Musikphysiologie und Musikermedizin 2007, 14. Jg., Nr. 2 & 3 51 Hörbelastung und Gehörschutz bei Orchestermusikern B. Richter, M. Zander und C. Spahn, Freiburg Zusammenfassung Die Beschäftigung mit dem Thema Gehörschutz für Musiker ist aktuell und notwendig, da die neue EG-Arbeitsschutzrichtlinie „Lärm“ 2003/10/EG seit März 2007 in die Lärm- und Vibrations-Arbeitschutzverordnung umgesetzt ist und die Übergangsfrist für den Musiksektor am 15.02.2008 ausläuft. Im Auftrag des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales führten wir eine Untersuchung bei 429 Orchestermusikern aus 9 professionellen Orchestern in Deutschland durch mit dem Ziel, den aktuellen Stand der Information und Praxis zum Thema Hörgefährdung und Gehörschutz in deutschen Orchestern zu erheben. Als wichtigste Konsequenz unserer Untersuchung wurde deutlich, dass bei den Orchestermusikern ein großer Informationsbedarf besteht, der qualifiziert gestillt werden muss. Eine sinnvolle Handhabung der Lärmschutzrichtlinie ist u.E. nur im gemeinsamen Engagement von Dirigenten, Verwaltung und Orchestermusikern möglich. Jede Seite sollte ihren Part hierbei übernehmen. Schlüsselwörter Gehörschutz, Orchestermusiker, Hörbelastung, Lärmschutzverordnung, Höruntersuchung Summary The present study is an investigation commissioned by the Federal Ministry of Labour and Welfare, conceived as accompanying research for the instrumentalisation of the EC guidelines for occupational health and safety regarding “Noise” (2003/10/EC). It is not clear how familiar the various insertable models of hearing protectors are to orchestral musicians and to what degree they are employed. By means of the distribution of a questionnaire among 429 orchestral musicians, quantitative information on hearing protection and hearing was obtained in 9 orchestras in Germany. Hearing protectors were relatively seldom used by or1 chestral musicians. At orchestral rehearsals, /6 of the test persons at most used Type 1 (individually fitted) hearing protectors; although more than 80% of the persons responding to the questionnaire indicated that they knew about them. A gap was discovered between the wearing aspects that seemed most important to the musicians and the wearing aspects that they felt had been best put into practice. The subject of hearing protection in the orchestra should be investigated with a multidimensional approach in which both the legal regulations and the peculiarities, requirements and limits of the music sector and the musicians involved are taken into account in equal measure. Keywords Hearing disorder, orchestra musicians, hearing protection, hearing testing Einleitung Das Ohr ist ein Sinnesorgan, das uns fasziniert und welches wir trotz moderner physiologischer Untersuchungsmethoden immer noch nicht vollständig in all seinen Funktionsmechanismen verstanden haben. Bekannt sind hingegen die wesentlichen Eigenschaften des Ohres: es schläft niemals und ist immer auf Empfang gestellt. In der Urzeit, als die Menschen noch im Urwald lebten, hatte es eine wichtige Wächterfunktion: Signale, die über das Ohr empfangen wurden, konnten sowohl vor Gefahren, wie z.B. wilden Tieren, warnen, als auch bei Jagd auf Beutetiere behilflich sein. Beide Schallereignisse, sowohl die Geräusche, die von wilden Tieren erzeugt wurden, als auch das Rascheln eines Beutetiers im Unterholz waren leise akustische Ereignisse. Demzufolge entwickelte das Ohr phylogenetisch seine höchste Empfindlichkeit im leisen Bereich. Da es in der Natur genuin keine lauten Geräusche gibt, die evolutionär von Belang waren, entwickelte das Ohr keine Schutzmechanismen vor lauten Schalldruckereignissen. Der Schalldruck, der bei einem normalen zwischenmenschlichen Gespräch ans Trommelfell dringt, beträgt nur gerade ein Millionstel des statischen Luftdrucks. Daran zeigt sich die außerordentliche Empfindlichkeit des Gehörs. Eine Pegelerhöhung um 3 dB entspricht bereits einer Verdoppelung der Schallenergie, eine Pegelerhöhung um 10 dB der Verdopplung der subjektiven Lautheitsempfindung. Von Natur aus ist das Gehör bei tiefen Tönen etwas weniger empfindlich als bei hohen. 