlen, da hierzu die meisten Daten vorliegen. Neuere Studien zur adjuvanten Chemotherapie
vergleichen inzwischen fast nur noch verschiedene
Therapieregime ohne unbehandelte Kontrollgruppe.
Kontrollgruppen nicht vergleichbar
In allen Studien zur adjuvanten Chemotherapie werden die Patienten randomisiert in zwei Gruppen eingeteilt. Die eine Gruppe erhält die Chemotherapie,
während die andere nur kontrolliert wird (ohne Placebotherapie). Die definierten Kontrollintervalle sind
in beiden Gruppen an sich gleich, jedoch hat die Behandlungsgruppe aufgrund der Chemotherapie
zwangsläufig deutlich häufigere Arztkontakte. In
keiner Studie wird darauf geachtet, dass diese Arztkontakte in beiden Gruppen gleich verteilt sind; beziehungsweise oft werden sie gar nicht erfasst.
Nun kommen bei Tumorpatienten häufiger Komplikationen oder Begleiterkrankungen vor. In der Behandlungsgruppe werden sie üblicherweise durch die
häufigeren Arztkontakte erkannt und behandelt. In
der Kontrollgruppe fallen sie oft verspätet auf. Besonders deutlich ist das beim NCSLC. Zum Beispiel wird
eine exazerbierte COPD oder ein Pleuraerguss in der
Foto: mauritius images
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Kontrollgruppe sicher später erkannt und behandelt.
In einer britischen Untersuchung macht es im Überleben beim Lungenkarzinom drei Monate aus, je nachdem ob der Patient von einem Pneumologen oder
Nicht-Pneumologen behandelt wird (7). Drei Monate
sind aber fast der gesamte Effekt der Chemotherapie
beim NSCLC auf die Lebenserwartung (8).
Auch wenn die britischen Verhältnisse nicht auf
Deutschland übertragen werden können und es sich
hier um eine Beobachtungsstudie handelt, ist es jedenfalls nicht auszuschließen, dass allein der häufigere Arztkontakt in der Behandlungsgruppe die geringen Unterschiede der adjuvanten Therapie erklären könnte. Zumindest sollte in den zukünftigen Studien darauf geachtet werden, dass beide Behandlungsgruppen identische Arztkontakte haben, um
wirklich vergleichbar zu sein. Deswegen können die
bisherigen Daten als nicht gesichert gelten.
GRAFIK
Gesamtüberleben zweier Langzeitstudien zur adjuvanten Chemotherapie beim NSCLC mit Angabe der Fallzahlen, mod. nach (3, 11)
Kein Überlebensvorteil
mehr im Langzeitverlauf
Die Komplikationen der adjuvanten Chemotherapie
haben in verschiedenen Studien etwa eine Mortalität
um 0,5 bis ein Prozent, gehäuft bei älteren Patienten.
Eine solche Mortalitätsrate nimmt man in fortgeschrittenen Tumorstadien in Kauf, da hier ein Überlebensvorteil dagegengehalten werden kann. Ganz anders ist
jedoch die Situation bei der adjuvanten Chemotherapie, wo je nach Zusammensetzung der Stadien circa
50 Prozent nach der Operation tumorfrei sind. Dabei
wird bisher nicht gewürdigt, dass nach circa acht Jahren erstaunlicherweise die Überlebenskurven beim
NSCLC wieder zusammenlaufen, das heißt, durch die
adjuvante Chemotherapie wird vermutlich kein einziger Patient am Ende zusätzlich geheilt (9, 10, 11).
Leider sind die meisten RCTs zur adjuvanten Chemotherapie nur auf fünf Jahre angelegt, so dass ein
falscher Eindruck vermittelt wird. Natürlich sind Beobachtungszeiträume von acht bis zehn Jahren bei älteren Patienten statistisch immer ein Problem, da natürlicherweise viele in dem Zeitraum versterben und
die Patientenzahlen immer niedriger werden. Allerdings sind gerade in der RCT von Arriagada et al.
von 2010 nach sieben bis acht Jahren immerhin noch
circa 130 Patienten in jeder Gruppe, so dass eine robuste Bewertung möglich ist.
Die Grafik fasst die Überlebenskurven von zwei
der bekanntesten Langzeit-RCTs zusammen. Beide
zeigen, dass nach circa acht Jahren kein Überlebensvorteil mehr vorhanden ist. Die hier etwas unterschiedliche gesamte Lebenserwartung beider Studien
hängt mit der etwas differenten Häufigkeit der Tumorstadien in den beiden Studien zusammen.
Über die Gründe, warum die Therapiegruppe die
Mortalität der unbehandelten Kontrollgruppe erreicht, kann nur spekuliert werden. So können zu Beginn der Chemotherapie die nicht entdeckten Mikrometastasen so klein sein, dass sie erst nach vier bis
fünf Jahren eine bedrohliche Größe erreichen. Die
Daten der Tumorverdopplungszeiten würde diese
Hypothese stützen (12, 13). Weiterhin sind Spätfolgen der Chemotherapie – insbesondere kardiovaskuläre und renale – ein möglicher Grund sowie auch die
Begünstigung von Zweitkarzinomen (14, 15). Da in
den Langzeitstudien die nicht-tumorbedingte Mortalität mehr zunimmt als die tumorbedingte, scheinen
beide Faktoren eine Rolle zu spielen.
Da auch die geheilten Patienten eine adjuvante
Chemotherapie erhalten, sterben ebenfalls etwa 0,5
bis ein Prozent an deren Nebenwirkungen. In der
Güterabwägung müsste also das Mortalitätsrisiko
der Geheilten dem der Nichtgeheilten gegenübergestellt werden. Da durch die adjuvante Chemotherapie
im Langzeitverlauf zumindest beim NSCLC vermutlich kein Patient oder bestenfalls nur ganz wenige geheilt werden, „opfern“ Gesunde ihr Leben, damit eine kleinere Gruppe der nicht-Geheilten passager einige Monate länger leben.
Bei über 90 Prozent hat die adjuvante Chemotherapie sowieso keinen Effekt, denn die Patienten sterben an dem Tumor oder sind primär geheilt. Allerdings haben natürlich alle Behandelten die Nebenwirkungen und gegebenenfalls auftretende Spätfolgen der Chemotherapie zu erdulden.
Fazit: Im Prinzip müsste man wegen der erwähnten methodischen Fehler die adjuvante Chemotherapie beim NCSLC einstellen bis neue, qualitativ besse▄
re Studienergebnisse vorliegen.
DOI: 10.3238/PersPneumo.2016.06.17.02
Prof. Dr. med. Dipl.-Ing. Dieter Köhler
Krankenhaus Kloster Grafschaft, Pneumologie, Schmallenberg
Interessenkonflikt: Der Autor erklärt, dass keine Interessenkonflikte
vorliegen.
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Literatur im Internet:
www.aerzteblatt.de/2416
Perspektiven der Pneumologie und Allergologie 2/2016 | Deutsches Ärzteblatt
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Die Begleittherapie des nicht-kleinzelligen Lungenkarzinoms basiert nach Ansicht
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Perspektiven der Pneumologie und Allergologie 2/2016 | Deutsches Ärzteblatt
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