Der Klimawandel in den Alpen

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Wissen Klima
Der Klimawandel in den Alpen
Alpine Regionen sind stark
vom Klimawandel betroffen.
Aktuelle Prognosen gehen bis
Ende Jahrtausend von mindestens plus drei Grad aus.
Neueste Forschungsresultate
zeigen erstmals konkret die
Folgen.
und Hüttenzustiege müssen neu angelegt werden, weil Moränen instabil
werden.
Alle sind betroffen
Text: Peter Camenzind
Grafik: ETH Zürich
ATMOSPHÄRE
Die Aussagen zum Klimawandel
stellen den aktuellen Stand des
Wissens dar, sind aber zum Teil
noch mit grossen Unsicherheiten
behaftet. Die Prognosen sind
zwar wissenschaftlich fundiert,
aber nicht in jeder Hinsicht zuverlässig. Der Grund ist, dass
noch nicht alle Prozesse des
komplexen Klimasystems vollständig verstanden und in den
Modellen fehlerfrei dargestellt
sind. Die Modelle sind aber in der
Lage, das Klima vergangener
Jahrzehnte weitestgehend zu reproduzieren, was das Vertrauen
in die Aussagen zum Klimawandel stärkt. Die grösste Unsicherheitsquelle sind auf lange Sicht
die Annahmen zum künftigen
Treibhausgasausstoss der
Menschheit. Entscheidend dafür
sind die zukünftige wirtschaftliche und demografische Entwicklung auf der Erde sowie gezielte
Massnahmen zur Reduktion der
Emissionen.
OZEAN
Wie viel
Treibhausgase?
Erstmals detaillierte Zahlen für
den Alpenraum
Bevor Ende dieses Monats die Rio20+,
die Konferenz der Vereinten Nationen
über nachhaltige Entwicklung, beginnt, zeigen «Die Alpen», was der Klimawandel bis Ende des Jahrhunderts in
den Schweizer Alpen wahrscheinlich
bewirken wird. Die Beiträge, die Forscherinnen und Forscher freundlicherweise für uns verfasst haben, sind
zwar in der Sprache zurückhaltend, in
der Sache aber deutlich.
globale Klimamodelle: 100–300 km
regionale Klimamodelle: 10–50 km
WELTRAUM
Der Klimawandel ist Tatsache. Wer
wüsste dies besser als jene, die oft in
den Bergen sind? Die Gletscher schmelzen schneller und schneller, Routen
können nicht mehr begangen werden
Der Bundesrat schreibt in seiner Strategie «Anpassung an den Klimawandel», die er letzten März von der Öffentlichkeit weitgehend unbeachtet
publiziert hat: «Die Temperaturen werden (…) in allen Landesteilen und zu
allen Jahreszeiten steigen.» Und er listet die Folgen auf: grössere Hitze in
Agglomerationen, mehr Trockenheit,
steigendes Hochwasserrisiko, abnehmende Hangstabilität und als Folge
häufigere Murgänge und mehr Steinschlag. Steigende Schneefallgrenze,
Beeinträchtigung der Wasser-, Bodenund Luftqualität, Veränderungen von
Lebensräumen, der Artenzusammen-
setzung, der Landschaft insgesamt und
schliesslich Ausbreitung von Schadorganismen, Krankheiten und gebietsfremden Arten. Es wird keinen Bereich
geben, der von den Klimafolgen verschont bleibt.
atmosphärische
Spurengase, u.a. CO2
solare Einstrahlung
(kurzwellig)
terrestrische
Ausstrahlung
(langwellig)
Absorption
Reflektion
Streuung
Luft - Land
Wechselwirkung
Schnee+Eis
Wolken
Luft - Meereis
Wechselwirkung
Niederschlag
Wind
vulkanische
Gase und
Partikel
Luft - Ozean
Wechselwirkung
ozeanische
Zirkulation
Ozean - Meereis
Wechselwirkung
C, N, P
Kreisläufe
Flüsse,
Grundwasser,
Seen
Vegetation
menschlicher Einfluss,
u.a. Treibhausgasemissionen
Wichtige Komponenten und Prozesse im Klimasystem, die in Klimamodellen beschrieben werden.
