Einfluss des Over- jets auf Häufigkeit und Schweregrad des

Werbung
Praxis · Fortbildung
Einfluss des Overjets auf Häufigkeit
und Schweregrad
des Oberkieferfrontzahntraumas
Reduktion des Overjets als wichtiger
Faktor der OberkieferfrontzahnTraumaprophylaxe?
Christoph Schnyder, Christian Eicke*
*Privatpraktizierender Zahnarzt, ehemaliger Abteilungsleiter
der Schulzahnklinik Basel
Schlüsselwörter: Overjet, Oberkieferfrontzahntrauma
Korrespondenzadresse:
Christoph Schnyder
Zahnarzt SSO
Oberalpstrasse 36
7000 Chur
(Texte français voir page 746)
Einleitung
Die Schwerpunkte der heute praktizierten Zahnmedizin verlagern sich von der kurativen hin zur prophylaktisch orientierten
Zahnheilkunde. Die Prophylaxe aber sollte sich nicht nur auf die
kariösen und parodontalen Erkrankungen des Gebisses beschränken, sondern auch die traumabedingten Schäden des stomatognathen Systems mit einbeziehen. Vor allem bei Kindern
und Jugendlichen sind solche Traumata häufig und eine direkte
Folge von Stürzen und Schlägen, erlitten bei sportlichen Aktivitäten oder durch Gewalt durch andere (Unfallstatistik der
SUVA 1983–1987, FORSBERG & TEDESTAM 1993, PETTI & TARSITANI
1996). Dabei erhöhen Faktoren wie anormale Okklusion, Over-
Das Ziel der vorliegenden
Arbeit war die Klärung der
Frage, ob ein direkter Zusammenhang zwischen einem vergrösserten Overjet
der Oberkieferfrontzähne
und Traumahäufigkeit und
-schweregrad besteht. Zu
diesem Zweck wurden an
der Basler Schulzahnklinik
203 Unfallprotokolle von
Kindern und Jugendlichen
im Alter von 6–15 Jahren
ausgewertet. Neben den
Overjetwerten wurde auch
das Alter der Patienten, die
Lokalisation der betroffenen
Zähne im Kiefer, die ätiologischen Faktoren, die Sensibilität und deren Verlauf bei
den betroffenen Zähnen sowie der Einfluss des Overbites auf den Verletzungsschweregrad traumatisierter
Zähne erhoben. Es konnte
gezeigt werden, dass das
Risiko eines Oberkieferfrontzahntraumas bei einem
Overjet von mehr als 3 mm
um das Zweifache zunimmt.
Ebenfalls war eine Zunahme
der Verletzungen höherer
Schweregrade festzustellen.
Der Vergleich mit der Literatur zeigte eine weitgehende
Übereinstimmung mit diesen Resultaten. Somit kann
die Reduktion des Overjets
in der Traumaprophylaxe eine Rolle spielen und darf in
die Überlegungen für oder
gegen eine kieferorthopädische Korrektur bei Kindern
oder eine prothetische Klasse-II-Korrektur bei Erwachsenen mit einbezogen werden.
jet von mehr als 3 mm, kurze Unterlippe, inkompetenter Lippenschluss und Mundatmung die Wahrscheinlichkeit traumatischer Zahnverletzungen signifikant (FORSBERG & TEDESTAM 1993,
OTUYEMI 1994, PETTI & TARSITANI 1996, PETTI et al. 1997).
Das Ziel der vorliegenden Arbeit war es, aufgrund von 203
Krankengeschichten von Schülern, die an der Basler Schulzahnklinik betreut wurden, die wichtigsten Aspekte traumatischer Ereignisse an permanenten oberen Incisiven in einer
retrospektiven Untersuchung auszuwerten. Dabei stand der
Einfluss des Overjets bezüglich Schweregrad und Verletzungshäufigkeit bei äusserer Gewalteinwirkung im Vordergrund. Die
Kenntnis dieses Zusammenhangs ist für die Prophylaxe und die
Therapie von grosser Bedeutung.
