Kinder und Jugendliche als Zeugen häuslicher

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Bachelorarbeit
Kinder und Jugendliche
als Zeugen häuslicher Gewalt
Lisa Geppert
Kurs 2011 F
Matrikelnummer 2304966
Betreuer Prof. Dr. Moch
Studiengang Erziehungshilfen
Bearbeitungszeitraum 06. Januar - 31. März 2014
Abgabedatum 26. März 2014
Inhaltsverzeichnis
Inhaltsverzeichnis ............................................................................................................................... 1
Einleitung............................................................................................................................................ 4
Häusliche Gewalt ................................................................................................................................ 5
Definition „Kinder und Jugendliche“ .............................................................................................. 5
Definition Gewalt ........................................................................................................................... 5
Definition „Häusliche Gewalt“........................................................................................................ 7
Formen häuslicher Gewalt ............................................................................................................. 8
Prävalenz ........................................................................................................................................ 9
Frauen......................................................................................................................................... 9
Männer ..................................................................................................................................... 13
Kinder ....................................................................................................................................... 13
Miterleben häuslicher Gewalt .......................................................................................................... 15
Formen der Betroffenheit ............................................................................................................ 15
Zeugung durch Vergewaltigung ............................................................................................... 15
Gewalt in der Schwangerschaft ................................................................................................ 16
Direkte Betroffenheit ............................................................................................................... 16
Aufwachsen in einer gewaltbelasteten Atmosphäre ............................................................... 17
Das Erleben der Kinder und Jugendlichen.................................................................................... 17
Direktes Erleben ....................................................................................................................... 17
Physische Reaktionen ............................................................................................................... 18
Befindlichkeit ............................................................................................................................ 19
Wirkfaktoren ............................................................................................................................ 20
Auswirkungen auf die Kinder und Jugendlichen .......................................................................... 21
Wirkfaktoren ............................................................................................................................ 21
Auswirkungen auf das Verhalten ............................................................................................. 21
Auswirkungen auf die kognitive und soziale Entwicklung........................................................ 22
Auswirkungen auf das Bindungsverhalten ............................................................................... 23
Auswirkungen in Form von Traumatisierung ........................................................................... 24
Geschlechtsspezifische Auswirkungen ..................................................................................... 26
Resilienz .................................................................................................................................... 27
Vermittlungswege ........................................................................................................................ 27
1
Vermittlung über weitere Belastungsfaktoren ........................................................................ 28
Vermittlung über geteilte genetische Merkmale ..................................................................... 28
Vermittlung über biologische Mechanismen ........................................................................... 29
Vermittlung über die eingeschränkte Erziehungsfähigkeit des Gewalttäters.......................... 29
Vermittlung über die eingeschränkte Erziehungsfähigkeit des Opfers .................................... 29
Vermittlung durch die direkte innerpsychische Verarbeitung des Miterlebens ...................... 30
Sonderfall: Tötungsdelikt ............................................................................................................. 30
Fallbeispiel Katja ............................................................................................................................... 33
Herkunft ....................................................................................................................................... 33
Katjas Kindheit .............................................................................................................................. 34
Katjas Leben bis zur Aufnahme in die Traumagruppe ................................................................. 35
Katjas Leben auf der Wohngruppe............................................................................................... 37
Transfer ........................................................................................................................................ 40
Kindesmisshandlung ......................................................................................................................... 43
Definition und Formen von Kindesmisshandlung ........................................................................ 43
Körperliche Misshandlung ........................................................................................................ 43
Vernachlässigung...................................................................................................................... 43
Sexueller Missbrauch ............................................................................................................... 44
Seelische Misshandlung ........................................................................................................... 44
Prävalenz .................................................................................................................................. 44
Auswirkungen ............................................................................................................................... 45
Verhaltensauffälligkeiten nach Entwicklungsstand.................................................................. 46
Kurzzeitfolgen ........................................................................................................................... 47
Langzeitfolgen .......................................................................................................................... 48
Erklärungskonzepte ...................................................................................................................... 49
Traumatheorie.......................................................................................................................... 49
Psychobiologisches Stressmodell ............................................................................................. 49
Erweitertes Prozessmodell ....................................................................................................... 50
Genetische Faktoren ................................................................................................................ 52
Miterleben häuslicher Gewalt und Kindesmisshandlung................................................................. 54
Begrifflichkeiten ........................................................................................................................... 54
Formen ......................................................................................................................................... 54
Prävalenz ...................................................................................................................................... 54
2
Auswirkungen ............................................................................................................................... 55
Vermittlung .................................................................................................................................. 55
Bedeutung für die Soziale Arbeit...................................................................................................... 58
Interinstitutionelle und –disziplinäre Kooperation ...................................................................... 58
Rahmenbedingungen einer gelingenden Kooperation ............................................................ 58
Kooperationspartner Frauenschutz und Frauenhaus .............................................................. 59
Kooperation mit Familiengerichten ......................................................................................... 60
Kooperation bei polizeilicher Intervention .............................................................................. 60
Kooperation mit ÄrztInnen....................................................................................................... 61
Jugendhilfe und häusliche Gewalt................................................................................................ 61
Aufgaben der Jugendhilfe ........................................................................................................ 61
Bedürfnisse betroffener Kinder und Jugendlicher ................................................................... 62
Hilfen zur Erziehung gegen häusliche Gewalt .......................................................................... 64
Modellprojekte ............................................................................................................................. 65
Beispiel BIG e.V......................................................................................................................... 65
„Kinder als Zeugen und Opfer häuslicher Gewalt“................................................................... 67
Inanspruchnahme von Präventions- und Interventionsmaßnahmen .......................................... 68
Fazit .................................................................................................................................................. 70
Kritische Anmerkungen ................................................................................................................ 71
Ausblick ........................................................................................................................................ 72
Literaturverzeichnis .......................................................................................................................... 76
Abbildungsverzeichnis ...................................................................................................................... 84
Erklärung zur selbstständigen Erarbeitung ...................................................................................... 85
3
Einleitung
Eine Studie des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ergab im
Jahr 2004, dass jede vierte Frau in Deutschland schon einmal Gewalt durch einen
Beziehungspartner erlebt hat. In mehr als der Hälfte der Fälle lebten die Kinder der
betroffenen Frauen im selben Haushalt. Dass Kinder und Jugendliche ebenfalls Beteiligte
in Fällen von häuslicher Gewalt sein können, wird oftmals vergessen. Im Fokus der
Gesellschaft stehen die Männer als Schläger und die Frauen als Opfer. Aber was ist mit
den
Kindern?
Mit
Gewalt
gegen
Kinder
assoziieren
die
meisten
Menschen
Kindesmisshandlung, sexuellen Missbrauch oder Eltern, die ihre Kinder schlagen. Zu
Kindesmisshandlung,
möglichen
Auswirkungen
sowie
Präventions-
und
Interventionsmöglichkeiten liegen heutzutage vielfach Studien und Literatur vor. Das
Thema des Miterlebens von häuslicher Gewalt hingegen ist, in Deutschland noch weniger
als in den Vereinigten Staaten, kaum erforscht (vgl. DLUGOSCH 2010, S.9). Erst in den
letzten Jahren erschienen vermehrt Studien und andere Literatur zu diesem Thema.
Die vorliegende Arbeit beschäftigt sich mit Kindern und Jugendlichen als Zeugen
häuslicher Gewalt. Welche Auswirkungen kann das Miterleben häuslicher Gewalt auf
betroffene Kinder und Jugendliche haben? Ziel der Arbeit ist herauszufinden, ob das
Erleben häuslicher Gewalt andere Folgen haben kann, als Kindesmisshandlung und welche
Bedeutung die Ergebnisse für die Soziale Arbeit haben können.
Am Anfang werden zum Verständnis verschiedene Begriffsbestimmungen vorgenommen.
Um das Ausmaß von Partnerschaftsgewalt deutlich zu machen, wird die Häufigkeit ihres
Vorkommens beschrieben. Im Anschluss wird beschrieben, inwiefern Kinder und
Jugendliche von häuslicher Gewalt betroffen sein können. Es folgt eine Erörterung der
Erlebnisse und deren mögliche Auswirkungen auf die Betroffenen, sowie Versuche, die
Vermittlung der Auswirkungen zu erklären. Die Erkenntnisse werden an einem
Fallbeispiel aus der Praxis veranschaulicht. Als nächstes werden Aspekte der
Kindesmisshandlung und deren Auswirkungen benannt, anschließend mit dem Miterleben
häuslicher Gewalt verglichen werden zu können. Was das Miterleben häuslicher Gewalt
und die Ergebnisse dieser Arbeit für die Soziale Arbeit, speziell für die Jugendhilfe
bedeuten und was bisher unternommen wurde, wird im vorletzten Kapitel deutlich
gemacht. Defizite des Themas und Entwicklungsmöglichkeiten bilden den Schluss der
Arbeit.
4
Häusliche Gewalt
Definition „Kinder und Jugendliche“
Nach §7 SGB VIII ist ein Kind, wer unter 14 und ein Jugendlicher, wer zwischen 14 und
18 Jahren alt ist. Diese Definition entspricht dem Verständnis der Begriffe in dieser Arbeit.
Anders als in §7 SGB VIII wird in dieser Arbeit der Begriff „junger Mensch“ als Synonym
für Kinder und Jugendliche verwendet.
Definition Gewalt
Um deutlich zu machen, wie der Terminus Gewalt in dieser wissenschaftlichen Arbeit
verwendet wird, soll im Folgenden die Problematik der Definition aufgezeigt werden.
Was ist eigentlich Gewalt? Eine allgemeingültige Definition dieses Begriffs ist nicht
bekannt. Jeder Mensch hat eine eigene Vorstellung darüber, was Gewalt bedeutet und
beinhaltet.
„No definition of violence has ever proved completely successful. Although everyone
‘knows what violence is’ no one has ever been able to define it adequately so that every
possible instance of violent behavior is included within the definition while all the excluded
behavior is clearly nonviolent” (MEGARGEE 1969 in GODENZI 1994, S.34).
Megargees Aussage unterstreicht die Schwierigkeit einer Definition von Gewalt. Obwohl
jeder Mensch zu wissen scheint, was Gewalt ist, kann niemand konkret benennen, was
dieser Begriff beinhaltet. Der Terminus erweckt den Eindruck einer zu großen
Komplexität. SCHWEIKERT sagt sogar, eine Begriffsdefinition sei sowohl unmöglich als
auch sinnlos (vgl. SCHWEIKERT 2011, S.377). Sie ist der Meinung, dass eine Definition von
Gewalt abhängig davon ist, von wem, aus welcher Sichtweise und zu welchem Zweck der
Begriff definiert wird (vgl. SCHWEIKERT 2001, S.377; WHO 2003, S.5). Einig sind sich
diverse Autoren darüber, dass das Verständnis des Gewaltbegriffs abhängig von
Gesellschaft, Politik, Kultur und deren historischem Wandel ist (vgl. HAGEMANNWHITE/LENZ 2011, S.177, SCHWEIKERT 2011, S.377; DLUGOSCH 2010, S.18f; WHO 2003,
S.5). Aber besteht Gewalt ausschließlich darin, andere Menschen körperlich oder seelisch
zu verletzen? Nein, es müssen einzelne Gewaltformen unterschieden werden. IMBUSCH
unterscheidet Gewalt in ihrer Ausführung. Er benennt verschiedene Formen. Die erste ist
die direkte oder individuelle Gewalt. Sie geht von einem Akteur aus und zielt auf
Schädigung und Verletzung von Subjekten ab. Die institutionelle Gewalt findet, wie der
5
Name schon sagt, in und durch Institutionen statt (z.B. Staatsgewalt oder Gewalt, die durch
hierarchische Verhältnisse legitimiert wird). Eine weitere Form stellt die strukturelle
Gewalt durch beispielsweise Diskriminierung, Benachteiligung und Unterdrückung dar.
Über diesen drei Formen von Gewalt steht die kulturelle Gewalt (vgl. IMBUSCH 2002,
S.42).
Wie bereits erwähnt ist es bei einer Begriffsbestimmung ausschlaggebend, wer den Begriff
zu definieren versucht und aus welchen Gründen, beziehungsweise zu welchem Zweck er
dies macht. Im Vorangegangen wird somit deutlich, dass es in der Wissenschaft viele
verschiedenen Definitionen des Terminus gibt. Im Speziellen soll nun geschildert werden,
in welcher Form der Begriff „Gewalt“ für die vorliegende Arbeit verwendet werden wird
und welche Bedeutung ihm zugrunde liegt.
Die folgende Arbeit bezieht sich auf die Gewalt zwischen Personen. In Zusammenhang mit
der Thematik der interpersonellen Gewalt hat sich die WELTGESUNDHEITSORGANISATION
(WHO) die Aufgabe gestellt, eine global anwendbare und zugleich nicht zu eng gefasste
Begriffsbestimmung von Gewalt zu formulieren. Sie kam zu folgender Definition:
„Der absichtliche Gebrauch von angedrohtem oder tatsächlichem körperlichem Zwang
oder physischer Macht gegen die eigene oder eine andere Person, gegen eine Gruppe oder
Gemeinschaft, der entweder konkret oder mit hoher Wahrscheinlichkeit zu Verletzungen,
Tod, psychischen Schäden, Fehlentwicklung oder Deprivation führt.“ (WHO 2003, S.6)
Basierend auf dieser Definition spezifiziert die WHO den Terminus Gewalt noch weiter
und teilt ihn in drei Kategorien: Gewalt gegen die eigene Person, zwischenmenschliche
Gewalt und kollektive Gewalt. Zur Gewalt gegen die eigene Person zählen suizidales
Verhalten sowie Selbstverstümmelung. Eine Art der zwischenmenschlichen Gewalt stellt
Gewalt in der Familie oder zwischen Partnern dar (z.B. Kindesmisshandlung, Gewalt
durch den Partner). Die zweite Art zwischenmenschlicher Gewalt geht von einer
Gemeinschaft aus. Gemeint sind Menschen, die nicht verwandt und sich möglicherweise
nicht mal bekannt sind. Als Beispiele hierfür werden unter anderem Gewalt unter
Jugendlichen oder Gewalt im Umfeld (Schule, Arbeitsplatz etc.) genannt. Der kollektiven
Gewalt liegen politisch, gesellschaftlich oder wirtschaftlich motivierte Absichten zu
Grunde, die von einer Gruppe Menschen durch Gewalt gegenüber einer andere Gruppe
Menschen durchgesetzt werden sollen. Dies kann in bewaffneten Auseinandersetzungen,
Verletzung von Menschenrechten oder Terrorismus enden (vgl. WHO 2003, S.7). Da in
6
der vorliegenden Arbeit speziell die Thematik der „häuslichen Gewalt“ als eine Art
zwischenmenschlicher Gewalt im Fokus stehen wird, wird diese im Folgenden näher
beleuchtet.
Definition „Häusliche Gewalt“
Der Begriff der „häuslichen Gewalt“ ist ebenso vielseitig wie die Definitionsansätze vom
allgemeinen Terminus der Gewalt. Die Definitionen und Synonyme für den Begriff der
„häuslichen Gewalt“ sind ebenfalls je nach Verfasser und Sichtweise verschieden.
In den 1980ern rückte mit der Frauenbewegung das Thema der Gewalt gegen Frauen in
den Fokus der Gesellschaft. Mit den ersten Frauenhäusern kamen Begrifflichkeiten der
„Männergewalt gegen Frauen“ und ähnliche auf. Erst mit der Zeit bewegte man sich weg
vom Denken, dass Gewalt nur von Männern und nur gegen Frauen ausgeübt werde. Heute
werden Ausdrücke wie „häusliche Gewalt“, „Gewalt in Ehe und Partnerschaft“ oder
„Gewalt im sozialen Nahraum“ verwendet. Anders als früher wird nun auch Gewalt gegen
Männer und Kinder thematisiert (vgl. GLOOR/MEIER 2010, S.17). Im Englischen gibt es die
Bezeichnungen „domestic violence“ und „family violence“, die mit „häuslicher Gewalt“
und „familiärer Gewalt“ übersetzt werden können (vgl. DLUGOSCH 2010, S.23). Nunmehr
stellt sich die Frage, ob häusliche Gewalt aufgrund dieser Gegebenheiten Gewalt innerhalb
der Familie ist.
„Unter ‚Gewalt in der Familie‘ ist die Gewaltanwendung zwischen Personen zu verstehen,
die in einer auf gegenseitiger Sorge und Unterstützung angelegten intimen Gemeinschaft
zusammenleben.“ (GEWALTKOMMISSION 1990, S.72)
In diesem Fall sind nicht nur direkte verwandtschaftliche Verhältnisse gemeint, sondern
auch diese, die einer Familie ähnlich sind, zum Beispiel Lebensgemeinschaften. Gewalt in
der Familie kann in Form von Partnergewalt, Gewalt von Eltern gegenüber ihren Kindern,
Gewalt zwischen Geschwistern sowie Gewalt von Kindern gegenüber ihren Eltern
auftreten (vgl. GEWALTKOMMISSION 1990, S.72). SCHWEIKERT ist der Ansicht, dass
„häusliche Gewalt“ grundsätzlich Gewalt zwischen Menschen beschreibe, die in
Beziehung zueinander stehen. Sattfinden könne diese Gewalt beispielweise in aktuellen
und auch ehemaligen Partnerschaften, zwischen Verwandten, in Wohngemeinschaften und
Pflegeverhältnissen sowie in Heimen (vgl. SCHWEIKERT 2011, S.404f).
7
Die verschiedenen Versuche einer Begriffsklärung verdeutlichen, dass es sich bei
„häuslicher Gewalt“, wie der Name schon erkennen lässt, um Gewalt im Privatraum
handelt. Nicht klar ist aber, wer gegen wen Gewalt ausübt (vgl. DLUGOSCH 2010, S.24).
Noch wichtiger als die Klärung des Täter-Opfer-Verhältnisses ist jedoch die Erkenntnis,
dass Gewalt im privaten Umfeld paradox zu sein scheint. Denn Gewalt zwischen
Menschen, die in irgendeiner Art in den eben genannten Beziehungsformen stehen,
widerspricht dem Zweck und Verständnis ebendieser: Nämlich dem Vorhandensein von
Sicherheit, Geborgenheit, Vertrauen, Fürsorge und Liebe (vgl. SCHWEIKERT 2011, S.404;
DLUGOSCH 2010, S.22f). Vor allem im Kindes- und Jugendalter ist dies ein wichtiger
Entwicklungsaspekt. Die Kinder und Jugendlichen blieben bisher in den Beschreibungen
„häuslicher Gewalt“ meistens unerwähnt, obwohl sie in vielen Fällen mitbetroffen sind
(vgl. GLOOR/MEIER 2010, S.17). RABE bedient sich der Definition der „BERLINER
INITIATIVE GEGEN GEWALT AN FRAUEN (BIG E.V.)“:
„Der Begriff der häuslichen Gewalt umfasst die Formen der physischen, sexuellen,
psychischen, sozialen und emotionalen Gewalt, die zwischen erwachsenen Menschen
stattfindet, die in nahen Beziehungen zueinander stehen oder gestanden haben. Das sind in
erster Linie Erwachsene in ehelichen und nicht-ehelichen Lebensgemeinschaften aber
auch in anderen Verwandtschaftsbeziehungen.“ (BIG E.V. 2007, S.125)
Vor diesem Hintergrund soll der Begriff der häuslichen Gewalt im Folgenden als Gewalt
in der Partnerschaft verstanden werden, wenn nicht ausdrücklich auf eine andere
Verwendung hingewiesen wird. Um eine konkrete Vorstellung von Gewalthandlungen im
häuslichen Kontext zu bekommen, werden im nächsten Kapitel die bereits von der BIG
E.V. erwähnten
verschiedenen Formen häuslicher Gewalt beschrieben.
Formen häuslicher Gewalt
Es gibt verschiedene Arten der Kategorisierung von häuslicher Gewalt. Sie werden in
physischer, psychischer, sexueller, und ökonomischer Gewalt unterschieden. Einige
Autoren sind der Meinung, dass auch das Miterleben von Gewalt eine Form von Gewalt ist
(vgl. LAMNEK/LUEDTKE/OTTERMANN 2012, S.133). Auf den Aspekt des Miterlebens wird
jedoch in einem späteren Abschnitt detailliert eingegangen.
Physische Gewalt umfasst Tätlichkeiten gegen das Opfer oder auch dessen Umfeld. Dazu
gehören Handlungen wie Treten, Schlagen, Gegenstände werfen, Verprügeln oder
Anwenden von Waffengewalt bis hin zum Extremfall des versuchten Mordes oder
8
tatsächlichem Mord (vgl. SEIFERT/HEINEMANN/PÜSCHEL 2006, S.414;
KASELITZ/LERCHER
2002, S.11).
Psychische Gewalt sei nach
KASELITZ/LERCHER
emotional zugefügt werde (vgl.
schwer zu erkennen, da diese seelisch und
KASELITZ/LERCHER
2002, S.11). Oft wird psychische
Gewalt verbal angewandt, zum Beispiel in Form von (Be-)Drohung, Beleidigung,
Demütigung,
Einschüchterung,
Angstmachen
SEIFERT/HEINEMANN/PÜSCHEL 2006, S.414;
und
KASELITZ/LERCHER
Beschimpfung
(vgl.
2002, S.11). Während
SEIFERT/HEINEMANN/PÜSCHEL Isolation in Form von Kontrolle und Kontaktverbot als
soziale Gewalt und eigene Kategorie ansehen, zählen
KASELITZ/LERCHER
Isolation und
Stalking zur psychischen Gewalt (vgl. SEIFERT/HEINEMANN/PÜSCHEL 2006, S.414;
KASELITZ/LERCHER
2002, S.11).
Sexuelle oder auch sexualisierte Gewalt beinhaltet unter anderem erzwungene sexuelle
Handlungen, Missbrauch, Vergewaltigung oder auch Zwang zur Prostitution (vgl.
SEIFERT/HEINEMANN/PÜSCHEL 2006, S.414; KASELITZ/LERCHER 2002, S.11).
Durch Arbeitsverbot oder Zwang zur Arbeit sowie das Verweigern vom Zugang zu Geld
führt
ökonomische
Gewalt
zur
finanziellen
Abhängigkeit
des
Opfers
(vgl.
SEIFERT/HEINEMANN/PÜSCHEL 2006, S.414).
Prävalenz
Frauen
Studien, Zahlen und Fakten zum Thema „Häusliche Gewalt“ in Deutschland findet man in
einem Teil der Studie des BUNDESMINISTERIUMS
FÜR
FAMILIE, SENIOREN, FRAUEN
UND
JUGEND (BMFSFJ) aus dem Jahr 2004. „Lebenssituation, Sicherheit und Gesundheit von
Frauen in Deutschland“ stellt die erste repräsentative Untersuchung zu Gewalt gegen
Frauen in Deutschland dar (vgl. BMFSFJ 2004a).
Für diese Studie wurden 10.264 in Deutschland lebende Frauen im Alter von 16 bis 85
Jahren befragt (vgl. BMFSFJ 2004 a, S.5). Die Untersuchung bestand aus einem Interview
und einem Fragebogen. Beide enthielten Fragen zu den verschiedenen Gewaltformen und
Erfahrungen mit diesen in Kindheit und Jugend. Außerdem gab es Fragen zu Gewalt in
aktuellen, als auch in früheren Beziehungen (vgl. BMFSFJ 2004 a, S.5f). Als betroffen
galten Frauen, die angaben, wenigstens eine Gewalthandlung seit ihrem 16. Lebensjahr
mindestens einmal erlebt zu haben. Um die Gewalthandlungen differenzieren zu können,
9
verwendeten die Forscher Itemlisten, die die unterschiedlichen Handlungen aufzählten. Zur
Abschätzung des Schweregrades der einzelnen Gewalthandlungen wurde eine Itemliste zu
Verletzungsfolgen, sowie Fragen zu Häufigkeit und subjektivem Empfinden benutzt (vgl.
BMFSFJ 2004 a, S.6).
37% der Befragten haben mindestens einmal seit ihrem 16. Lebensjahr mindestens eine
Handlung körperlicher Gewalt erlebt; 13% Formen sexueller Gewalt, 58% sexuelle
Belästigung und 42% psychische Gewalt. Insgesamt haben 40% der Frauen unabhängig
vom Täter körperliche und/oder sexuelle Gewalterfahrungen gemacht (vgl. BMFSFJ 2004
a, S.7). Die Untersuchung zeigte außerdem, dass Frauen Gewalt meist durch den
Beziehungspartner und im häuslichen Bereich erfahren (vgl. BMFSFJ 2004 a, S.11). 25%
aller befragten Frauen gaben an, Formen sexueller und/oder körperlicher Gewalt durch
aktuelle und/oder ehemalige BeziehungspartnerInnen erlebt zu haben. Im Falle beider
Gewaltformen war die eigene Wohnung zu circa 70% der Tatort (vgl. BMFSFJ 2004 a,
S.7; S.11f). In 99% der Fälle ging die Gewalt von einem männlichen Beziehungspartner
aus, nur 1% hatten Gewalt durch eine weibliche Partnerin erlebt (vgl. BMFSFJ 2004 a,
S.7f). Deshalb wird, wie auch in der Studie, ab diesem Punkt die männliche Form für die
(Ex-)Partner verwendet.
Detailliertere Ergebnisse der Studie sind in dem Kapitel „Gewalt in Paarbeziehungen“
ebendieser zu finden. Die Fragen zu diesem Themenbereich wurden nur den Frauen
gestellt, die vorher angegeben hatten, sich derzeit oder in der Vergangenheit in einer
Beziehung zu befinden und/oder befunden zu haben (86% aller Befragten). Drei Viertel
dieser Frauen leben aktuell in einer Paarbeziehung (vgl. BMFSFJ 2004 b, S.221). Um
genauere Aufschlüsse zu erhalten, wurden die Frauen sowohl nach Gewalt in ihren
aktuellen, als auch in den früheren Beziehungen befragt. 39% der Frauen sind nach
eigenen Angaben durch ihren aktuellen Partner von Gewalt in der Beziehung betroffen,
72% waren in früheren Beziehungen Opfer häuslicher Gewalt und 11% erlebten sowohl in
früheren Beziehungen, als auch in ihrer aktuellen Beziehung Partnerschaftsgewalt (vgl.
