Dekret über die Aufhebung der Stände und der staatsbürgerlichen

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Dekret über die Aufhebung der Stände und der
staatsbürgerlichen Rangbezeichnungen, 11. (24.)
November 1917
Zusammenfassung
In den ersten Wochen nach dem Oktoberumsturz 1917 legten die neuen Machthaber
einen bemerkenswerten Eifer an den Tag, um einen radikalen Bruch mit der
Vergangenheit zu vollziehen. Diese Eingriffe verschonten keinen Bereich und
machten auch vor zentralen gesellschaftlichen Institutionen nicht Halt. Betroffen
waren der Gesellschaftsaufbau ebenso wie Ehe, Familie, Schule, Kirche, das
Pressewesen, (geburts)ständische Privilegien und Unterscheidungsmerkmale
sozialer Wertschätzung. Ziel war es, die Kluft zwischen elitärer "Gesellschaft" und
nichtprivilegierten Volk, die Jahrhunderte lang ein Signum der alten Ordnung war, ein
für allemal zu tilgen. Das Dekret über die Aufhebung der Stände und der
staatsbürgerlichen Rangbezeichnungen war, wie Artikel 2 zum Ausdruck brachte,
dem Prinzip der formalen Gleichheit und somit dem Vorbild der Französischen
Revolution verpflichtet.
Einleitung
Im rechtshistorischen Sinn bezeichnet der Stand eine durch gemeinsame Rechte und
Pflichten definierte Personengruppe. Betrachtet man bei der Definition von "Stand"
(russ. soslovie, sostojanie, zvanie) die Korporation als unabdingbar, dann gab es in
Rußland erst seit 1785 Stände, als Katharina II. Adel und Städtern das Recht verlieh,
sich zu versammeln. Das Ständewesen etablierte sich in Rußland erst zu einer Zeit,
als es sich in Mittel- und Westeuropa bereits auflöste. Darüber hinaus wies das
russische Ständewesen weitere Besonderheiten auf. So handelte es sich in dem Fall
nur um Sozial-, nicht um Herrschaftsstände, zum andern existierten in Rußland
lediglich vom Staat geschaffene und von ihm abhängige Adhäsionsstände, während
sich in Westeuropa Kohäsionsstände herausgebildet hatten und ihre Rechte gegen
Fremdansprüche verteidigten. Den russischen Ständen fehlte zum einen der innere
Zusammenhalt, weil sie erstens mehrheitlich keinen "Standesgeist", keine kollektive
Identität entwickeln konnten, zweitens, heterogene Subkategorien zusammenfaßten,
die nicht über gleiche Rechte verfügten, wie z.B. persönliche und erbliche Adlige
oder die verschiedenen Kategorien der Bauernschaft, drittens über keine
Korporationen verfügten wie z.B. die Ehrenbürger, viertens nicht nach denselben
geburtsständischen Prinzipien strukturiert waren, wie z.B. die Kaufmannschaft, der
man für Jahresfrist aufgrund eines bestimmten Kapitals zugeschrieben wurde,
fünftens sich nicht gegen die Zuschreibung neuer Mitglieder wehren konnten, wie
z.B. das "Kleinbürgertum" bzw. Stadtleute (russ. meš#anstvo), das als heterogene
Residualkategorie ein Stand ohne bestimmte Funktion und ohne konturierte soziale
Identität war. Im übrigen waren die Stände aufgrund institutioneller Hemmnisse nicht
imstande, die ihnen von der Autokratie auferlegten formalen Privilegien und
Verpflichtungen sozialer, ökonomischer politischer Art, effektiv wahrzunehmen.
Darüber hinaus bestand eine Verschränkung von Horizontal- und Vertikalständen,
denen die Fremdstämmige (russ. inorodcy), Juden und Kosaken angehörten, so daß
diese Personengruppen zweierlei Korporationen angehörten.