52 B. Richter et al. – Hörbelastung und Gehörschutz bei Musikern Bei Schallmessungen verwendet man deshalb das Filter "A", das tiefe Frequenzen abschwächt. Diese Messwerte werden dann in dB(A) angegeben. Das Problem, dass eine Exposition von zu hohen Schalldruckpegeln zu einer Schwerhörigkeit führen kann, ist seit langem bekannt: Dauerbelastungen von mehr als 85 dB(A) können bleibende Gehörschäden verursachen. Betroffen ist das Innenohr, wo lärminduziert die hochempfindlichen Haarzellen absterben können – zuerst bei hohen Frequenzen um 4kHz und später auch im Hauptsprachbereich. Damit verbunden ist eine Einbuße an Differenzierungsvermögen. Ebenso häufig tritt nach Überlastungen ein Ohrgeräusch (Tinnitus) auf. Bereits im 19. Jahrhundert befasste sich eine Vielzahl von Autoren mit der Lärmschwerhörigkeit und differenzierte hierbei vorwiegend zwischen durch Knalltraumen (Gewehr) erzeugtem Lärm und Hörverlust infolge langjähriger Arbeit, z.B. bei Kesselschmieden und Schlossern. Schon 1929 erfolgte die Aufnahme der „durch Lärm verursachten Taubheit oder an Taubheit grenzenden Schwerhörigkeit“ in die Liste der Berufskrankheiten (aktuell BK Nr. 2301 der Berufskrankheiten-Liste). Seit mehr als 20 Jahren ist die Lärmschwerhörigkeit in der Jahresstatistik die häufigste als entschädigungspflichtig anerkannte Berufskrankheit. Leq Leq 90.3 111.0 91.6 Leq Lmax 110.4 Trompete Lmax Kleine Trommel Leq Lmax Piccolo Leq 93.3 112.5 Lmax Violine I 92.8 108.0 85.8 Lmax 103.5 Kontrabaß Leq Leq 88.8 Lmax 108.6 Posaune 86.2 Lmax 100.9 Bratsche Leq Lmax Dirigent Leq Lmax 84.2 99.0 Cello 82.9 99.4 alle Zahlenwerte in dB(A) Abb. 1: Schalldruckpegel in einem Musikhochschulorchester gemessen während einer Probe (Messdauer ca. 1 Stunde) Schalldruckpegelexposition In den 60-er Jahren des 20ten Jahrhunderts gab es erste Studien über die Gehörgefährdung bei Musikern durch ihr Instrument (5, 3) Bezüglich der Exposition konnte in aktuellen Studien gezeigt werden, dass die Schalldruckpegel in den professionellen klassischen Symphonieorchestern schon für die Einzelinstrumente über den unteren und oberen Auslösewerten liegen [80 dB(A) bzw. 85 dB (A)] und in der Gruppe den Expositionsgrenzwert von 87 dB(A) überschreiten (2, 13, 6). Auch während der Musikhochschulausbildung konnten Messungen unserer Arbeitsgruppe während einer einstündigen Probe mit großer Orchesterbesetzung und romantischem Repertoire diese Werte bestätigen (Abb. 1). Die Messungen erfolgten in Zusammenarbeit mit der SUVA, Luzern, mit Mikrophonen ohrnah, so dass die tatsächliche Schallbelastung des Ohres ermittelt werden konnte (Abb. 2). Abb.2: Ohrnahe Platzierung des Mikrophons zur Schalldruckpegelmessung Die Messwerte überschritten an sieben von neun Messpunkten deutlich den Wert von 85 dB(A). Nur der Dirigent [82.9 dB(A)] und das Cello am ersten Pult [84.2 dB(A)] blieben unterhalb dieses Wertes. Wenn die Musiker diese Belastung an 5 Tagen die Woche über 8 Stunden hätten, dann wäre die obere Auslöseschwelle also für die Mehrzahl der Musiker überschritten. Im Hinblick auf die Gesamtbelastung von Musikern sind die systematischen Untersuchungen der SUVA, die auch die individuellen Übezeiten der Musiker mit berücksichtigen und die über das Internet