Schweiz Monatsschr Zahnmed, Vol 109: 7/1999
739
Praxis · Fortbildung
Im Weiteren interessierte der Vitalitätsverlauf im Zusammenhang mit dem Heilungsprozess der betroffenen Zähne, bezogen
auf den Schweregrad des Traumas.
Ferner waren die ätiologischen Faktoren, wie Stürze, Schläge
usw. und deren Relation zu Alter und Geschlecht der Schüler
von Interesse. Erfahrungsgemäss verlagern sich die Aktivitäten
und die Freizeitgestaltung und die sich daraus ergebenden ätiologischen Faktoren von Knaben und Mädchen mit zunehmendem Alter unterschiedlich.
Schliesslich sollte die Frage eines möglichen mindernden Einflusses auf den Verletzungsschweregrad im Fall von positiven
Overbitewerten beantwortet werden.
Material und Methode
An der Basler Schulzahnklinik wurden 203 Krankengeschichten
aus den Jahren 1983 bis 1994, in denen ein Oberkieferfrontzahntrauma auftrat, aufgearbeitet. Es handelte sich dabei um
116 Knaben und 87 Mädchen im Alter von 6 bis 15 Jahren.
Diese Daten wurden aufgrund der nachstehend aufgeführten Kriterien und der betreffenden Klassifizierungsmerkmale analysiert.
Overjet (nach JÄRVINEN 1977):
A: 0–3 mm, B: 3,1–6 mm, C: 6,1–9 mm und >9 mm
Traumata (nach ANDREASEN 1981):
L1: leichte Schmelzinfraktion, Subluxation, L2: Schmelzfraktur,
L3: Schmelz-Dentin-Fraktur ohne Pulpabeteiligung, S1: SchmelzDentin-Fraktur mit Pulpabeteiligung, S2: Kronen-WurzelFraktur, S3: Wurzelfraktur, LL: laterale Luxation, I: Intrusion,
E: Extraartikulation
Vitalität
Der wechselhafte Verlauf nach einer Traumaeinwirkung wurde
wie folgt charakterisiert:
K+, L+: kurz- und langfristig positiv, K+, L–: kurzfristig positiv,
langfristig negativ, K–, L+: kurzfristig negativ , langfristig positiv, K–, L-: kurz- und langfristig negativ
Abb. 1
Fig. 1
740
Ätiologische Faktoren (modifiziert nach BAKLAND & BOYNE
1989):
ST: Sturz, SC: Schlag (Gewalt durch andere), VE: Velounfall,
AU: Autounfall, SP: Sportunfall
Mit den kieferorthopädisch wichtigen Daten zusammen wurde
auch der Overbite, d.h. der vertikale Überbiss in Millimetern
von –3 bis +3 erfasst und ausgewertet.
Ergebnisse
Bei den untersuchten 203 Kindern handelte es sich um 116
Knaben und 87 Mädchen. Das Durchschnittsalter betrug 9 Jahre. Die meisten der betroffenen Kinder waren im Altersbereich
von 7 bis 11 Jahren (Abb. 1).
Insgesamt wurden dabei 255 Zähne traumatisiert. Der erste
Incisivus links war am meisten betroffen (30%), gefolgt vom
ersten Incisivus auf der rechten Seite (27,5%). Beide oberen
Incisivi zusammen wurden in 17% der Fälle traumatisiert. Wie
aus den Abbildungen 2 ersichtlich, spielten die lateralen Incisivi
eine untergeordnete Rolle. Canini und erste Prämolaren wurden nicht erfasst (Abb. 2).
99 der 203 Kinder erlitten Zahnverletzungen als Folge von Stürzen, 82 durch Schläge (Gewalt durch andere), 11 bei Sportunfällen und 10 bei Velounfällen. Ein Kind wurde bei einem Autounfall verletzt.
Die Verbindung zwischen Ätiologie und Alter zeigte bei beiden
Geschlechtern eine Verschiebung der ätiologischen Faktoren
von anfänglich nur Stürzen und Schlägen im Vorschulalter hin
zu Traumatisierungen, bedingt durch Sport- und Velounfälle, im
Schulalter.