BMFSFJ 2004 b, S.223). Auf einer Itemliste mit körperlichen und sexuellen
Gewalthandlungen sollten die Frauen mit der Möglichkeit von Mehrfachnennungen
ankreuzen, welche der Handlungen sie mindestens einmal durch ihren aktuellen Partner
erlebt hatten. Um Schwierigkeiten in der Abgrenzung von spaßhaften Raufereien zu
ernsthafter Gewaltanwendung zu vermeiden, wurden den Antwortmöglichkeiten Aussagen
10
wie beispielsweise „so dass es mir weh tat“ zugefügt (vgl. BMFSFJ 2004 b, S.224). Zur
Veranschaulichung:
Itemliste zur Erfassung von körperlicher Gewalt und sexueller Gewalt in
Paarbeziehungen im schriftlichen Fragebogen.
Mein Partner hat...
A
mich wütend weggeschubst.
B
mir eine leichte Ohrfeige gegeben.
C
mich gebissen oder gekratzt, so dass es mir weh tat.
D
meinen Arm umgedreht, so dass es mir weh tat.
E
mich schmerzhaft getreten, gestoßen oder hart angefasst.
F
mich heftig weggeschleudert, so dass ich taumelte oder
umgefallen bin.
G
mich heftig geohrfeigt oder mit der flachen Hand geschlagen.
H
etwas nach mir geworfen, das mich verletzen könnte.
I
mich mit etwas geschlagen, das mich verletzen könnte.
J
mir ernsthaft gedroht, mich körperlich anzugreifen oder zu verletzen.
K
mir ernsthaft gedroht, mich umzubringen.
L
mit den Fäusten auf mich eingeschlagen, so dass es mir weh tat
oder ich Angst bekam.
M
mich verprügelt oder zusammengeschlagen.
N
mich gewürgt oder versucht, mich zu ersticken.
O
mich absichtlich verbrüht oder mit etwas Heißem gebrannt.
P
mich mit einer Waffe, zum Beispiel einem Messer oder einer
Pistole bedroht.
Q
mich mit einer Waffe, zum Beispiel einem Messer oder einer
Pistole verletzt.
R
mich auf eine andere Art körperlich angegriffen, die mir Angst
machte oder weh tat.
S
mich zu sexuellen Handlungen gezwungen, die ich nicht wollte.
T
versucht, mich zu sexuellen Handlungen zu zwingen, die ich
nicht wollte.
(BMFSFJ 2004 b, S.225)
11
75% der Frauen wurden demnach wütend von ihrem Partner weggeschubst, 34% leicht
geohrfeigt, 21% schmerzhaft getreten, gestoßen und/oder hart angefasst. Je 11-12% wurde
der Arm schmerzhaft umgedreht, an den Haaren gezogen oder sie wurden heftig vom
Partner weggeschleudert, geohrfeigt und mit Gegenständen beworfen. Versuchten und
ausgeführten Zwang zu sexuellen Handlungen erlitten jeweils 6%. Alle anderen
Handlungen wurden mit 1-8% genannt (vgl. BMFSFJ 2004 b, S.225f). Im Vergleich hierzu
ist auffällig, dass bei den Antworten zur Gewalt in früheren Beziehungen fast alle Angaben
höher ausfielen. Schmerzhaftes Treten, Stoßen und/oder hartes Anfassen wurden von 42%
der Frauen benannt. Ungefähr ein Drittel der Frauen wurde jeweils an den Haaren gezogen,
heftig weggeschleudert oder ihnen wurden körperliche Verletzungen angedroht. 18%
gaben an, dass ihnen mit Mord gedroht wurde. Auch körperliche Gewalttätigkeiten wie
zusammengeschlagen werden, wurden hier von einem Viertel der Befragten erlebt. 15%
wurden gewürgt, 10% mit einer Waffe bedroht. Den Versuch, sie zu sexuellen Handlungen
zu zwingen nannten 18% der Frauen, den tatsächlichen Zwang sogar knapp 25% (vgl.
BMFSFJ 2004 b, S.229). Zur Häufigkeit der Gewaltsituationen konnte herausgefunden
werden, dass ein Drittel der Frauen in ihren bisherigen Beziehungen nur einmal, ebenfalls
ein Drittel zwei- bis zehnmal und das letzte Drittel mehr als zehn- bis hin zu über
vierzigmal Opfer ihres aktuellen und/oder früheren Partners geworden waren (vgl.
BMFSFJ 2004 a, S.8). Während 38% der gewaltbetroffenen Frauen äußerten, in
mindestens einer Gewaltsituation Angst vor ernsthaften oder lebensgefährlichen
Verletzungen gehabt zu haben, hatte die Gewalt des Partners für 64% Verletzungen zur
Folge. Unter Mehrfachnennung berichteten 90% dieser Frauen von blauen Flecken und
Prellungen als Verletzungsfolgen, 41% hatten keine anderen Verletzungen. 26% zählten
körperliche
Schmerzen,
jeweils
18-20%
offene
Wunden,
Unterleibschmerzen,
Verstauchungen und Kopfverletzungen als Folgen auf (vgl. BMFSFJ 2004 b, S.236). Das
BMFSFJ sah nach diesen Untersuchungen in 43% der Beziehungen Überschneidungen
zwischen sexueller, körperlicher und psychischer Gewalt. Nach diversen Itemlisten, die die
psychische Gewalt leichter messbar machen sollten, kam man zu dem Ergebnis, dass 44%
der Frauen keine psychische Gewalt oder Kontrolle in ihrer aktuellen Beziehung erlebten,
39% nur leichte Formen davon, 11% mittel und 6% schwer davon betroffen sind (vgl.
BMFSFJ 2004 b, S.253). Wie bereits erwähnt lässt sich das Ausmaß der psychischen
Gewalt schwer messen, oft liegen die verschiedenen Gewaltformen in Kombination vor
(vgl. BMFSFJ 2004 b, S.294).
12
Männer
Da sich das Thema der häuslichen Gewalt aus der Frauenbewegung heraus entwickelt hat,
gibt es zur Gewalt gegen Männer kaum Studien. 2004 veröffentlichte das BMFSFJ die
Pilotstudie „Gewalt gegen Männer“. Auf Grund der zu kleinen Fallanzahl ist die Studie
jedoch als nicht repräsentativ anzusehen. Der Fragebogen zur häuslichen Gewalt wurde
von knapp 200 Männern ausgefüllt (vgl. BMFSFJ 2004 c, S.4). Da fast alle Männer
angaben, in heterosexuellen Beziehungen zu leben oder gelebt zu haben wird in diesem
Abschnitt ausschließlich die weibliche Form der Täterin oder Partnerin benutzt (vgl.
BMFSFJ 2004 c, S.9). 25% der Männer gaben an, mindestens einmal Formen körperlicher
Gewalt durch ihre aktuelle oder frühere Partnerin erfahren zu haben. Jedoch ist die
Differenzierung des Schweregrades nicht immer ernsthaften Gewaltsituationen zuzuordnen
(vgl. BMFSFJ 2004 c, S.9). Als Gewalthandlungen nannten circa 18% der Männer
wütendes Wegschubsen, jeweils 5-10% leichtes Ohrfeigen, schmerzhaftes Beißen und
Kratzen, schmerzhafte Tritte, Stöße oder hartes Anfassen und das Werfen von
Gegenständen (vgl. BMFSFJ 2004 c, S.9). Verletzungsfolgen gaben 5% der Männer an.
Genauso viele sagten aus, mindestens einmal Angst vor ernsthaften oder gefährlichen
Verletzungsfolgen gehabt zu haben (vgl. BMFSFJ 2004 c, S.10). Sexuelle Gewalt erschien
in dieser Pilotstudie als augenscheinliches Tabuthema für Männer. Gerade mal 2,5%, das
entspricht fünf Männern, wurden zu sexuellen Bedürfnissen ihrer Partnerin genötigt, drei
Männer wurden nach eigenen Angaben zu ungewollten Handlungen gedrängt und ein
Mann berichtete vom Zwang zu sexuellen Handlungen (vgl. BMFSFJ 2004 c, S.10). Ein
größeres Gewicht scheint der psychischen Gewalt zuzukommen. Eifersucht und
Kontaktverbot nannten 20% der Männer, circa 17% wurden von der Partnerin dahingehend
kontrolliert, mit wem und wohin sie weggehen wollten. 5-8% nannten sowohl die
Kontrolle ihrer Post, Anrufe und E-Mails durch die Partnerin, das Bestimmen über das Tun
der Männer, als auch das Verbot von Treffen mit Bekannten, Freunden oder Verwandten
(vgl. BMFSFJ 2004 c, S.10).
Kinder
Die Studie über Gewalt gegen Frauen beschäftigt sich außerdem mit dem oft vergessenen
aber wichtigen Thema des Miterlebens häuslicher Gewalt von Kindern und Jugendlichen.
60% der Frauen lebten demnach während der letzten Erfahrung mit Gewalt durch den
Partner mit Kindern zusammen (vgl. BMFSFJ 2004 b, S.276f). Nach Angaben der Frauen
konnten 57% der Kinder Gewaltsituationen hören (entspricht 277 Angaben) und 50% diese
13
auch sehen. 20% der Kinder gerieten mit hinein und 25% versuchten sogar, ihre Mutter zu
verteidigen oder zu schützen. Im Gegensatz dazu versuchten lediglich 2% den Partner zu
verteidigen. 10% der Kinder waren selbst Opfer der Gewalt durch den Partner der Mutter.
23% der Frauen waren der Meinung, ihr Kind habe nichts mitbekommen und 11% wussten
nicht, ob und was ihre Kinder mitbekommen hatten (vgl. BMFSFJ 2004 b, S.277).
Aus diese Angaben geht jedoch nicht hervor, wie viele Kinder und Jugendliche absolut
betroffen sind, da nicht die Anzahl der Kinder und Jugendlichen, sondern die Anzahl der
befragten Frauen ausgewertet wurden. Der Versuch genauerer Angaben wird im
anschließenden Kapitel vorgenommen.
Zusammengefasst assoziieren die meisten Menschen ähnliche Dinge mit dem Begriff
„Gewalt“, eine eindeutige Definition gibt es aber nicht. Es kommt immer darauf an, mit
welchem Blick und zu welchem Zweck man das Thema behandelt. Fest steht aber, dass
Gewalt ein negativ besetzter Begriff ist. Das Verständnis von Gewalt bezieht sich in dieser
Arbeit auf interpersonelle Gewalt. Der Terminus der „häuslichen Gewalt“ bildete sich aus
der Thematik der Gewalt gegen Frauen heraus und änderte sich abhängig vom Wandel der
Gesellschaft. Im weiteren Verlauf wird „häusliche Gewalt“ als Gewalt in der Partnerschaft
verstanden. Formen häuslicher Gewalt sind physische, psychische, sexuelle und
ökonomische Gewalt. Laut Statistik sind Frauen am häufigsten von häuslicher Gewalt und
deren Folgen betroffen. Jede vierte Frau hat nach der Studie des BMFSFJ
Gewalterfahrungen in Beziehungen gemacht oder erlebt diese aktuell. Je ein Drittel der
Frauen erlebt sogar mehrmals, beziehungsweise häufig Gewalt durch den Partner. 60% der
Frauen lebten während Gewaltvorkommnissen mit Kindern zusammen. Zu häuslicher
Gewalt gegen Männer liegt lediglich eine Pilotstudie vor.
14
Miterleben häuslicher Gewalt
Über die Anzahl der Kinder und Jugendlichen, die von häuslicher Gewalt als Zeugen
betroffen sind, können nur Schätzungen angestellt werden (vgl. KINDLER/WERNER 2005,
S.104). So gab es beispielsweise Schätzungen über 45.000 Frauen, die mit ihren Kindern in
Frauenhäuser flüchteten und dort zeitweilig lebten. Demnach sind pro Jahr ungefähr
49.500 bis 67.500 Kinder und Jugendliche von Partnerschaftsgewalt betroffen. Diese
Angaben beziehen sich aber nur auf die Frauen, die in Frauenhäuser flüchteten und
schließen die Frauen aus, die sich keine oder andere Hilfe holten (vgl. KINDLER/WERNER
2005, S.104). Im Rahmen einer Studie von ENZMANN/WETZELS gaben jeweils 7% der mehr
als 16.000 befragten Kinder und Jugendlichen an selten, beziehungsweise häufig,
Partnerschaftsgewalt miterlebt zu haben (vgl. ENZMANN/WETZELS 2001, S.246). Beim
Vergleich verschiedener Studien kam man zu dem interessanten Schluss, dass die Anzahl
der Kinder und Jugendlichen, die als Zeugen von häuslicher Gewalt betroffen sind,
ungefähr gleich der Anzahl misshandelter oder missbrauchter Kinder und Jugendlicher
war. Interessant ist dieses Ergebnis vor allem, weil das Thema Kindesmisshandlung in
Öffentlichkeit und Wissenschaft einen viel größeren Platz einnimmt, als Kinder und
Jugendliche, die Zeugen häuslicher Gewalt sind (vgl. KINDLER/WERNER 2005, S.105).
Um einen Eindruck davon zu bekommen, inwiefern Kinder und Jugendliche von
häuslicher Gewalt betroffen sein können, werden im nächsten Abschnitt verschiedene
Formen der Betroffenheit vorgestellt.
Formen der Betroffenheit
Nach HEYNEN können Kinder und Jugendliche auf vier Arten von häuslicher Gewalt
betroffen sein: wenn sie durch eine Vergewaltigung gezeugt wurden, wenn ihre Mutter in
der Schwangerschaft misshandelt wurde, wenn sie direkt betroffen sind oder in einer
gewaltbelasteten Atmosphäre aufwachsen (vgl. HEYNEN 2001, S.84).
Zeugung durch Vergewaltigung
Wird eine Frau in Folge einer Vergewaltigung schwanger, muss sie sich zusätzlich zur
Verarbeitung
dieses
traumatischen
Erlebnisses
mit
vielen
anderen
Dingen
auseinandersetzen (vgl. HEYNEN 2003, S.6). Reaktionen der Frauen auf eine
Zwangsschwangerschaft können Verdrängung, indirekter oder direkter Abbruch,
Akzeptanz oder auch aktive Annahme sein.
15
Schwierig wird eine Entscheidung für die werdende Mutter vor allem dann, wenn sie in
einer Beziehung mit dem Kindesvater bleibt. Da sie so meistens weitere Gewalt erfährt und
die Gefahr besteht, dass nach der Geburt auch das Kind Opfer des Vaters werden könnte
(vgl. HEYNEN 2003, S.7). Ausschlaggebend ist die Art der Mutter-Kind-Beziehung, die
sich zwischen Ungeborenem und auch später dem Baby und der Mutter entwickelt. Es
besteht die Möglichkeit, dass das Kind als Produkt der Vergewaltigung und als Kind des
Vergewaltigers angesehen wird und die Mutter das Kind in Folge von eventuellen
Retraumatisierungen ablehnt. Das spielt vor allem bei der Geburt eines Sohnes eine große
Rolle (vgl. HEYNEN 2003, S.6, S.12). Eine andere Möglichkeit ist eine Identifikation mit
dem Kind als eigenes Wesen und der Annahme der Mutterrolle. In diesem Fall kann die
Gefahr der Kindeswohlgefährdung für die Frau einen Trennungsgrund darstellen. Die
Schwangerschaft und Geburt des Kindes können eine biographische Änderung und einen
neuen Lebensabschnitt mit sich bringen (vgl. HEYNEN 2003, S.6, S.16f). Die Zeugung
durch Vergewaltigung hat vor allem dann Auswirkungen auf Kinder und Jugendliche,
wenn die Mutter unter einem psychischen Trauma leidet und als Folge daraus die
Entwicklung der Mutter-Kind-Beziehung gestört werden kann (MINISTERIUM
DER JUSTIZ
SAARLAND 2011, S.32).
Gewalt in der Schwangerschaft
Unabhängig davon, ob ein Kind durch eine Vergewaltigung gezeugt wurde oder nicht, ist
die Misshandlung der Kindsmutter während der Schwangerschaft eine weitere indirekte
Form
der
Betroffenheit
häuslicher
Gewalt
für
das
Ungeborene.
Vor
allem
Gewalthandlungen wie Vergewaltigung oder Schläge und Tritte in den Bauch stellen für
die Gesundheit schwangerer Frauen und das ungeborene Kind eine besondere Gefahr dar
(vgl. MINISTERIUM
DER JUSTIZ
SAARLAND 2011, S.33; HEYNEN 2001, S.86). Folgen von
Misshandlung während der Schwangerschaft können unter anderem Komplikationen in der
Schwangerschaft und bei der Geburt, ein niedriges Geburtsgewicht des Kindes und Frühoder Fehlgeburten sein (vgl. MINISTERIUM DER JUSTIZ SAARLAND 2011, S.33).
Direkte Betroffenheit
Diese Form der Betroffenheit bezieht sich im Gegensatz zu den anderen Formen nicht
indirekt, sondern direkt auf die Kinder und Jugendlichen. Es kann vorkommen, dass die
Gewalt gegen die Kinder und Jugendlichen mit der Gewalt gegen die Mutter einhergeht.
Beispielsweise wenn Kinder oder Jugendliche sich in unmittelbarer Nähe zur Mutter
befinden und so in die Gewalthandlung involviert werden (vgl. HEYNEN 2001, S.86). Die
16
Gewalt kann sich aber auch direkt gegen die Kinder und Jugendlichen richten. Sowohl
Vater als auch Mutter können Täter der Misshandlungen sein (vgl. HEYNEN 2001, S.86).
Diese direkte Betroffenheit durch Kindesmisshandlung wird zu einem späteren Zeitpunkt
thematisiert.
Aufwachsen in einer gewaltbelasteten Atmosphäre
Das Aufwachsen in einer gewaltbelasteten Atmosphäre bringt weitere verschiedene
Aspekte der Betroffenheit Kinder und Jugendlicher von häuslicher Gewalt mit sich. Auch
wenn die Kinder und Jugendlichen nicht direkt von Misshandlungen betroffen sind, so
erleben sie doch die Gewalt der Eltern gegeneinander. Wie bereits erwähnt handelt es sich
meist um Gewalt eines Mannes gegen seine Partnerin (vgl. HEYNEN 2001, S.87). Was das
genau für die Kinder und Jugendlichen bedeutet, was sie erleben und welche Folgen das
Miterleben häuslicher Gewalt für sie haben kann, wird im anschließenden Kapitel erläutert.
Kinder und Jugendliche, die in gewaltgeprägten Familien leben, erfahren außerdem oft
fehlende Kompetenz und Sicherheit der Eltern (vgl. DLUGOSCH 2010, S.40). Dies kann sich
zum einen in der fehlenden Sorge des Täters gegenüber seiner Partnerin und den Kindern
und Jugendlichen zeigen, als auch in der daraus resultierenden Überforderung der
Kindesmutter. Dadurch ergibt sich für die Kinder und Jugendlichen eine Gefahr der
Vernachlässigung (vgl. HEYNEN 2001, S.87). Es kann aber auch passieren, dass die Kinder
und Jugendlichen parentifiziert werden; das heißt, sie übernehmen die Rolle ihrer Mutter.
Sie unterstützen und trösten diese und kümmern sich um ihre jüngeren Geschwister (vgl.
DLUGOSCH 2010, S.40; vgl. HEYNEN 2001, S.87). Im Falle ökonomischer Gewalt des
Täters gegen die Frau leiden diese und die Kinder und Jugendlichen zusätzlich häufig unter
Armut und/oder sozialer Benachteiligung (vgl. HEYNEN 2001, S.90).
Das Erleben der Kinder und Jugendlichen
In dieser Arbeit wird häusliche Gewalt als Partnerschaftsgewalt verstanden, speziell als
Gewalt des Mannes gegen seine Partnerin. Aus Sicht der Kinder und Jugendlichen kann
der Gewalttäter sowohl der leibliche Vater, der angeheiratete Stiefvater, der soziale Vater
oder lediglich der Partner der Mutter sein. Die gewählte Formulierung (Stief-)Vater
beinhaltet all diese Möglichkeiten, wenn nicht anders erwähnt.
Direktes Erleben
In der Studie des BMFSFJ aus dem Jahr 2004 wird deutlich, welche Gewalthandlungen
die befragten Frauen von aktuellen oder ehemaligen Beziehungspartnern erlitten. Aus
17
diesen Ergebnissen kann man deuten, was Kinder und Jugendliche, die in einem solchen
Umfeld
aufwachsen,
miterleben.
KAVEMANN
hat
beispielhaft
und
anschaulich
zusammengefasst, was Kinder und Jugendliche erleben können oder müssen, wenn ihre
Mutter misshandelt wird (vgl. KAVEMANN
O.J.,
S.10f). Die Kinder und Jugendlichen
sehen, wie der (Stief-)Vater die Mutter schlägt, stößt, boxt und tritt. Sie sehen, wie er sie
mit Gegenständen schlägt oder diese nach ihr wirft, sie womöglich mit einer Waffe bedroht
oder sie vergewaltigt. Sie sehen ihre Mutter zu Boden gehen, sich wehren und ihre
Verletzungen (vgl. KAVEMANN o.J., S.10). Kinder und Jugendliche, die die Gewaltakte
beobachten, sind meistens auch Ohrenzeugen. Manche Kinder und Jugendliche hören die
Situation ausschließlich. Sie hören den (Stief-)Vater schreien und brüllen. Hören die
Drohungen gegen ihre Mutter, Morddrohungen und Drohungen gegen die eigene Person.
Sie hören die Beleidigungen, Beschimpfungen und Abwertungen des (Stief-)Vaters. Sie
hören ihre Mutter ebenfalls schreien, den Täter beschimpfen, weinen, wimmern oder
eventuell eine angsteinflößende Stille am Ende der Auseinandersetzung (vgl. KAVEMANN
O.J.,
S.10). Außerdem spüren die Kinder und Jugendlichen den Zorn des Täters, die Angst
der Mutter und der Geschwister und die bedrohliche Atmosphäre (vgl. KAVEMANN o.J.,
S.11). Welche Gedanken rasen durch den Kopf der Kinder und Jugendlichen, die solche
Gewalttaten sehen und/oder hören müssen? Möglicherweise denken sie, der (Stief-)Vater
könnte die Mutter töten. Sie denken, sie müssen sich einmischen, der Mutter helfen, die
Geschwister fernhalten. Sie zweifeln an der Mutter und an ihrer eigenen persönlichen
Wichtigkeit (vgl. KAVEMANN o.J., S.11).
Physische Reaktionen
Die direkten Reaktionen der Kinder und Jugendlichen während einer Gewaltsituation
können ganz unterschiedlich ausfallen. Manche von ihnen zeigen Symptome eines
Schocks, sind erstarrt, nicht ansprechbar, desorientiert und verwirrt. Eine andere passive
Reaktionsmöglichkeit ist das Sich-Verstecken. Sowohl vor der Situation als auch den
Beteiligten. Andere Kinder und Jugendliche reagieren aktiv auf die Situation und weinen
und/oder schreien, suchen die körperliche Nähe zur Mutter oder schlagen um sich (vgl.
BUSKOTTE 2007, S.99). Wie schon in der Studie des BMFSFJ erwähnt, gibt es aber auch
Kinder und Jugendliche, die sich einmischen, um die Mutter zu beschützen oder den Täter
zu bitten, aufzuhören. Dies betrifft zum größeren Teil die älteren Kinder und Jugendlichen
(vgl. MINISTERIUM
DER
JUSTIZ SAARLAND 2011, S.26; BUSKOTTE 2007, S.99; BMFSFJ
2004 b, S.277).
18
Befindlichkeit
In seiner meta-analytischen Zusammenfassung über Effekte von Partnerschaftsgewalt auf
die kindliche Entwicklung kommt KINDLER unter anderem zu dem Schluss, dass das
Miterleben häuslicher Gewalt im Allgemeinen zu Beeinträchtigungen der Befindlichkeit
der Kinder und Jugendlichen führt (vgl. KINDLER 2002, S.26). Im Blick auf die Kinder und
Jugendlichen, die Beobachter häuslicher Gewalt sind, muss man sich die Bedeutung und
die damit gegebenen Umstände häuslicher Gewalt ins Gedächtnis rufen (s. S. 8). Die
Kinder und Jugendlichen erleben die Gewalt gegen ihre Mutter dort, wo sie am
allerwenigsten stattfinden sollte: in ihrer Familie. Gewalt innerhalb der Familie steht im
vollen Gegensatz zu dem, was die Familie bieten sollte; einen Platz von Unterstützung,
Sicherheit, Vertrauen, Fürsorge und Liebe (vgl. DLUGOSCH 2010, S.23; SCHWEIKERT 2011,
S.404). Nach JAFFE
ET AL.
führe dieser Umstand auch dazu, dass die Kinder und
Jugendlichen sich zu Hause nicht behütet oder beschützt fühlen könnten (vgl. JAFFE ET AL.
1990 in DLUGOSCH 2010, S.54). Für die Kinder und Jugendlichen ist es des Weiteren in der
Regel ein enormer Stress, die Bedrohung und/oder Verletzung einer ihrer engen
Bezugspersonen miterleben zu müssen (vgl. SAUERMOST 2010, S.89; KINDLER 2013, S.45).