Seit den "Großen Reformen" Alexanders II. wurde die Ständeordnung in ihren
Grundfesten erschüttert, nämlich u.a. durch die Aufhebung der Leibeigenschaft 1861;
durch die Handels- und Gewerbeordnung von 1863, die die Ausübung von Handwerk
und Gewerbe nur an die Lösung eines Gewerbescheins knüpfte; durch die
Stadtordnung von 1870 mit ihrem plutokratischen Wahlrecht; durch die Einführung
der allgemeinen Wehrpflicht 1874, die die Dauer des Dienstes vom Bildungsgrad
abhängig machte; durch die Abschaffung der Kopfsteuer 1863/1887; durch die
Einführung der Gewerbesteuer 1898, die die Besteuerung von der
Standeszugehörigkeit löste; und schließlich durch das Zarenreskript "Über die
Abschaffung einiger Beschränkungen der Rechte ländlicher Bewohner und
ehemaliger abgabenpflichtiger Stände" 1906. Seither hatten Bauern und meš#ane
nicht nur Anrecht auf unbefristete Inlandspässe, sondern konnten auch
gleichberechtigt mit Adel die Beamtenlaufbahn einschlagen, die ihnen vorher
verwehrt war. Mit diesen Maßnahmen versuchte der autokratische Staat,
weitreichenderen gesellschaftlichen Forderungen den Wind aus den Segeln zu
nehmen. So war beispielsweise in den Parteiprogrammen der Russländischen
Sozialdemokratischen Arbeiterpartei (RSDRP) von 1903 und der Konstitutionellen
Demokraten (Kadetten) vom Januar 1906 die Forderung nach Aufhebung der Stände
verankert. Einen Tag vor der Auflösung der II. Staatsduma im Zusammenhang mit
dem sog. Staatsstreich P. A. Stolypins am 3. (16.) Juni 1907 brachten die
Konstitutionellen Demokraten einen Gesetzentwurf zur Abschaffung der Stände ein,
der auch die Unterstützung der Oktobristen gefunden hätte.
Ungeachtet dieses Erosionsprozesses und der Tatsache, daß beispielsweise
Arbeiter als eigene Kategorie keinen Eingang in die Ständepyramide fanden,
betonten Historiker wie z.B. G. Freeze oder S. Fitzpatrick die Vitalität, Flexibilität und
Funktionalität des Ständesystems betont. Sie räumten eine Umschichtung der
Gesellschaft im Zuge des wirtschaftlichen, politischen und soziokulturellen
Transformationsprozesses in Rußland seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert ein,
sahen aber keine Ablösung der Ständeordnung durch das Klassensystem, sondern
sprachen von einer Parallelexistenz von Stand und Klasse.
Nach der Februarrevolution 1917 kündigte die Provisorische Regierung zwar am 12.
(25.) März eine Gesetzesinitiative zur Aufhebung aller ständischen Privilegien und
Einführung gleicher Bürgerrechte für alle an – es blieb jedoch bis zum
Oktoberumsturz bei dieser bloßen Absichtserklärung.
Initiator des Dekrets über die Aufhebung der Stände und der staatsbürgerlichen
Rangbezeichnungen war die Fraktion der Linken Sozialrevolutionäre (LSR) des
Allrußländischen Zentralen Exekutivkomitees (VCIK). Verfassungsrechtlich entsprach
der VCIK des Rätesystems dem Parlament einer bürgerlichen Demokratie: zwischen
zwei Sowjetkongressen war er das höchste, regelmäßig tagende Gremium mit
legislativen, aber auch exekutiven Funktionen. Hierdurch kam es zu
Kompetenzkonflikten mit dem im Modell der Rätedemokratie nicht vorgesehenen Rat
der Volkskommissare (SNK). Vor diesem Hintergrund konkurrierender Entwürfe der
Sowjetdemokratie, der seinen Ausdruck u.a. darin fand, wer Gesetzentwürfe
einbrachte und ausarbeitete, ist dieses Dekret zu sehen.
Freeze, G. L., "The Soslovie (Estate) Paradigm and Russian Social History", in:
American Historical Review, 1986, Jg. 91, S. 11-36; Fitzpatrick, S., "Ascribing
Class: The Construction of Social Identity in Soviet Russia", in: Journal of
Modern History, 1993, Jg. 65, S. 745-770.
Izvestija P.S. R. i S. D., 1917, Nr. 13, 12. März, S. 4.