Globale Modelle arbeiten mit Auflösungen von 100 bis 300 km, regionale mit bis zu 10 km.
Juni 2012
47
Wissen Klima
Wärmer und weniger Schneefall
Das Klima ändert sich, erstmals liegen nun detaillierte
Prognosen für den Klimawandel bis ins Jahr 2100 für den
Alpenraum vor. Es wird wärmer, im Sommer trockener,
und es wird deutlich weniger Schnee fallen.
Text und Grafik: Sven Kotlarski, Institut
für Atmosphäre und Klima, ETH Zürich
Der Klimawandel geht auch an den Alpen nicht spurlos vorüber. Die grosse
Mehrheit der Temperaturmessstationen zeigt für die letzten Jahrzehnte eine
deutliche Erwärmung. Direkte Folgen
sind der Rückgang der Schneebedeckung und der Rückzug der Gletscher.
Die Ursachen dafür zu finden, ist nicht
trivial und ein heiss diskutiertes Thema. Wahrscheinlich ist, dass es wir
Menschen sind, die das Klima durch
den Ausstoss von Treibhausgasen, allen
voran Kohlendioxid, aufheizen.
Je lokaler, desto schwieriger
Doch was bringt die Zukunft? Eine
ganze Wissenschaftlergemeinde beschäftigt sich mit dieser Frage und versucht, einer Antwort näherzukommen.
Dabei geht es nicht nur um mittlere
weltweite Veränderungen und um die
Lufttemperatur und die Niederschläge.
Wichtig sind in der Regel die regionalen
und lokalen Ausprägungen des Klimawandels. Konkret also zum Beispiel
diejenigen im Alpenraum.
Das Hauptwerkzeug der Klimawissenschaftler sind Klimamodelle: Computermodelle, die die wichtigsten Prozesse in der Atmosphäre, im Ozean sowie
auf der Landoberfläche auf einem dreidimensionalen Gitter beschreiben (vgl.
Grafik S. 47). So kann abgeschätzt werden, was der fortgesetzte Ausstoss von
Treibhausgasen für das globale Klima
bedeuten würde (vgl. Kasten S. 47).
Dabei werden Jahrzehnte bis Jahrhunderte in die Zukunft gerechnet. Das
können nur Hochleistungsrechner be-
48
Juni 2012
wältigen. Trotzdem ist die Rechnerleistung ein Flaschenhals, die räumliche
Auflösung von globalen Klimamodellen ist derzeit auf etwa 100 Kilometer
begrenzt.
Regionale Besonderheiten des Klimas
im Alpenraum, beispielsweise Unterschiede zwischen dem Rhonetal und
den höchsten Gipfeln des Berner Oberlandes, können so nicht erfasst werden.
Einen Ausweg bieten regionale Klimamodelle. Als kleine Schwestern der
Globalmodelle beschreiben auch sie die
vollständige dreidimensionale Zirku-
4
3.5
3
2.5
2
1.5
1
0.5
0
-0.5
-1
lation der Atmosphäre, jedoch nur für
eine Teilregion, zum Beispiel Europa
oder den erweiterten Alpenraum. Dadurch sind eine wesentlich feinere
räumliche Auflösung von 10 bis 25 Kilometern und regional detailliertere
Aussagen möglich.
Erwärmung beschleunigt sich
Seit 2009, dem Ende des europäischen
Forschungsprojektes ENSEMBLES,
stehen für Europa eine Vielzahl regionaler Klimasimulationen zur Verfügung. Damit ist es möglich, die regionalen Auswirkungen des Klimawandels
abzuschätzen. Dies wiederum erlaubt
eine Schätzung der Folgen des Klimawandels auf Bereiche wie die Kryosphäre (Schnee, Gletscher, Permafrost), die Land- und Forstwirtschaft,
die Wasserversorgung oder auch die
Energiegewinnung (siehe Hinweis).
Temperaturänderung Winter (°C)
1980
2000
2020
2040
2060
2080
2100
Bis 2100 ist mit einer deutlichen Erwärmung im Vergleich zur Referenzperiode
1980-2009 zu rechnen. Im Winter wird sie mit 3 °C weniger stark ausfallen.