in Tabellenform leicht zugänglich sind, als Referenzwerte besonders aussagekräftig (www.suva.ch/waswo/86496). Musikphysiologie und Musikermedizin 2007, 14. Jg., Nr. 2 & 3 Relevanz für Musiker Das Problem der Lärmexposition für Musiker ist im Moment hochaktuell, da die EGArbeitsschutzrichtlinie „Lärm“ 2003/10/EG neu eingeführt wurde. Diese bezieht sich ausdrücklich auch auf Beschäftigte des Musik- und Unterhaltungssektors und fordert u.a. die Einhaltung eines Expositionsgrenzwertes unter Berücksichtigung der dämmenden Wirkung eines Gehörschutzes. Sie wurde in Deutschland im März 2007 in die Lärm- und VibrationsArbeitschutzverordnung umgesetzt (Bundesgesetzblatt Teil I, 2007, Nr. 8, ausgegeben zu Bonn am 8. März 2007; www.bundesgesetzblatt.de). Damit hat sie für alle Musiker, die bei einem öffentlichen Arbeitgeber beschäftigt sind, Gültigkeit und sollte im Alltag aller Musiker Berücksichtigung finden. Das Problem der Lärmexposition ist für Musiker nicht nur qualitativ, sondern auch quantitativ bedeutsam, wenn man sich die Strukturdaten zur Situation der Musiker in Deutschland vor Augen führt, da in Deutschland insgesamt rund 8 Millionen Menschen in einer musikalischen Formation spielen oder singen, davon 2,8 Millionen Kinder und Jugendliche. Weniger eindeutig als bei der Schalldruckpegelexposition ist die Studienlage hinsichtlich der tatsächlich anhand von audiometrischen Untersuchungen durch Musik induzierten und nachgewiesenen Schäden. Hier steht einer Reihe von Studien, die eine musikinduzierte Lärmschwerhörigkeit bei klassischen Orchestermusikern bejahen, eine ebenso gewichtige Evidenz entgegen, die eine solche Lärmschädigung verneinen (vgl. Reviews bei 10, 1). Interessanterweise wurden von einigen Autoren in neueren Studien geringere Schäden gefunden, als es nach ISO 1999 und 7029 zu erwarten gewesen wäre (11, 7, 8). Wenig erforscht sind bisher auch Faktoren, welche zur Gehörprotektion beitragen können. Wichtig erscheint hierbei die eigene emotionale Einstellung zu den aufgeführten Musikstücken: Bei Musikern, welche die Musik, die sie aufführen, mit einer positiven affektiven Kopplung versehen können, scheint bei gleicher Belastung das Ausmaß von Gehörschäden geringer zu sein (9, 12). Ein mögliches anatomisch/physiologisches Korrelat für die Fähigkeiten der Musiker, ihr Gehör mehr als Nichtmusiker schützen zu können, ist möglicherweise in der unterschiedlichen Ausprägung efferenter nervaler Supressionsmechanismen, die sich auf die Funktion der äußeren Haarzellen moderierend auswirken, zu suchen (4). 53 Untersuchung zum Thema Gehörschutz im Orchester Fragestellung und Methodik Im Auftrag des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales führten wir eine Untersuchung bei 429 Orchestermusikern aus 9 professionellen Orchestern in Deutschland durch mit dem Ziel, den aktuellen Stand der Information und Praxis zum Thema Hörgefährdung und Gehörschutz in deutschen Orchestern zu erheben. Um ein möglichst differenziertes Meinungsbild zu erhalten, haben wir die schriftliche Befragung der Musiker mittels Fragebogen durch Interviews ergänzt. Diese wurden mit Vertretern der administrativen und künstlerischen Leitung sowie mit den Orchestervorständen der teilnehmenden Orchester geführt. Im einzelnen wurde im Fragebogen erfasst, was die Musiker über Schallbelastung und Gefährdung des Gehörs wissen, ob sie die verschiedenen auf dem Markt erhältlichen individuellen Gehörschutzmittel kennen und ob sie diese im Alltag bisher auch schon anwenden, ob der Themenkomplex Lautstärke, Gehörbelastung und Gehörschutz im Orchester eine Rolle spielt und ob die Musiker sich selbst Sorgen um ihr Gehör machen. Bei den Interviews wurden