Die Kinder und Jugendlichen sehen die Gewalt gegen ihre Bezugsperson als Bedrohung
ihrer emotional sicheren Bindung zu dieser. Dadurch empfinden sie ihre eigene innere
Sicherheit als verloren und die Gewaltsituationen als stark belastend, verunsichernd und
überfordernd (vgl. MINISTERIUM
DER
JUSTIZ SAARLAND, 2011, S.26). Außerhalb einer
Gewaltsituation können sich Unsicherheiten beispielsweise darin zeigen, dass die Kinder
und Jugendlichen versuchen, den Kontakt zum Täter zu vermeiden, indem sie sich nicht in
der Wohnung bewegen. Besonders bei Kindern kann es vorkommen, dass sie nicht laut
sein oder Fehler machen wollen und sich deswegen nicht trauen, zu spielen. Das
wiederrum kann Auswirkungen auf ihr Explorationsverhalten haben (vgl. DLUGOSCH 2010,
S.54). In den Kindern und Jugendlichen herrscht meist ein emotionales Chaos. Vor allem
Angst ist ein ständiger Begeleiter. Angst vor den Gewaltausbrüchen des (Stief-)Vaters,
Angst um die Mutter, Angst um Geschwister und sich selbst (vgl. DLUGOSCH 2010, S.54;
BUSKOTTE 2007, S.101). Besonders der drohende Verlust der Mutter ruft in den Kindern
und Jugendlichen große Angst hervor. Beispielsweise wenn die Mutter das Haus nur
verlassen darf, wenn sie mindestens eines ihrer Kinder im Haushalt zurücklässt. Extrem ist
die Angst der Kinder und Jugendlichen außerdem davor, dass einer der Beteiligten getötet
werden oder Suizid begehen könnte (vgl. HEYNEN 2001, S.88). Auf den Sonderfall des
Tötungsdeliktes als Folge häuslicher Gewalt wird später eingegangen. Weitere
19
dominierende Emotionen der Kinder und Jugendlichen sind Mitleid gegenüber der Mutter,
Hilfslosigkeit, Erstarrung und Ohnmacht (vgl. MINISTERIUM DER JUSTIZ SAARLAND 2011,
S.26; KINDLER 2013, S.27). Ebenso entwickeln viele Kinder und Jugendliche ein
Verantwortungs- beziehungsweise Schuldgefühl. Sie glauben, sie seien der Grund für die
Gewalttätigkeit des (Stief-)Vaters (vgl. MINISTERIUM
DER JUSTIZ
SAARLAND 2011, S.26;
DLUGOSCH 2010, S.55; BUSKOTTE 2007, S.100). Dies kann vor allem dann verstärkt
auftreten, wenn eine Situation auf Grund einer Diskussion zwischen den Erwachsenen über
die Kinder und Jugendlichen eskaliert (vgl. BUSKOTTE 2007, S.100). Das Schuldgefühl
kann in Verbindung mit dem Gefühl der Hilfslosigkeit auftreten. Die Kinder und
Jugendlichen fühlen sich schuldig, verantwortlich und hilflos, da sie oft nicht in den
Konflikt eingreifen, beziehungsweise sich Vorwürfe machen, nicht eingegriffen zu haben
oder die Gewalt nicht zu verhindern gewusst zu haben (vgl. MINISTERIUM
DER
JUSTIZ
SAARLAND 2011, S.26; DLUGOSCH 2010, S.55; BUSKOTTE 2007, S.100). Viele schämen
sich auch für ihr vermeintliches Versagen (vgl. BUSKOTTE 2007, S.101). Diese Scham kann
unter anderem ein Grund dafür sein, dass die Kinder und Jugendlichen sich niemandem
anvertrauen, sondern das „Familiengeheimnis“ für sich behalten (vgl. DLUGOSCH 2010,
S.55). Besonders in Gewaltpartnerschaften in denen der Gewalttäter auch der Kindesvater
ist oder eine enge Bindung zum Partner der Mutter besteht, geraten Kinder und
Jugendliche in Loyalitätskonflikte. Auf der einen Seite leiden sie mit der Mutter,
empfinden Mitleid und möchten ihr helfen. Auf der anderen Seite mögen sie auch den
(Stief-)Vater und haben Sehnsucht nach Harmonie (vgl. MINISTERIUM
DER
JUSTIZ
SAARLAND 2011, S.26; BUSKOTTE 2007, S.101). Eine andere Möglichkeit kann sein, dass
die Kinder und Jugendlichen ihrer Mutter gegenüber Wut und/oder Enttäuschung
empfinden, sich nicht beschützt fühlen oder den (Stief-)Vater lediglich verachten, fürchten
und ihn für sein Handeln hassen (vgl. BUSKOTTE 2007, S.101).
Wirkfaktoren
Das Erleben, die Reaktionen und die Befindlichkeit der betroffenen Kinder und
Jugendlichen sind abhängig von ihrer Sichtweise auf die Dinge. Wie sie die Gewalt
zwischen den Erwachsenen erleben, wie sie darauf reagieren und wie sich dies auf ihre
Befindlichkeit
auswirkt,
steht
in
Zusammenhang
mit
ihrem
Alter,
ihrem
Entwicklungsstand, der Form ihrer Betroffenheit, sowie Art und Schweregrad der
Gewalthandlungen, die sie miterlebt haben (vgl. DLUGOSCH 2010, S.53). Das Empfinden
für das Erlebte ist umso schlimmer, je jünger die Kinder und Jugendlichen sind (vgl.
20
BUSKOTTE 2007, S.98). Psychologische Forschungen haben außerdem ergeben, dass die
Kinder und Jugendlichen umso mehr leiden, je öfter sie Gewaltsituationen ausgesetzt sind.
Es ist nicht möglich, dass sie sich an die Gewalt gewöhnen (vgl. BUSKOTTE 2007, S.99).
Auswirkungen auf die Kinder und Jugendlichen
Immer mehr Studien über Kinder und Jugendliche als Zeugen häuslicher Gewalt belegen
Zusammenhänge zwischen dem Miterleben häuslicher Gewalt und langfristiger
Auswirkungen auf die Entwicklung der betroffenen Kinder und Jugendlichen (vgl.
MINISTERIUM
DER
JUSTIZ SAARLAND 2011, S.27; DLUGOSCH 2010, S.57). In diesem
Kapitel werden Wirkfaktoren für die Auswirkungen häuslicher Gewalt auf Kinder und
Jugendliche genannt, die möglichen Auswirkungen und die Art der Vermittlung erörtert.
Abschließend wird als Sonderfall häuslicher Gewalt der Tötungsdelikt und dessen
mögliche Folgen für alle Beteiligten vorgestellt.
Wirkfaktoren
Die Auswirkungen auf die Entwicklung der Kinder und Jugendlichen sind, wie das
Erleben, abhängig von diversen Faktoren. Beispiele hierfür sind Alter, Geschlecht,
Entwicklungsstand, individuelles Temperament sowie Umgang mit Belastungen und Stress
(vgl. HUGHES/LUKE 1998 in DLUGOSCH 2010, S.57). Auch die Häufigkeit, der
Schweregrad und die Art der Gewalthandlung spielen eine Rolle (vgl. RABE/KAVEMANN
2007, S.245). So ergab die „Dunedin Längsschnittstudie“, dass Kinder und Jugendliche,
die häufiger der Partnerschaftsgewalt ausgeliefert waren, stärkere Beeinträchtigungen
zeigten, als Kinder und Jugendliche, die selten betroffen waren (vgl. KINDLER/DRECHSLER
2003, S.218). Durch die verschiedenen Wirkfaktoren können die Auswirkungen von
Betroffenem zu Betroffenem unterschiedlich ausfallen. Es ist also zu beachten, dass nicht
jede Folge miterlebter Gewalt alle Kinder und Jugendlichen betrifft, beziehungsweise im
selben Ausmaß vorliegt.
Auswirkungen auf das Verhalten
Einer der am meisten verwendeten diagnostischen Fragebögen weltweit ist die „Child
Behavior Checklist (CBCL)“. Durch die häufige Anwendung dieses Fragebogens hat man
vergleichbare Daten über die Belastung von Kindern und Jugendlichen in verschiedenen
Belastungssituationen (vgl. KINDLER 2002, S.9f). So auch zum Themenbereich von
Kindern und Jugendlichen als Zeugen häuslicher Gewalt. Allerdings liefert die CBCL
keine Diagnosen von Störungen, sondern unterscheidet die Belastung in Hinsicht auf zwei
21
Symptomatiken: Internalisierung und Externalisierung (vgl. KINDLER 2002, S.10).
Internalisierte Störungen sind nach innen gerichtet, zum Beispiel Angststörungen,
depressive Züge oder sozialer Rückzug (vgl. KINDLER 2010, S.31; KINDLER 2002, S.10).
Externalisierte Störungen sind nach außen gerichtet, zum Beispiel aggressives Verhalten,
Unruhe oder Verletzung von Regeln (vgl. KINDLER 2010, S.30; KINDLER 2002, S.10). Die
Auswirkungen werden in der Effektstärke „d“ gemessen. Mit Hilfe dieser Maßeinheit ist es
möglich, verschiedene Belastungen für Kinder und Jugendliche vergleichbar zu machen
(vgl. KINDLER 2002, S.10). Demnach wirkt sich das Miterleben häuslicher Gewalt auf
Kinder und Jugendliche mit einem starken ungünstigen Effekt in Form internalisierter
Verhaltensauffälligkeiten und mit einem mittleren ungünstigen Effekt in Form
externalisierter Verhaltensauffälligkeiten aus. Um diese Ergebnisse einordnen zu können,
hilft der Vergleich mit anderen Effekten. So ergab der Vergleich, dass das Miterleben
häuslicher Gewalt auf Kinder und Jugendliche den gleichen Effekt hat, als würden sie mit
einem Elternteil aufwachsen, der alkoholabhängig ist oder als würden sie selbst körperlich
misshandelt (vgl. KINDLER 2002, S.13).
Auswirkungen auf die kognitive und soziale Entwicklung
Anfängliche Vermutungen, das Miterleben von häuslicher Gewalt könne sich negativ auf
die Lernbereitschaft und Konzentrationsfähigkeit der betroffenen Kinder und Jugendlichen
auswirken, wurden mit den Jahren von verschiedenen Studien bestätigt (vgl. KINDLER
2013, S.36; KINDLER 2005, S.113f). Eine Studie aus England konnte sogar zeigen, dass die
intellektuelle Leistungsfähigkeit betroffener Kinder und Jugendlicher geringer war, je
häufiger diese häusliche Gewalt miterlebt hatten (vgl. KOENEN
ET AL.
2003 in KINDLER
2013, S.36). Zudem fand man heraus, dass im Durchschnitt eine Intelligenzminderung von
8 IQ-Punkten vorlag. Dies stellt eine Differenz dar, die nicht durch diverse Förderungen
der Kinder und Jugendlichen ausgeglichen werden kann (vgl. KINDLER 2013, S.37). Weiter
fand man heraus, dass in Folge des kognitiven Entwicklungsrückstands der betroffenen
Kinder und Jugendlichen diese geringere Erfolge in der Schule erzielten und häufiger als
andere Kinder und Jugendliche von Lernschwierigkeiten betroffen waren. Beispielsweise
zeigten demnach ein Teil der Kinder und Jugendlichen größere Defizite beim Lesen (vgl.
MATHIAS
ET AL.
1991 in KINDLER 2013, S.37). Sie können sich schlecht konzentrieren,
haben Probleme mit dem Lernen und schreiben dadurch schlechte Noten (vgl. BUSKOTTE
2007, S.100).
22
Studien zu Auswirkungen des Miterlebens häuslicher Gewalt auf die soziale Entwicklung
von Kindern und Jugendlichen zeigten unter anderem einen negativen Einfluss auf die
Beziehungsgestaltung zu Gleichaltrigen (vgl. KATZ ET AL. 2007 in KINDLER 2013, S.37).
Andere Studien konnten Verbindungen zum späteren Dulden oder Ausüben von
Partnerschaftsgewalt herstellen (vgl. EHRENSAFT
Weitere
Untersuchungen
ET AL.
2003 in KINDLER 2013, S.37).
(GRAHAM-BERMANN/BRESCOLL
2000;
GRAHAM-
BERMANN/LEVENDOSKY 1997; MOORE/PEPLER 1998; MCOOSKEY/STUEWIG 2001; BA1LIFSPANVILL ET AL. 2003 alle in KINDLER 2013, S.37f). ergaben, dass Kinder und Jugendliche,
die Zeugen häuslicher Gewalt geworden waren, Stereotypen von Geschlechterrollen
bildeten, eher zu Aggressivität neigten, Probleme bei der Herstellung von Freundschaften
hatten und in ihrer konstruktiven Konfliktbewältigung beschränkt waren (vgl. KINDLER
2013, S.37). Die soziale Entwicklung der betroffenen Kinder und Jugendlichen wird also
sowohl in ihren Beziehungsfähigkeiten als auch im Umgang mit Konflikten im späteren
Leben beeinträchtigt (vgl. KINDLER 2013, S.38).
Auswirkungen auf das Bindungsverhalten
Zum Thema Risiken der kindlichen Entwicklung schreibt HELLBRÜGGE:
„Hauptgefahr: Verlust der Mutter-Kind-Bindung“ (HELLBRÜGGE 2009, S.36).
Zu
Anfang
des
Kapitels
wurde
bereits
beschrieben,
dass
durch
eine
Zwangsschwangerschaft eine Störung der Mutter-Kind-Bindung entstehen kann. Auch die
Loyalitätskonflikte,
die
Kinder
und
Jugendliche
im
Zusammenhang
mit
Partnerschaftsgewalt erleben, können die Beziehung zur Mutter und zum (Stief-)Vater
beeinflussen (s. S. 20). Für Bowlby spielen Beziehungen eine sehr große Rolle in der
Persönlichkeitsentwicklung (vgl. HOLMES 2006, S.130). Mit Hilfe des Fremde-SituationTest legten AINSWORTH
vermeidende,
ET AL.
vier Arten von Bindungen fest: sichere, unsicher-
unsicher-ambivalente
und
unsicher-desorganisierte
Bindungen
(vgl.
AINSWORTH ET AL. 1987 in HOLMES 2006, S.128f). Langzeitstudien konnten zeigen, dass
die Feinfühligkeit der Mütter gegenüber ihren Kindern ausschlaggebend für den
Bindungstyp ist. Demnach entwickeln Kinder feinfühliger Mütter eher eine sichere
Bindung, wohingegen Kinder weniger feinfühliger Mütter zur Entwicklung unsicherer
Bindungen tendieren (vgl. HOLMES 2006, S.131). Die Feinfühligkeit zeigt sich unter
anderem darin, als Mutter zu bemerken, wenn das Kind weint, zu erkennen wieso es weint
und dann auf das Bedürfnis des Kindes einzugehen (vgl. BRISCH 2009, S.36). Ebenfalls
23
bereits erwähnt wurde, dass die von Gewalt betroffenen Frauen mit ihrer Situation
überfordert sein können, die Kinder und Jugendlichen ihre Mutter unterstützen (müssen)
und die Verletzung ihrer Bezugsperson als Verlust der eigenen inneren Sicherheit erleben
(s. S. 19). In Angstsituationen suchen vor allem Kinder Schutz bei ihrer Bezugsperson. Ist
die Bezugsperson die Mutter und diese von häuslicher Gewalt betroffen, kann sie dem
Kind oder Jugendlichen als Geschwächte in der Situation keinen Schutz bieten (vgl.
DLUGOSCH 2010, S.64). Der (Stief-)Vater stellt als Gewalttäter eine für die Kinder und
Jugendlichen nicht einschätzbare Person dar. Sein ambivalentes Verhalten macht den
Aufbau einer sicheren Bindung so gut wie unmöglich (vgl. DLUGOSCH 2010, S.65). Ein
Beispiel für die Störung der Bindung zwischen Mutter und Kind ist die Parentifizierung
(vgl. DLUGOSCH 2010, S.66). Dies kann sich ebenfalls auf zukünftige Beziehungen der
Betroffenen auswirken.
Auswirkungen in Form von Traumatisierung
Das Wort „Trauma“ kommt aus dem Griechischen und bedeutet übersetzt „Wunde“ (vgl.
WEIß
2004, S.17). Im psychologischen Zusammenhang kann ein Trauma als eine
Verletzung der Seele gesehen werden (vgl. WEINBERG 2013, S.19). Den Verlauf eines
Traumas teilt WEINBERG in das Trauma-Ereignis, die Trauma-Reaktion und die TraumaFolgen (vgl. WEINBERG 2012, S.23). Traumata können durch belastende Ereignisse
ausgelöst werden, die bisherige Anpassungs- und Bewältigungsstrategien übersteigen und
damit eine Bedrohung für die Betroffenen darstellen (vgl. ECKHARDT 2005, S.9; WEIß
2004, S.17). Man unterscheidet diese Ereignisse nach TERR zwischen einmalig
vorkommenden Traumata (Typ I) und anhaltende und/oder sich wiederholende Traumata
(Typ II) (vgl. TERR 1991 in JARITZ/WIESINGER/SCHMID 2008, S.267; ECKHARDT 2005,
S.9). Weiter kann unterteilt werden, was die Ursache für das traumatische Erlebnis ist. Ein
möglicher Auslöser können Naturkatastrophen oder schwere Schicksalsschläge sein,
andere Auslöser werden „man-made“ genannt. Damit sind Ereignisse gemeint, die durch
jeweils einen oder mehrere Menschen ausgeführt werden und einen oder mehrere
Menschen treffen (vgl. REDDEMANN/DEHNER-RAU 2004, S.13f). Bei man-made-Traumata
ist es nach WEINBERG wichtig, zu beachten, ob das Trauma von einem Fremden oder einer
Bezugsperson ausgelöst wird (vgl. WEINBERG 2012, S.23). Spezifische Auslöser können
zum Beispiel aktive und passive Kriegserfahrungen sein, Verkehrsunfälle, Verlust einer
nahestehenden Person, Misshandlung in Form physischer, psychischer und/oder sexueller
Gewalt und Vernachlässigung, das Miterleben von Gewaltanwendungen, schwere
24
Krankheiten der eigenen oder anderer Personen (vgl. ECKHARDT 2005, S.11f; .
REDDEMANN/DEHNER-RAU 2004, S.17). Übliche Trauma-Reaktionen sind Kampf, Flucht,
Täuschung und Erstarrung (vgl. HEINERTH 2003 in WEINBERG 2013, S.27). Der
Stressreaktion in Form von Kampf steht Flucht gegenüber. Man kann sagen, dass sich die
betroffene Person der Situation entweder stellt und sich wehrt, oder aber flieht. Diese
Reaktionen sind auch im Tierreich zu beobachten. Sie kosten jedoch viel Kraft. Kinder und
Jugendliche sind deshalb seltener als Erwachsene in der Lage, sich zu stellen oder zu
fliehen (vgl. WEINBERG 2013, S.27-30; HUBER 2007, S.41f). Mit Hilfe von Täuschung wird
versucht, die Vermeidung oder Schwächung von Bedrohungen herbeizuführen. Zum
Beispiel kann beobachtet werden, dass misshandelte Kinder sich ihren Peinigern
gegenüber nett und fröhlich verhalten, sonst aber eher Abweisung zeigen (vgl. WEINBERG
2013, S.30f). Mit dem Vortäuschen, dass alles gut sei, soll der Täter irritiert werden,
beziehungsweise sehen, dass seine Taten dem Betroffenen nicht schaden können.
Erstarrung kann eine Distanzierung vom Geschehen bedeuten (vgl. HUBER 2007, S.43).
Betroffene scheinen in eine lähmende Schockstarre zu verfallen (vgl. WEINBERG 2013,
S.34f). Die Trauma-Folgen sind vielseitig und -schichtig. Bleibt die Trauma-Reaktion
erfolglos und das Trauma kann nicht bearbeitet werden, folgen meist akute
Belastungsreaktionen. Diese Symptome dauern im Normalfall bis zu mehreren Tagen und
klingen im Laufe von wenigen Wochen ab. Wird der Akutzustand nicht behandelt oder
verarbeitet, folgt möglicherweise eine Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) (vgl.
WEINBERG 2013, S.40f; GAHLEITNER 2011, S.910). Weiter ist die Entwicklung von
Persönlichkeitsstörungen und anderen Störungen eine mögliche Folge traumatischer
Erlebnisse und deren Nicht-Verarbeitung (vgl. WEINBERG 2013, S.40f; GAHLEITNER 2011,
S.910). Nach KINDLER liegt eine PTBS dann vor,
„wenn ein Kind nach belastenden Erfahrungen einer tatsächlichen oder angedrohten
ernsthaften Verletzung der eigenen Person oder nahestehender Personen durch sein
Verhalten über längere Zeit hinweg eine hohe psychische Belastung zum Ausdruck bringt,
die eine normale Bewältigung altersentsprechender Entwicklungsaufgaben behindert“
(KINDLER 2002, S.17).
In
der
aktuellsten
deutschen
Version
der
INTERNATIONALEN
STATISTISCHEN
KLASSIFIKATION DER KRANKHEITEN UND VERWANDTER GESUNDHEITSPROBLEME (ICD-10GM VERSION 2014) findet man unter F43.1 die Posttraumatische Belastungsstörung.
WEINBERG kritisiert, dass in dieser Klassifizierung zwar auf Symptomatiken für
25
Jugendliche und Erwachsene eingegangen wird, nicht jedoch auf spezielle Aspekte des
Kindesalters (vgl. WEINBERG 2013, S.19; S.105). Aus diesem Grund stellt sie die typischen
Symptome der PTBS bei Jugendlichen und Erwachsenen den Symptomen bei Kindern
gegenüber (vgl. WEINBERG 2013, S.105). Merkmale des Wiedererlebens äußern sich bei
Jugendlichen und Erwachsenen beispielsweise in Erinnerungen durch Trigger, in Träumen
oder in nachahmendem Handeln. Kinder ahmen unter anderem Erlebnisse beim Spielen
nach oder haben Albträume. Vermeidung kann bei Erwachsenen und Jugendlichen durch
Vermeidung von erinnernden Gedanken, Gefühlen und/oder Handlungen stattfinden oder
sich in vermindertem Interesse, eingeschränkten Affekten und Körperwahrnehmung oder
in einem Gefühl der Hoffnungslosigkeit äußern. Kinder zeigen Vermeidung in Form von
abgeschwächter Sensibilität, sie können nicht richtig spielen, wollen keine Ruhephasen,
ziehen sich zurück, leben in eigenen Phantasiewelten, fühlen sich leer und gelangweilt oder
verlieren Entwicklungsfähigkeiten. Ein überhöhtes Erregungsniveau zeigt sich bei
Erwachsenen und Jugendlichen in Schlafstörungen, Reizbarkeit, Schwierigkeiten bei der
Konzentration oder übermäßigen Schreckreaktionen. Typische Verhaltensmerkmale bei
Kindern sind zum Beispiel nachts aufzuwachen, Angst ins Bett zu gehen zu haben,
hyperaktiv, ungehorsam und aggressiv zu sein oder Strafen zu provozieren (vgl.
WEINBERG 2013, S.105).
Geschlechtsspezifische Auswirkungen
Auffälligkeiten in Folge des Miterlebens häuslicher Gewalt treten bei Jungen und Mädchen
annähernd gleich häufig auf (vgl. MINISTERIUM DER JUSTIZ SAARLAND 2011, S.28). Jedoch
haben Mädchen ein stärkeres Gefühl der Verantwortlichkeit für Gewaltsituationen und
zeigen externalisierte Belastungen eher im engen Sozialraum. Jungen empfinden
Bedrohungen intensiver und sind gefährdeter, externalisierte Störungen langfristig
beizubehalten (vgl. MINISTERIUM DER JUSTIZ SAARLAND 2011, S.28). Im Hinblick auf die
verschiedenen Geschlechter wirkt sich das Miterleben häuslicher Gewalt für die Kinder
und Jugendlichen außerdem auf ihre Vorstellung von Geschlechterrollen aus (vgl.
DLUGOSCH 2010, S.77). Auf Grund der Gewalt des (Stief-)Vaters gegen die Mutter
assoziieren die Kinder und Jugendlichen Frauen eher mit Unterwerfung und Männer mit
Dominanz und Gewalt (vgl. STRASSER 2001, S.224). Die Jungen und Mädchen
identifizieren sich über ihre Erfahrungen mit ihrem eigenen Geschlecht und bilden darüber
die eigene Identität (vgl. HEYNEN 2001, S.91). Es besteht die Möglichkeit, dass sich
Jungen eher mit dem Täter identifizieren und verinnerlichen, dass Gewalt ein wirksames
26
Mittel zur Erfüllung der eigenen Wünsche und Interessen sein kann. Über die Abwertung
der Frau in ihrer Rolle als Opfer kann eine Steigerung des männlichen Selbstwertgefühls
erfolgen (vgl. WETZELS 1997 in HEYNEN 2001, S.91). Identifizieren sich Mädchen über die
Mutter mit der Opferrolle der Frau, kann es sein, dass sie zwar Mitleid mit der Mutter
haben, die Gewalthandlungen aber auch als Normalität ansehen. Das kann im späteren
Leben der Mädchen dazu führen, dass sie ebenfalls in gewalttätigen Beziehungen leben
und die Autorität und Gewalt ihrer Partner akzeptieren (vgl. WETZELS 1997 in HEYNEN
2001, S.91f).
Nach LAMNEK/RUEDTKE/OTTERMANN ist bei Mädchen und Jungen, die Zeugen häuslicher
Gewalt wurden, außerdem die Wahrscheinlichkeit höher, später in eigenen Partnerschaften
eine gewalttätige Konfliktlösung inne zu haben (vgl. LAMNEK/RUEDTKE/OTTERMANN
2012, S.99).
Resilienz
Langzeitstudien haben gezeigt, dass sich manche Kinder und Jugendliche trotz erschwerter
Lebensumstände gesund entwickelten (vgl. WERNER 2006 in WIEGAND-GREFE 2013,
S.708). Mit diesem Umstand beschäftigt sich die Resilienzforschung. Der Begriff Resilienz
stammt aus dem Lateinischen und bedeutet so viel wie „abprallen“ (vgl. WIEGAND-GREFE
2013, S.708). Man kann die Fähigkeit zur Resilienz als seelische Widerstandskraft sehen.