In den meisten Fällen handelte es sich um Schmelz-DentinFrakturen ohne Pulpabeteiligung (43,3%), gefolgt von Schmelzfrakturen (28,0%), Schmelzinfraktionen/Subluxationen (18,7%)
und Schmelz-Dentin-Frakturen mit Pulpabeteiligung (6,4%).
Laterale Luxationen (1,4%), Wurzelfrakturen (0,9%) und Intrusionen (0,9%) waren von marginaler Bedeutung. Kronen-Wurzel-Frakturen und Exartikulationen wurden keine registriert.
Altersverteilung der verunfallten Knaben und Mädchen, n = 203
Répartition des enfants accidentés selon l’âge (garçons et filles confondus), n = 203
Schweiz Monatsschr Zahnmed, Vol 109: 7/1999
Einfluss des Overjets auf Häufigkeit und Schweregrad des Oberkieferfrontzahntraumas
Abb. 2
Fig. 2
Betroffene Zähne der Knaben (n = 116) und Mädchen (n = 87)
Dents touchées chez les garçons (n = 116) et les filles (n = 87)
Der Vitalitätsverlauf der betroffenen Zähne in Abhängigkeit
vom Verletzungsschweregrad ergab für Knaben und Mädchen
das gleiche Bild, nämlich, dass trotz teilweise schweren Verletzungen der betroffenen Zähne mit einem kurz-, wie auch langfristig positiven Verlauf der Vitalität gerechnet werden kann.
Das unmittelbare Erlöschen der Vitalität trat in einzelnen Fällen
von Schmelz-Dentin-Fraktur ohne Pulpabeteiligung, SchmelzDentin-Fraktur mit Pulpabeteiligung und lateraler Luxation auf.
Der Anteil der Zähne, die post traumam die Vitalität erst nach
einer gewissen Zeit verloren, war bei Mädchen und Knaben in
den Gruppen der leichteren Verletzungen etwa gleich gross (ca.
2%).
Bezüglich Klassifizierung des Overjets des Patientenguts dominierten die Gruppen B (Overjet 3,1–6 mm) und C (Overjet
6,1–9 mm). Kleiner war dagegen die Gruppe A (Overjet 0–3 mm)
(Abb 3).
In allen drei Overjetgruppen waren die Zähne 11 und 21 am
meisten betroffen, wobei in Overjetgruppe A (0–3 mm) bei beiden Geschlechtern hauptsächlich Zahn 11 bzw. in Overjetgruppe C (6,1–9 mm) hauptsächlich Zahn 21 verletzt war. Der Vergleich des Verletzungsschweregrads traumatisierter Zähne mit
dem Alter der entsprechenden Patienten zeigte sowohl bei den
Knaben als auch bei den Mädchen im Altersintervall von 6 bis
15 Jahren keine eindeutigen Unterschiede (Abb. 4 und 5).
Der Zusammenhang zwischen Verletzungsschweregrad und
Overjet, bezogen auf die Knaben und Mädchen gesondert, ist in
Abbildung 6 dargestellt. In allen drei Overjetgruppen kamen
sowohl leichte Verletzungen wie Schmelzinfraktionen als auch
Schmelzfrakturen und Schmelz-Dentin-Frakturen ohne Pulpabeteiligung vor. Eine sprunghafte Zunahme der Anzahl der
Schmelzfrakturen und Schmelz-Dentin-Frakturen ohne Pulpabeteiligung war von der Gruppe A zur Gruppe B festzustellen.
Bei den Knaben wurden Intrusionen nur in der Overjetgruppe
C registriert. Wurzelfrakturen traten keine auf. Bei den Mädchen
fand sich eine Schmelz-Dentin-Fraktur mit Pulpabeteiligung in
der Overjetgruppe A (Abb. 6).
Zur Frage der Verletzungshäufigkeit ist ergänzend zu sagen,
dass dieselbe in der Overjetgruppe A (0–3 mm ) am kleinsten,
in den Overjetgruppen B (3,1–6 mm) und C (6,1–9 mm) aber
höher war.