zusätzlich die Themenkomplexe: Lautstärkeempfinden, wer bestimmt die Lautstärke im Orchester und Lärmschutz im Orchester für die Zukunft mit aufgenommen. Die Musiker wurden zu den derzeit existierenden Formen von individuellem Gehörschutz befragt. Diese lassen sich wie folgt beschreiben: 1. Individuell an den Gehörgang jedes einzelnen angepasste Gehörschutzstöpsel, die durch eine lineare Filterwirkung gekennzeichnet sind. Diese Stöpsel sind sowohl von ihrer dämmenden – und damit schützenden – Wirkung und ihrem Frequenzgang, als auch von der Passform als für Musiker am ehesten geeignet anzusehen; 2. vorgefertigte Schallschutzstöpsel, die mit einem Filter ausgestattet sind, der die hohen und die tiefen Frequenzen möglichst gleichmäßig (linear) dämpft; 3. industriell hergestellte Schaumstoffstöpsel, welche zwar den Gehörgang gut abdichten, aber den Klang verzerren, da sie einen nicht linearen Frequenzgang aufweisen und vor allem die hohen Frequenzen dämpfen; 54 B. Richter et al. – Hörbelastung und Gehörschutz bei Musikern 4. selbst gebaute Stöpsel die z.B. aus Watte oder Papier bestehen. Diese Schutzmaßnahmen können zwar eine Erleichterung der subjektiven Belastung bringen, sie dichten den Gehörgang jedoch nicht sicher ab und verzerren ebenfalls den Klang, indem die hohen Frequenzen stärker gedämpft werden als die tieferen. Sie können nur als Notlösung angesehen werden. Einen Überblick über die unterschiedlichen Typen gibt Tabelle 1. TYP 1: Individuell angepasste Gehörschutzmittel (Otoplasten) (z.B. „Elacin ER-9“, „ER-15“ „Jrenum“) TYP 2: Vorgeformte Gehörschutzstöpsel mit Filter für Musik (z.B. „Ultratech“, „Musicsafe“, „Earsafe“) TYP 3: Industrielle Gehörschutzstöpsel entweder vorgeformt aus Plastik oder aus Dehnschaumstoff (z.B. „Ultrafit“, „ 3M“, „EAR Classic“ oder „Ohropax“) TYP 4: Improvisierte Gehörschutzmittel: (Notlösungen) Watte, Zigarettenfilter, Papiertaschentücher, u.s.w. Tab. 1: Aktuell gebräuchliche Arten von individuellem Gehörschutz Ergebnisse Die verschiedenen Gehörschutzmodelle sind unter Orchestermusikern recht gut bekannt. Den individuell angepassten Gehörschutz (Typ 1) kennen etwa 3/4 der befragten Musiker, auch der industriell gefertigte (Typ 3) und der improvisierte Gehörschutz (Typ 4) erreichen vergleichbare Werte. Nur der lineare Gehörschutz, der nicht individuell angepasst ist (Typ 2), ist weniger als der Hälfte der Musiker bekannt. Persönliche Erfahrungen mit der Verwendung der verschiedenen Typen haben weniger als die Hälfte der Befragten. Tatsächlich wird Gehörschutz – und zwar in den Situationen Üben, Proben und Auftritt zusammen genommen – aktuell nur maximal von etwa einem Sechstel der Befragten verwendet. Am häufigsten (15,6%) kommt dabei der Typ 1 in der Probensituation zum Einsatz (vgl. Tab. 2). Gehörschutz Typ 1 Typ 2 Typ 3 Typ 4 Anwendung (Angaben in %) Situation sehr häufig ab häufig und zu Üben: 3,3 1,4 1,9 Proben: 5,1 3,3 7,2 Auftritt: 4,9 2,3 4,4 Üben: 0,2 0,0 0,7 Proben: 0,9 1,4 1,2 Auftritt: 0,7 1,4 1,2 Üben: 0,2 0,0 1,9 Proben: 0,7 2,1 6,8 Auftritt: 0,7 1,6 5,6 Üben: 0,9 0,5 0,9 Proben: 1,9 1,2 6,8 Auftritt: 1,6 0,9 3,0 Tab. 2: Anwendung der vier verschiedenen Typen von individuellem Gehörschutz in drei unterschiedlichen Situationen (Stichprobe 429 Orchestermusiker) Die Tatsache, dass individueller Gehörschutz recht selten tatsächlich angewendet wird, erscheint umso bemerkenswerter, da gleichzeitig etwa 2/3 der Befragten angaben, sich zumindest ab und zu (bzw. oft oder ständig) Sorgen darüber zu machen, dass ihr Gehör durch die Arbeit im Orchester Schaden nehmen könnte. Nahezu die Hälfte der Befragten gab sogar an, dass sie befürchten, dass ihr Gehör im Rahmen ihrer beruflichen