Auf der siebten Plenarsitzung des VCIK vom 8. (21.) November brachte der profilierte
Linke Sozialrevolutionär A. M. Ustinov für seine Fraktion einen Dekretentwurf ein, der
einerseits die Abschaffung aller Titel und ständischer Privilegien sowie anderseits
gleiche Rechte und Pflichten für alle "Staatsbürger der Rußländischen Republik"
vorsah. Der hier publizierte Text des Dekrets stellt eine überarbeitete Fassung der
vom VCIK einstimmig angenommenen Initiative der Linken Sozialrevolutionäre dar,
die der verantwortliche Organisator der Juristischen Abteilung des VCIK und seit
Mitte November 1917 die Amtsgeschäfte wahrnehmende Volkskommissar für Justiz
P. I. Stu#ka der neunten Plenarsitzung am 10. (23.) November 1917 zur Diskussion
vorlegte.
Das Dekret ist konzis. Es besteht nur aus sieben kurzen Artikeln. Laut Artikel 1
wurden alle Stände, ihre Organisationen und Institutionen, alle Privilegien und
Beschränkungen abgeschafft. Artikel 2 war von herausragender Bedeutung. Er
zeitigte gravierende lebensweltliche Konsequenzen, weil nicht nur die Adelsprädikate
und Dienstränge der Beamten, sondern auch die im alltäglichen Umgang wie im
Schriftverkehr feststehenden Anreden gestrichen wurden. Die obersten beiden
Dienstränge mußte beispielsweise mit "Euer Hochwohlgeboren", die Ränge drei und
vier mit "Euer Exzellenz", der Rang fünf mit "Euer Wohlgeboren", die folgenden drei
mit "Euer Würden", die Ränge 9 bis 14 mit "Euer Gnaden", eine Anrede, die jedem
Adligen unabhängig von seinem Dienstrang zustand – bezeichnet werden und
brachten Devotion wie soziale Hierarchie deutlich zum Ausdruck. Im übrigen
verfolgte der Artikel einen Gleichheitsaspekt, wie die Anrede seit der
Februarrevolution gängige Bezeichnung "Staatsbürger" (russ. graždanin) illustriert,
die ihrerseits wieder eine Anknüpfung an den in der Französischen Revolution
geläufigen Begriff "citoyen" darstellte. In Rußland konnte sich der Staatsbürgerbegriff
letztlich jedoch nicht gegen die seit der Februarrevolution "demokratisch" konnotierte
– was im russischen Verständnis "sozialistisch" bedeutete – und deshalb überaus
populäre Anrede "Genosse" (russ. tovariš#) durchsetzen.
Die Bestimmungen der Artikel 3 bis 5, die nicht im Entwurf der LSR enthalten waren,
gingen beträchtlich über den von den ihnen geforderten weitgehend symbolischen
Rahmen hinaus, weil mit der Übergabe aller ständischen Institutionen einschließlich
ihrer Archive, Betriebe und Besitzungen beträchtliche finanzielle Transferleistungen
verbunden waren. Die ständischen Organisationen der Kaufmannschaft und des
meš#anstvo, die wenigstens in einem bzw. in knapp zwei Drittel aller russischen
Städte existierten, vor allem aber des Adels waren – und dies galt gerade für die
größeren Gouvernementsstädte – aufgrund ihres Immobilienbesitzes relativ
vermögend (Ivanova, Želtova/2004). Bereits im Kontext der Einführung der
Stadtordnung 1870 hatte der Gesetzgeber die Frage diskutiert, ob das Vermögen der
Organisationen der städtischen Stände, also der Kaufleute und des meš#anstvo, in
städtisches, von der Stadtduma, die von der Bürgerschaft gewählt wurde, verwaltetes
Eigentum übergehen sollte. Diese Bestrebungen hatten die ständischen
Korporationen der Kaufleute und meš#ane vor Gericht erfolgreich abwehren können.
Nach dem Oktoberumsturz vollzog der Rat der Volkskommissare mit einem
Federstrich diesen beträchtlichen Kapitaltransfer. Da die städtischen und ländlichen
Selbstverwaltungsorgane in der Jahreshälfte 1918 ebenfalls aufgelöst wurden, fielen
Znamja Truda, 1917, 9. November, Nr. 67, S. 3.
Figes, O., Kolonitskii, B., Interpreting the Russian Revolution: The Language and
Symbols of 1917, London u.a. 1999.