Diskussion
Mit 203 Krankengeschichten ist das Patientengut der vorliegenden Arbeit, verglichen mit anderen Studien (BURTON 1985:
12 287, STOCKWELL 1988: 66 000, YAGOT et al. 1988: 2329 Patienten, KANIA et al. 1996: 3396), sehr klein. Zudem relativiert die
Tatsache, dass nur Unfallkrankengeschichten, welche auch Angaben zum Overjet enthielten, verwendet wurden, die Repräsentanz dieser Studie. Trotzdem zeigten sich im Literaturvergleich der Resultate in wesentlichen Punkten mindestens
Tendenzen und auch Übereinstimmungen.
Das Altersintervall vom 6. bis zum 15. Lebensjahr als Zeitspanne, in welcher sich die meisten Unfälle ereigneten, deckt sich
weitgehend mit den Altersgruppen anderer Untersuchungen
(HEDEGARD & STALHANE 1973, JÄRVINEN 1977, STOCKWELL 1988,
ZERMAN & CAVALLERI 1993, OTUYEMI 1994, PETTI & TARSITANI 1996,
PETTI et al. 1997). Der deutlich höhere Anteil von Knaben im untersuchten Patientengut ist auf die rauhere Umgangsweise und
die Ausübung von gefährlichen Freizeitaktivitäten zurückzuführen (GRUNDY 1959, BURTON et al. 1985, OTUYEMI 1994, KANIA
et al. 1996 KANIA et al. 1996). Die dieser Arbeit zugrunde liegende obere Altersgrenze von 15 Jahren liegt in der Tatsache begründet, dass ab dem 16. Lebensjahr die zahnärztliche Versorgungspflicht der Schweizer Schulzahnkliniken erlischt.
Die zentralen Oberkieferincisivi wurden in 74,5% der Fälle traumatisiert. Dieses Ergebnis ist vergleichbar mit den Resultaten
der Untersuchungen von STOCKWELL (1988), mit 71,9%, ZERMAN
& CAVALLERI (1993), mit 80%, KANIA et al. (1996) mit 66% und
PETTI & TARSITANI (1996) mit 62%. Die Tatsache, dass die zentralen oberen Incisivi am häufigsten betroffen waren, lässt sich einerseits durch deren Exposition und andererseits durch den fehlenden Weichteilschutz, bedingt durch den vergrösserten
Overjet, begründen (DEWAR & CRAIG 1986, OTUYEMI 1994, PETTI
& TARSITANI 1996). Zudem eruptieren die zentralen oberen Incisivi in der Regel früher als die lateralen und sind somit auch länger einem Traumarisiko ausgesetzt (KANIA et al. 1996).
Bezüglich der ätiologischen Faktoren waren die Ergebnisse der
vorliegenden Arbeit nicht immer mit den diesbezüglichen Angaben in der Literatur vergleichbar. Klar traten auch hier Stürze
(48%) und Schläge aufgrund äusserer Gewalt (40%) als ätiolo-
Schweiz Monatsschr Zahnmed, Vol 109: 7/1999
741
Praxis · Fortbildung
Abb. 3 Overjetverteilung bei Knaben und Mädchen (n = 203) A = Overjet von 0–3 mm, B = Overjet von 3,1–6 mm, C = Overjet von
6,1–9 mm
Fig. 3 Répartition selon le surplomb horizontal chez les garçons et les filles (n = 203), A = Overjet de 0 à 3 mm, B = Overjet de 3,1 à 6 mm,
C = Overjet von 6,1 à 9 mm
Abb. 4 Der Verletzungsschweregrad in Abhängigkeit vom Alter, Knaben, n =116, L1 = Schmelzinfraktion/Subluxation, L2 = Schmelzfraktur,
L3 = Schmelz-Dentin-Fraktur ohne Pulpabeteiligung, S1 = Schmelz-Dentin-Fraktur mit Pulpabeteiligung, LL = laterale Luxation, I = Intrusion
Fig. 4 Rapports du degré de gravité avec l’âge, chez les garçons, n=116, L1: fêlure amélaire/subluxation, L2: fracture d’émail, L3: fracture
amélo-dentinaire sans effraction pulpaire, S1: fracture amélo-dentinaire avec participation pulpaire, LL: luxation latérale, I: intrusion
gische Hauptfaktoren auf. Dieses Ergebnis deckt sich mit den
Untersuchungen von FORSBERG & TEDESTAM (1993). Die unterschiedlichen Prozentzahlen im Bereich Velo- und Sportunfälle
jedoch, sind auf die ungenau ausgefüllten Unfallprotokolle
zurückzuführen, da im Fall von Stürzen beispielsweise nur in
seltenen Fällen die Ursache genauer differenziert wurde. Es
konnte kein signifikanter Unterschied zwischen den Geschlechtern festgestellt werden.