Sie wird nicht angeboren, sondern entwickelt sich im Laufe des Lebens (vgl. FRÖHLICHGILDOFF/RÖNNAU-BÖSE 2011, S.720). Verschiedene Studien konnten zeigen, dass eine
standhafte emotionale Bindung zu einer Bezugsperson für Kinder und Jugendliche den
wichtigsten Teil der Resilienzentwicklung darstellt (vgl. FRÖHLICH-GILDOFF/RÖNNAUBÖSE 2011, S.720). Andere wichtige Faktoren zur Resilienzentwicklung von Kindern und
Jugendlichen
sind
ihre
Selbst-
und
Fremdwahrnehmung,
Selbstwirksamkeit,
Selbststeuerung, soziale Kompetenz, Strategien zur Problemlösung und Stressbewältigung
(vgl. FRÖHLICH-GILDHOFF/DÖRNER/RÖNNAU 2007 in FRÖHLICH-GILDOFF/RÖNNAU-BÖSE
2009, S.14f).
Vermittlungswege
Nachdem erörtert wurde, dass das Miterleben häuslicher Gewalt Auswirkungen auf
betroffene Kinder und Jugendliche haben kann, stellt sich die Frage, wie genau diese
Auswirkungen zu Stande kommen können. Es gibt nach KINDLER sechs verschiedene
Wege, auf denen sich das Miterleben häuslicher Gewalt auf die Entwicklung der Kinder
27
und Jugendliche auswirken kann: die Vermittlung über weitere Belastungsfaktoren, über
geteilte genetische Merkmale, über biologische Mechanismen, über die eingeschränkte
Erziehungsfähigkeit des Gewalttäters, über die eingeschränkte Erziehungsfähigkeit des
Gewaltopfers oder über die direkte innerpsychische Verarbeitung des Miterlebens (vgl.
KINDLER 2013, S.39f).
Vermittlung über weitere Belastungsfaktoren
Zusätzlich zum Erleben häuslicher Gewalt können Kinder und Jugendliche noch anderen
Belastungen ausgesetzt sein, die eventuell zur Beeinträchtigung der Entwicklung beitragen.
Sind
die Kinder und Jugendlichen auch
selbst
von Gewalt
in
Form von
Kindesmisshandlung betroffen, besteht die Möglichkeit, dass die Misshandlungen für die
Beeinträchtigungen zumindest mitverantwortlich sind (vgl. KINDLER 2013, S.39). Kinder
und Jugendliche die Zeugen häuslicher Gewalt sind, leben mit einem erhöhten Risiko
zusätzlich Opfer von Misshandlung und/oder Vernachlässigung zu werden, einen
suchtkranken Elternteil zu haben oder mehrfach Erfahrungen mit Trennungen zu machen
(vgl. KINDLER 2013, S.40; KINDLER 2002, S.35). Auf der einen Seite zeigen verschiedene
Studien, dass Kinder und Jugendliche, die sowohl Gewalt beobachtet als auch selbst
erfahren haben, stärker belastet waren als Kinder und Jugendliche, die ausschließlich
Zeugen häuslicher Gewalt waren (vgl. KINDLER 2002, S.37). Auf der anderen Seite konnte
aber auch festgestellt werden, dass das Miterleben von Gewalt ohne eigene Misshandlung
eine ebenso gravierende Belastung für die Entwicklung der Kinder und Jugendlichen
darstellt (vgl. KINDLER 2013, S.40; KINDLER 2002, S.38).
Vermittlung über geteilte genetische Merkmale
KINDLER sieht die Vermittlung über genetische Merkmale in der Kritik, da der Beweis
genetischer Ursachen einer Störung oftmals die Auffassung nach sich ziehe, pädagogische
und psychologische Hilfen seien in diesen Fällen nutzlos (vgl. KINDLER 2013, S.41).
Studien zu anderen Themen haben bereits bewiesen, dass es Zusammenhänge zwischen
verschiedenen Bereichen der Lebens- und Erziehungsumwelt, zum Beispiel Aggressivität,
und Genetik gibt (vgl. KINDLER 2002, S.41). Jedoch folgten ihnen wiederum andere
Studien mit gegenteiligen Ergebnissen. Untersuchungen mit Zwillingen und die
Auswirkungen häuslicher Gewalt auf deren Entwicklung zeigten, dass Auffälligkeiten auch
unabhängig von genetischen Merkmalen auftraten (vgl. JAFFE
ET AL.
2002 in KINDLER
2002, S.42). Eine aktuelle Studie stellte zudem fest, dass auch zwischen den
Entwicklungsauffälligkeiten adoptierter Kinder und der Aggressivität zwischen den nicht28
leiblichen Eltern Zusammenhänge bestanden (vgl. STOVER ET AL. 2012 in KINDLER 2013,
S.41).
Genetische
Merkmale
sind
also
kein
unbedingter
Faktor
für
Verhaltensauffälligkeiten.
Vermittlung über biologische Mechanismen
In den letzten Jahren wurden bereits vorliegende Studien zur Vermittlung über biologische
Mechanismen von neuen Untersuchungen ergänzt. Zusammengefasst konnten die Studien
beispielsweise feststellen, dass das Miterleben häuslicher Gewalt auch dauerhaft
Physiologie und Entwicklung des Hirns verändern kann (vgl. MCCROY
ET AL.
2012 in
KINDLER 2013, S.41). Vor allem frühe und wiederholte Erfahrungen können
Veränderungen
des
Stresshormonsystems,
der
Selbstregulation,
des
autonomen
Nervensystems und der Epigenetik zur Folge haben. Bei einem Teil der betroffenen Kinder
und Jugendlichen können diese über längere Zeiträume hinweg fortbestehen. Jedoch
konnten die Studien auch nachweisen, dass die Veränderungen auch durch elterliche
Fürsorge und Unterstützung positiv beeinflusst werden können (vgl. HIBEL
ET AL.
2011;
KATZ/RIGTERINK 2012 beide in KINDLER 2013, S.41).
Vermittlung über die eingeschränkte Erziehungsfähigkeit des Gewalttäters
Eine gelingende Erziehung und Beziehung zwischen dem gewaltausübenden (Stief-)Vater
und den Kindern und Jugendlichen gestaltet sich oftmals als äußerst schwierig. Das liegt
unter anderem daran, dass diese (Stief-)Väter oftmals auffallend selbstbezogen, in der
Erziehung wenig konstant oder vom autoritären Erziehungsstil überzeugt sind (vgl.
SCHWABE-HÖLLEIN/KINDLER 2006 in KINDLER 2013, S.42). Auch das Bindungsverhalten
spielt hier eine Rolle. Im Abschnitt über Bindungsstörung wurde bereits beschrieben, dass
Kinder und Jugendliche eine eher unsichere Bindung zum Gewalttäter haben. Sie erleben
den (Stief-)Vater häufig weder als einschätzbar noch als fürsorglich. Keine Gewalt
erscheint den Kindern und Jugendlichen dann Fürsorge genug (vgl. KINDLER 2013, S.42).
Durch seine Ambivalenz trägt der (Stief-) Vater in Form seiner eingeschränkten
Erziehungsfähigkeit zur Belastung der Kinder und Jugendlichen bei (vgl. KINDLER 2013,
S.42f).
Vermittlung über die eingeschränkte Erziehungsfähigkeit des Opfers
Ein
bemerkenswertes
Ergebnis
verschiedener
Studien
zur
Erziehungsfähigkeit
gewalterlebender Mütter ist, dass oft keine Einschränkungen dieser vorzuliegen scheinen.
Stattdessen legen viele der Frauen ein normales Erziehungsverhalten an den Tag oder
29
versuchen sogar durch ausgeprägte Fürsorge die Belastungen für die Kinder und
Jugendlichen zu minimieren (vgl. TAILOR/LETOURNEAU 2012 in KINDLER 2013, S.43). Die
vielfach vorkommenden unsicheren Bindungen lassen aber vermuten, dass es den Müttern
nicht über einen längeren Zeitraum gelingen kann, dieses Fürsorgeverhalten aufrecht zu
erhalten, da sie durch die Gewalt des Partners belastet sind (vgl. KINDLER 2013, S.43).
Nach Beendigung der Gewalt können die Einschränkungen der Erziehungsfähigkeit wieder
neutralisiert werden. Besonders wenn sich die Mütter Unterstützung holen, zum Beispiel in
Form von Hilfen zur Erziehung. Allgemein kann gesagt werden, dass die temporären
Einschränkungen als Teil der Gründe für Entwicklungsbeeinträchtigungen betroffener
Kinder und Jugendlicher gesehen werden kann (vgl. KINDLER 2013, S.43).
Vermittlung durch die direkte innerpsychische Verarbeitung des Miterlebens
Das Miterleben häuslicher Gewalt stellt für die Kinder und Jugendlichen die Verletzung
ihrer Bezugsperson dar, wodurch sie enormen Stress empfinden. Sie erleben quasi den
Verlust ihrer eigenen emotionalen Sicherheit durch die Gewalt gegen die Mutter (vgl.
KINDLER 2013, S.46). Da sie sich, wie schon erklärt wurde, nicht an diesen Stress und die
Belastungen gewöhnen können, besitzen betroffene Kinder und Jugendliche eine sensiblere
Alarmbereitschaft als nicht betroffene (vgl. KINDLER 2013, S.46). Sie fühlen sich schuldig,
verantwortlich und haben enorme Angst, vor allem um das eigene Wohl und das der
Mutter (vgl. KINDLER 2013, S.46). Die Folgen häuslicher Gewalt wirken sich über das
Erleben und die Befindlichkeit der Kinder und Jugendlichen direkt auf deren Entwicklung
aus.
Sonderfall: Tötungsdelikt
Ein Sonderfall von Folgen häuslicher Gewalt ist der Tod einer der Beteiligten. Die aktuelle
POLIZEILICHE
KRIMINALSTATISTIK
zeigt
die
Opfer-Tatverdächtigen-Beziehung
in
Partnerschaften. So waren in 15,5% der Fälle von knapp 2000 Tötungsversuchen die
aktuellen oder ehemaligen Partner des Opfers tatverdächtig. Bei tatsächlicher Tötung (578
Fälle) waren ein Fünftel der Partner tatverdächtig (vgl. BUNDESMINISTERIUM DES INNEREN
2012, S.28). Diese Statistik wird nicht weiter nach Geschlecht differenziert. Ein Artikel der
SÜDDEUTSCHEN benennt für das Jahr 2011 Tötungen von 313 Frauen, wobei in 154 Fällen
der aktuelle oder ehemalige Partner als tatverdächtig galt (vgl. SUEDDEUTSCHE 2012 in
HEYNEN 2013, S.68). HEYNEN beschreibt als Ergebnis verschiedener Studien, dass
hauptsächlich Männer und nur selten Frauen die Täter in Tötungsdelikten sind. In vielen
Fällen ist die bevorstehende oder schon vollzogene Trennung Grund für den Täter, die
30
(ehemalige) Partnerin zu töten. Im Gegensatz dazu töten Frauen ihren Partner aus einer
Notwehr heraus, um die Gewalt zu beenden und sich von diesem zu befreien (vgl. HEYNEN
2010, S.69; HEYNEN 2005, S.313).
Die Gefahr tödlicher Gewalt richtet sich gegen jede Person im Familiengefüge. Kinder und
Jugendliche können als Racheakt getötet werden, die Partnerin selbst wird Opfer der
Tötung oder der Täter tötet sich selbst. Diese Formen können auch in Kombination
vorkommen (vgl. HEYNEN 2005, S.314). Es wird weiterhin Gewalt eines Mannes gegen
seine Partnerin angenommen. Im Falle der Tötung ihrer Mutter kommen zu den ohnehin
bestehenden Auswirkungen der Partnerschaftsgewalt der schmerzliche Verlust einer engen
Bindungsperson der Kinder und Jugendlichen. Der Tod der Mutter stellt für die Kinder und
Jugendlichen in der Regel ein traumatisierendes Ereignis dar, welches eine große
Veränderung des Lebens mit sich bringt (vgl. ECKARDT 2005, S.12; HEYNEN 2005, S.315).
Erschwerend kommt hinzu, dass die Kinder und Jugendlichen den Täter als letzte, wenn
auch unsichere, Bindungsperson ebenfalls verlieren. Entweder durch Selbstmord oder auf
Grund einer Haftstrafe. In der Auseinandersetzung mit dem Thema kann es vorkommen,
dass Kinder und Jugendliche sich mit dem Täter identifizieren und Ähnlichkeiten zwischen
ihm und sich selbst sehen (vgl. HEYNEN 2005, S.315). Für die Kinder und Jugendlichen
können die polizeilichen Ermittlungen und/oder eine eventuelle Aussage vor Gericht
belastend sein (vgl. HEYNEN 2010, S.72). Andere Veränderungen und Belastungen im
Leben der Kinder und Jugendlichen können durch ihre Unterbringung bei anderen
Familienangehörigen oder möglicherweise im Heim, ein damit verbundener Schulwechsel
und der Verlust ihres sozialen Umfelds sein (vgl. HEYNEN 2010, S.72).
Abschließend kann gesagt werden, dass die Anzahl betroffener Kinder und Jugendlicher
vom Miterleben häuslicher Gewalt bisher nur geschätzt werden kann. Kinder und
Jugendliche können sowohl direkt als auch indirekt von häuslicher Gewalt betroffen sein.
Die Zeugung durch eine Vergewaltigung und Gewalt in der Schwangerschaft richten sich
gegen die Kindesmutter, können aber ebenfalls Auswirkungen auf die Ungeborenen haben.
Direkt betroffen sind Kinder und Jugendliche von häuslicher Gewalt dann, wenn sie selbst
geschlagen werden. Eine wichtige und in der Vergangenheit oft vergessene Form der
Betroffenheit von häuslicher Gewalt ist das Aufwachsen in einer gewaltbelasteten
Atmosphäre und das damit verbundene Miterleben der Gewalt des (Stief-)Vaters gegen die
31
Mutter. Die Kinder und Jugendlichen sehen, hören und spüren die Gewalt, was zum einen
sofortige physische Reaktionen hervorrufen kann und sich zum anderen auf ihre
Befindlichkeit auswirkt. Hier und auch bei den verschiedenen Auswirkungen der Gewalt
auf verschiedene Bereiche spielen Wirkfaktoren eine Rolle. So können Folgen häuslicher
Gewalt je nach Alter, Geschlecht und Persönlichkeit der Kinder und Jugendlichen in
unterschiedlichen Formen und Ausprägungen vorkommen. Das Miterleben häuslicher
Gewalt kann für Kinder und Jugendliche Auswirkungen auf ihr Verhalten, ihre kognitive
sowie soziale Entwicklung und ihr Bindungsverhalten haben. Nicht selten stellt das
Miterleben häuslicher Gewalt für Kinder und Jugendliche ein traumatisches Erlebnis dar.
Dies kann dazu führen, dass die Kinder und Jugendlichen unter posttraumatischen
Belastungen leiden, die zu einer Posttraumatischen Belastungsstörung führen können.
Geschlechtsspezifisch können die Gewalterfahrungen Folgen für das Rollenverständnis der
Mädchen und Jungen haben und sich in zukünftigen Beziehungen niederschlagen. Es gibt
aber auch Kinder und Jugendliche, die sich nach Befunden der Resilienzforschung gesund
entwickeln. Wie genau die Auswirkungen zu Stande kommen können, zeigen die
verschiedenen möglichen Vermittlungswege über andere Belastungsfaktoren. Ebenfalls
eine
Rolle
spielen
geteilte
genetische
Merkmale,
biologische
Mechanismen,
eingeschränkte Erziehungsfähigkeit von Täter und Opfer und die direkte Verarbeitung der
Kinder und Jugendlichen. Einen Sonder- und Extremfall stellt für Kinder und Jugendliche
die Tötung ihrer Mutter im Kontext häuslicher Gewalt dar. Hier kommen zu den
bestehenden Belastungen durch die Gewalt möglicherweise Folgen einer deutlichen
Traumatisierung, in allen Fällen aber eine erhebliche Veränderung des bisher geführten
Lebens dazu.
32
Fallbeispiel Katja
Im Folgenden sollen die im Vorangegangen beschrieben Aspekte und Hintergründe anhand
eines Fallbeispiels aus der Praxis, dem „Fallbeispiel Katja“, verdeutlicht werden. Alle
Angaben wurden anonymisiert.
Katja V. ist 15 Jahre und wohnt seit März 2013 in einer Wohngruppe für traumatisierte
Kinder und Jugendliche.
Die folgenden Informationen stammen aus Aktennotizen, Unterlagen und Gesprächen mit
Katjas Tante Monika C. und ihrem Onkel Tobias C.
Abbildung 1: Genogramm Katja, Stand März 2013
Herkunft
Katja V. kam im Herbst 1998 als Tochter von Markus V. und Luisa V., geborene C., in
einer Kleinstadt in Sachsen auf die Welt.
33
Katjas Vater Markus V. wuchs bei seinen Eltern Werner und Marianne auf. Es ist bekannt,
dass Werner V. ein Alkoholproblem hatte. Markus V. hatte keine gute Beziehung zu
seinem Vater. Katjas Tante, Frau C., äußerte einmal die Vermutung, dass Werner V. seiner
Familie gegenüber gewalttätig war. Ob dies der Wahrheit entspricht, ist nicht bekannt. Aus
den Akten geht zudem hervor, dass Markus V. seiner Mutter gegenüber ein sehr
dominantes Verhalten zeigte, wie im Laufe des Fallbeispiels noch deutlich werden wird.
Nach seinem Hauptschulabschluss absolvierte Markus eine Lehre zum Klempner und
nahm anschließend die Arbeit in einem Betrieb in seiner Heimatstadt auf. Kurz nach dem
Tod seines Vaters lernte er Katjas Mutter Luisa kennen. Tobias C. berichtete, dass seine
Schwester Luisa C. (Mutter von Katja) und auch er selbst keine angenehme Kindheit
hatten. Mit 18 ist er von zu Hause ausgezogen und hat seine Schwester bei sich
aufgenommen, welche gerade die Realschule beendete. Zu diesem Zeitpunkt brach der
Kontakt zu den leiblichen Eltern ab. Als Luisa ihre Ausbildung im Einzelhandel begann,
lernte sie Markus V. kennen und lieben. Die beiden wurden Anfang 1991 ein Paar. Tobias
C. zog im gleichen Frühjahr berufsbedingt nach Baden-Württemberg. Dort lernte er seine
zukünftige Frau Monika kennen. Während Tobias in Baden-Württemberg lebte, hatten er
und seine Schwester Luisa, so berichtete Tobias, nur gelegentlich Kontakt.
Katjas Kindheit
Im Frühjahr des Jahres 2000 wurde Katjas Schwester Karolin geboren. Die Familie V.
lebte in einer Wohnung im Haus von Großmutter Marianne. Tobias C. erzählte, dass er
durch die Geburt seiner zweiten Nichte wieder häufiger Kontakt zu seiner Schwester Luisa
und ihrer Familie hatte und sie sich gegenseitig oft besuchten. Monika und Luisa wurden
gute Freundinnen. Monika kann keine Kinder bekommen, umso mehr liebt sie ihre Nichten
Katja und Karolin. In Gesprächen mit Luisa erfuhr Monika auch von Markus‘
Gewalttätigkeit gegenüber seiner Frau und seiner Mutter Marianne. Über Jahre hinweg
habe Markus seine eigene Mutter wie eine Sklavin in der Dachgeschosswohnung des
Hauses gehalten. Er habe sie alle Hausarbeit machen lassen und manchmal habe er sie
sogar eingesperrt. Luisa behandelte er wie sein Eigentum, so Monika. Ihr fielen zu dieser
Zeit immer wieder blaue Flecken und andere Wunden an Luisas Körper auf, doch diese
wollte nicht mit Monika darüber reden. Luisa habe immer wieder beteuert, dass sie Markus
liebe und dass er ein wundervoller Vater für die beiden Mädchen sei. Markus vergötterte
seine Töchter wie Prinzessinnen. Während Markus seine Mutter und seine Frau
unmenschlich behandelt hat, waren seine Töchter sein Ein und Alles. Er habe Katja und
34
Karolin nach Angaben des Ehepaares C. immer alle Wünsche erfüllt. An Katjas achtem
Geburtstag schenkte ihr Vater ihr ein Quad, ein motorisiertes vierräderiges Gefährt, mit
dem Katja im großen Garten umher fahren durfte. Trotzdem übte Markus auch auf seine
Kinder eine große Kontrolle aus. Wenn Luisa aus dem Haus ging, durfte sie nur eine ihrer
Töchter mitnehmen, die andere behielt ihr Mann bei sich. Er brachte seine Mädchen
überall hin, lies sie aber nie allein. Beispielsweise begleitete er seine Töchter auf
Kindergeburtstage. Nach Außen schien er ein toller Vater zu sein, zu Hause aber war er der
gewalttätige Ehemann. Was Katja und Karolin von der Gewalt gegen ihre Mutter
mitbekamen, kann Monika nicht mit Sicherheit sagen. Als Monika an einem Frühlingstag
des Jahres 2007 die Familie V. besuchen wollte, erlebte sie, wie Markus V. und seine
Töchter im Garten mit Plastikmunition aus Softairwaffen auf Großmutter Marianne
schossen. Luisa war in der Wohnung eingeschlossen, klopfte an das Fenster. Monika
erzählt, Markus habe immer wieder in Luisas Richtung gerufen, dass „die dumme
Schlampe“ den Mund halten solle, sonst werde sie „was erleben“. Die zu diesem Zeitpunkt
siebenjährige Karolin erklärte Monika, dass sie und ihr Schwester jedes Mal etwas Süßes
bekämen, wenn sie die Oma abschossen. „Bevor Markus etwas tun konnte, bin ich
weggerannt“, so Monika. Am nächsten Tag suchte sie Luisa auf, als Markus arbeiten war.
Sie konnte Luisa endlich dazu überreden, sich von Markus zu trennen. Luisa und ihre
Töchter zogen übergangweise zu einer Freundin. Markus reagierte auf die Trennung,
indem er immer wieder versuchte, seine Töchter an sich zu nehmen, indem er sie zum
Beispiel ohne Absprache vom Kindergarten abholte. Luisa fasste schließlich den Mut, sich
gegen Markus zu wehren und beantragte das alleinige Sorgerecht für ihre Kinder, welches
ihr auch zugesprochen wurde. Sie lebte inzwischen in einer eigenen Wohnung. Markus
versuchte, Revision gegen das Sorgerechtsurteil einzulegen, doch er blieb erfolglos. An
einem Tag im Herbst 2007 waren Katja und Karolin bei ihrer Großmutter zu Besuch.
Diesen Tag werde sie niemals vergessen, erzählt Monika. Markus war zu Luisas neuer
Wohnung gefahren und erschoss die Mutter seiner Kinder mit einer Armbrust. Monika und
Tobias erhielten das Sorgerecht für Katja und Karolin und Markus eine Haftstrafe von über
10 Jahren.
Katjas Leben bis zur Aufnahme in die Traumagruppe
Nach dem Tod ihrer Mutter lebten Katja und Karolin bei ihrer Tante und ihrem Onkel in
Baden-Württemberg. Monika lies die Nachnamen der Kinder in den Mädchennamen der
Mutter und damit den Familiennamen von Tobias und Monika ändern. Monika gab zu,
35
dass sie jegliche Verbindung zu Markus habe einstellen wollen. Auch den Kontakt zu
Großmutter Marianne verbot sie den Mädchen. Die ersten zwei Jahre nach dem Tod der
Mutter schienen sich Katja und Karolin wohlzufühlen und den Umständen entsprechend
gut zu entwickeln. Doch der Umgang mit Katja gestaltete sich nach Angaben des Ehepaars
C. immer schwieriger. Unterlagen aus Katjas Akte belegen, dass diese sich im November
2011 selbst in Obhut nehmen ließ. Sie gab an, zwischen ihr und ihrer Tante bestünden
Spannungen und Monika sei ihr gegenüber mehrmals handgreiflich geworden. Katja wurde
vier Wochen später in einer Kinder- und Jugendwohngruppe in der nächstgrößeren Stadt
aufgenommen. Die Hilfe wurde jedoch schon sechs Monate später beendet. Laut Hilfeplan
vom Januar 2012 habe Katja sich in der Eingewöhnungsphase zurückhaltend gezeigt. Je
länger sie aber in der Gruppe wohnte, desto höher wurden Ansprüche und Anforderungen
an sie. Diesen hielt Katja nicht stand und verlangte die Rückführung zu Tante und Onkel.
Nach Angaben von Monika C. hielt sich Katja dort kaum an Regeln und blieb wiederholt
der Schule fern. Sie war selten zu Hause, stattdessen oft mit Freunden unterwegs. Sowohl
an Wochenenden, als auch über Nacht, weshalb es immer wieder zu Streit zwischen ihr
und Monika kam. Schließlich ließ sich Katja im September 2012 abermals in Obhut
nehmen. Das zuständige Jugendamt entschied, das Aufenthaltsbestimmungsrecht sowie das
Antragsrecht des SGB VIII auf einen Vormund des Jugendamtes zu übertragen. Laut
schriftlicher Aussage des Jugendamtes in Katjas Akte sollte Katja dann erst mal zurück zu
ihrer Tante, da eine stationäre Unterbringung zu dieser Zeit aus Platzmangel schwierig
war. Katja legte Beschwerde ein. Sie forderte, dass das Jugendamt die gesamte
Personensorgeberechtigung für sie übernehme. Die Beziehung zu ihrer Tante und ihrem
Onkel sei gestört und ihre Wünsche würden nicht respektiert werden. Monika C. erkläre
daraufhin, dass sie zu Katjas Wohl entscheide, diese das aber nicht so sehen könne. Katja
sei es von früher gewohnt, ihren Willen zu bekommen und die Entscheidungen ihrer Tante
seien entgegen ihrer Wunschvorstellungen. Als Katja im Januar 2013 mit einer
Alkoholvergiftung ins Krankenhaus eingeliefert wurde, sah die Tante dies als Bestätigung,
dass Katja noch nicht in der Lage war, über sich selbst entscheiden zu können. Nach einer
Abklärung in einer Kinder- und Jugendpsychiatrie bekam Katja lauft schriftlichem Befund
eine leichte depressive Episode diagnostiziert. Katja wurde danach in einer
Kurzzeitpflegefamilie untergerbacht. Ein Beschluss des Jugendamtes bewirkte, dass
Monika C. die Personen- und Vermögenssorge für Katja behielt, die anderen Bereiche aber
vom Jugendamt übernommen wurden. In den sechs Wochen bei der Kurzzeitpflegefamilie
36
verhielt Katja sich unauffällig und wurde im März 2013 schließlich in eine Wohngruppe
für traumatisierte Kinder und Jugendliche im benachbarten Landkreis aufgenommen.