5
4.5
4
3.5
3
2.5
2
1.5
1
0.5
0
-0.5
-1
Temperaturänderung Sommer (°C)
1980
2000
2020
2040
2060
2080
Die Temperaturen im Sommer werden um mindestens 3,5 °C steigen.
Im Süden werden es bis zu 4,5 °C.
2100
Für «Die Alpen» haben wir die Ergebnisse für sechs Teilregionen der
Schweiz aufbereitet und dargestellt.
Wichtigstes Ergebnis ist, dass sich der
Erwärmungstrend der vergangenen
Jahrzehnte aller Wahrscheinlichkeit
nach fortsetzen und sogar beschleunigen wird. Bis zum Jahr 2100 ist mit einer Erwärmung von mehr als 3,5 °C im
Sommer und mehr als 3 °C im Winter
zu rechnen. Eine Folge davon sind
deutlich geringere Schneefallmengen
in allen Regionen.
Die «Regionen» W Jura, W Mittelland, W Alpennordhang, W Wallis, W Graubünden und W Tessin,
wie sie für die Berechnungen der ETH Zürich schematisch angenommen wurden.
Sommer: Weniger Niederschlag
Die Diagramme zeigen eine Abschätzung der erwarteten Veränderungen
von Temperatur und Niederschlägen
bis zum Jahr 2100 für sechs grössere
Regionen der Schweiz (Jura, Mittelland, Alpennordhang, Wallis, Graubünden, Tessin). Die Kurven basieren
auf den Ergebnissen des europäischen
ENSEMBLES-Projektes und stellen einen Mittelwert aus 14 regionalen Klimasimulationen dar. Diesen liegt das
SRES A1B Emissionsszenario des IPCC
mmer (°C)
40
Jura
Mittelland
Alpennordhang
Wallis
Graubünden
Tessin
Niederschlagsänderung Winter (%)
14
12
10
8
6
4
2
0
-2
-4
-6
-8
-10
2080
2060
1980
2000
2020
2100
2040
2060
2080
2100
Die Niederschlagsmengen im Winter werden laut den Berechnungen bis
Ende Jahrhundert ansteigen.
Niederschlagsänderung Sommer (%)
9
6
3
0
-3
-6
-9
-12
-15
-18
-21
-24
1980
(Intergovernmental Panel on Climate
Change) zugrunde, das ab 2050 einen
sinkenden Treibhausgasausstoss annimmt. Dementsprechend liefern die
Modelle Anhaltspunkte, die mit Unsicherheiten behaftet sind und nicht als
konkrete Voraussagen verstanden werden dürfen.
Die Werte zeigen die Veränderung gegenüber der Referenzperiode 1980–
2009. Für das 21. Jahrhundert ist in der
gesamten Schweiz mit einer deutlichen
Erwärmung im Vergleich zu heute zu
Jura
rechnen. Diese Erwärmung wird im
Mittelland
Alpennordhang
Sommer tendenziell etwas grösser als
Wallis
im Winter und in den zentralen und
Graubünden
Tessin
südlichen Landesteilen etwas stärker
als im Norden ausfallen. Während die
Niederschlagsmengen im Winter voraussichtlich leicht ansteigen, ist im
Sommer mit deutlich weniger Niederschlag zu rechnen, besonders im Jura,
Wallis und Tessin. Die Temperaturerhöhung im Winter führt aber zu starken Abnahmen der Schneefallmengen,
im Mittelland und Jura werden es mehr
Jura
als 50% sein.
Mittelland
Alpennordhang
Wallis
Graubünden
→→ Mehr
Tessin
2000
2020
2040
2060
2080
2100
Ab der zweiten Jahrtausendhälfte werden die Sommer niederschlagsärmer,
besonders im Jura, Wallis und Tessin.
Infos
Für die Schweiz steht seit September
2011 mit dem Bericht «Szenarien zur
Klimaänderung in der Schweiz CH2011»
(www.ch2011.ch) eine umfassende
Übersicht der im 21. Jahrhundert erwarteten klimatischen Veränderungen
zur Verfügung, basierend auf den Ergebnissen des ENSEMBLES-Projektes.
Juni 2012 49
Wissen Klima
Schneegrenze steigt um 500 Meter
Wie mächtig eine Schneedecke wird und wie lange sie
erhalten bleibt, hängt vom Niederschlag und der
Temperatur ab. Die Klimaerwärmung wird zu mehr
Niederschlägen im Winter führen. Weil es wärmer wird,
wird die Schneedecke dünner, die Schneegrenze steigt.