Die Patientengruppe mit Overjet A (0–3 mm) kennzeichnete sich
insgesamt durch Verletzungen leichterer Art, d.h. hauptsächlich
742
Schweiz Monatsschr Zahnmed, Vol 109: 7/1999
Schmelzinfraktionen/Subluxationen,
Schmelzfrakturen
und
Schmelz-Dentin-Frakturen ohne Pulpabeteiligung. Relativ gross,
sogar grösser als in Gruppe C, war dabei der Anteil von SchmelzDentin-Frakturen ohne Pulpabeteiligung. Diese Ergebnisse sind
vergleichbar mit jenen der Arbeit von FORSBERG & TEDESTAM (1993).
Auch HAYRINEN-IMMONEN et al. (1990) und KABA & MARECHAUX
(1989) beschrieben die Schmelz-Dentin-Fraktur ohne Pulpabeteiligung in dieser Patientengruppe als häufigste Verletzungsart.
In den Patientengruppen mit Overjet B (3,1–6 mm) und C
(6,1–9 mm und mehr) waren dagegen die schweren Verletzun-
Einfluss des Overjets auf Häufigkeit und Schweregrad des Oberkieferfrontzahntraumas
Abb. 5 Der Verletzungsschweregrad in Abhängigkeit vom Alter, Mädchen (n = 87), L1 = Schmelzinfraktion/Subluxation, L2 = Schmelzfraktur, L3 = Schmelz-Dentin-Fraktur ohne Pulpabeteiligung, S1 = Schmelz-Dentin-Fraktur mit Pulpabeteiligung, S3 = Wurzel-Fraktur, LL = laterale Luxation
Fig. 5 Rapports du degré de gravité avec l’âge, chez les filles (n= 87), L1: fêlure amélaire/subluxation, L2: fracture d’émail, L3: fracture
amélo-dentinaire sans effraction pulpaire, S1: fracture amélo-dentinaire avec participation pulpaire, LL: luxation latérale
Abb. 6 Verletzungsschweregrad in Relation zum Overjet, A = Overjet von 0 –3 mm, B = Overjet von 3,1–6 mm, C = Overjet von 6,1–9 mm,
L1 = Schmelzinfraktion/Subluxation, L2 = Schmelzfraktur, L3 = Schmelz-Dentin-Fraktur ohne Pulpabeteiligung, S1 = Schmelz-Dentin-Fraktur
mit Pulpabeteiligung, S3 = Wurzelfraktur, LL = laterale Luxation, I= Intrusion
Fig. 6 Relation du degré de gravité avec le surplomb vertical, A: surplomb de 0 à 3,0 mm, B: surplomb de 3,1 à 6,0 mm, C: surplomb de
6,1 à 9,0 mm et plus, L1: fêlure amélaire/subluxation, L2: fracture d’émail, L3: fracture amélo-dentinaire sans effraction pulpaire, S1: fracture
amélo-dentinaire avec participation pulpaire, S3 = fracture radiculaire, LL = luxation latérale, I = intrusion
gen, wie Schmelz-Dentin-Frakturen mit Pulpabeteiligung,
Wurzelfrakturen, laterale Luxationen und Intrusionen zu finden. Auffallend war dabei der sehr kleine Anteil dieser schweren Verletzungsgrade. Vo rallem gilt dies für die laterale Luxation. In der Literatur finden sich hierfür Zahlen zwischen
15–40% (ANDREASEN 1970, LLARENA et al. 1992). Allerdings stellten KANIA et al. (1996) und PETTI & TARSITANI (1996) in ihren
Arbeiten die einfache Schmelzfraktur als den am häufigsten an-
zutreffenden Verletzungsgrad vor (89,4% bzw. 64,4%). Schwere
Verletzungsgrade wie Schmelz-Dentin-Fraktur mit Pulpabeteiligung, Wurzelfraktur, Luxation und Exartikulation waren auch
bei ihnen von marginaler Bedeutung. Die Interpretation dieser
Diskrepanz zu Ergebnissen früherer Arbeiten ist spekulativ.