Katjas Leben auf der Wohngruppe
Die traumapädagogische Wohngruppe im Ostalbkreis bewohnten zu Katjas Ankunft sieben
Kinder und Jugendliche. Drei elfjährige Jungen und drei Mädchen im Alter von 12 bis 15.
Die Konzeption der Wohngruppe formuliert das Angebot eines sicheren Ortes und
wertschätzender Bezugspersonen. Die Gruppe arbeitet mit einem Bezugsbetreuersystem
sowie einem therapeutischen Einzelangebot durch einen Psychologen. Alle Kinder und
Jugendlichen haben pro Woche eine Einzelstunde mit ihrem Bezugsbetreuer und eine
Therapiestunde mit dem Psychologen. Diese Einzelkontakte beruhen auf dem oben
genannten Ansatz der Resilienzförderung, der besagt, dass eine Bezugsperson einen
wichtigen Faktor für Kinder und Jugendliche darstellt (s. S. 27).
Zu den gleichaltrigen Mädchen konnte Katja während des kurz nach ihrer Aufnahme
stattfindenden Gruppenurlaubs schnell Kontakt herstellen. Im Alltag mit den Betreuern
und den Jungs zeigte sich Katja höflich, aber zurückhaltend. Auf der Realschule, die sie bis
heute besucht, konnte sie ebenfalls Anschluss und neue Freunde finden. Anfangs räumte
man Katja auf der Gruppe Zeit ein, um anzukommen und andersherum nutzte man die Zeit
für diagnostische Einschätzungen. Von Anfang an fiel es Katja schwer, die Angebote der
Bezugsbetreuung und der Therapiestunden anzunehmen. Sie war nur dann offen, wenn es
um die Erfüllung ihrer Wünsche und Anliegen ging. Nach einer Eingewöhnungsphase
steigerte man die Anforderungen an Katja, was ihr Schwierigkeiten zu bereiten schien. Vor
allem fiel es ihr schwer, ihr Zimmer ordentlich zu halten und ihre Schulaufgaben
vollständig zu erledigen. Das Betreuerteam versuchte dann, Katjas Wünsche und die an sie
gestellten Anforderungen in Abhängigkeit zu setzen, das heißt, ihren Wünsche, zum
Beispiel Fernsehen oder Freunde treffen, wurden dann entsprochen, wenn sie ihrerseits
ihre Pflichten wie Aufräumen und Hausaufgaben machen erledigt hatte. Diese Idee
funktionierte aber nur bedingt, da Katja genau abschätzte, welche Wünsche ihr wichtig
genug waren, Pflichten zu erfüllen. So schaute sie lieber kein fern, als ihr Zimmer
aufzuräumen. In den Einzelkontakten zeigte sie sich weiterhin verschlossen und nicht
interessiert. Zu ihrer Tante, ihrem Onkel und ihrer Schwester hatte Katja unregelmäßigen
Kontakt, jedoch fanden immer wieder gegenseitige Besuche statt. Mit der Zeit litt Katja
nach eigenen Aussagen zunehmend unter Schlafproblemen, Kopf- und Bauchschmerzen
sowie Sodbrennen und nutze diese als Grund für ein Fernbleiben von der Schule. Nach
37
ärztlichen Untersuchungen stellte man bei ihr einen Eisen- und Jodmangel fest, außerdem
brauchte Katja eine Brille. Mit Tabletten und einer Brille versuchte man, ihren
Beschwerden entgegenzuwirken. Katja klagte weiterhin vor allem über Bauchschmerzen
und weigerte sich immer öfter, in die Schule zu gehen. Auffällig war, dass ihre
Beschwerden am Nachmittag verflogen waren und sie dann Zeit mit Freunden und ihrem
festen Freund verbringen wollte. In Kooperation mit ihrem Klassenlehrer stellte man fest,
dass Katja meistens an den Tagen über diverse Krankheiten klagte, wenn Klassenarbeiten
geschrieben wurden und sie mit dem Wissensstand hinter ihren MitschülerInnen lag. Auf
die ihr gegenüber geäußerten Vermutungen, dass ihre Krankheiten nur gespielt waren, um
Klassenarbeiten nicht mitschreiben zu müssen, reagierte Katja mit Trotz. Sie wies die
Schuld für ihr Verhalten anderen zu. So war beispielsweise der Mathelehrer schuld an
ihren schlechten Noten, weil dieser sie nicht leiden könne oder sie verpasse oft den
Schulbus, da sie nicht geweckt würde. Als man ihr erklärte, dass sie das Schuljahr nicht
bestehen würde, wenn sie ihr Verhalten nicht ändern würde, war Katja bereit, Hilfe der
MitarbeiterInnen der Wohngruppe anzunehmen. Gemeinsam mit Katja besprach man das
Thema und vereinbarte, dass sie wieder regelmäßig die Schule besuchen und sich fehlende
Aufschriebe und Arbeitsblätter bei MitschülerInnen besorgen würde. Dies klappte anfangs
auch gut, Katja zeigte sich kooperativ und gewillt, ihre Noten zu verbessern. Ihre
Hausaufgaben wurden täglich überprüft und Katja informierte die MitarbeiterInnen über
anstehende Klassenarbeiten. Nach ein paar Wochen fanden Gespräche mit Katjas Tante
Monika C., Katjas Bezugsbetreuerin, Katjas LehrerInnen und Katja selbst statt. Die
LehrerInnen lobten Katjas Verhalten und Anstrengungen in der Schule und teilten mit,
wenn sie so weiter mache, werde sie versetzt. Doch kurz nach den Gesprächen
vernachlässigte Katja wieder die Schule. Sie weigerte sich, zur Schule zu gehen und es
kam einige Male zu lautstarken verbalen Auseinandersetzungen mit ihr und auch den
anderen Mädchen der Gruppe. Auf die MitarbeiterInnen wirkte es, als manipuliere Katja
die gleichaltrigen Mädchen und versuche, das Leben auf der Wohngruppe schlecht zu
reden. Auch Katjas Tante Monika C. erzählte, dass Katja beispielsweise beim Besuch über
Weihnachten erzählte, wie schlecht es ihr auf der Gruppe ginge, dass die MitarbeiterInnen
dumm und unfähig seien und die Kinder und Jugendlichen schlecht behandeln würden.
Außerdem fiel Monika C. auf, dass Katjas Verhalten sich nach der Beschenkung
veränderte. Zu Anfang des Besuchs sei sie sehr nett und zuvorkommend gewesen, doch
nachdem sie ihre Geschenke bekommen hatte, widersetzte Katja sich ihrer Tante
wiederholt. Auch auf der Wohngruppe legte sie solche Verhaltensweisen an den Tag. Für
38
Katja nehmen materialistische Dinge einen großen Stellenwert ein und sie legt ein
ausgeprägtes Konsumverhalten an den Tag.
Im Januar 2014 fand ein Hilfeplan statt, bei dem vor allem die Themen Schule und Leben
auf der Wohngruppe erörtert wurden. Anwesend waren der Gruppenleiter und der
psychologische Fachdienst der Wohngruppe, Katjas Tante Monika C., Katjas Vormund
vom Jugendamt, eine für Katjas Gesundheitsfürsorge verantwortliche Mitarbeiterin des
Jugendamts sowie Katja selbst. Ergebnisse des Hilfeplans waren unter anderem, dass Katja
sich wünschte, das Schuljahr zu schaffen und auf der Realschule bleiben zu können. Dafür
übernimmt sie selbst die Verantwortung und geht zukünftig regelmäßig in die Schule.
Tage, an denen sie wirklich krank ist, werden von der Wohngruppe entschuldigt, für das
Schwänzen bekommt sie jedoch unentschuldigte Fehltage, die Einfluss auf ihre Versetzung
haben können. Als weitere Konsequenz für Schwänzen wurde festgelegt, dass Katja an
Fehltagen und dem darauffolgenden Wochenende keine Freunde und auch nicht ihren
festen
Freund treffen
darf und
am
jeweiligen
Fehltag auch
keine anderen
Annehmlichkeiten wie Fernsehen zugesprochen bekommt. Weil Katjas Tante Monika C.
befürchtete, dass Katja abermals die Hilfe abbricht, äußerte sie deutlich, dass sie Katja bei
aller Liebe nicht mehr zu Hause aufnehmen werde. Außerdem werde sie versuchen, sich
aus den Angelegenheiten der Wohngruppe zu distanzieren, sodass Katja klar werden
könne, dass die Gruppe ihren Lebensraum darstellt und sie nicht immer bei
Schwierigkeiten davon laufen kann. Es war außerdem Katjas eigene Vorstellung bis zu
ihrem 18. Geburtstag auf der Wohngruppe zu leben. Katja sprach außerdem an, dass sie die
Einzel- und Therapiestunden nicht weiterführen wolle. Das läge vor allem daran, dass sie
kein Vertrauen zu den Betreuern habe, auch nicht zu ihrer Bezugsbetreuerin und ihr die
Einzelkontakte unangenehm seien. Man einigte sich dann darauf, die Einzelstunden bis zu
den Sommerferien auszusetzen und Katjas Bedarf dann erneut abzufragen. Bis dahin stehe
es ihr aber immer offen, sich mit Problemen an einen der MitarbeiterInnen der
Wohngruppe zu wenden. Die Therapiestunden hingegen würden weiterhin stattfinden.
Katja akzeptierte dies. Abermals hielt Katja sich nur wenige Wochen an die
Abmachungen. Dann gab es einen Vorfall mit einem Mädchen, das die gleiche Schule
besuchte, wie ein anderes Mädchen der Wohngruppe. Das Mädchen, Lena, hatte angeblich
abwertend über Bilder von Katja und ihrer besten Freundin auf der Wohngruppe, Sandra,
geredet. Weder Katja noch Sandra kannten Lena persönlich, sondern nur durch
Erzählungen des anderen Mädchens der Wohngruppe. Kurzerhand finden Katja und
39
Sandra Lena nach der Schule ab und Katja schubste sie mehrmals heftig und ohrfeigte sie.
Weiter drohten die Mädchen Lena, dass sie nicht abfällig über sie (die Mädchen) reden
solle. Weil ein Lehrer vorbei kam, flog die Aktion auf und die MitarbeiterInnen der
Wohngruppe erfuhren davon. Katja war sich keiner Schuld bewusst, wies diese sogar von
sich ab und beschuldigte Lena, die ja schließlich abfällig geredet habe. Katja und Sandra
mussten sich in Form eines Briefes und eines Handschlags bei Lena entschuldigen.
Ungefähr zur gleichen Zeit begann Katja wieder damit, regelmäßig die Schule zu
verweigern, vor allem wenn Klassenarbeiten anstanden. Wie abgesprochen, führte ein
Fehltag zu den Sanktionen, am Wochenende keinen Besuch bekommen zu dürfen. Katja
machte kein Geheimnis daraus, dass sie absichtlich mehrere Tage zu Hause blieb, da die
Sanktionen sich ja nicht vermehrten. Die MitarbeiterInnen der Wohngruppe verstanden
dies als gezielte Provokationen und gingen nicht weiter darauf ein, da Katja nicht mit
diesem Verhalten rechnen würde. Weil Katja sich immer wieder weigert, über die Situation
zu reden, ist aktuell eine schriftliche Ankündigung in Zusammenarbeit mit dem
psychologischen Fachdienst, den MitarbeiterInnen und Katjas Tante in Planung. Dies soll
ihr deutlich machen, dass ihr Verhalten nicht akzeptabel ist, die MitarbeiterInnen der
Gruppe aber trotzdem an ihrer Seite stehen und sie nicht allein lassen werden. Dies soll
einen Unterschied zu den bisherigen Hilfen darstellen, die mit Katja an ihre Grenzen
stießen und sie aufgaben.
Transfer
Bis auf wenige Situationen ist nicht bekannt, was Katja genau in ihrer Kindheit miterlebt
hat. Ausgeschlossen werden kann, dass sie selbst Gewalt erfahren musste. Neben der
Gewalt ihres Vaters gegen ihre Großmutter und Mutter musste sie zusätzlich den Verlust
ihrer Mutter und dann auch ihres Vaters erleiden. Durch den Tod ihrer Mutter und die
Inhaftierung ihres Vaters war Katja großen Veränderungen ausgesetzt. Sie musste aus
ihrem gewohnten Umfeld in ein anderes Bundesland ziehen, ihre Freunde zurücklassen
und die Schule wechseln. Dazu gestaltete sich die Beziehung zu ihrer Tante zunehmend als
schwierig.
MitarbeiterInnen der Wohngruppe auf der Katja lebt konnten seit ihrer Ankunft
verschiedene Merkmale der vorher genannten Auswirkungen des Erlebens häuslicher
Gewalt auf Kinder und Jugendliche beobachten. Die Diagnose einer leichten depressiven
Episode ist ein Zeichen für Störungen im Bereich der Internalisierung. Auch Katjas
Rückzug und Schweigen bei Auseinandersetzungen kann als solches gesehen werden. Das
40
wiederholte Verstoßen gegen Regeln und Abmachungen deutet aber auch auf
externalisierte Verhaltensauffälligkeiten hin. Das Besuchen der Realschule und Katjas
bewussten Handlungen zu ihrem Vorteil sprechen gegen eine Intelligenzminderung. Dafür
sind Einschränkungen in der Lernbereitschaft und ihrer Konzentrationsfähigkeit bei Katja
auch durch ihre schlechten Noten deutlich bemerkbar. Was Katjas soziale Entwicklung
angeht sind im Zusammenhang mit der Beziehungsgestaltung zu Gleichaltrigen keine
Defizite zu erkennen. Sie scheint aber die Rolle der Anführerin im Freundeskreis darstellen
zu wollen und instrumentalisiert vor allem die anderen Mädchen der Wohngruppe. So
erleben es die MitarbeiterInnen der Gruppe vor allem anhand von Aussagen und Verhalten
in Auseinandersetzungen mit den Mädchen. Bei ihrer Konfliktbewältigung zeigt Katja eine
andere Seite an sich. Scheint sie sonst schüchtern und distanziert, wirkt sie in Konflikten
eher aggressiv und gewaltbereit. Auf die Lästerei eines fremden Mädchens reagierte Katja
wie bereits erwähnt mit Gewalt. Im Zusammenhang von sozialen Beziehungen und Katjas
Bindungsverhalten zeigt und äußert sie, dass sie nur wenig oder kein Vertrauen zu anderen
Menschen, besonders Erwachsene herstellen kann. In ihrer Kindheit verlor sie ihre Eltern
als Bezugspersonen, die Beziehung zu ihrer Tante gestaltete sich mit der Zeit schwierig, zu
ihrer Schwester pflegt sie nur sporadischen Kontakt. Auch zu den MitarbeiterInnen auf der
Wohngruppe kann und möchte sie kein Vertrauen fassen. Katja zeigt nach Meinung der
MitarbeiterInnen der Wohngruppe Symptome einer Posttraumatischen Belastungsstörung
(PTBS). So leidet Katja beispielsweise eigenen Aussagen zu Folge unter Albträumen und
Schlafstörungen.
Außerdem
zeigt
sie
teilweise
Tendenzen
eines
erhöhten
Erregungsniveaus, indem sie Regeln nicht befolgt und Sanktionen provozieren zu scheint.
Was geschlechtsspezifische Auswirkungen bei Katja angeht, so sind diese nicht
beobachtbar. Anzeichen dafür sind Katjas offensives Konfliktverhalten bei Gleichaltrigen
sowie der Wunsch nach einer Alphaposition in ihrer Clique.
Wie
bereits
öfter
angedeutet,
stehen
Themen
der
Partnerschaftsgewalt
und
Kindesmisshandlung in Verbindung miteinander. Kindesmisshandlung stellt eine Art
zwischenmenschlicher Gewalt in der Familie dar (s. S. 7). In einigen Definitionen
häuslicher Gewalt wird diese mit Gewalt in der Familie gleichgesetzt und schließt damit
auch die Gewalt der Eltern gegen Kinder und Jugendliche ein (s. S. 7). Ebenfalls wurde
darauf eingegangen, dass es früher alltäglich war, dass Kinder und Jugendliche zur
Erziehung gezüchtigt wurden. Heute gibt es ein Gesetz, dass allen Kindern und
Jugendlichen das Recht auf eine gewaltfreie Erziehung zuspricht (§1631 BGB). Was
41
Kindesmisshandlung bedeutet, welche Formen es gibt und wie viele Kinder und
Jugendliche davon betroffen sind, wird im nachstehenden Kapitel erörtert. Weiter werden
die Auswirkungen von Misshandlung auf die Kinder und Jugendlichen beschrieben und
inwiefern das Miterleben häuslicher Gewalt und die Eigenerfahrung mit Gewalt
vergleichbar sind.
42
Kindesmisshandlung
Definition und Formen von Kindesmisshandlung
Unter Kindesmisshandlung werden Gewalthandlungen gegen Kinder verstanden, die
Verletzungen zur Folge haben, zum Beispiel schlagen oder würgen, und Handlungen, die
die Entwicklung des betroffenen Kindes schädigen können (vgl. FALTERMEIER 2011,
S.512). Diese Formulierung bezieht sich eher auf körperliche Gewalthandlungen.
DEEGENER bedient sich einer Definition, nach welcher Kindesmisshandlung eine
„nicht zufällige, gewaltsame psychische und/oder physische Beeinträchtigung oder
Vernachlässigung des Kindes durch Eltern/Erziehungsberechtigte oder Dritte, die das
Kind schädigt, verletzt, in seiner Entwicklung hemmt oder zu Tode bringt“ (BLUMMAURICE ET AL. 2000 in DEEGENER 2005, S.37).
Hier wird deutlich, dass die Misshandlungen sich sowohl auf körperliche oder seelische
Gewalt beziehen, als
auch Vernachlässigung eine Rolle spielt.
Formen von
Kindsmisshandlung sind körperliche und seelische Misshandlung, Vernachlässigung und
sexueller Missbrauch (vgl. DEEGENER 2005, S.37).
Körperliche Misshandlung
Gewalthandlungen, die sich gegen den Köper der Kinder und Jugendlichen richten und
diesen verletzen könnten, werden zu körperlicher Misshandlung gezählt (vgl. GOLDBECK
2013, S.665). Die Liste der verschiedenen Gewalthandlungen, durch die Eltern Kindern
und Jugendlichen körperliche Misshandlung zufügen können, scheint endlos zu sein:
Schlagen, Verbrennen, Würgen, Schütteln, Einklemmen oder Vergiften und noch viele
mehr (vgl. DEEGENER 2005, S.37; GOLDBECK 2013, S.665). Affektive Handlungen sollen
laut GOLDBECK nicht als Kindesmisshandlung angesehen werden (vgl. GOLDBECK 2013,
S.665).
Vernachlässigung
Handelt es sich bei der körperlichen Gewalt um eine aktive Handlung, beinhaltet
Vernachlässigung das Unterlassen verschiedener Handlungen, welche der Erziehung und
Fürsorge der Kinder und Jugendlichen dienen sollen (vgl. GOLDBECK 2013, S.666). Dabei
geht es in erster Linie um die Befriedigung der Grundbedürfnisse, beziehungsweise im Fall
der Vernachlässigung um die Missachtung oder Nichterfüllung dieser. Dazu gehören unter
anderem Ernährung, Hygiene, Gesundheit, Schutz vor Kälte und Wärme oder Aufsicht und
43
Zuwendung (vgl. DEEGENER 2005, S.37; GOLDBECK 2013, S.666). Man kann hierbei
zwischen körperlicher und emotionaler Vernachlässigung differenzieren (vgl. DEEGENER
2005, S.37).
Sexueller Missbrauch
Sexueller Missbrauch umfasst sexuelle Handlungen, die gegen den Willen des Opfers
durchgeführt werden. Gegen den Willen der Kinder und Jugendlichen bedeutet auch, dass
sie ihre Einwilligung nicht abgegeben haben, zum Beispiel weil sie es auf Grund ihres
kognitiven und seelischen Entwicklungsstandes nicht können (vgl. DEEGENER 2005, S.38).
Weitere Aspekte sind die Absicht der sexuellen Befriedigung des Täters und der
Altersunterschied zwischen Täter und Opfer. Je nach Alter der Kinder und Jugendlichen
zieht man die Grenze bei einer Differenz größer als fünf bis zehn Jahre, um die sexuellen
Handlungen als Missbrauch zu definieren (vgl. SCHECHTER/ROBERGE 1976 in GOLDBECK
2013, S.667). Die Formen von sexuellem Missbrauch sind ebenso vielfältig wie
körperliche Gewalthandlungen. Sexueller Missbrauch umfasst Anfassen von Genitalien,
Geschlechtsverkehr jeder Art, die Erstellung von Pornografie, aber auch exhibitionistische
Handlungen, das Vorführen von Pornografie oder sexuelle Äußerungen (vgl. GOLDBECK
2013, S.667). In den letzten Jahren wurde auch das Internet und soziale Netzwerke
häufiger ein Ort sexuellen Missbrauchs (vgl. GOLDBECK 2013, S.668). Die Täter sind in
vielen Fällen Verwandte oder Personen aus dem nahen sozialen Umfeld der Kinder und
Jugendlichen (vgl. FALTERMEIER 2011, S.512).
Seelische Misshandlung
Seelische oder auch emotionale Misshandlung erfolgt in Form von Bedrohung der Kinder
und Jugendlichen, Ablehnung, Entwürdigung, Verängstigung oder Terrorisierung.
Beispiele
hierfür
sind
Beschimpfung,
Überbehütung
oder
Nichtbeachten,
Sündenbockrollenzuweisung oder Demütigung (vgl. DEEGENER 2005, S.38; GOLDBECK
2013, S.668). Da seelische Misshandlung die Psyche der Kinder und Jugendlichen angreift,
sind diese Art der Misshandlung und deren Folgen nicht sichtbar. (vgl. GOLDBECK 2013,
S.668).
Prävalenz
Eine genaue Aussage über die Anzahl misshandelter Kinder und Jugendlicher zu machen
ist kaum möglich. Gründe dafür sind beispielsweise die große Dunkelziffer der Fälle oder
auch die Tatsache, dass Deutschland im Gegensatz zu anderen Ländern keine systemische
44
Erfassung von Fällen der Kindesmisshandlung hat (vgl. GOLDBECK 2013, S.672). HÄUSER
ET
AL.
führten deshalb 2011 eine retrospektive Querschnittsuntersuchung einer
repräsentativen Zufallsstichprobe in Deutschland durch. Zur Befragung wurde eine Form
des international am häufigsten verwendeten Childhood Trauma Questionnaire (CTQ)
genutzt (vgl. HÄUSER ET AL. 2011, S.232). Demnach waren 15% der befragten Menschen
in ihrer Kindheit und Jugend von emotionalen, 12 % von körperlichem und fast 13% von
sexuellem Missbrauch betroffen. Jeweils fast die Hälfte der Befragten berichtete von
emotionaler, beziehungsweise körperlicher Vernachlässigung (vgl. HÄUSER
ET AL.
2011,
S.233). Außerdem zeigte die Untersuchung, dass zwischen den Misshandlungsformen
Korrelationen bestehen. Das bedeutet, dass misshandelte Kinder und Jugendliche mit hoher
Wahrscheinlichkeit von mehreren Formen der Misshandlung betroffen sind (vgl. HÄUSER
ET AL.
2011, S.233).
Auswirkungen
Bezüglich der Auswirkungen von Kindesmisshandlung auf Kinder und Jugendliche
unterscheidet man nach den Zeiträumen des Auftretens. Weiter kann zwischen Kurzzeitund Langzeitfolgen differenziert werden (vgl. MOGGI 2005, S.94). Kurzzeitfolgen treten
innerhalb von ungefähr zwei Jahren nach Beginn der Kindesmisshandlung auf.
Langzeitfolgen sind fortwährend und treten erst in der späteren Entwicklung der Kinder
und Jugendlichen auf. In beiden Fällen sind die Ausprägungen der Folgen von
verschiedenen Wirkfaktoren abhängig, zum Beispiel Art der Misshandlung, Schweregrad
und Alter (vgl. MOGGI 2005, S.94f).
45
Verhaltensauffälligkeiten nach Entwicklungsstand
Wie eben erwähnt hängen die Auswirkungen von Misshandlung auf Kinder und
Jugendliche
unter
anderem
von
deren
Alter
ab.
Die
ARBEITSGRUPPE
KINDESMISSHANDLUNG (AGKM) erstellte eine Übersicht von Symptomen und Störungen
misshandelter Kinder und Jugendlicher. Die aufgezählten Symptome treten laut
wissenschaftlicher Untersuchungen häufig in den jeweiligen Alterststufen auf (vgl. MOGGI
2009, S.869f). Es ist aber unbedingt zu beachten, dass die Verhaltensauffälligkeiten auch
infolge anderer Belastungsereignisse auftreten können (vgl. AGKM 1992 in MOGGI 2009,
S.870).
Abbildung 2: Entwicklungsabhängige Verhaltensauffälligkeiten sowie psychische und
psychosomatische Symptome und Störungen (MOGGI 2005 in MOGGI 2009, S.870)
46
Die Abbildung veranschaulicht, dass manche Verhaltensauffälligkeiten im späteren Alter
nicht mehr aufzutreten scheinen, andere sich dafür erst später zeigen oder einige sich durch
das gesamte Leben der Misshandelten ziehen. Beispielsweise kommen Auffälligkeiten
bezogen auf das Bindungsverhalten nach dieser Auflistung im Vorschulalter auf, später
aber nicht mehr. Auffälligkeiten des sexuellen Verhaltens treten zwar stetig auf, doch die
möglichen Erscheinungsformen ändern sich.
