Ergotherapie im Arbeitsfeld Psychiatrie Edited by Beate Kubny-Lüke von Beate Kubny-Lüke 1. Auflage Ergotherapie im Arbeitsfeld Psychiatrie – Kubny-Lüke schnell und portofrei erhältlich bei beck-shop.de DIE FACHBUCHHANDLUNG Thieme 2003 Verlag C.H. Beck im Internet: www.beck.de ISBN 978 3 13 125571 6 Inhaltsverzeichnis: Ergotherapie im Arbeitsfeld Psychiatrie – Kubny-Lüke 88 2.2 Ergotherapeutische Behandlung − Das bevorzugte Repräsentationssystem des Klienten erkennen und im Gespräch aufgreifen. Mit Repräsentationssystem ist die jeweilige Sinnesmodalität (visuell, auditiv, kinästhetisch) gemeint, die der Klient hauptsächlich verwendet, um sich sprachlich auszudrücken. Beispiel: Klient: „Ich kann das ständige Gejammere nicht mehr hören“ (auditiv). Therapeutin: „Das klingt in Ihnen nach“, „Da schalten sie auf Durchzug“, „Da möchten Sie am liebsten losbrüllen.“ Nicht: „Sie wollen es nicht mehr sehen“ (visuell), „Sie zucken richtig zusammen“ (kinästhetisch). − Eher gebräuchliche Wörter und einen einfachen kurzen Satzbau verwenden, da sich im Allgemeinen dadurch die Kommunikation verbessert. Keine Fremdwörter oder Fachtermini gebrauchen, da diese abstrakt sind und nicht die Gefühlsebene ansprechen. − Adjektive, Verben und Adverbien sind Substantiven vorzuziehen, da sie gefühlvoller und persönlicher sind. Die klientenzentrierte Gesprächsführung ist somit eine Basisqualifikation für die Arbeit im psychiatrischen Arbeitsfeld. Grundlagen dazu erlangen Ergotherapeutinnen im Rahmen ihrer Berufsausbildung. Weiterführende Kompetenzen können durch Fortbildung erworben werden. 2.2.3 Klientenzentrierte Ergotherapie: ein Ansatz mit Zukunft Durch den zunehmenden Einfluss konzeptioneller Modelle (z. B. MOHO, CMOP) auf die deutsche Ergotherapie hat der Begriff „Klientenzentrierung“ in den letzten Jahren eine neue Dimension bekommen (Erbsch et al. 1999, S. 15). War die Klientenzentrierung vorher eher eine „Kunst der Berufsausübung“ (Marotzki 2001, S. 22), die sich vor allem in der ergotherapeutischen Grundhaltung und Gesprächsführung niederschlug, wird sie nun zu einem Eckpfeiler der ergotherapeutischen Behandlung. Bei der klientenzentrierten Praxis handelt sich um einen Ansatz innerhalb der Ergotherapie, der durch die Philosophie des Respekts für den Klienten und eine partnerschaftliche Beziehung mit ihm geprägt ist. Die Therapeutin erkennt die Autonomie des Klienten an, die er bezüglich der Entscheidungen seiner Betätigungsbedürfnisse hat, und berücksichtigt die Stärken, die der Klient in die Therapie mit einbringt (Law et al. in Sumsion 2002, S. 5) Dabei ist die hier beschriebene klientenzentrierte Praxis keine speziell ergotherapeutische Sichtweise. Dieser Ansatz beruht auf Konzepten, die auch von anderen Disziplinen im Gesundheitswesen genutzt werden. In Tabelle 2.4 ist der Vergleich von traditionellem und klientenzentriertem Ansatz der Ergotherapie zusammengefasst. Klientenzentrierte Ergotherapie bedeutet im Kontext der konzeptionellen Modelle, dass die Sichtweisen und Einschätzungen des Klienten systematisch in den ergotherapeutischen Behandlungsprozess einbezogen werden. Mit Unterstützung der Ergotherapeutin legt der Klient seine Behandlungsschwerpunkte sowie -ziele fest, überprüft sein Behandlungsergebnis und schätzt seine Zufriedenheit mit der Ergotherapie ein (s. auch Kap. 2.2.4, S. 89 f.). Die Ergotherapie verspricht sich von diesem Vorgehen, bei dem der Klient und seine Lebenssituation im Zentrum der Behandlung stehen, eine konsequente Ausrichtung an den Bedürfnissen des Klienten und damit eine effiziente Therapie. Die Ergotherapie kann so − ihre Maßnahmen verstärkt auf das Lebensfeld bezogen gestalten und − von einer besseren Compliance aufseiten des Klienten ausgehen. Denn der Klient − steht im Mittelpunkt des Behandlungsprozesses, − kann auf diesen Einfluss nehmen und − die durchgeführten Maßnahmen besser nachvollziehen. Ausgehend von dieser Hypothese stellen sich zahlreiche praxisrelevante Forschungsfragen als Aufgaben an die Zukunft, deren Untersuchung den Professionalisierungsprozess der deutschen Ergotherapie weiter unterstützen werden. Kubny-Lüke (Hrsg.), Ergotherapie im Arbeitsfeld Psychiatrie (ISBN 3131255714) © 2003 Georg Thieme Verlag 2.2.4 Ergotherapeutischer Prozess und Befunderhebung 89 Tabelle 2.4 Gegenüberstellung der Ansätze in der Ergotherapie (modifiziert nach Sumsion 2002) Traditioneller Ansatz Klientenzentrierter Ansatz Verordnung Verordnung Befunderhebung und Datensammlung Befunderhebung und Datensammlung: Therapeutin bespricht mit dem Klienten u. a. dessen Sicht über seine Probleme, die zur Verordnung geführt haben Vorstellung der Therapieziele und Maßnahmen durch die Therapeutin Festlegung der Therapieziele und Maßnahmen durch den Klienten: Voraussetzung ist, dass der Klient dazu alle notwendigen Informationen erhält Durchführung der Behandlung, ggfs. Modifizierung der Ziele oder Maßnahmen Partnerschaftliche Zusammenarbeit zur Erreichung der Ziele Evaluation durch die Therapeutin Evaluation durch die Therapeutin und den Klienten 2.2.4 Ergotherapeutischer Prozess und Befunderhebung Ergotherapeutisches Handeln in der Psychiatrie ist ein vielschichtiger Prozess, in dessen Mittelpunkt immer der Klient steht. Der ergotherapeutische Prozess soll anhand des Clinical Reasoning vorgestellt werden, denn nur über die Bewusstmachung der eigenen Denkweise kann das therapeutische Vorgehen im Sinne der Qualitätssicherung verbessert werden. Clinical Reasoning beschreibt allgemein den gedanklichen Prozess, der bei Angehörigen medizinischer und therapeutischer Berufe (z. B. Ärzte, Pflegepersonal, Ergotherapeutinnen, Physiotherapeutinnen) einsetzt, wenn es gilt, Entscheidungen und Beurteilungen in Bezug auf die Behandlung eines Klienten vorzunehmen (im Deutschen spricht man auch von „klinischer Urteilsbildung“). Nach Burke und De Poy (in Hagedorn 2000, S. 49 f.) lässt der Prozess des Clinical Reasoning „. . . den spezifischen Weg erkennen, wie Ergotherapeuten die Probleme von Patienten untersuchen und Lösungen dafür suchen und wie sie die Bandbreite ihrer Praxis begrenzen auf das, was typisch ergotherapeutisch ist. Im klinischen Argumentieren kommen viele der unausgesprochenen Gedanken und Formulierungen zum Tragen, die Therapeuten entwickeln, wenn sie mit Patienten arbeiten.“ Dieser Problemlösungsprozess besteht aus verschiedenen Schritten: 1. Informationsbeschaffung und Einschätzung der Bedürfnisse des Klienten: Ergotherapeutinnen im psychiatrischen Arbeitsfeld benötigen folgende relevanten Daten und Informationen: − Daten der medizinischen Anamnese (Ersterkrankung, Krankheitsverlauf, bisherige ambulante und stationäre Behandlungen, evtl. auch Entlassungsgründe). − Daten der sozialen Anamnese (Ursprungsfamilie, individuelle Entwicklungsgeschichte, schulischer und beruflicher Werdegang, Familien- und Wohnverhältnisse, außerfamiliäre Kontakte, Freizeitgestaltung, Ausübung sozialer Rollen). − Aktuelle Situation des Klienten (aktuelle Befindlichkeit, aktuelle Lebens- und Wohnsituation, Berufstätigkeit, finanzielle Situation, Einstellung zur jetzigen psychiatrischen Behandlung, Ziele des Klienten). − Informationen über die Medikation und über die weiteren Therapien, die der Klient erhält − Ergotherapeutische Befunderhebung. Die Befundung erfolgt im Hinblick auf die bereits beschriebenen Klassifikationsebenen der ICF (s. dazu Kap. 1.3.3, S. 22 ff.). Die Ebene der Körperfunktionen und -strukturen wird im Rahmen einer sorgfältigen Beobachtung von der Therapeutin befundet. Ausführliche Beobachtungskriterien bezogen auf die affektiven, kognitiven, sozioemotionalen und psychomotorischen Fähigkeiten finden sich in Scheiber (1995, S. 118 ff.) und Kubny-Lüke (in Scheepers et al. 2000 a, S. 320). Die Ebenen der Aktivitäten und der Partizipation können durch Einsatz verschiedener Assessments beurteilt werden: Kubny-Lüke (Hrsg.), Ergotherapie im Arbeitsfeld Psychiatrie (ISBN 3131255714) © 2003 Georg Thieme Verlag 90 2.2 Ergotherapeutische Behandlung Abb. 2.6 Unterschiede des Bottom-up- und Topdown-Ansatzes (modifiziert nach Fischer 2002). − Bogen zur Erfassung der Handlungsfähigkeit nach Blaser-Csontos (s. S. 103) − Canadian Occupational Performance Measure (COPM) − Occupational Case Analysis Interview and Rating Scale (OCAIRS) − Rollencheckliste − Interessencheckliste − Assessments of Communication and Interaction Skills (ACIS) (s. Ferber et al. 2001). Da das Hauptinteressengebiet der Ergotherapie, die Betätigung des Klienten ist, sollte diese auch zuerst befundet werden. Alle weiteren Bereiche werden nur befundet, wenn die jeweiligen Informationen in Bezug zur ausgewählten Betätigung relevant sind (so genannter Top-down-Ansatz, Abb. 2.6). 