Bezüglich eines Zusammenhangs von Overjet und Verletzungsschweregrad konnte kein geschlechtsgebundener Unterschied
festgestellt werden, obwohl in der Literatur die schwereren Ver-
Schweiz Monatsschr Zahnmed, Vol 109: 7/1999
743
Praxis · Fortbildung
letzungen deutlich häufiger bei den Knaben auftreten (BURTON
et al. 1985, STOCKWELL 1988, YAGOT et al. 1988, OTUYEMI 1994,
KANIA et al. 1996).
Schläge und Stürze stellten in der Literatur die wichtigsten
ätiologischen Faktoren in allen drei Overjetgruppen dar (BURTON et al. 1985, STOCKWELL 1988, MARTIN et al. 1990, FORSBERG &
TEDESTAM 1993). In der vorliegenden Untersuchung können
demnach die ätiologischen Voraussetzungen als analog zu der
in der Literatur beschriebenen Situation betrachtet werden. Es
zeigte sich, dass mit zunehmender Grösse des Overjets tendenziell sowohl die Verletzungshäufigkeit als auch der Schweregrad
der Verletzungen anstieg, was mit den Resultaten der anderen
Untersuchungen übereinstimmt.
In vielen Fällen kann auch bei sehr schweren Zahntraumata mit
einem positiven Verlauf der Vitalität gerechnet werden. Dies ist
darauf zurückzuführen, dass es sich bei Patienten im Alter von 6
bis 15 Jahren in der Regel überwiegend um solche handelt, deren Zähne das Wurzelwachstum noch nicht abgeschlossen haben ( ANDREASEN 1970, ANDREASEN & ANDREASEN 1990).
Auch in der vorliegenden Untersuchung blieb die Mehrzahl der
betroffenen Zähne immediat und langfristig vital. Um aber einen gesicherten Vergleich ziehen zu können, müssten mehr
Zähne untersucht werden. Ebenso müsste der Anteil an hohen
Verletzungsgraden grösser sein.
Die untersuchten Schulkinder hatten mehrheitlich Overjets der
Gruppe B (39,4%) und C (38,9%). Die Gruppe A mit 21,6% war
vergleichsweise klein. Bemerkenswert war, dass die Gruppen B
und C nahezu gleich gross waren. Da aber nur Krankengeschichten untersucht wurden, die überhaupt Angaben zum
Overjet enthielten, ist dieses Resultat nicht repräsentativ. Denn
allgemein dominiert im mitteleuropäischen Raum die Klasse I
mit 70%, gefolgt von der Klasse II mit 28% und der Klasse III
mit 2% (STÖCKLI et al. 1994). Analog zur Literatur (JÄRVINEN
1979, MIOTTI et al. 1988, YAGOT et al. 1988, STOCKWELL 1988,
OTUYEMI 1994) konnte auch in der vorliegenden Untersuchung
kein geschlechtsspezifischer Unterschied bezüglich der Overjetgruppen gefunden werden. Aufgrund der Tatsache, dass in
der Gruppe C des Patientenguts tatsächlich extreme Overjets
von mehr als 9 mm vorkamen, hätte man annehmen können,
dass in dieser Gruppe die Häufigkeit der Verletzungen am grössten wäre.
Nach LEWIS (1959), EICHENBAUM (1963), GAUBA (1967) und JÄRVINEN (1977) wäre dieser Zusammenhang erklärbar da bei extremen Overjets ein inkompetenter Lippenschluss und ein daraus
resultierender insuffizienter Weichteilschutz und eine fehlende
zervikale Abstützung der oberen Incisivi durch die unteren einhergeht. Je grösser der Overjet bei den Patienten ist, desto weniger ist es ihnen möglich, die Lippen spannungsfrei zu schliessen, um so die Zähne zu schützen. Ferner fällt, bedingt durch
den grossen Overjet, die zervikale Abstützung durch die unteren Incisivi gänzlich weg, was ebenfalls ein Nachteil hinsichtlich
Schutz der Zähne bedeutet.