Ivanova, N., Želtova, V., Soslovno-klassovaja struktura Rossii v konce XIX na#ale XX veka, Moskau 2004.
die gesamten Vermögenswerte und Funktionen dieser Organe an die Sowjets.
Artikel 6 brach expressis verbis mit der im Zarenreich gültigen Rechtspraxis, weil
zuvor neue Gesetze die Gültigkeit alter nicht aufgehoben hatten.
Im Artikel 7 war die Rede davon, daß die Bestimmungen "unverzüglich" in die Tat
umzusetzen seien. Tatsächlich existierten die ständischen Organisationen vielerorts
noch in den ersten Monaten des Jahres 1918 und versahen wichtige Funktionen bei
der Versorgung mit Lebensmitteln oder in der Fürsorge ihrer Angehörigen.
Das Dekret über die Aufhebung der Stände und der staatsbürgerlichen
Rangbezeichnungen war im Geiste eng verwandt mit dem am 16. (29.) Dezember
vom Rat der Volkskommissare erlassenen Dekret über die Angleichung der Rechte
aller Militärpersonen, das gleichfalls sämtliche Ränge, Titel, äußerliche
Erkennungszeichen einschließlich Orden und Privilegien abschaffte und militärische
Hierarchie nun durch die Wahl der Kommandeure ersetzte.
Die dekretierte Egalität aller Staatsbürger schränkte der Rat der Volkskommissare
allerdings schon bald wieder ein, indem die Regierung beispielsweise das Wahlrecht
zu den Sowjets an einen "Zensus der Arbeit" band. Dadurch wurden die einstigen
zarischen sozialen Eliten, die sog. "Ehemaligen" (russ. byvšie ljudi), in ihren Rechten
beschnitten. Unter umgekehrten Vorzeichen hielt in Sowjetrußland das Einzug, was
das Dekret abzuschaffen beabsichtigte: eine hierarchisierte, über unterschiedliche
Rechte und Pflichten verfügende Gesellschaft. Tatsächlich begann sich eine neue
Ständegesellschaft herauszubilden, die durch Verfügungsrechte strukturiert war. Ein
frühes Beispiel der Existenz eines bolschewistischen Ständewesens stellte das seit
Sommer 1918 praktizierte Rationierungssystem dar, das vier Kategorien kannte:
Schwerstarbeiter, Arbeiter, Geistesarbeiter und Nichtwerktätige. Dieses vermeintliche
Drei-Klassen-Distributionssystem wurde bereits 1919 durch ein System von
Extrarationen für bestimmte Bevölkerungsgruppen modifiziert. Funktion, Loyalität,
Parteizugehörigkeit etc. wurden positiv sanktioniert, d.h. privilegiert. Vor dem
Hintergrund der sich seit den 1930er Jahren entwickelnden Mangelgesellschaft mit
ihren informellen Patronagebezieungen avancierte das Privileg zum Charakteristikum
der stalinistischen Gesellschaft, das den Zugriff auf rare Güter wie Dienstwagen,
Wohnraum, Einkaufsmöglichkeiten oder Auslandsreisen im Rahmen nichtmonetärer
Gratifikationen gewährte (Fitzpatrick/1993; Osokina/2001). Wie im Zarenreich fand
sich die Masse der Bauernschaft an der Basis der Prestige- und
Einkommenspyramide wieder, die im übrigen noch durch das zwischen 1932 und
1980 gültige Paßsystem, das die Bauern ihrer Freizügigkeit beraubte, zivilrechtlich
diskriminiert wurde. Aufgrund dieser Sachverhalte erweist sich auch die vom
jugoslawischen Systemkritiker M. Djilas geprägte Bezeichnung "neue Klasse" für den
privilegierten Teil der sowjetischen Gesellschaft als nicht angemessen.
Lutz Häffner
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Faksimile
Die 4 Faksimile werden nicht mit ausgedruckt.
Hier nach: RGASPI, f. 2, op. 1, d. 4693, l. 1-2. Original.
© Faksimile. Federal'naja Archivnaja Služba Rossii. Rossijskij gosudarstvennyj archiv
social'no-politi#eskoj istorii (RGASPI). Moskau. 2004.
Quelle: http://1000dok.digitale-sammlungen.de/dok_0002_ran.pdf
Datum: 20. September 2011 um 10:30:56 Uhr CEST.
© BSB München
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