Text und Grafik: Christoph Marty und
Mathias Bavay, WSL-Institut für
Schnee- und Lawinenforschung (SLF)
3000
Höhe (m)
Falls es Niederschlag gibt, bestimmt
die Temperatur, ob dieser in Form von
Schnee oder Regen fällt. Die Temperatur bestimmt auch, wie lange sich der
Schnee am Boden hält, bevor er wegschmilzt.
Am Beispiel des vergangenen Winters
lässt sich diese Temperaturabhängigkeit einer Schneedecke gut aufzeigen.
Die häufigen und intensiven Niederschläge von Dezember bis Februar haben am Alpennordhang für eine überaus mächtige Schneedecke gesorgt. Im
Mittelland war es während dieser Monate so warm – circa 1 °C wärmer als im
langjährigen Durchschnitt –, dass der
meiste Niederschlag in Form von Regen
fiel oder sich der wenige Schnee nicht
lange halten konnte.
Schneesaison Graubünden
2000
Permanente Schneedecke
bei starker Erwärmung
Permanente Schneedecke
des Referenzwerts
1000
0
Nov
Dez
Jan
Feb
Mär
Apr
Mai
Jun
Jul
Entwicklung der Dauer der Schneebedeckung im Kanton Graubünden für die Referenzperiode
2001-2010 (schwarz) und die drei Szenarien mit geringem (2,2°C blau), mittlerem (3.1°C grün)
und starkem (3,9°C rot) Temperaturanstieg bis 2100. Die Doppelpfeile in der Mitte zeigen als
Beispiel die Dauer der Schneebedeckung auf etwa 1600m.
Drei Modelle
Der Klimawandel wird mit grosser
Wahrscheinlichkeit zu wärmeren Temperaturen und leicht erhöhten Winterniederschlägen führen (vgl. S. XX).
Wir zeigen am Beispiel des Kantons
Graubünden, wie sich dies auf einen
durchschnittlichen Winter im Zeitraum 2070-2100 auswirken wird. Es
werden hauptsächlich die Veränderungen im Vergleich zur Gegenwart gezeigt. Diese Referenzgrösse besteht aus
1
50
Da die Klimamodelle den Schnee als gefrorenes Wasser simulieren, wird Mächtigkeit der
Schneedecke häufig als Schneewasseräquivalent dargestellt.
Juni 2012
dem Durchschnitt der zehn Winter
zwischen 2001 und 2010. Es wurde mit
drei unterschiedlichen Klimamodellen
gerechnet, wobei eines einen geringen
(2,2 °C), eines einen mittleren (3,1 °C)
und eines einen starken Temperaturanstieg (3,9 °C) vorhersagt.
Dünnere Schneedecke
Die Analysen zeigen recht drastische
Veränderungen für die Schneedecke.1
Ende Jahrhundert ist die maximale
Schneehöhe pro Winter nur noch halb
so hoch wie heute. Ausserdem ist zu
sehen, dass sich die Dauer der Schneebedeckung verringert: Hat es im Refe-
renzzeitraum von 2001 bis 2010 auf
etwa 2800 m noch bis Juli Schnee, so
dauert die Schneebedeckung im Kanton Graubünden Ende Jahrhundert nur
noch bis Juni.
Schneegrenze steigt
Ähnlich sehen die Resultate für die
Dauer der Schneebedeckung in Abhängigkeit der Meereshöhe aus (Grafik
oben). Nicht unerwartet ist der Rückgang umso drastischer, je höher die
Temperaturänderung ausfallen wird.