Tätigkeit einmal so belastet werden könnte, dass sie ihren Beruf nicht mehr ausüben können. Es wird demnach ein Widerspruch zwischen Informationsstand, Musikphysiologie und Musikermedizin 2007, 14. Jg., Nr. 2 & 3 eigener Erfahrung und konkreter Anwendung von individuellen Gehörschutzmitteln und den Sorgen und Befürchtungen der Musiker deutlich. Bei der Bewertung der aktuell zur Verfügung stehenden individuellen Gehörschutzmittel zeigte sich als beste Note ein „Befriedigend“ (Schulnote „3“ für den Typ 1). Abb. 3: Individuell angepasste Gehörschutzmittel (Otoplasten, hier Elacin) Die Musiker wurden gebeten einzuschätzen, welche Aspekte ihnen beim Tragen eines Gehörschutzes besonders wichtig erscheinen. Am Wichtigsten waren dabei aus Sicht der Musiker die klanglichen und musikalischen Aspekte, die jedoch durch den bestehenden Gehörschutz bisher nicht ideal umgesetzt werden. Besonders wurde von den Musikern noch bemängelt, dass durch den Gehörschutz das Klangbild des eigenen und der übrigen Instrumente verfälscht und das Zusammenspiel im Orchester behindert werde. Zudem wird besonders bei Bläsern über den sog. „Okklusionseffekt“, d.h. einer störend verstärkten Wahrnehmung des über den Kochen geleiteten Schalls, geklagt. Bei den Interviews wurden die Angaben der Fragebögen weitestgehend bestätigt, es zeigten sich hier zum Teil erhebliche Wissensdefizite bezüglich der Grenzwerte. Auch hinsichtlich der sonstigen Maßnahmen, wie z.B. der Notwendigkeit regelmäßige Hörtests durchzuführen, war der Wissensstand sehr heterogen. Alle Befragten waren sich darin einig, dass das Thema Gehörschutz im Orchester relevant ist, dass jedoch die künstlerische Freiheit durch entsprechende Gehörschutzmaßnahmen nicht eingeschränkt werden dürfe. 55 Diskussion Die Verwendung von Gehörschutz im Orchester hat mit einer Reihe von Schwierigkeiten zu kämpfen, die überwunden werden müssen, um Gehörschutz im Orchester im Sinne der gefährdeten Musiker zu ermöglichen. Zunächst ist zu konstatieren, dass die technische Ausführung von individuellen Gehörschutzmitteln derzeit noch nicht in allen Belangen den spezifischen Anforderungen der Orchestermusiker entspricht. Dies ist sicherlich ein Hauptgrund, warum Gehörschutz bisher noch vergleichsweise selten tatsächlich angewendet wird. Die technische Weiterentwicklung – insbesondere auch hinsichtlich einer Verminderung bzw. Aufhebung des Okklusionseffektes – wird allerdings voraussichtlich noch mehrere Jahre in Anspruch nehmen, so dass hierauf nicht gewartet werden kann, sondern der Schutz des Gehörs mit den derzeit vorhandenen Mitteln realisiert werden sollte. Besonders erschwerend ist die Tatsache, dass beim Orchestermusiker – im Unterschied zu anderen Berufsgruppen, bei denen gehörgefährdende Lärmbelastungen als unerwünschte Nebenerscheinung bei der Erarbeitung des eigentlichen Produktes auftreten – das gemeinsam produzierte Klangergebnis gleichzeitig die Quelle der gesundheitsgefährdenden Schallbelastung ist. Da die höchsten Schallpegel für das Ohr vom eigenen Instrument herrühren, entsteht die eigenartige Situation, dass sich der Musiker vor seinem selbst erzeugten Schall schützen muss. Hinzu kommt noch, dass die gemeinsame Klangproduktion eines Orchesters eine intensive Kommunikation mit dem Dirigenten und untereinander erfordert und dass Gehörschutz diese notwendige Kommunikation – real oder psychologisch– behindern kann. So darf angewandter Gehörschutz einerseits nicht die künstlerische Produktion negativ beeinflussen, andererseits darf aber auch nicht hingenommen werden, dass der Orchestermusiker durch seine Berufsausübung dem gesundheitlichen Risiko einer Gehörschädigung ausgesetzt ist, welche eine