Bezüglich des Overbites ist aber festzuhalten, dass die palatozervikale Abstützung der oberen Incisivi durch die unteren als
wichtiger Stabilisierungsfaktor bei der Einwirkung eines Kraftmoments auf die oberen Incisivi (LEWIS 1959, EICHENBAUM 1963,
GAUBA 1967, JÄRVINEN 1977) natürlich nur dann zum Tragen
kommt, wenn die Zähne zum Zeitpunkt des Traumas in Okklusion sind. Diese Tatsache kann das Auftreten von schweren Verletzungen trotz Overbitewerten von +2 mm und +3 mm erklären.
Die Zahlen dieser Untersuchung und die Ergebnisse von JÄRVINEN (1977) und PETTI & TARSITANI (1996) stimmen soweit über-
744
Schweiz Monatsschr Zahnmed, Vol 109: 7/1999
ein, als bei einem Overjet im Bereich von 3,1–6 mm der Anteil
verletzter Oberkieferfrontzähne, verglichen mit einem Overjet
von 0–3 mm, sprunghaft um das Zweifache ansteigt. Hingegen
war bei den untersuchten Kindern der Overjetgruppe C keine
wesentlich höhere Verletzungsrate festzustellen. Bei den
Mädchen fanden sich in der Overjetgruppe C sogar weniger
Verletzungen als in der Gruppe B. Dies ist nicht repräsentativ
und liegt in der kleinen Patientengruppe (n = 87) begründet.
Dennoch darf man aufgrund der vorliegenden Resultate annehmen, dass die kritische Overjetgrösse bei 3–6 mm liegt, wie
dies schon GAUBA (1967), JÄRVINEN (1979), OTUYEMI (1994), PETTI
& TARSITANI (1996) und PETTI et al. (1997) aufgrund ihrer Ergebnisse folgerten.
Schlussfolgerungen
Häufigkeit und Schweregrad von Verletzungen an Oberkieferfrontzähnen stehen in direktem Zusammenhang mit der Grösse des Overjets. Dies geht aus der Literaturübersicht hervor und
findet auch in der vorliegenden Untersuchung Bestätigung.
Und da in über 70% der Unfallereignisse, bei denen der KieferGesichtsbereich mitbetroffen ist, die Oberkieferfrontzähne
traumatisiert werden, muss dem Overjet aus traumaprophylaktischen Gründen Bedeutung zugestanden werden.
So darf das Argument der Verminderung des Traumarisikos an
Oberkieferfrontzähnen neben der Funktion und der Ästhetik
bei der Entscheidung für oder gegen die Reduktion des Overjets
im Sinne einer kieferorthopädischen Korrektur gelten. Auch
kann aus denselben Gründen eine prothetische Klasse-II-Korrektur bei Erwachsenen in Erwägung gezogen werden.