Es zeigt sich ein deutlicher Trend hin
zu späterem Einschneien und dann
insbesondere zu einem um einen Mo-
Schneewasseräquivalent
Gletscher
>500 mm
400–500 mm
300–400 mm
200–300 mm
100–200 mm
0–100 mm
0 mm
Mittleres Schneewasseräquivalent
am 15 April für den Referenzzeitraum (2001-2010) und für Ende dieses Jahrhunderts (unten) wie es für
den mittleren Temperaturanstieg
berechnet wurde. Kein oder nur wenig Schnee ist in grünen Farbtönen
wiedergegeben, viel Schnee gelb bis
orange. Die Gletscher sind blau.
nat früheren Ausapern. Das heisst,
dass sich die heute für eine Höhenlage und einen Zeitpunkt bekannte
Schneesituation bis Ende Jahrhundert
um circa 500 Meter nach oben verschieben wird. So kann man heute
zum Beispiel Anfang März oberhalb
circa 700 Metern mit einer geschlossenen Schneedecke rechnen. Ende des
Jahrhunderts wird diese Grenze auf
circa 1200 Metern liegen. Dies liegt an
der Verschiebung der Schneefallgrenze nach oben und am schnelleren und
damit früheren Abschmelzen der
Schneedecke.
Weiterhin auch sehr kalte Winter
Das Beispiel Graubünden zeigt: Die
Schneebedeckung in den Alpen wird
also aufgrund der steigenden Temperaturen bis Ende dieses Jahrhunderts
stark zurückgehen.
Die Zusammenhänge rund um den Klimawandel sind aber komplex, darum
kann es auch in Zukunft Perioden mit
viel Schnee oder grosser Kälte geben.
So hat die Erwärmung der letzten Jahrzehnte dazu geführt, dass grosse Flächen des arktischen Ozeans im Nordwesten Russlands im Winter nicht
mehr eisbedeckt sind. Neuste Forschungsergebnisse zeigen, dass dies
dort die Bildung eines Hochdruckgebiets begünstigt, das kalte Luft nach
Europa lenkt. So kann die massive Kältewelle in den ersten Februarwochen
2012 erklärt werden. Der Winter war
aber im Durchschnitt trotzdem nicht
zu kalt, weil es in der übrigen Zeit massiv zu warm war. Es ist deshalb gut
möglich, dass es auch in Zukunft zu
Kaltlufteinbrüchen kommen wird. Ursache für beide Tendenzen ist paradoxerweise der menschgemachte Klimawandel.
Juni 2012
51
Wissen Klima
Kaum noch Gletscher bis 2100
Juni 2012
Die Abbildungen zeigen die Entwicklung des Rhonegletschers von 2010 bis
2090. Deutlich zu sehen sind die Folgen
des Klimawandels auf die Gletscher.
Eine verstärkte Schmelze im Sommer
und geringere Schneeakkumulation im
Rhonegletscher
2010
Fläche: 17 km²
Volumen: 1.9 km³
2060
Fläche: 8.7 km²
Volumen: 0.58 km³
450
225
Eisdicke (m)
Volumen: 1.4 km³
Volumen: 0.19 km³
52
Fläche: 15 km²
Fläche: 3.2 km²
Für Prognosen zur Gletscherentwicklung in der Zukunft sind neben dem
erwarteten Klima vor allem Kenntnisse zur momentan vorhandenen Eismächtigkeit und zu deren räumlicher
Starker Schwund absehbar
Rhonegletscher
2030
2090
Eisdicke bestimmt Ausgangslage
also verlässliche Aussagen zu machen,
wurden die Szenarien mit aus der Vergangenheit abgeleiteten, jährlichen
Änderungen des Wetters erweitert.
Verteilung notwendig. Mit einem numerischen, computergestützten Gletscherentwicklungsmodell, das Schneeakkumulation, Schmelze und das
Eisfliessen berücksichtigt, kann die
Entwicklung des Gletschers für vorgegebene Veränderung von Niederschlag
und Temperatur berechnet werden. Am
Beispiel des Rhonegletschers zeigen
wir die zukünftige Entwicklung für die
vorhandenen regionalen Klimaszenarien (vgl. S. 48). Um möglichst robuste,
Volumen: 1.9 km³
Volumen: 0.58 km³
Der Schwund der Gletscher ist das
deutlichste Anzeichen des voranschreitenden Klimawandels. Der Vergleich der heutigen Gletscher mit denen
auf historischen Aufnahmen oder mit
den Ende der kleinen Eiszeit um 1850
zurückgelassenen Moränen löst unweigerlich die Frage aus, wie lange die
Gletscher denn noch bestehen.