schwerwiegende Beeinträchtigung seiner Berufsausübung sowie seiner persönlichen Lebensqualität darstellt. Bzgl. der Schallbelastung bestehen zwischen den verschiedenen Instrumentengruppen zwar Unterschiede in der Schallexposition, und demnach dem Tageslärmexpositionspegel, ein Wert von 85 Dezibel wird jedoch für alle Orchestermusiker im Orchester überschritten. Im Unterschied hierzu sind Dirigenten geringeren Expositionspegeln ausgesetzt und sie sind aufgrund ihrer Position zudem in der Lage, die Lautstärke in einem für sie unbedenklichen Bereich zu halten. Orchester und Dirigent sind 56 B. Richter et al. – Hörbelastung und Gehörschutz bei Musikern also nicht in gleicher Weise unmittelbar hörgefährdet, so dass der Dirigent sich aktiv in die Situation der Orchestermusiker hineinversetzen muss, um seinen Beitrag zum Schutz des Gehörs zu leisten. Insgesamt zeigte sich in den Einstellungen von Orchestermusikern, Dirigenten und Administration in unserer Untersuchung, dass das Thema als wichtig angesehen wird. Als Gemeinsamkeit zwischen Orchestermusikern, Dirigenten und Administration fand sich jedoch in unserer Untersuchung eine weit verbreitete Uninformiertheit zum Inhalt der EG-Richtlinie und des Themas Gehörschutz im Orchester. Neben der Uninformiertheit und Unsicherheit bestand teilweise auch ein undifferenzierter und fehlerhafter Kenntnisstand. Diese Tatsache muss nicht allzu sehr verwundern, zumal Orchestermusiker im Studium bis vor einigen Jahren nicht über das Thema Gehörschutz aufgeklärt wurden. Insgesamt bestand bei allen befragten Berufsgruppen die Tendenz, die Verantwortung zur konkreten Realisierung von Gehörschutzmaßnahmen an den jeweilig anderen abzugeben. Dies ist für den konstruktiven Umgang mit dem Thema sicherlich bisher ungünstig und blockiert aktives Handeln. Abb. 4b: Stöpsel beim Einsatz im Orchester (hier Earsafe). Empfehlungen zur Handhabung von Gehörschutz Als wichtige erste Maßnahme schlagen wir auf Grund unserer Untersuchungsergebnisse eine Verbesserung des Informationsstandes durch Aufklärungsveranstaltungen vor. Zur Diskussion der Umsetzung von Gehörschutzmaßnahmen in den einzelnen Orchestern sollten jedem Musiker und auch den Vertretern der administrativen und künstlerischen Leitung die zugrunde liegenden Fakten in gleicher Weise bekannt sein. Dies kann insbesondere auch zu einer Versachlichung im Umgang mit dem Thema Gehörschutz beitragen. Abb. 4a: vorgeformte Gehörschutzmittel mit linearem Filter (Stöpsel mit Halteband) Als weitere Voraussetzung zur sinnvollen Realisierung von Gehörschutzmaßnahmen halten wir es für unabdingbar, dass Dirigenten, Verwaltung und Orchestermusiker selber den Schutz ihres Gehörs als eine gemeinsame Sache begreifen und jede Seite ihren Beitrag hierzu liefert. Im Folgenden werden Empfehlungen gegeben, welche Beiträge von der jeweiligen Seite aus geleistet werden können. Auf die Möglichkeiten für die Orchestermusiker wird besonders ausführlich eingegangen. Musikphysiologie und Musikermedizin 2007, 14. Jg., Nr. 2 & 3 Verwaltung Von Seiten der Administration sollten sowohl individuelle Gehörschutzmittel zur Verfügung gestellt werden als auch die Arbeitsbedingungen möglichst positiv gestaltet werden. Letzteres betrifft insbesondere die raumakustischen Eigenschaften von Orchesterproberäumen und Aufführungsstätten, sowie die Berücksichtigung von Gehörbelastungen und notwendiger Ruhephasen bei der Erstellung von Probe- und Spielplänen. Von administrativer Seite sollten Einhaltung und Umsetzung der in der neuen Verordnung zum Schutz der Beschäftigten festgelegten regelmäßigen arbeitsmedizinischen Vorsorgeuntersuchungen des Gehörs überwacht werden. Dirigenten Dirigenten sollten