Kurzzeitfolgen
Nicht bei jeder Form der Kindesmisshandlung treten dieselben Folgen auf. Manche Folgen
sind abhängig von der Misshandlungsform (vgl. MOGGI 2005, S.95f). Es gibt aber auch
Kurzzeitfolgen, die bei allen Formen der Kindesmisshandlung vorkommen. Man kann sie
in kognitiv-emotionale Störungen, somatische und psychosomatische Störungen und
Störungen des Sozialverhaltens einteilen. Zu den kognitiv-emotionalen Störungen gehören
unter anderem Konzentrationsschwierigkeiten, Lernschwierigkeiten, Sprachstörungen,
Angststörungen, Posttraumatische Belastungsstörung, Depressionen, selbstverletzendes
Verhalten und Gefühlsregulationsstörungen. Somatische und psychosomatische Störungen
äußern
sich
in
körperlichen
Verletzungen,
psychosomatischen
Beschwerden,
Schlafstörungen, Essstörungen und Einkoten und/oder –nässen. Zu den Störungen des
Sozialverhaltens zählen Weglaufen, geringe Scheu vor Fremden, Schulschwänzen,
abweichendes Verhalten, hyperaktives und/oder aggressives Verhalten (vgl. MOGGI 2005,
S.95). Diese Störungsbilder lassen sich auch in das Auftreten in internalisierter oder
externalisierter Form aufteilen (vgl. SALTER 1988 in MOGGI 2009, S.871).
Folgen von körperlicher Misshandlung sind körperliche Verletzungen, zum Beispiel
Schädigungen an den Organen, blaue Flecken, Beulen, Narben, Knochenbrüche,
Verbrennungen und Verbrühungen, Schütteltraumata und diverse andere Verletzungen der
Körperteile und/oder Organe (vgl. MOGGI 2005, S.96; GOLDBECK 2005, S.674). Seelische
Misshandlung und Vernachlässigung können vor allem bei jüngeren Kindern
Entwicklungsverzögerungen und/oder Bindungsstörungen hervorrufen (vgl. MOGGI 2005,
S.96). Sichtbare Folgen können laut GOLDBECK ein verschmutzter und schlechter Zustand
des Körpers der Kinder und Jugendlichen, Merkmale der Unterernährung und Anzeichen
der unterlassenen Hygiene sein (vgl. GOLDBECK 2005, S.674). Sexueller Missbrauch führt
in sehr vielen Fällen zu Verletzungen der Genitalien der Kinder und Jugendlichen, zu
Infektionen
mit
Geschlechtskrankheiten,
sexualisiertem
Verhalten,
das
nicht
altersentsprechend ist und bei älteren Kindern früher auftritt als bei anderen Kindern sowie
47
ungewollte Schwangerschaften bei Mädchen (vgl. MOGGI 2005, S.96; GOLDBECK 2005,
S.674f).
Langzeitfolgen
Langzeitfolgen der Misshandlung von Kindern und Jugendlichen treten oft erst im
Erwachsenenalter auf. Wie bei den Kurzzeitfolgen ist zu berücksichtigen, dass es sich um
häufig auftretende Symptome und Auswirkungen handelt und nicht um unfehlbare
Diagnosekriterien (vgl. MOGGI 2005, S.98; GOLDBECK 2005, S.677). Die Langzeitfolgen
beziehen sich auf alle Formen der Kindesmisshandlung.
Mögliche Langzeitfolgen können sich in Form einer Posttraumatischen Belastungsstörung
(PTBS) durch Wiedererleben der Misshandlung, Vermeidung ähnlicher Situationen
und/oder einem erhöhten Erregungsniveau äußern (vgl. MOGGI 2005, S.99; GOLDBECK
2005, S.675). Einige der misshandelten Kinder und Jugendlichen leiden möglicherweise
später unter Angststörungen und Depressionen. Diese Menschen leben in Angst und
Unsicherheit, empfinden Gefühle von Schuld und/oder Scham. Außerdem können sie sich
wertlos, hilflos, ohnmächtig und einsam fühlen (vgl. MOGGI 2005, S.99). Bei anderen
Kindern
und
Jugendlichen
wurden
im
späteren
Leben
verschiedene
Persönlichkeitsstörungen, häufig vom Typ Borderline, festgestellt (vgl. MOGGI 2005,
S.99). Viele Opfer entwickeln ein selbstschädigendes Verhalten. Dies kann sich in
missbräuchlichem Konsum oder Abhängigkeit von legalen und/oder illegalen Drogen
zeigen, in selbstverletzendem Verhalten, in einer allgemein erhöhten Risikobereitschaft bis
hin zu Selbstmordgedanken und/oder –handlungen (vgl. MOGGI 2005, S.99). Weitere
Langzeitfolgen können (psycho-)somatische Symptome sein. Dazu gehören organisch
nicht nachweisbare körperliche Symptome wie Bauchschmerzen, Durchfall oder
Gliederschmerzen und das damit verbundene häufige Besuchen von Ärzten (vgl. MOGGI
2005, S.99). Es können auch dissoziative Störungen, Schlaf- und Essstörungen auftreten.
Bei sexueller Misshandlung kommt es häufig zu sexuellen Störungen (vgl. MOGGI 2005,
S.99). Misshandelte Kinder und Jugendliche haben als Erwachsene nicht selten gestörte
soziale Beziehungen. Sie misstrauen zum Beispiel den eigenen Eltern oder empfinden in
ihrer Paarbeziehung keine Zufriedenheit. Mädchen, beziehungsweise Frauen fürchten sich
vor Männern und tendieren dazu, Opfer gewalttätiger Partner zu werden. Jungen,
beziehungsweise Männer neigen dazu, in späteren Beziehungen Gewalt auszuüben.
Allgemein haben misshandelte Kinder und Jugendliche auch im Erwachsenenalter
Probleme, sich anzupassen (vgl. MOGGI 2005, S.99).
48
Erklärungskonzepte
Um zu erklären, auf welchen Wegen sich das Miterleben häuslicher Gewalt auf die
Entwicklung der betroffenen Kinder und Jugendlichen auswirkt, zog KINDLER die oben
genannten sechs möglichen Vermittlungswege heran (s. S27ff). Auch für die
Auswirkungen von Misshandlung auf die Entwicklung der Kinder und Jugendlichen gibt
es verschiedene Erklärungskonzepte.
Traumatheorie
Der Begriff des Traumas, sowie die Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) und deren
Folgen wurden bereits erläutert (s. S. 24ff). Die Traumatheorie erklärt kurz- und
langfristige Folgen traumatischer Ereignisse (vgl. MOGGI 2009, S.873). Jeder Mensch hat
von Natur aus positive Annahmen über sich selbst und die Welt. JANOFF-BULMAN ist der
Ansicht, diese Grundannahmen könnten durch traumatische Ereignisse angegriffen und
verändert werden (vgl. JANOFF-BULMAN 1992 in MOGGI 2009, S.873). Die schlechten
Erfahrungen durch traumatische Erlebnisse fügen sich sozusagen in die positiven
Grundannahmen ein, was zur Bildung neuer Grundannahmen führt (vgl. JANOFF-BULMAN
1992 in MOGGI 2009, S.873). Die Veränderungen sind gemeinsam mit dem
Entwicklungsstand der Betroffenen für die Art und das Ausmaß der Folgen
ausschlaggebend. Durch die fehlenden positiven Erfahrungen sind Kinder und Jugendliche
im Gegensatz zu Erwachsenen seltener fähig, ein Trauma zu verarbeiten und somit auch
anfälliger für die Veränderungen ihrer inneren Grundannahmen (vgl. JANOFF-BULMAN
1992 in MOGGI 2009, S.873).
Psychobiologisches Stressmodell
Das biopsychologische Stressmodell ist ein Prozessmodell, das die Entstehung von
Störungen misshandelter Kinder und Jugendlicher unter Stress erklärt (vgl. GOLDBECK
2013, S.678; MOGGI 2009, S.873). Am Anfang des Prozesses steht die Misshandlung als
traumatisches Erlebnis und Stresssituation für die Kinder und Jugendlichen. Schon hier
spielen verschiedene Faktoren eine Rolle für die eventuelle Entwicklung von Störungen.
Zum einen sind dies objektive Faktoren, wie der Schweregrad der Misshandlung und zum
anderen subjektive Faktoren, das heißt, wie die Kinder und Jugendlichen die Misshandlung
erleben und bewerten (vgl. GOLDBECK 2013, S.678; MOGGI 2009, S.873). Es folgt eine
traumatische Reaktion, die sich in Form von Gefühlen der Angst und Hilfslosigkeit zeigen
kann. Für die Entwicklung von Störungen ist in dieser Phase des Prozesses von Bedeutung,
wie lange diese andauern, welcher Art und wie stark sie sind (vgl. GOLDBECK 2013, S.678;
49
MOGGI 2009, S.873). Nach dieser ersten Reaktion beginnt der Prozess der Verarbeitung
des Erlebten. Es gibt entweder die Möglichkeit, dass die Kinder und Jugendlichen das
Erlebte nach kurzweiligen Stress- beziehungsweise. Belastungssymptomen verarbeiten
oder aber sie entwickeln auf Grund der nichtstattfindenden Verarbeitung eine PTBS oder
andere Störungen (vgl. GOLDBECK 2013, S.679; MOGGI 2009, S.873). Wichtig für die
Verarbeitung sind Schutz- und Risikofaktoren der Kinder und Jugendlichen. Diese können
aus dem Erlebten an sich, persönlichen Charakteristika der Kinder und Jugendlichen, deren
Entwicklungsstand, ihrer Widerstandsfähigkeit oder ihrer Verletzlichkeit bestehen (vgl.
GOLDBECK 2013, S.679; MOGGI 2009, S.873). Bleibt die Belastung bestehen, weil keine
Verarbeitung stattfindet, kann dies zu dysfunktionalen Kognitionen, wie wenig
Selbstwirksamkeit, negativen Emotionen, wie Schuldgefühlen und unangepassten
Verhaltensmustern, wie Selbstschädigung, führen (vgl. MOGGI 2009, S.874). Die
Verhaltens- und Emotionsmuster beeinflussen die Persönlichkeitsentwicklung der Kinder
und Jugendlichen (vgl. GOLDBECK 2013, S.679; MOGGI 2009, S.874). Dieses
Prozessmodell verdeutlicht, dass ein traumatisches Erlebnis nicht konsequent zu einer
bestimmten Reaktion führt, sondern der Umgang der Kinder und Jugendlichen mit dem
stresserzeugenden Erlebnis ausschlaggebend ist. Die Kinder und Jugendlichen entwickeln
abhängig von ihren persönlichen Schutz- und Risikofaktoren Bewältigungsstrategien,
welche wiederum die Entwicklung der Kinder und Jugendlichen beeinflusst (vgl.
GOLDBECK 2013, S.679f; MOGGI 2009, S.874).
Erweitertes Prozessmodell
Im Zusammenhang mit Studien zum Stressmodell und den psychobiologischen
Auswirkungen auf misshandelte Kinder und Jugendliche, fand man Zusammenhänge zur
Hirnentwicklung der Betroffenen (vgl. GOLDBECK 2013, S.680; HEIM 2005 in MOGGI
2009,
S.874).
Diese
Untersuchungsergebnisse
verstärken
und
ergänzen
das
psychobiologische Modell (vgl. DE BELLIS 2001 in GOLDBECK 2013, S.680f).
50
Abbildung 3: Neurobiologisches Modell der psychobiologischen Misshandlungsfolgen bei
Kindern (nach DE BELLIS 2001 in GOLDBECK 2013, S.681)
Die Abbildung soll die neurobiologischen Prozesse vereinfacht veranschaulichen, da diese
komplex sind. Demnach scheint die Misshandlung Kinder und Jugendlicher eine
hormonelle Regulationsstörung in deren Hypothalamus-Hypophysen-NebennierenrindenAchse (HPA-Achse) zu verursachen. Diese Regulationsstörung erhöht die Anfälligkeit der
Kinder und Jugendlichen für psychische Störungen (vgl. KIRSCH ET AL. 2011 in GOLDBECK
2013, S.680). Die hormonellen Veränderungen können dann zu Veränderungen im
Hirnstoffwechsel führen, was Einfluss auf verschiedene Hirnregionen hat, zum Beispiel
auf die Reaktionshemmung durch den anterioren cingularen Kortex. Weiter gibt es
Hinweise darauf, dass sich traumatische Erlebnisse auf das Volumen des Gehirns
51
auswirken (vgl. GOLDBECK 2013, S.680f). Am Ende dieses Prozesses stehen schließlich
Beeinträchtigungen der kognitiven und psychosozialen Funktionen. Die verschiedenen
Entwicklungen können auch Ergebnis anderen Umstände im Leben der Kinder und
Jugendlichen sein. Die Verknüpfung der beiden beschriebenen Prozessmodelle reicht aber
nicht aus, um die Vielfältigkeit der Folgestörungen von Kindesmisshandlung zu erklären
(vgl. GOLDBECK 2013, S.680). Aus diesem Grund wird im nächsten Abschnitt der Einfluss
genetischer Faktoren erklärt.
Genetische Faktoren
Einige Untersuchungen zu Auswirkungen von Kindesmisshandlung deuten an, dass
genetische Variationen für die Anfälligkeit beziehungsweise Widerstandsfähigkeit für die
Misshandlung verantwortlich sind (vgl. MOFFITT ET AL. 2005 in GOLDBECK 2013, S.682).
Andere Untersuchungen konnten anhand von Versuchen an Tieren Hinweise darauf finden,
dass Pflege- und Umweltbedingungen Einfluss auf die Genexpression haben können, ohne
Veränderungen der DNA zu bewirken (vgl.
WEAVER ET AL.
2004; ROTH ET AL. 2009 beide
in GOLDBECK 2013, S.682). In einem Vergleich misshandelter und nicht-misshandelter
Menschen wurde herausgefunden, dass die Misshandlung mit der Veränderung eines
Genrezeptors
in
Zusammenhang
steht.
Darauf
könnte
die
Verknüpfung
der
Misshandlungserlebnisse der Kinder und Jugendlichen mit hormonellen Veränderungen im
Gehirn und psychischen Störungen basieren (vgl. TYRKA ET AL. 2012 in GOLDBECK 2013,
S.682).
Abschließend kann gesagt werden, dass es nicht „die eine“ Begründung für das Entstehen
psychischer Störungen als Folge von Misshandlung gibt. Es ist ein Zusammenspiel
verschiedener Faktoren und Bedingungen auf verschiedenen Ebenen.
Zusammenfassend richtet sich Kindesmisshandlung direkt gegen Kinder und Jugendliche.
Ausgeführt werden kann sie von den Eltern oder anderen meist erwachsenen Personen.
Man unterscheidet Kindesmisshandlung in körperlicher und seelischer Misshandlung,
Vernachlässigung und sexuellem Missbrauch. Man vermutet eine große Dunkelzahl von
betroffenen Kindern und Jugendlichen. Die Auswirkungen von Kindesmisshandlung sind
abhängig von Wirkfaktoren, vor allem dem Entwicklungsalter der Betroffenen. Außerdem
unterscheidet man zwischen Kurzzeitfolgen, die unmittelbar nach der Misshandlung
auftreten und Langzeitfolgen, die sich erst im späteren Leben der Misshandelten zeigen.
52
Die Kurzzeitfolgen von Kindesmisshandlung können sich in kognitiv-emotionalen,
somatischen und psychosomatischen sowie Störungen des Sozialverhaltens äußern. Im
Falle von physischen Gewaltformen sind häufig körperliche Verletzungen bei den Kindern
und Jugendlichen zu finden. Posttraumatische Belastungsreaktionen oder –störungen,
Persönlichkeitsstörungen, selbstschädigendes Verhalten, psychosomatische Störungen,
dissoziative Störungen, Schlafstörungen und Essstörungen können langfristige Folgen von
Kindesmisshandlung sein. Für die Entstehung dieser Folgestörungen gibt es verschiedene
Erklärungsansätze, die sich jedoch ergänzen und erweitern. Allgemein geht man davon
aus, dass Misshandlungserfahrungen traumatische stresserzeugende Erlebnisse darstellen,
welche diverse neurobiologische Prozesse in Gang setzen und sich so auf die Betroffenen
auswirken.
53
Miterleben häuslicher Gewalt und Kindesmisshandlung
Nachdem die Auswirkungen des Miterlebens häuslicher Gewalt und Kindesmisshandlung
auf Kinder und Jugendliche beschrieben wurden, wird in diesem Abschnitt versucht
herauszufinden, wo eventuelle Unterschiede und Gemeinsamkeiten dieser beiden Themen
liegen.
Begrifflichkeiten
Häusliche Gewalt wird vor dem Hintergrund der Thematik dieser Arbeit als
Partnerschaftsgewalt verstanden. Es handelt sich also um Gewalt, die sich in jedem Fall
zwischen Menschen abspielt, die in Beziehung zueinander und zu den beobachtenden
Kindern und Jugendlichen stehen (s. S. 7f). Grundsätzlich bedeutet Miterleben, dass die
Kinder und Jugendlichen passiv an der Gewalt beteiligt sind. Kindesmisshandlung
hingegen richtet sich aktiv gegen die Kinder und Jugendlichen. Kindesmisshandlung muss
nicht von einem Familienmitglied ausgehen, sondern kann auch durch andere Personen
verübt werden (s. S. 43).
Formen
Beim Betrachten der Gewaltformen muss wieder bedacht werden, dass sich die häusliche
Gewalt auf Grund des Aspektes des Miterlebens nicht gegen die Kinder und Jugendlichen
richtet, sondern, so wird in dieser Arbeit angenommen, gegen die Mutter. Prinzipiell kann
sich häusliche Gewalt aber auch gegen Kinder und Jugendliche richten (s. S. 7). Die
Gewalt kann auf physischer, psychischer, sexueller oder ökonomischer Ebene stattfinden
(s. S. 7f.). Kindesmisshandlung kann in Form von körperlicher oder seelischer
Misshandlung, Vernachlässigung oder sexuellem Missbrauch stattfinden (s. S. 43). Nach
LAMNEK/LUEDTKE/OTTERMANN könne das Miterleben häuslicher Gewalt als eine Art der
seelischen
Gewalt
gegen
Kinder
und
Jugendliche
gesehen
werden
(vgl.
LAMNEK/LUEDTKE/OTTERMANN 2012, S.133).
Prävalenz
Sowohl im Fall des Miterlebens häuslicher Gewalt als auch bei Kindesmisshandlung
können keine konkreten Aussagen über die Anzahl der betroffenen Kinder und
Jugendlichen gemacht werden (s. S. 13f; S.44f). Wie bereits erwähnt deuteten
verschiedene Studien jedoch an, dass die Größen der beiden Betroffenengruppen beinahe
identisch sind (s. S. 22).
54
Auswirkungen
Bei der Betrachtung der Auswirkungen auf Kinder und Jugendliche sind immer die
Wirkfaktoren zu berücksichtigen. Nicht jede Erfahrung wirkt sich auf alle Kinder und
Jugendlichen auf die gleiche Art und in gleichem Ausmaß aus. Die Auswirkungen sind
unter anderem abhängig vom Alter und Entwicklungsstand der Kinder und Jugendlichen,
Art und Häufigkeit der erlebten oder erfahrenen Gewalt sowie Persönlichkeitsmerkmalen
(s. S. 21; S.45).
Vergleicht man die Auswirkungen des Miterlebens häuslicher Gewalt und die
Auswirkungen von Kindesmisshandlung auf betroffene Kinder und Jugendliche, fällt eine
große Übereinstimmung auf. In beiden Fällen zeigen Kinder und Jugendliche diverse
internalisierte und externalisierte Verhaltensauffälligkeiten wie Angst, Depression, soziale
Isolation, Aggressivität und Probleme mit Regeleinhaltungen, Entwicklungsverzögerungen
und –rückstände im kognitiven und sozialen Bereich und/oder ein gestörtes
Bindungsverhalten (s. S. 21ff; S.45ff). Kinder und Jugendliche, die Gewalt miterleben oder
am eigenen Leib erfahren, sind oft mit den traumatischen Erlebnissen überfordert und
leiden
infolge
dessen
unter
posttraumatischen
Belastungsreaktionen
oder
–störungen. Wie diese sich in spezifischen Störungsbildern zeigen, wurde bereits erläutert
(s.
S.
24ff).
Beide
Arten
von
Gewalterfahrung
können
Einfluss
auf
Geschlechterrollenvorstellungen haben (s. S. 26f; S.48). Die hohe Übereinstimmung in den
Auswirkungen auf die Kinder und Jugendlichen kann zudem durch den Vergleich von
Studien zum Miterleben häuslicher Gewalt verdeutlicht werden. Demnach hat das
Miterleben häuslicher Gewalt den gleichen Effekt auf Kinder und Jugendliche, wie
Kindesmisshandlung (s. S. 22).
Ein Unterschied zwischen Miterleben und Misshandlung besteht in den physischen Folgen
von körperlicher Misshandlung und sexuellem Missbrauch.
Vermittlung
Als mögliche Vermittlungswege von Auswirkungen des Miterlebens häuslicher Gewalt auf
Kinder und Jugendliche werden die Vermittlung über weitere Belastungsfaktoren, über
geteilte genetische Merkmale, über biologische Mechanismen, über die eingeschränkte
Erziehungsfähigkeit des Gewalttäters, über die eingeschränkte Erziehungsfähigkeit des
Gewaltopfers oder über die direkte innerpsychische Verarbeitung des Miterlebens genannt
(s. S. 27ff). Zwischen den Vermittlungswegen und den erläuterten Erklärungskonzepten
55
für Auswirkungen von Kindesmisshandlung (s. S. 49ff)
können Zusammenhänge
hergestellt werden.
Sowohl im Falle des Miterlebens als auch bei Kindesmisshandlung müssen andere
mögliche Belastungen für die Kinder und Jugendlichen beachtet werden. KINDLER nennt
beispielsweise für Kinder und Jugendliche, die Zeugen häuslicher Gewalt werden ein
erhöhtes Risiko ebenfalls Opfer von Kindesmisshandlung zu werden (vgl. KINDLER 2013,
S.40). Im neurobiologischen Modell der psychobiologischen Misshandlungsfolgen werden
ebenfalls mögliche Einflüsse genannt (s. S. 51). Diese können unter anderem in anderen
belastenden Lebensereignissen bestehen, durch familiäre und/oder genetische Belastungen
auftreten, Faktoren des sozialen Umfelds beinhalten und im Falle von innerfamiliärer
Misshandlung auch von psychischen Faktoren des misshandelnden Elternteils geprägt sein.
Hier können Parallelen zu den eben genannten Vermittlungsmöglichkeiten über Genetik
und Eltern, beziehungsweise Opfer und Täter im Falle von häuslicher Gewalt, gezogen
werden. Diese Faktoren dürfen nicht unberücksichtigt bleiben, aber eine größere Rolle
nehmen wahrscheinlich die direkten Vermittlungswege und Auswirkungen über die Kinder
und Jugendlichen ein. Sowohl das Miterleben als auch das Selbsterleben von
verschiedenen Gewaltformen stellt wie mehrmals erwähnt Stress für die betroffenen
Kinder und Jugendlichen dar (s. S. 19). Die Vermittlung über biologische Merkmale und
über
die
innerpsychische
Verarbeitung
können
zusammengefasst
und
im
neurobiologischen Modell wiedergefunden werden. Deutlich wird dies außerdem dann,
wenn man das Miterleben von häuslicher Gewalt und Kindesmisshandlung als
traumatische Erlebnisse für die Kinder und Jugendlichen ansieht. Sowohl Auswirkungen
als auch Vermittlungswege können dann unter Berücksichtigung der Wirkfaktoren sehr
ähnlich ausfallen.
Auch wenn das Miterleben häuslicher Gewalt und Kindesmisshandlung zuerst zwei
unterschiedliche Angelegenheiten zu sein scheinen, zeigt dieser Vergleich, dass es viele
Zusammenhänge und Parallelen gibt. Obwohl Kinder und Jugendliche als Zeugen
häuslicher Gewalt nicht direkt von der Gewalt betroffen, sondern Beobachter sind, zeigen
sie die gleichen Folgestörungen wie misshandelte Kinder und Jugendliche. Auch die
ähnlich großen Betroffenenzahlen sind ein Hinweis darauf, dass das Miterleben häuslicher
Gewalt und die Auswirkungen auf die betroffenen Kinder und Jugendlichen im Vergleich
56
zu Kindesmisshandlung nicht unterschätzt werden sollten und dürfen. Beide Arten von
Gewalterleben stellen für Kinder und Jugendliche traumatische Erlebnisse dar, die
Prävention und Intervention bedürfen.
57
Bedeutung für die Soziale Arbeit
Allgemein betrachtet hat die Soziale Arbeit die Aufgabe, benachteiligte Personen und/oder
Personengruppen zu befähigen und zu unterstützen. Soziale Arbeit soll soziale Probleme
mindern, beziehungsweise vermeiden und gesellschaftliche Teilhabe ermöglichen (vgl.
MÜHLUM 2011 S.773; S.776). Die einzelnen Handlungsfelder wie Alten-, Behinderten-,
Gesundheits-, Familien-, Sozial- und Kinder- und Jugendhilfe sollen benachteiligten
Personen bei der Alltagsbewältigung helfen und sollen zur Lösung gesellschaftlicher
Probleme beitragen (vgl. MÜHLUM 2011, S.774f). Je nach Handlungsfeld sind gesamte
Familien, Frauen, Männer oder Kinder und Jugendliche die Klienten der Sozialen Arbeit
im Kontext häuslicher Gewalt (vgl. FOCKS 2013, S.241).