Die Ausdehnung eines Gletschers ergibt sich aus dem Zusammenspiel von
Eisbildung, Abschmelzen und der Eisfliessbewegung (vgl. «Die Alpen»
7/2011). Dabei stehen die Neubildung
von Eis aus Schnee und das Schmelzen
von Firn und Eis in direktem Zusammenhang mit den Witterungsverhältnissen.
Während die Schneeakkumulation, die
den Gletscher nährt, hauptsächlich
vom Niederschlag abhängt, ist die dem
Gletscher zugeführte Energie für die
Schmelze entscheidend. Die Lufttemperatur ist ein guter Indikator dafür.
Die Eisfliessbewegung schliesslich
sorgt dafür, dass sich Veränderungen
in den Akkumulations- und Schmelzbedingungen je nach Grösse und Neigung des Gletschers unterschiedlich
auswirken.
Fläche: 17 km²
Fläche: 8.7 km²
Text: Daniel Farinotti und Andreas
Bauder, Versuchsanstalt für
Wasserbau, Hydrologie und Glaziologie
(VAW), ETH Zürich
Rhonegletscher
2010
2060
Die Gletscher reagieren schon lange auf die steigenden
Temperaturen. Bis 2100 werden die Alpen laut den
Berechnungen der ETH Zürich praktisch eisfrei sein.
0
Die Entwicklung des
Rhonegletschers bis 2090.
Aktuell bedeckt der Gletscher
noch 17 km2. Bis 2100 werden es
noch 3.2 km2 sein.
Quelle: VAW/ETH Zürich
Eisdicke (m)
(m)
0
450
225
450
Winter beeinflussen die Entwicklung, gern. Gegen Ende des Jahrhunderts Eismassen verschwunden sind, werden
Rhonegletscher
verbleiben nur noch geringe Eismassen die Wassermassen deshalb mit weniger
weil die Niederschläge
künftig mehr Rhonegletscher
als Regen statt als Schnee anfallen wer- in den höchstgelegenen Regionen der Verzögerung abfliessen.
Alpen.
den.
Genauigkeit der Prognose
Die Veränderung des Eisvolumens zeigt
Fläche:
17 km²
Fläche:
15 km²
Fläche: 17
km²
Volumen:
1.9 km³ Volumen: 1.9 km³ 2030
Fläche: 152030
km²
Volumen:
1.4 km³ Volume
2010
2010
Bei diesen Betrachtungen darf jedoch
den Effekt der dynamischen Anpas- Veränderung der Landschaften
sung durch das Eisfliessen: Während Gemäss den Prognosen dürfte sich das nicht ausser Acht gelassen werden, dass
die Schmelzbeträge wie die Witterung Landschaftsbild im Alpenraum dras- neben den Unsicherheiten in den zuvon Jahr zu Jahr stark schwanken, ver- tisch ändern. Die Gletscher sind Teil grunde liegenden Klimaszenarien auch
ändert sich das Volumen graduell und des Wasserkreislaufs, weshalb deren Fragen zu ihrer Auswirkung auf die
gedämpft mit etwas Verzögerung. Der Veränderungen auch Konsequenzen Gletscher offen sind. Inwiefern wirken
starke Schwund, der bereits in den ver- auf die Abflüsse nach sich ziehen wer- sich die noch ungenügend bekannten
gangenen zwei Jahrzehnten zu beob- den. Durch die verstärkte Schmelze Fluktuationen der Witterung von Jahr
achten war, wird sich beschleunigt resultiert bis Mitte des Jahrhunderts zu Jahr aus? Wie gross ist der schützenfortsetzen, bis nur noch unbedeutende auch ein grösseres Wasserangebot de Einfluss zunehmender Schuttbedeim Einzugsgebiet. Die Gletscher ha- ckung auf der Oberfläche der Gletscher
Eisreste übrig bleiben.