Literaturverzeichnis
ANDREASEN J O: Etiology and pathogenesis of traumatic dental
injuries. A clinical study of 1298 cases. Scand. J. dent. Res., 78:
329–342 (1970)
ANDREASEN J O: Traumatic injuries of the teeth. Munksgaard,
Kopenhagen, 1981
ANDREASEN J O, ANDREASEN F M: Essentials of traumatic injuries
to teeth. Munksgaard, Kopenhagen, 1990
BAKLAND L K, BOYNE P J: Trauma to the oral cavity. Clin Sports
Med; 8: 25–41 (1989)
BURTON J, PRYKE L, ROB M, LAWSON J S: Traumatized anterior
teeth amongst high school students in northern Sydney. Aust
Dent J; 30: 346–348 (1985)
DEWAR A S I, CRAIG J: Injuries to incisors during sporting activities at school. Tandlaegebladet; 90: 661–663 (1986)
EICHENBAUM I W: A correlation of traumatized anterior teeth to
occlusion. J Dent Child; 30: 229–236 ( 1963)
FORSBERG C M, TEDESTAM G: Etiological and predisposing factors
related to traumatic injuries to permanent teeth. Swed Dent J;
17: 183–190 (1993)
GAUBA M L: A correlation of fractured anterior teeth to their
proclination. J Indian Dent Ass; 39: 105–112 (1967)
GRUNDY J R: The incidence of fractured incisors. Br Dent J; 106:
312–314 (1959)
HAYRINEN-IMMONEN R, SANE J, PERKKI K, MALMSTROM M: A
six-year follow-up study of sports-related dental injuries in
children and adolescents. Endod Dent Traumatol; 6: 208–212
(1990)
HEDEGARD B, STALHANE I: A study of traumatized permanent
teeth in children aged 7–15 years. Swed Dent J; 66: 431–450
(1973)
Einfluss des Overjets auf Häufigkeit und Schweregrad des Oberkieferfrontzahntraumas
JÄRVINEN S: Incisal overjet and traumatic injuries to upper permanent incisors. Acta Odontol Scand; 36: 359–362 (1977)
JÄRVINEN S: Fractured and avulsed permanent incisors in Finnish
children. A retrospective-study. Acta Odontol Scand; 37:
47–50 (1979)
JÄRVINEN S: Traumatic injuries to upper permanent incisors related to age and incisal overjet. A retrospective study. Acta
Odontologica Scandinavia; 37: 335–338 (1979)
KABA A D, MARECHAUX S C: A fourteen-year follow-up study of
traumatic injuries to the permanent dentition. ASDC J Dent
Child; 56: 417–425 (1989)
KANIA M J, KEELING S D, MCGORRAY S P, WHEELER T T, KING G I:
Risk factors associated with incisor injury in elementary
schoolchildren. Angle Orthod; 66(6): 423–432 (1996)
LEWIS T E: Incidence of fractured anterior teeth as related to their
protrusion. Angle Orthodontol; 29: 128–131 (1959)
LLARENA DEL ROSARIO M E, ACOSTA ALFARO V M, GARCIA-GODOY
F: Traumatic injuries to primary teeth in Mexico City children.
Endod Dent Traumatol; 8: 213–214 (1992)
MARTIN I G, DALY C G, LIEW V P: After-hours of anterior dental
trauma in Newcastle and Western Sidney: a four-year study.
Aust Dent J; 35: 27–31 (1990)
MIOTTI F, FERRO R, SMANIA P A: I traumi dei denti incisivi: studio
epidemiologico. Prev Assist Dent; 14: 16–20 (1988)
OTUYEMI O D: Traumatic anterior dental injuries related to
incisor overjet and lip competence in 12-year-old Nigerian
children. International Journal of Paediatric Dentistry; 4(2):
81–85 (1994)
PETTI S, TARSITANI G: Traumatic injuries to anterior teeth in Italian schoolchildren: prevalence and risk factors. Endod Dent
Traumatol; 12(6): 294–297 (1996)
PETTI S, CAIRELLA G, TARSITANI G: Childhood obesity: a risk factor for traumatic injuries to anterior teeth. Endod Dent Traumatol; 13(6): 285–288 (1997)
Schweiz. Unfallversicherungsanstalt (SUVA): Unfallstatistik
1983–87. Suva: 37 (1990)
STÖCKLI P W, BEN-ZUR E D: Zahnmedizin bei Kindern und
Jugendlichen. Georg Thieme Verlag Stuttgart, New York
(1994)
STOCKWELL A J: Incidence of dental trauma in the Western Australian School Dental Service. Community Dent Oral Epidemiol; 16: 294–298 (1988)
YAGOT K H, NAZHAT N Y, KUDER S A: Traumatic dental injuries in
nursery school children from Baghdad, Iraq. Community
Dent Oral Epidemiol; 16: 292–293 (1988)
ZERMAN N, CAVALLERI G: Traumatic injuries to permanent incisors. Endod Dent Traumatol; 9(2): 61–64 (1993)
Schweiz Monatsschr Zahnmed, Vol 109: 7/1999
745
Herunterladen