WEBER sieht den Schutz und die Hilfe bei Gewalt als eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe
(vgl. WEBER 2005, S.68). Es ist also kaum möglich, dass sich lediglich ein Arbeitsfeld mit
dem Schutz und der Hilfe bei Gewalt beschäftigt. Für eine erfolgreiche Intervention bei
häuslicher Gewalt benötigt es die Kooperation verschiedener Institutionen (vgl. HARTWIG
2007, S.170). Da diese Arbeit von Kindern und Jugendlichen als Zeugen häuslicher Gewalt
handelt, wird die Jugendhilfe im Folgenden als Hauptakteur der Prävention und
Intervention bei häuslicher Gewalt gesehen. Ziel möglicher Maßnahmen der Jugendhilfe
soll immer die Beendigung der Gewalt, der Schutz vor weiterer Gewalt und die
Unterstützung der Kinder und Jugendlichen sein. Um diese Ziele im Spannungsfeld von
Elternrechten, Kindeswohl, Kinderrechten sowie Hilfe und Kontrolle erreichen zu können,
bedarf es der Zusammenarbeit mit anderen Institutionen (vgl. WEBER 2005, S.70f).
Im Folgenden werden zuerst Rahmenbedingungen für gelingende Kooperationsverhältnisse erläutert, dann mögliche Kooperationspartner der Jugendhilfe vorgestellt. Der
letzte Teil beschäftigt sich dann mit Aufgaben und Leistungen der Jugendhilfe selbst.
Interinstitutionelle und –disziplinäre Kooperation
Rahmenbedingungen einer gelingenden Kooperation
Die Kooperation verschiedener Institutionen und/oder Disziplinen soll den Schutz vor
Gewalt sichern und erleichtern. Kooperation erfordert ein gemeinsames und planvolles
Handeln der beteiligten Akteure. Um die verschiedenen Interessen und Vorstellungen der
Kooperationspartner zu vereinen, benötigt es gewisse Rahmenbedingungen (vgl.
BUSKOTTE/KREYSSING 2013, S.266). Zum einen sind die unterschiedlichen Kompetenzen
58
und Aufgaben der Kooperationspartner wichtig für einen ganzheitlichen Blick auf das
Problem, jedoch ist es ebenso wichtig, gemeinsame Kooperationsziele zu finden und
festzulegen
(vgl.
BUSKOTTE/KREYSSING 2013,
S.266).
Gemeinsame
Ziele
und
Arbeitsschritte können die Fortschritte des Hilfeprozesses deutlich machen und
motivierend wirken. Eine weitere Voraussetzung für eine gelingende Kooperation ist das
Vorhandensein von gegenseitiger Akzeptanz durch den offenen Austausch zwischen den
Kooperationspartnern. Die jeweiligen Institutionen sollen außerdem hinter der Kooperation
stehen und sich bestmöglich an der Kooperation beteiligen (vgl. BUSKOTTE/KREYSSING
2013, S.266f).
Kooperationspartner Frauenschutz und Frauenhaus
In den letzten Jahren ist es verschiedenen Professionen trotz aller Herausforderungen, die
Kooperationsarbeit mit sich bringt, gelungen, eine gemeinsame Sichtweise auf die
Problematik des Miterlebens häuslicher Gewalt und den Hilfebedarf der betroffenen
Kinder und Jugendlichen zu entwickeln (vgl. BUSKOTTE/KREYSSING 2013, S.270). Die
Übereinstimmung profitiert von verschiedenen Grundannahmen über häusliche Gewalt;
nämlich, dass Gewalt gegen Frauen auch Gewalt gegen deren Kinder und damit eine
Gefährdung des Kindeswohls darstellt (vgl. BUSKOTTE/KREYSSING 2013, S.270).
Basierend auf diesen Festlegungen können Jugendhilfe und Frauenschutz auf Kommunalund Länderebene Konzepte und Strategien zum Schutz und zur Unterstützung aller
Betroffenen formulieren (vgl. BUSKOTTE/KREYSSING 2013, S.266; STRUCK 2013, S.551).
Kinder und Jugendliche, die als Folge häuslicher Gewalt mit ihrer Mutter ins Frauenhaus
fliehen, brauchen dort Unterstützung. Das Frauenhaus sollte mit Einrichtungen der
Jugendhilfe Kontakt aufnehmen und eine Kooperation initiieren (vgl. KAVEMANN 2002,
S.27).
Im
Frauenhaus
selbst
können
sofortige
Hilfeangebote
stattfinden.
Die
Mitarbeiterinnen des Frauenhauses können die Kinder und Jugendlichen darüber aufklären,
wo sie sich befinden und aus welchem Grund sie dort sind. In einem Gespräch können die
Kinder und Jugendlichen ihre Erlebnisse erzählen und gemeinsam kann ein Sicherheitsplan
erarbeitet werden. Er formuliert Möglichkeiten, wie die Kinder und Jugendlichen sich
zukünftig in Gewaltsituationen verhalten und schützen können. Um Verantwortungs- und
Schuldgefühle zu mindern oder zu beseitigen, sollte den Kindern erklärt werden, dass sie
keine Verantwortung für das Geschehene tragen und gemeinsam mit der Mutter ein offener
Austausch über das Erlebte stattfinden. Die Mutter soll im weiteren Prozess unterstützt
59
werden und wenn nötig ein Kontakt zu Hilfeangeboten für die Kinder und Jugendlichen
können über das Frauenhaus hergestellt werden (vgl. KAVEMANN 2002, S.27f).
Kooperation mit Familiengerichten
Seit 2001 gibt es das Gewaltschutzgesetz (GewSchG). Es ermöglicht Personen, deren
Körper, Gesundheit oder Freiheit durch eine andere Person verletzt wird, einen Antrag auf
gerichtliche Maßnahmen gegen die gewaltausführende Person zu stellen. So kann nach §1
Abs. 1 GewSchG ein Gewalttäter der Wohnung des Opfers verwiesen und jeglicher
Kontakt zum Opfer verboten werden. §1 Abs. 2 GewSchG besagt unter anderem, dass dies
auch gilt, wenn eine Androhung von Gewalt erfolgte. §1666 BGB ermöglicht es, eine
Person einer Wohnung zu verweisen, wenn diese Person eine Gefahr für das Wohl eines
Kindes darstellt. §8a SGB VIII regelt außerdem eine Kooperation zwischen Jugendamt und
Familiengericht in Fällen einer akuten Kindeswohlgefährdung und/oder fehlender
Mitarbeit
der
Erziehungsberechtigten.
Nicht
selten
folgen
einem
Platzverweis
Angelegenheiten des Sorge- und Umgangsrechts (vgl. WEBER 2005, S.71). Verfahren zu
Sorge- und Umgangsrechtsregelungen erfordern ebenfalls eine Zusammenarbeit der
Jugendämter und Gerichte. Nach §50 Abs. 1 SGB VIII ist das zuständige Jugendamt ein
Beteiligter des Verfahrens und hat das Gericht zu unterstützen sowie im Prozess
mitzuwirken. §50 Abs. 1 Satz 1 SGB VIII nennt speziell Angelegenheiten des
Gewaltschutzes als Unterstützungsgrund. Das Jugendamt soll das Gericht beraten, um eine
den individuellen Anforderungen und dem Wohl der Kinder und Jugendlichen
entsprechende Entscheidung zu treffen (vgl. WEBER 2005, S.72).
Kooperation bei polizeilicher Intervention
Eine polizeiliche Intervention bei häuslicher Gewalt kann auf dem Anruf oder auf einer
gerichtlichen Entscheidung nach §1 GewSchG erfolgen. Laut KAVEMANN seien nicht
selten die Kinder und Jugendlichen diejenigen, die die Polizei riefen oder die Nachbarn
verständigten (vgl. KAVEMANN 2002, S.28). Das Eingreifen der Polizei soll die Sicherheit
der betroffenen Frauen, Kinder und Jugendlichen herstellen, eine Strafverfolgung des
Täters einleiten und die Opfer durch Kooperation mit anderen Institutionen unterstützen
(vgl. NÖTHEN-SCHÜRMANN 2013, S.465). Die Polizei hat die Plicht, die Opfer von Gewalt
über ihre Handlungsmöglichkeiten aufzuklären, indem sie den Frauen beispielsweise
Fachstellen für Hilfe oder die Möglichkeit eines Antrags auf einen Platzverweis nennen
(vgl. NÖTHEN-SCHÜRMANN 2013, S.467). In einigen Regionen Deutschlands vereinbarten
Polizei- und Jugendbehörden, im Falle eines Platzverweises durch die Polizei, die
60
Verständigung des Jugendamtes. In anderen Regionen sind bei Polizeieinsätzen mit
Beteiligung von Kindern und Jugendlichen MitarbeiterInnen der Jugendhilfe anwesend
(vgl. WEBER 2005, S.70f).
Kooperation mit ÄrztInnen
Häusliche
Gewalt
kann
sich
in
Form
von
körperlichen
Verletzungen
und
psychosomatischen Beschwerden auf die Gesundheit von betroffenen Frauen, Kindern und
Jugendlichen auswirken (vgl. SEIFERT/HEINEMANN/PÜSCHEL 2006,S.414). ÄrztInnen
haben den Auftrag, Gewaltopfer zu erkennen und ihnen Hilfe anzubieten. Die Frauen, die
als Folge von Gewalt Verletzungen davon tragen und ärztliche Behandlungen in Anspruch
nehmen, verschweigen die Gewalt (vgl. SEIFERT/HEINEMANN/PÜSCHEL 2006,S.415). Die
Rechtsmedizin
steht
ohnehin
in
Verbindung
mit
Gerichten
(vgl.
SEIFERT/HEINEMANN/PÜSCHEL 2006,S.417). Bei einem Verdacht auf häusliche Gewalt
sollten ÄrztInnen Informationen über mögliche Hilfen haben und wenn nötig
Interventionsmaßnahmen einleiten.
Jugendhilfe und häusliche Gewalt
Aufgaben der Jugendhilfe
§1 Abs. 1 SGB VIII spricht Kindern und Jugendlichen das Recht auf Förderung ihrer
Entwicklung und Erziehung zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen
Persönlichkeit zu. Eltern haben nach §1 Abs. 2 SGB VIII das natürliche Recht und auch
die Pflicht der Pflege und Erziehung ihrer Kinder inne. Der Staat überwacht dies. Da der
Sachverhalt nach §1 Abs. 1 SGB VIII im Falle von häuslicher Gewalt nicht gegeben ist, ist
für MEYSEN
„Partnerschaftsgewalt (…) ein sicherer Indikator für Hilfebedarf nach SGB VIII.“
(MEYSEN 2004 in WEBER 2005, S.69)
Die Jugendhilfe hat in erster Linie die Aufgaben, die individuelle und soziale Entwicklung
von jungen Menschen zu fördern, einen Beitrag zur Vermeidung und zum Abbau von
Benachteiligungen zu leisten, Eltern (und auch andere Erziehungsberechtigte) in Sachen
Erziehung zu beraten und zu unterstützen, das Wohl von Kindern und Jugendlichen zu
schützen und zur Erhaltung oder Entstehung einer kinder- und familienfreundlichen
Umwelt sowie positiver Lebensbedingungen für junge Menschen und deren Familien
beizutragen (§1 Abs. 3 SGB VIII).
61
Auf häusliche Gewalt bezogen bedeutet das für die Jugendhilfe in erster Linie, häuslicher
Gewalt vorzubeugen, bestehende Gewalt zu beenden und die Kinder und Jugendlichen zu
schützen. Weiter ist es Aufgabe der Jugendhilfe, die Kinder und Jugendlichen bei der
Verarbeitung und Bewältigung des Erlebten zu begleiten und zu unterstützen (vgl. WEBER
2005, S.69). Zur Erfüllung dieser Aufgaben bietet die Jugendhilfe kein speziell auf
häusliche Gewalt bezogenes Angebot, was bei der Vielfältigkeit der Problemlagen auch
kaum umsetzbar wäre (vgl. STRUCK 2013, S.551). Das Angebot der Jugendhilfe richtet sich
an Erziehungsberechtigte und Kinder und Jugendliche. Es besteht aus den Leistungen der
Hilfen zur Erziehung nach SGB VIII. Die einzelnen Leistungen können durch ihre
Angebote dazu beitragen, sowohl die Eltern als auch die Kinder und Jugendlichen zu
schützen und zu unterstützen.
Bedürfnisse betroffener Kinder und Jugendlicher
Um den Hilfebedarf der von häuslicher Gewalt betroffenen Kinder und Jugendlichen
abdecken zu können, müssen die Bedürfnisse der Kinder und Jugendlichen betrachtet
werden. Aus den Bedürfnissen und dem Hilfebedarf ergeben sich wiederum Erkenntnisse
für den Umgang mit den Betroffenen.
Kinder und Jugendliche haben die verschiedensten Gedanken und Gefühle, wenn sie
Zeugen häuslicher Gewalt werden (s. S. 19f). Oft empfinden sie für das Geschehene
Schuld und Verantwortung (vgl. HAFENBRAK 2013, S.453). Es ist deswegen wichtig, die
Täter in die Verantwortung zu nehmen und den Kindern und Jugendlichen zu vermitteln,
dass sie keine Schuld trifft. Besonders jüngeren Kindern muss erklärt werden, dass Gewalt
kein angemessenes Verhalten darstellt und Strafen nach sich zieht (vgl. HAFENBRAK 2013,
S.453; HEYNEN 2001, S.95). Betroffenen Kindern und Jugendlichen soll die Scham
genommen werden, über das Erlebte zu reden. Sie sollen dazu animiert werden, ihre
Gedanken und Gefühle zuzulassen und diese auch zu äußern (vgl. HAFENBRAK 2013,
S.453; HEYNEN 2001, S.95). Das Erleben häuslicher Gewalt beeinträchtigt außerdem auch
das Gefühl von Sicherheit. Hier können ein gewaltfreier Ort sowie stabile Bezugspersonen
den Kindern und Jugendlichen helfen, sich wieder sicher und geborgen zu fühlen (vgl.
HEYNEN 2001, S.95). Es ist also notwendig, den Lebensraum der Kinder und Jugendlichen
zu schützen oder ihnen einen alternativen sicheren Ort zu bieten. Die meisten Kinder und
Jugendlichen leiden unter enormen Angstzuständen. Die Angst vor wiederholtem
Gewalterleben kann gemindert werden, indem gemeinsam mit SozialarbeiterInnen ein
individueller Sicherheitsplan erstellt wird (vgl. HAFENBRAK 2013, S.455). Dieser Plan kann
62
den Kindern und Jugendlichen mögliche Handlungen für Gewaltsituationen aufzeigen.
Kinder und Jugendliche erleben im Kontext häuslicher Gewalt oft Loyalitätskonflikte. In
der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen müssen diese wechselhaften Gefühle sowohl für
den Täter als auch das Opfer von den Helfern akzeptiert werden (vgl. HAFENBRAK 2013,
S.455). Die Arbeit mit den Eltern oder Bezugspersonen der Kinder und Jugendlichen ist
auch aus diesen Gründen wichtig (vgl. HAFENBRAK 2013, S.457). Dazu gehört vor allem
die Erziehungskompetenz der Mutter zu stärken und sie zu unterstützen (vgl. HEYENEN
2001, S.95). Die Arbeit mit dem (Stief-)Vater als Gewalttäter kann in einer Aufklärung
über die Auswirkungen seines Handelns bestehen und/oder in Unterstützungsmaßnahmen
speziell für Gewalttäter (vgl. HAFENBRAK 2013, S.458). Die Arbeit mit dem Täter ist aber
abhängig von den Folgen seiner Gewalt. Eventuell wird ihm der Umgang mit den Opfern
verboten oder er muss eine Haftstrafe antreten. In den letzten Jahren verstärkte sich auch
die Orientierung an Ressourcen der Kinder und Jugendlichen und an Resilienzförderung.
Hier sollen bestehende Ressourcen gefördert und neue aufgebaut werden (vgl. HAFENBRAK
2013, S.456). Die Hilfe bei der Bewältigung der Folgen des Miterlebens häuslicher Gewalt
sollte auf die Lebenswelt der Kinder und Jugendlichen bezogen sein (vgl. HEYNEN 2001,
S.96). Die Kinder und Jugendlichen sollen eine alternative Sichtweise auf das Thema
Gewalt, Konfliktlösung sowie auf Geschlechterrollen und dem Verständnis von Familie
erfahren können (vgl. HEYNEN 2001, S.95f). Die genannten Bedürfnisse sind Grundlage für
den pädagogischen Umgang mit den Kindern und Jugendlichen. Hierfür benötigt es unter
anderem eine ausgeprägte Selbstreflexion der helfenden SozialarbeiterInnen. Die
SozialarbeiterInnen
als
Bezugspersonen
brauchen
außerdem
Wissen
über
die
Auswirkungen, die das Erleben häuslicher Gewalt auf Kinder und Jugendliche haben kann.
Auch nicht professionelle Bezugspersonen wie die Mutter oder andere Verwandte
brauchen Informationen und Handwerkszeug für den Umgang mit den Kindern und
Jugendlichen. Dies kann im Rahmen von Familienbildung und/oder Aus- und
Fortbildungen geschehen (vgl. HEYNEN 2001, S.95f).
Die Bedürfnisse der Kinder und Jugendlichen gestalten sich individuell. Sie sind abhängig
von Art und Ausprägung der Auswirkungen des Miterlebens häuslicher Gewalt. Je nach
Bedürfnis bieten sich die einzelnen Leistungen der Jugendhilfe mehr oder weniger an.
Nachstehend werden die Leistungen der Hilfen zur Erziehung sowie eine mögliche
Anwendung bei häuslicher Gewalt vorgestellt.
63
Hilfen zur Erziehung gegen häusliche Gewalt
Die Erziehungsberatung nach §28 SGB VIII soll allen Beteiligten bei der Klärung,
Bewältigung und Lösung verschiedener Probleme helfen, z.B. bei Trennung und
Scheidung. Die Erziehungsberatung kann die Erziehungskompetenz(en) der Mutter
und/oder anderer Erziehungsberechtigter unterstützen (vgl. HARTWIG 2007, S.168). Soziale
Gruppenarbeit soll für Kinder und Jugendliche eine Hilfe bei der Überwindung von
Entwicklungsschwierigkeiten und Verhaltensproblemen sein (§29 SGB VIII). Kinder und
Jugendliche können gestärkt und eventuelle Traumata aufgearbeitet werden (vgl. HARTWIG
2007, S.169). Ein Erziehungsbeistand oder Betreuungshelfer (§30 SGB VIII) soll nach
Möglichkeit
im
sozialen
Umfeld
der
Kinder
und
Jugendlichen
helfen,
Entwicklungsprobleme zu bewältigen. Betroffenen Kindern und Jugendlichen kann eine
Bezugsperson zur Seite gestellt werden, um beispielsweise den Verlust einen Elternteils
durch Trennung, Inhaftierung oder Tod als Folge häuslicher Gewalt zu kompensieren (vgl.
HARTWIG 2007, S.169). Die Sozialpädagogische Familienhilfe soll laut §31 SGB VIII
Familien intensiv betreuen und begleiten. Sie soll in den Bereichen von Erziehung, Alltag,
Konflikt- und Krisenlösung, aber auch beim Kontakt mit verschiedenen Ämtern ansetzen
und dadurch Hilfe zur Selbsthilfe leisten. Der Verbleib von Kindern und Jugendlichen bei
der Mutter und die Sicherstellung ihres Wohlergehens können so auf Dauer ermöglicht,
begleitet und beobachtet werden (vgl. HARTWIG 2007, S.169). §32 SGB VIII beschreibt die
Erziehung in Tagesgruppen. Es findet eine Förderung der individuellen und schulischen
Entwicklung und des sozialen Lernens statt. Wie bei der Familienhilfe kann durch
Elternarbeit ein Verbleib bei der Mutter ermöglicht werden. Die Kinder und Jugendlichen
können außerdem Alltagsstrukturen kennenlernen und Mütter entlastet werden (vgl.
HARTWIG 2007, S.169). Nach §33 SGB VIII soll eine Vollzeitpflege Erziehungshilfe oder
eine dauerhafte Lebensform für Kinder und Jugendliche bieten. Das Angebot und die
Dauer ist unter anderem abhängig von Alter und Entwicklungsstandes der Kinder und
Jugendlichen sowie den Bedingungen der Herkunftsfamilie. Vor allem jüngere Betroffene
können hier Bezugspersonen finden und stabile Beziehungen aufbauen (vgl. HARTWIG
2007, S.169). §34 SGB VIII beinhaltet die Heimerziehung und andere betreute
Wohnformen. Dieses Angebot ist ebenfalls abhängig von Alter und Entwicklungsstandes
der Kinder und Jugendlichen sowie den Bedingungen der Herkunftsfamilie. Ein
strukturierter Alltag und pädagogisch-therapeutische Angebote sollen die Entwicklung der
Kinder und Jugendlichen fördern. Außerdem soll entweder eine Rückkehr in die
Herkunftsfamilie ermöglicht und gestaltet werden, eine Überführung in eine andere
64
Familie oder ein Verbleiben in der Maßnahme und damit eine Vorbereitung auf ein
selbstständiges Leben erreicht werden. Kinder und Jugendliche, die Zeugen häuslicher
Gewalt wurden, können hier sowohl einen sicheren Ort als auch Bezugspersonen finden
(vgl. HARTWIG 2007, S.169). Die Intensive sozialpädagogische Einzelbetreuung richtet
sich an Jugendliche, die eine intensive und individuelle Unterstützung in den Bereichen
sozialer Integration und selbstverantwortlicher Lebensführung brauchen (§35 SGB VIII).
Alle Angebote bedürfen einer Abklärung der Eignung und Notwendigkeit. Sie richten sich
außerdem nach dem Prinzip des mildesten Mittels. Diese Auflistung stellt lediglich eine
mögliche Gestaltung der Angebote im Kontext häuslicher Gewalt dar, keine festen
Regelungen.
Modellprojekte
Wie Intervention und/oder Prävention bei häuslicher Gewalt für Frauen, Kinder und
Jugendliche gestaltet werden kann, wird anhand der nachstehenden Projektbeispiele
dargestellt.
Beispiel BIG e.V.
Seit 1993 gibt es die „BERLINER INITIATIVE GEGEN GEWALT AN FRAUEN“ (BIG E.V.). Die
BIG e.V. setzt sich für von häuslicher Gewalt betroffene Frauen und deren Kinder ein (vgl.
BIG E.V. 2013, S.6). Sie besteht aus den drei Einrichtungen der BIG Koordinierung (früher
BIG Interventionsprojekt), der BIG Hotline und der BIG Prävention.
Das Thema der BIG Koordinierung bezieht sich auf den Zusammenhang zwischen Gewalt
gegen Frauen und den Auswirkungen auf Kinder und Jugendliche. Sie soll die Kooperation
zwischen
verschiedenen
Institutionen
herstellen
und
vorantreiben
(vgl.
BUSKOTTE/KREYSSING 2013, S.273). Auf die drei Beteiligtengruppen bei häuslicher
Gewalt bezogen, beschäftigt sich die BIG Koordinierung mit Schutzmaßnahmen für
Frauen und Kinder, Rechtsangelegenheiten und der täterorientierten Intervention. Sie
handelt nach dem Schema Beobachten, Koordinieren, Handeln (vgl. BIG E.V. 2013, S.17).
Das Beobachten beinhaltet die Überprüfung von Hilfe- und Unterstützungsmaßnahmen,
der gelingenden Kooperation verschiedener Institutionen, dem Finden und Bearbeiten von
Fehlern sowie ein Beschwerdemanagement (vgl. BIG E.V. 2013, S.17). Das Koordinieren
soll die Kooperation zwischen den Institutionen vorantreiben und erweitern. Die
Institutionen sind in Bereichen von Polizei, Justiz, Jugendhilfe, Migration, Soziales und
Gesundheit
angesiedelt.
Gemeinsam
mit
der
BIG
Koordinierung
werden
65
Handlungsstrategien für Situationen häuslicher Gewalt erarbeitet. Außerdem ist die BIG
Koordinierung
für
die
Vermittlung
an
die
passenden
Institutionen
und
die
Qualitätsüberprüfung zuständig (vgl. BIG E.V. 2013, S.17). Unter Handeln versteht die
BIG Koordinierung, den Schutz und die Hilfe für Opfer von häuslicher Gewalt
auszubauen, indem sie sich politisch engagiert. So versucht sie beispielsweise
Gesetzesänderungen zu initiieren. Weitere Aktivitäten der BIG Koordinierung bestehen in
Projekten, der Veröffentlichung von Informationsmaterialien, die Ausgestaltung von
Leitlinien sowie ein breites Angebot von Fortbildungen (vgl. BIG E.V. 2013, S.18).
Die BIG Hotline bietet eine Rund-um-die-Uhr-Beratungsmöglichkeit per Telefon. Das
Angebot kann in 50 Sprachen und auch von Männern in Anspruch genommen werden.
Neben der Hotline gibt es noch die Möglichkeit einer Onlineberatung, die Mobile
Intervention und das Pro-Aktive Arbeiten (vgl. BIG E.V. 2013, S.21). Die BIG Hotline
bietet die Möglichkeit, sich anonym beraten zu lassen. Sie impliziert je nach Bedarf
psychosoziale Krisenintervention, Klärung, seelische Entlastung, Orientierungshilfe,
Informationen über Handlungsmöglichkeiten, Erstellung eines Sicherheitsplans und auch
die Beratung für Personen, die die Opfer unterstützen. Die Onlineberatung funktioniert nur
mit einem persönlichen Zugang für die NutzerInnen; das Angebot entspricht dem der
Telefonberatung (vgl. BIG E.V. 2013, S.25). Die Mobile Intervention (MI) stellt eine
individuelle Beratung vor Ort dar. Sie kann überall stattfinden, zum Beispiel auf dem Weg
zu einer Unterstützungsmaßnahme, im Krankenhaus, bei der Polizei oder seit letztem Jahr
auch in der Anlaufstelle der BIG Hotline. Die MI kann in Form von Gesprächen,
Krisenintervention oder Begleitung zu Institutionen wie Polizei, Frauenhaus oder Gericht
durchgeführt werden (vgl. BIG E.V. 2013, S.26). Die Pro-Aktive Beratung wird durch den
Einsatz von Polizei eingeleitet. Die Polizei gibt mit der Erlaubnis der Betroffenen deren
Daten an die BIG Hotline weiter. Eine BIG Beraterin nimmt daraufhin Kontakt mit der
betroffenen
Person
auf,
was
den
betroffenen
Frauen
den
Zugang
zu
Unterstützungsmaßnahmen ermöglicht. Das Angebot ist vor allem für Frauen gedacht, die
sich vorher keine Hilfe holen konnten oder wollten, diese aber nötig hätten. Sind die Opfer
männlich, werden diese an eine Kooperationsstelle für Männer weitergeleitet (vgl. BIG
E.V. 2013,
S.27).