Die Veränderung der räumlichen Aus- ben aber nicht nur eine langfristige und der gegenteilige Effekt, durch die
dehnung und der Eismächtigkeit ist in Speicherfunktion. Die winterlichen wegen wiederholter Ausaperung stärden Abbildungen für ausgewählte Zeit- Schneefälle bleiben auf dem Gletscher ker verunreinigte Oberfläche?
punkte dargestellt. Der Rhonegletscher liegen, den Abfluss verursacht die Eiszeigt exemplarisch, wie grössere Glet- schmelze im Sommer. So werden die
scher anfänglich hauptsächlich an Di- Niederschläge des Winters auf den
cke einbüssen werden. Ab Mitte des Sommer verlagert. Die Abflüsse konJahrhunderts wird sich auch die räum- zentrieren sich auf den schmelzintenliche Ausdehnung drastisch verrin- siven Hochsommer. Wenn dereinst die
Fläche: 15 km²
0
225
450
Eisdicke (m)
2030
Volumen:
1.4
km³ 8.7
Fläche:
km²
2060
2060
Fläche:
8.70.58
km²km³Volumen: 0.58 km³
Volumen:
2090
2090
Fläche: 3.2
km²
Fläche:
Volumen:
3.20.19
km²km³Volumen
LK 1:100 000, reproduziert mit Bewilligung von swisstopo (BA JM120017)
2090
Fläche: 3.2 km²
Volumen: 0.19 km³
Juni 2012
53
Wissen Klima
Geröll unter dem Turtmanngletscher
Die Gletscher des Turtmanntals haben sich im letzten
Jahrhundert hunderte Meter zurückgezogen. Geblieben
sind gewaltige Kies- und Geröllmassen, die nun von den
Gletscherbächen aus dem Tal getragen werden. Nach den
aktuellen Klimaberechnungen wird in Zukunft weniger
Geröll ins Tal transportiert.
Text und Bilder: Jens M. Turowski, Alexandre Badoux, Alexander Beer, Manuel
Nitsche, Forschungsanstalt für Wald,
Schnee und Landschaft WSL, Birmensdorf
Der Turtmann- und der Brunegggletscher hängen zwischen der Tête de Milon (3693 m), dem Bishorn (4153 m) und
dem Brunegghorn (3833 m) zusammen. Dann fliessen die beiden Hauptgletscher des Walliser Turtmanntals
getrennt um die Adlerflühe herum.
Noch bis 1934 vereinigten sich ihre
Zungen unten im Talgrund. Durch
steigende Temperaturen zogen sie sich
seither aber immer mehr zurück. Besonders im Hitzejahr 2003 verloren
beide Gletscher mehr als 125 Meter
Länge. Und mit der Schmelze wurde die
Grundmoräne freigelegt: eine grosse
Menge aus Sand, Geröll und einzelnen
Findlingen. Nur langsam wird dieser
Schutt (nachfolgend auch Sediment genannt) von Pflanzen erobert und ist
deshalb stark der Erosion ausgesetzt.
Wenn durch steigende Temperaturen
auch der Permafrost in den Felswänden
und im Boden des Gletschervorfelds
zurückgeht, werden zusätzlich grosse
Schuttmengen frei. Diese Sedimente
werden durch Rutschungen, Steinschlag, Bergstürze und in den Gebirgsbächen ins Tal befördert.
Wie viel Sediment und Wasser?
Die Sedimente im Turtmanntal werden
durch zwei Schmelzwasserbäche talauswärts getragen. Die beiden Bäche
vereinigen sich im Talgrund zur Turtmänna, der seit Ende der 50er-Jahre
Wasser für die Stromproduktion entnommen wird. Vor dem Stausee befindet sich ein Ablagerungsbecken für den
Sedimentrückhalt. Hier ist der Sedimenteintrag in den Stausee schon seit
Jahrzehnten ein Problem: In 40 Jahren
hat sich der Stauraum des Sees um 20%
verkleinert. Jedes Jahr werden in den
See knapp 4000 Kubikmeter Sediment
eingetragen, das entspricht etwa
500 Lastwagenladungen.
Wenn nun das Klima bis zum Ende des
Jahrhunderts noch wärmer wird, wird
dann auch mehr Sediment im Gebirge
bewegt? Zwei Punkte müssen zur Beantwortung dieser Frage geklärt werden. Erstens: Wie viel Sediment ist
überhaupt unter und neben dem Eis
vorhanden? Und zweitens: Wie viel
Wasser führt der Gletscherbach in Zu-
Änderung des Sedimentsaustrags von Bächen im Wallis
2021 - 2050
2070 - 2099
13 Bäche
38 Bäche
16 Bäche
20.3%
42 Bäche
25%
65.6%
59.4%
Änderung des Sedime
Zahl der untersuchten Bäche im 2021 - 2050
Wallis, bei denen ein Rückgang
(< 80% des aktuellen Werts)
13 Bäc
oder eine Zunahme (>120% )
des Sedimentaustrags erwartet
20.3%
42 Bäche
wird.