sich – obwohl sie persönlich in geringerem Maße betroffen sind – für die Gesundheit ihrer Orchestermusiker mitverantwortlich fühlen. Hierzu gehört auch, Orchestermitglieder bei gegebenem Anlass auf eine Gehörgefährdung hinzuweisen und zum Einsatz individuellen Gehörschutzes aufzufordern. Zwar bringt die Umgestaltung der Sitzordnung im Orchester keine relevante Reduzierung der Gesamt-Schallbelastung, eine Rotation der Orchestermitglieder an den besonders schallexponierten Positionen kann aus psychologischen Gründen in der Gruppe allerdings sehr sinnvoll sein. Der Dirigent sollte seine Leitungsfunktion auch dafür einsetzen, den allgemeinen Lautstärkelevel in einem den Situationen, Proben und Aufführungen sinnvollen Bereich zu regulieren. Orchestermusiker Es wäre wünschenswert, dass Orchestermusiker Richtlinien und Empfehlungen zum Gehörschutz als Fürsorge für ihre Gesundheit auffassen. Hierfür ist ein gutes Vertrauensverhältnis mit Verwaltung und Dirigenten sowie insbesondere mit den zuständigen Betriebsärzten wichtig. Wir empfehlen jedem Orchestermusiker die vorgeschriebenen betriebsärztlichen Untersuchungen zum Hörscreening tatsächlich wahrzunehmen und diese Untersuchungen nicht als negative Überwachung seitens des Arbeitgebers, sondern als notwendige Kontrolle zum eigenen Nutzen wahrzunehmen. Hier scheinen noch viele vertrauensbildende Veranstaltungen erforderlich. Besonders wichtig ist eine Dokumentation der Hörleistung zu Beginn der Berufstätigkeit, d.h. vor beruflich bedingter Schallexposition, da im Falle eines späteren Gehörschadens zur gutachterlichen Anerkennung einer Berufskrankheit Lärmschwerhörigkeit auf diese Befunde zurückgegriffen werden sollte. Gleichzeitig sollte neben der audiometrischen Untersuchung eine ausführliche Besprechung der Hörbefunde 57 sowie eine individuelle Beratung zum Gehörschutz durch den Betriebsarzt erfolgen. Für weitere Informationen und Beratung ist es bei Bedarf auch möglich, sich an eine musikermedizinische Einrichtung zu wenden. Die Handhabung des individuellen Gehörschutzes erfordert vor allem auch Geduld und die Bereitschaft, sich an das Tragen dieses Gehörschutzes über einen längeren Zeitraum zu gewöhnen. In unserer Untersuchung waren diejenigen Musiker zufrieden mit ihrem Gehörschutz, welche die Anwendung über ein bis mehrere Jahre erprobt und für ihre individuellen Bedürfnisse angepasst hatten. Gerade in der Anfangsphase der Anwendung kann es zu Irritationen kommen, da der gewohnte Höreindruck verfälscht ist. Aus Einzelberichten von Orchestermusikern erweist es sich als praktikabel, den Einsatz von Gehörschutzmitteln in der Partitur zu vermerken und in den musikalischen Ablauf einzufügen. Besonders wünschenswert wäre es, wenn das Thema Gehör und Gehörschutz bereits in der Hochschulausbildung von angehenden Orchestermusikern verankert werden könnte, da im geschützten Rahmen der Hochschulausbildung eine Gewöhnung an den Gehörschutz und eine Enttabuisierung des Themas noch leichter zu bewerkstelligen ist als im Berufsleben. Das Thema Gehörschutz und die notwendigen Informationen sollten hierzu in das Curriculum des mittlerweile an der Mehrzahl der deutschen Musikhochschulen angebotenen Faches Musikermedizin integriert werden. Eine ausführliche Darstellung der Ergebnisse der Untersuchung sowie wichtige Informationen zum Thema Gehörschutz im Orchester werden als Buch in der Schriftenreihe des Freiburger Instituts für Musikermedizin („Freiburger Beiträge zur Musikermedizin“ Hsg. C. Spahn, Projekt-Verlag, ISBN 978-3-89733175-4) erscheinen. Informationen erhalten Sie auch unter der Internet-Adresse www.mhfreiburg.de/fim. 58 B. 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