Die BIG Prävention beschäftigt sich mit Schulen als Kooperationspartner. Um möglichst
präsent zu sein, bietet die BIG Prävention Angebote für Kinder, Eltern und Professionelle
an (vgl. BIG E.V. 2013, S.28). Für SchülerInnen gibt es Projekttage, Workshops und
66
Sprechstunden, bei denen ihnen Fairness und Gewaltfreiheit nahegelegt werden. Den
SchülerInnen wird ihr Recht auf Schutz und Hilfe erklärt und dass sie offen über jegliche
Art von Gewalt sprechen dürfen und sollen. Sie erhalten außerdem Informationen über
Hilfestellen (vgl. BIG E.V. 2013, S.28). Für Eltern bietet die BIG Prävention Elternabende
an. Es werden mehrsprachige Informationsmaterialien verteilt und die Eltern sollen ein
Gespür für das Thema häusliche Gewalt und die mögliche Auswirkungen bekommen.
Betroffenen Eltern kann so der Zugang zu Hilfe und Unterstützung erleichtert werden (vgl.
BIG
E.V.
2013, S.28). Das Angebot für pädagogisches Personal an der Schule
(LehrerInnen, SchulsozialarbeiterInnen usw.) besteht in Fortbildungen zu häuslicher
Gewalt und Interventionsmöglichkeiten. Hier soll außerdem die Kooperation von
Jugendhilfe und Schule eingerichtet und/oder verbessert werden (vgl. BIG E.V. 2013,
S.28).
„Kinder als Zeugen und Opfer häuslicher Gewalt“
Die Baden-Württemberg Stiftung führte 2004 das Pilotprogramm „Kinder als Zeugen und
Opfer häuslicher Gewalt“ ein. Betroffene Kinder und Jugendliche wurden in ihren
Problemlagen entsprechende Hilfen integriert und bei der Bewältigung ihrer Erlebnisse
unterstützt (vgl. SEIT/KAVEMANN 2010, S.7). 300 Kinder und Jugendliche nahmen mit
ihren Müttern an Angeboten der aufsuchenden Krisenintervention, Krisenberatung,
Einzeltherapie, sozialpädagogischen oder psychologischen Gruppenarbeit teil (vgl.
SEITH/KAVEMANN 2010, S.7). Die Evaluation des Programms ergab unter anderem, dass
die Projekte Anteil an der Sicherung des Kindeswohls hatte und die Befindlichkeit der
teilnehmenden Kinder und Jugendlichen verbessert werden konnte. Die Belastungen der
Kinder und Jugendlichen wurden gemindert (vgl. SEITH/KAVEMANN 2010, S.15). Die
Angebote können eine Ergänzung der bisherigen Kindeswohlsicherung angesehen werden,
da sie eine intensivere Betreuung der Kinder und Jugendlichen leisten kann als
beispielsweise der Allgemeine Soziale Dienst. Außerdem konnten die meisten Eltern in die
Angebote einbezogen werden, was sich für Einrichtungen der Jugendhilfe ebenfalls auf
Grund personeller Besetzungen als schwieriger gestalten kann (vgl. SEITH/KAVEMANN
2010, S.15f). Die verschiedenen Problemlagen der Kinder und Jugendlichen bestätigten,
dass Angebote für Betroffene häuslicher Gewalt individuell auf die Bedürfnisse der Kinder
und Jugendlichen zugeschnitten werden müssen. Dies erfordert qualifiziertes Personal (vgl.
SEITH/KAVEMANN 2010, S.16f). Unterstützend für ein gelingendes Maßnahmeangebot sind
außerdem Rahmenbedingen der anbietenden Einrichtung, ihre Kooperationsverhältnisse
67
sowie die Möglichkeiten des Zugangs zu den Angeboten (vgl. SEITH/KAVEMANN 2010,
S.17).
In einem ähnlichen Zeitraum fand das Aktionsprogramm „Gemeinsam für mehr
Kinderschutz bei häuslicher Gewalt“ statt, welches ebenfalls wissenschaftlich begleitet
wurde (vgl. BUSKOTTE 2013, S.537; SEITH/KAVEMANN/LEHMANN 2010, S.112f). Vor
allem an Grund- und Hauptschulen boten Beratungsstellen, Frauenhäuser und Fachstellen
für Prävention Präventionsangebote für die SchülerInnen an. Das Projekt sollte die Kinder
und Jugendlichen über Zugänge zu Hilfen im Falle häuslicher Gewalt aufklären und war in
dieser Hinsicht ein Erfolg für alle Beteiligten (vgl. BUSKOTTE 2013, S.537).
Inanspruchnahme von Präventions- und Interventionsmaßnahmen
Konkrete Zahlen über die Inanspruchnahme von Präventions- und Interventionsangeboten
bei häuslicher Gewalt sind der Autorin nicht bekannt. Eine Studie zu Gewalt gegen Frauen
in Paarbeziehungen (BMFSFJ 2012) zeigt, dass viele Frauen oftmals nicht ausreichend
über solche Angebote informiert sind. Vor allem schwer betroffene Frauen wussten am
wenigsten über mögliche Hilfen (vgl. BMFSFJ 2012, S.45). Jüngere und ältere Frauen
sowie Migrantinnen hatten ebenfalls wenig Kenntnis über mögliche Maßnahmen.
Außerdem deutete die Studie darauf hin, dass das Wissen über Prävention und Intervention
bei häuslicher Gewalt in Zusammenhang mit dem Bildungsgrad der Frauen stand. Je höher
der Bildungsgrad der Betroffenen war, desto mehr wussten sie über mögliche Hilfen (vgl.
BMFSFJ 2012, S.45f). Die Studie zur Lebenssituation von Frauen in Deutschland
(BMFSFJ 2004 a) belegte, dass von häuslicher Gewalt betroffene Frauen sich aus Angst
vor dem Täter keine Hilfe holen wollten, oder es auf Grund seiner Kontrolle nicht konnten
(vgl. BMFSFJ 2004 a, S.29). Hilfe durch Einsätze der Polizei beschrieben die Frauen als
hochschwellige Angebote, während telefonische Beratungen und auch pro-aktive
Angebote als niederschwellig und hilfreich eingeschätzt wurden (BMFSFJ 2004 a, S.31f).
Die Inanspruchnahme von Hilfen zur Erziehung bei häuslicher Gewalt ist schwer
nachweisbar, da sich wie erwähnt jede Leistung an der Unterstützung von Betroffenen
beteiligen kann. Eine Statistik der Kinder- und Jugendhilfe des STATISTISCHEN
BUNDESAMTES nennt für das Jahr 2012 den Beginn von über 190.000 Hilfen zur Erziehung
auf Grund von Belastung der Kinder und Jugendlichen durch familiäre Konflikte (vgl.
STATISTISCHES BUNDESAMT 2013, S.43). Man muss hierbei aber beachten, dass auch
Auswirkungen des Erlebens häuslicher Gewalt ein Indikator für Hilfen zur Erziehung sein
68
können und das Erleben selbst nicht als Hilfeanspruch gilt. So kann ein junger Mensch
beispielsweise auf Grund von Verhaltensauffälligkeiten Hilfe erhalten, es ist aber nicht
bekannt, dass er häusliche Gewalt erlebt hat und dies der Grund für seine Auffälligkeiten
sein könnte.
Zusammenfassend kann gesagt werden, dass die Soziale Arbeit durch verschiedene
Handlungsfelder einen Beitrag gegen häusliche Gewalt leisten kann. Wichtig ist in jedem
Fall die Kooperation von Institutionen, die Unterstützung für Betroffene bieten. Für eine
gelingende Kooperation braucht es Regeln, die gemeinsam erarbeitet werden und alle
Beteiligten akzeptieren. Wichtige Akteure für Prävention- und Interventionsmaßnahmen
gegen häusliche Gewalt können Frauenhäuser, Familiengerichte, Polizei, ÄrztInnen und
die Jugendhilfe sein. Speziell auf die Kinder und Jugendlichen als Zeugen häuslicher
Gewalt bezogen hat die Jugendhilfe die Aufgabe, die Gewalt zu beenden sowie die Opfer
zu schützen und zu unterstützen. Hierbei ist es notwendig, die Bedürfnisse der Kinder und
Jugendlichen zu kennen und angemessen darauf zu reagieren. Betroffene Kinder und
Jugendliche müssen Erfahrungen mit gewaltfreien Bezugspersonen und Umgebungen
machen. Wie Präventions- und Interventionsprojekte aussehen und funktionieren könne,
zeigt beispielsweise die BERLINER INITIATIVE GEGEN GEWALT AN FRAUEN (BIG E.V.). Sie
besteht aus drei Einrichtungen, die sich mit Prävention, Intervention und Koordinierung
beschäftigen. Speziell für Kinder und Jugendliche initiierte die Landesstiftung BadenWürttemberg
Pilotprojekte
für
Zeugen
häuslicher
Gewalt.
Weiter
gab
es
Präventionsangebote an Schulen. Das Wissen über mögliche Hilfeangebote bei häuslicher
Gewalt ist ausbaubar.
69
Fazit
Die vorliegende Bachelorarbeit beschäftigt sich mit Kindern und Jugendlichen als Zeugen
häuslicher Gewalt und den Auswirkungen des Miterlebens auf die Entwicklung der
Betroffenen.
Wie bereits beschrieben, gibt es keine einheitliche Definition des Terminus „Häusliche
Gewalt“. Er entwickelte sich aus der Frauenbewegung heraus, weshalb häusliche Gewalt
meistens mit Gewalt gegen Frauen in Partnerschaften gleichgesetzt wird, wie auch in
dieser Arbeit. Ein Viertel aller Frauen hat einer Studie des BMFSFJ zu Folge Erfahrungen
mit Gewalt in der Partnerschaft gemacht. Zur Betroffenheit von Männern liegt bisher
lediglich eine nicht repräsentative Pilotstudie für Deutschland vor. Kinder und Jugendliche
wurden im Zusammenhang mit dem Vorkommen häuslicher Gewalt lange Zeit
vernachlässigt, obwohl sie als Zeugen ebenfalls Beteiligte bei Gewalthandlungen im
häuslichen Bereich sind.
Gewalt in der Familie bedeutet für Kinder und Jugendliche den Verlust eines sicheren
Ortes und verlässlicher Bezugspersonen. Das Erleben der Gewalt gegen ihre Mutter stellt
für Kinder und Jugendliche enormen Stress dar und erzeugt bei vielen Betroffenen Gefühle
von Schuld, Verantwortung, Angst und Scham sowie Loyalitätskonflikte. Das Miterleben
häuslicher Gewalt kann zu Verhaltensstörungen, Entwicklungsstörungen im sozialen und
kognitiven Bereich, Störungen des Bindungsverhaltens, Traumatisierung und/oder
Störungen des Geschlechterrollenverständnisses führen. In welcher Form und Ausprägung
sich die Gewalterfahrungen auf die Entwicklung der Kinder und Jugendlichen auswirken,
ist von verschiedenen Wirkfaktoren wie Alter, Geschlecht sowie Art und Häufigkeit der
Gewalt abhängig. Im Gegensatz dazu kann die Fähigkeit zur Resilienz eine gesunde
Entwicklung unterstützen. Eine Sonderform häuslicher Gewalt stellen Tötungsdelikte dar.
Der mögliche Verlust beider Elternteile durch Tod und/oder Inhaftierung bringt für die
Kinder und Jugendlichen enorme Veränderungen mit sich. Auch die im Fallbeispiel
beschriebene Katja zeigt verschiedene Störungen, die mit hoher Wahrscheinlichkeit als
Folge des Erlebens der Gewalt ihres Vaters gegen ihre Mutter und deren Tod auftreten.
Im Gegensatz der indirekten Betroffenheit durch das Miterleben von Gewalt richtet sich
Kindesmisshandlung direkt gegen Kinder und Jugendliche. Miterleben und Misshandlung
werden sie als verschiedene Themen behandelt. Verschiedene Wirkfaktoren beeinflussen
die Auswirkungen auf betroffene Kinder und Jugendliche, besonders Alter und
70
Entwicklungstand
spielen
hier
eine
Rolle.
Während
einige
Folgen
von
Kindesmisshandlung sich kurzzeitig nach der Gewaltanwendung zeigen, äußern sich
andere Folgen erst im späteren Leben der Betroffenen. Misshandelte Kinder und
Jugendliche zeigen in vielen Fällen ähnliche und/oder identische Entwicklungsstörungen
wie die Kinder und Jugendlichen, die Zeugen häuslicher Gewalt wurden. Zudem konnte
eine Studie herausfinden, dass das Erleben häuslicher Gewalt auf Kinder und Jugendliche
den gleichen Effekt haben kann, wie selbst misshandelt zu werden.
Präventive
und
intervenierende
Maßnahmen
richten
sich
prinzipiell
an
die
gewalterleidenden Frauen, zum Beispiel Frauenhäuser, Gewaltschutz, polizeiliche
Interventionen und Gerichtsbeschlüsse. Um auch den Kindern und Jugendlichen
Unterstützung leisten zu können, bedarf es der Kooperation verschiedener Institutionen.
Für die Soziale Arbeit bedeutet dies, diese Kooperationen herzustellen und aufrecht zu
erhalten. Nur wenn Institutionen wie Frauenhäuser, Polizei, Gerichte, Medizin und
Jugendhilfe gemeinsam arbeiten, kann die Unterstützung aller Betroffenen gewährleistet
werden. Die Jugendhilfe bietet mit den Hilfen zur Erziehung Maßnahmen für die
Unterstützung und Sicherheit der Kinder und Jugendlichen. Für die SozialarbeiterInnen in
der Jugendhilfe ist es wichtig, die Auswirkungen des Erlebens häuslicher Gewalt und die
daraus resultierenden Bedürfnisse der Kinder und Jugendlichen zu kennen, um so
pädagogisch wirksam handeln zu können.
Kritische Anmerkungen
Auch wenn das Thema häuslicher Gewalt in den letzten Jahren mehr in die Öffentlichkeit
rückte, stellt es immer noch ein Tabuthema dar. Dass häusliche Gewalt nicht nur
Auswirkungen auf die betroffenen Frauen haben kann, sondern auch Kinder und
Jugendliche eine Betroffenengruppe darstellen, wurde bisher selten beachtet. Zwar gibt es
inzwischen repräsentative deutsche Studien zu Gewalt gegen Frauen, jedoch stehen Kinder
und Jugendliche auch hier im Hintergrund der Forschungen. Häusliche Gewalt als
Tabuthema stellt die Forschung vor Schwierigkeiten bei Untersuchungen. Viele Fälle
häuslicher Gewalt sind nicht bekannt, weil sich Frauen nicht trauen darüber zu reden oder
sich Hilfe zu holen. Ein weiterer Grund kann sein, dass viele Frauen mangelhaft über
mögliche Unterstützungsmaßnahmen informiert sind.
Auf der Suche nach Studien zum Thema Kinder und Jugendliche als Mitbetroffene in
Fällen häuslicher Gewalt, wurde die Autorin nur unzureichend fündig. Das erste Problem
71
stellt die Unwissenheit über die Anzahl betroffener junger Menschen dar. Nicht nur Mütter
schweigen über die Gewalt in der Familie, auch die meisten Kinder und Jugendlichen
trauen sich entweder nicht, darüber zu reden oder werden zum Schweigen verpflichtet.
Schuld- und Verantwortungsgefühle auf Grund der Gewalt verstärken die Angst und
Scham davor, sich jemandem anzuvertrauen. Die Studien, die sich mit den Auswirkungen
auf die Kinder und Jugendlichen beschäftigen, zeigen wie wichtig das Thema für die
Forschung sein sollte. Denn das Miterleben wirkt sich nicht nur auf die Befindlichkeit der
Kinder und Jugendlichen aus, sondern unter anderem auch auf ihre geistige und seelische
Entwicklung. Viele von ihnen haben beeinträchtigte Vorstellungen von Familienbildern
und Geschlechterrollen. Diese erhöht das Risiko, dass die erlebten Verhaltensweisen im
späteren Leben fortgeführt beziehungsweise nachgeahmt werden. Obwohl Studien
herausfanden, dass das Miterleben häuslicher Gewalt für Kinder und Jugendliche gleiche
Auswirkungen wie das Erleben von Kindesmisshandlung haben kann, steht das Thema
Kindesmisshandlung mehr im Fokus der Gesellschaft und Wissenschaft. Auch Ergebnisse
der Resilienzforschung, die zeigen konnten, dass sich Kinder und Jugendliche trotz
schlimmer Erlebnisse unter positiven Umständen beinahe gesund entwickeln können und
was dafür aber nötig ist, wird zu selten berücksichtigt.
Häusliche Gewalt ist ein Thema verschiedener Institutionen und Disziplinen. Sowohl
Polizei und Gerichte als auch Arbeitsfelder der Sozialen Arbeit müssen sich mit häuslicher
Gewalt auseinandersetzen. Um wirksam gegen häusliche Gewalt vorgehen und die
Betroffenen unterstützen zu können, ist eine enge Zusammenarbeit der einzelnen
Institutionen
notwendig.
Präventions-
und
Interventionsmaßnahmen
sind
vielen
Betroffenen aber auch anderen Personen weitestgehend unbekannt oder erscheinen in
einigen Fällen nicht erreichbar und hilfreich.
Ausblick
Wissenschaft und Öffentlichkeit sollten sich in Zukunft mehr mit Kindern und
Jugendlichen als Mitbetroffene bei häuslicher Gewalt beschäftigen. Erste Schritte wie das
Gewaltschutzgesetz (2001) oder die erste repräsentative Studie zu Gewalt gegen Frauen in
Deutschland vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (2004)
wurden bereits gemacht. Es ist wichtig, diesen Weg weiter zu gehen, um das Schweigen
über das Thema häusliche Gewalt zu brechen. Alle Menschen müssen darüber aufgeklärt
werden, was häusliche Gewalt ist, wie es sich auf alle Betroffenen auswirkt und vor allem
wie geholfen beziehungsweise wo Hilfe gefunden werden kann. Die „BERLINER INITIATIVE
72
GEGEN
GEWALT
AN
FRAUEN“ (BIG e.V.) zeigt seit über 20 Jahren, wie das funktionieren
kann. Es benötigt präventive Angebote, die sich zwar an alle Menschen richten sollen, vor
allem aber auch an die risikogefährdeten Gruppen der Frauen und jungen Menschen.
Sowohl die BIG e.V. als auch ein Aktionsprogramm der Landesstiftung BadenWürttemberg für mehr Kinderschutz beschäftigen sich mit Prävention an Schulen. Hier
können und müssen sowohl LehrerInnen, SchulsozialarbeiterInnen als auch Eltern und ihre
Kinder integriert und informiert werden. Diese Angebote können nicht nur von
Frauenhäusern und Beratungsstellen durchgeführt werden, sondern sollten auch die
Wichtigkeit von Kooperationspartnern darstellen. So könnten beispielsweise verschiedene
kommunale Institutionen wie Polizei, Gericht, Medizin, Jugendhilfe und Frauenschutz das
Thema von ihrem Standpunkt aus beleuchten. Gäbe es ein festes Team der
Kooperationspartner, sozusagen eine Abteilung „Häusliche Gewalt“ mit festen
MitarbeiterInnen der Institutionen, so könnten sich diese bei Informationsveranstaltungen
vorstellen. Das könnte dazu führen, dass die Angebote für Betroffene niederschwelliger
erscheinen und sie genau wüssten, an wen sie sich zu wenden haben. Sich an jemanden zu
wenden, den man schon einmal gesehen hat, der einem sympathisch und vertrauensvoll
erschien, ist einfacher, als sich an einen Fremden zu wenden. Auch die Erreichbarkeit ist
ein ausschlaggebender Faktor, weshalb Projekte dieser Art hauptsächlich auf kommunaler
Ebene durchgeführt werden sollten. Besonders für Kinder und Jugendliche könnte dies das
Aufsuchen und Annehmen von Hilfe erleichtern. Wie bereits erwähnt setzt ein Angebot in
dieser Form eine stabile Kooperation zwischen den Institutionen voraus. Die
MitarbeiterInnen sollen sich gegenseitig bekannt sein. Deswegen wäre es auch ideal, ein
festes Team für Angelegenheiten bei häuslicher Gewalt zu installieren. Auch zwischen den
Helfern sind Sympathie und Vertrauen wichtig für eine gute Zusammenarbeit. Das Wissen,
sich aufeinander verlassen zu können und welcher Partner welche Unterstützung leistet,
erleichtert
die
Einleitung
schneller
und
effektiver
Hilfemaßnahmen.
Auch
Öffentlichkeitsarbeit spielt eine Rolle in der präventiven Arbeit gegen häusliche Gewalt.
Als ein Schritt zwischen Prävention und Intervention kann die Aufklärung über mögliche
Auswirkungen des Erlebens häuslicher Gewalt sein. Vor allem Professionelle, die mit
Kindern und Jugendlichen zu tun haben, müssen die Auswirkungen und ihre möglichen
Erscheinungsbilder erkennen und darauf reagieren können. Zwar sollten auch NichtProfessionelle dieses Wissen haben, jedoch stehen beispielsweise KindergärterInnen,
LehrerInnen oder SchulsozialarbeiterInnen ständig in Kontakt mit Kindern und
73
Jugendlichen. Aus diesem Grund wäre es ratsam, auch MitarbeierInnen dieser Institutionen
in das Team gegen häusliche Gewalt aufzunehmen. Die PädagogInnen können bei
Verdacht Hilfe anbieten und konkrete Maßnahmen einleiten. So könnte bestehende Gewalt
beendet und zukünftiger Gewalt vorgebeugt werden.
Die meisten Interventionsmaßnahmen richten sich bis jetzt an Frauen, zum Beispiel
Frauenhäuser und Beratungsstellen. Die Hilfen für Kinder und Jugendliche begrenzen sich
auf wenige Pilotprojekte, zum Beispiel „Kinder als Zeugen und Opfer häuslicher Gewalt“
der Landesstiftung Baden-Württemberg. Die Jugendhilfe bietet Hilfen zur Erziehung,
welche sich innerhalb der einzelnen Leistungen mit dem Thema häusliche Gewalt
beschäftigen. Wie schon erwähnt ist es auch hier wichtig, die Kinder und Jugendlichen
ausführlich über ihre Möglichkeiten der Unterstützung zu informieren. Unterstützung kann
nicht nur in Form von Hilfe zur Erziehung stattfinden, welche außerdem prinzipiell von
Eltern in Anspruch genommen werden, weniger von den Kindern selbst. Den Kindern und
Jugendlichen sollten ihre kommunalen Einrichtungen, beziehungsweise das Team gegen
häusliche Gewalt bekannt sein. Damit sich die Kinder und Jugendlichen Hilfe holen
(können), müssen die Angebote leicht und rund um die Uhr erreichbar sein. Die Angebote
müssen dem gesellschaftlichen Wandel angepasst sein, das heißt, in Zeiten von Internet,
Smartphones und Apps kann vermutet werden, dass Hotlines und Online-Beratungen für
Kinder und Jugendliche niederschwellig erscheinen und sie durch die Anonymität Mut
finden, sich Hilfe zu holen. Diese Angebote bieten im Punkt Erreichbarkeit geringere
Probleme als beispielsweise Beratungsstellen, die eine gewisse Mobilität erfordern. Auch
pro-aktive Maßnahmen eignen sich in der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen. So
können auch Kinder und Jugendliche erreicht werden, denen entweder das Wissen über
Angebote fehlt oder die Möglichkeiten fehlen, Angebote zu erreichen. Innerhalb einer
Interventionsmaßnahme, egal welcher Art, ist es wichtig, dass die Helfer über die
möglichen Auswirkungen des Erlebten im Bilde sind. Die Helfer müssen wissen, welche
Bedürfnisse und Defizite die betroffenen Kinder und Jugendlichen haben können.
Beispielsweise muss in Betracht gezogen werden, dass vor allem jüngeren Kindern nicht
klar ist, dass Gewalttätigkeit nicht in allen Familien vorkommt und keinesfalls einen
Normalzustand darstellt.
Das Miterleben häuslicher Gewalt ist eine Form indirekter Gewalt gegen Kinder und
Jugendliche, aber es ist eine Form der Gewalt. Kindesmisshandlung als Gewalt gegen
Kinder und Jugendliche wird bereits lange und ausgiebig erforscht und an die
74
Öffentlichkeit gebracht. Auch ihre Auswirkungen und Unterstützungsmöglichkeiten sind
weitestgehend bekannt. Dies sollte in Zukunft als Ansporn und Ziel genommen werden,
Themen häuslicher Gewalt, die Betroffenheit von Kindern und Jugendlichen, die
Auswirkungen der Erlebnisse sowie Präventions- und Interventionsangebote mehr zu
erforschen, darüber zu informieren und gegen häusliche Gewalt vorzugehen.
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Abbildungsverzeichnis
Abbildung 1: Genogramm Katja, Stand März 2013 ........................................................... 33
Abbildung 2: Entwicklungsabhängige Verhaltensauffälligkeiten sowie psychische und
psychosomatische Symptome und Störungen ..................................................................... 46
Abbildung 3: Neurobiologisches Modell der psychobiologischen Misshandlungsfolgen bei
Kindern ................................................................................................................................ 51
84
Erklärung zur selbstständigen Erarbeitung
Ich versichere, dass ich die vorliegende Bachelorarbeit selbstständig verfasst und keine
anderen als die angegebenen Quellen und Hilfsmittel benutzt habe.
Es wurden weder die gesamte Arbeit noch Teile hieraus an anderer Stelle vorgelegt oder
veröffentlicht.
Lorch, den 26.März 2014
Lisa Geppert
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