65.6%
14.1%
Kein Unterschied
Weniger Geschiebe
Mehr Geschiebe
54
14.1%
9 Bäche
15.6%
10 Bäche
Juni 2012
Kein Unterschied
Weniger Geschiebe
Mehr Geschiebe
9 Bäc
kunft, und wie viel Sediment kann er
damit aus dem Tal hinaus schwemmen?
Sedimenteintrag nimmt ab
Durch Feldbeobachtungen und Auswertungen digitaler Karten wird das
heute verfügbare Sediment im Turtmanntal auf insgesamt 27 Millionen
Kubikmeter geschätzt. Etwa 3 Millionen Kubikmeter Sediment liegen im
Gletschervorfeld. Das ist genug, um
1200 olympische Schwimmbecken zu
füllen.
Was wird in Zukunft aber tatsächlich
mit den Sedimenten geschehen? Mit
Computermodellen lassen sich die
Schmelzwassermengen für ein wärmeres Klima simulieren. So lassen sich
Rückschlüsse auf den Sedimenteintrag
ziehen. Der Eintrag kann zeitweise ansteigen, wenn höhere Temperaturen zu
einer intensiveren Gletscherschmelze
führen. Wenn aber wegen des Glet-
scherschwunds weniger Wasser fliesst,
wird der Sedimenteintrag langfristig
abnehmen. Laut aktuellen Berechnungen verringern sich die in der Turtmänna transportierten Sedimentmengen bis zum Jahr 2050 auf 80% des
momentan bewegten Volumens und bis
2099 auf 66%.
Vielen hochalpinen Gebieten steht eine
ähnliche Entwicklung bevor wie dem
Turtmanntal. In einer Studie, die insgesamt 64 Walliser Bäche umfasst,
wurde ein durchschnittlicher Rückgang des Sedimentaustrags von 10% bis
2050 und 16% bis 2099 berechnet (vgl.
Grafik S. 54).
Mehr Bewegung im Frühling
Die Turtmänna bräuchte mit ihrer heutigen Kraft mehr als 600 Jahre, um das
Material im Gletschervorfeld auszutragen. Das Turtmanntal ist also ein riesiger Sedimentspeicher, und es ist der
Wasserabfluss, der den Sedimentaustrag begrenzt. Weil im Jahr 2099 die
Gletscher zum grössten Teil verschwunden sein werden, wird die
Schneeschmelze eine wesentlich grössere Rolle im Abflussverhalten spielen,
und dadurch bedingt, wird dann das
Sediment hauptsächlich im Frühling
bewegt.
→ Weiterlesen
B. Schädler, R. Weingartner, M. Zappa:
Auswirkungen der Klimaänderung auf die
Wasserkraftnutzung. Wasser Energie
Luft 103, 2011, 265–267.
M. Raymond-Pralong, J. M. Turowski,
D. Rickenmann, A. Beer, V. Metraux,
T. Glassey: Auswirkungen der Klimaänderung auf die Geschiebefracht in
Einzugsgebieten von Kraftwerksanlagen
im Kanton Wallis. Wasser Energie Luft
103, 2011, 278–285.
1 Turtmann-Gletscher
Hangneigung (°)
Blick von der Staumauer am Turtmannsee 4 auf das Gletschervorfeld, mit Turtmann- 1 und Brunegggletscher. Die grosse Menge
lockeres Geschiebe in den Moränen 2 ist gut sichtbar. Das Sediment in der Ebene 3 ist stabil.
≤25
≤34
≤45
≤83.5
Gletschervorfeld
2 Potentiell
erodierbares
Sediment
1
2
3 stabilisiertes
Sediment
4 Staubereich
3
Leicht bewegliche Sedimente im Turtmanntal.
Die Farben zeigen die Hangneigung und damit
die Erosionswahrscheinlichkeit, grün sind fl ache
Bereiche, rot solche die steiler als 45 Grad sind.
4
Juni 2012
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