2. Informationen auswerten: Die Ergotherapeutin wertet die erhobenen Daten im Hinblick auf die Ressourcen und Probleme des Klienten aus. Sie bespricht mit dem Klienten die gesammelten Informationen und klärt mit ihm seine Bedürfnisse unter der Berücksichtigung der individuellen persönlichen, sozialen und beruflichen Bedingungen. 3. Entscheidung über Behandlungsziele: Die Ziele werden unter Berücksichtigung der Auswertung gemeinsam mit dem Klienten formuliert. Dabei benötigt der Klient genügend Zeit und Gelegenheit, Fragen zu stellen, um sich so über seine Ziele bewusst zu werden. Ein geeignetes Instrument zur Unterstützung ist z. B. das COPM. 4. Auswahl angemessener Maßnahmen: Die Therapeutin und der Klient erstellen gemeinsam einen Therapieplan mit Angabe der ergotherapeutischen Mittel, Medien, Methoden, Sozialform und der Therapiefrequenz. Um ein adäquates Therapieprogramm aufzustellen, das die Durchführung einer Betätigung des Klienten verbessern kann, sollte eine Aufgaben- und Aktivitätsanalyse durchgeführt werden. Die Aufgabenanalyse bestimmt die für den Klienten bedeutungsvollen und zweckdienlichen Betätigungen. Die Aktivitätsanalyse bestimmt solche Aktivitäten, die einen therapeutischen Wert haben und wie diese Aktivitäten sinnvoll im Therapieverlauf eingesetzt werden. Zu diesem Zweck wird die jeweilige Aktivität in entsprechende Teilschritte gegliedert. 5. Durchführung ausgewählter Maßnahmen: Der Klient und die Therapeutin arbeiten partnerschaftlich zusammen, um die aufgestellten Ziele zu erreichen. Die Ergotherapeutin stellt dabei ihr gesamtes Wissen zur Verfügung, um die Ressourcen des Klienten zu wecken und ggfs. auch Hindernisse bei der Zielverfolgung zu beseitigen. 6. Überprüfung der Behandlung, ggfs. Änderung der Vorgehensweise: Während der Behandlung wird gemeinsam mit dem Klienten überprüft, ob die vereinbarten Maßnahmen im Sinne des Therapieziels greifen. Ist dies nicht der Fall, wird überprüft, wo die Ursachen hierfür zu suchen sind: − Sind die Therapiemaßnahmen weiterhin angemessen? − Sind die Therapieziele weiterhin angemessen? − Hat sich die Situation des Klienten verändert (z. B. durch eine Veränderung der Medikation)? Die Therapie wird entsprechend modifiziert und fortgesetzt. 7. Abschluss der Behandlung: Die Therapeutin und der Klient haben sich über einen Zeitpunkt verständigt, wann eine erneute Evaluation der im Therapieplan vereinbarten Ziele erfolgt. Zum Messen der Ergebnisse wird z. B. erneut das COPM eingesetzt. Ebenso können Tests, Checklisten o. Ä. verwendet werden. Sind die Ziele erreicht, wird die Behandlung abgeschlossen. Dieser beschriebene und in der Abbildung dargestellte Problemlösungsprozess verläuft nicht linear, sondern zyklisch, da es zu jedem Zeitpunkt der Behandlung nötig werden kann, ihn erneut zu durchlaufen und ggfs. Anpassungen vorzunehmen (s. auch Abb. 2.19, S. 144). Im angloamerikanischen Sprachraum werden verschiedene Vorgehensweisen des Clini- Kubny-Lüke (Hrsg.), Ergotherapie im Arbeitsfeld Psychiatrie (ISBN 3131255714) © 2003 Georg Thieme Verlag 2.2.5 Therapieziele 91 Tabelle 2.5 Formen des Clinical Reasoning (modifiziert nach Hagedorn 2000, S. 51, und Hagedorn 1999, S. 35, in Jerosch-Herold et al. 1999) Formen des Clinical Reasoning Erklärungen Diagnostic Reasoning (Diagnostische Urteilsbildung) (Rogers und Holm 1991) Die Therapeutin sammelt Hinweise, entwickelt eine Hypothese über deren Bedeutung und überprüft ihre Hypothese anhand früherer Kenntnisse. Sie diagnostiziert damit das Performance-Problem des Klienten Predictive Reasoning (Vorhersagende Urteilsbildung) (Hagedorn 1995) Die Therapeutin bringt ihre bisherigen Erfahrungen ein, um Voraussagen über den aktuellen Fall zu machen Procedural Reasoning (Prozedurale Urteilsbildung) (Mattingly und Fleming 1994) Erfahrungen und Fähigkeiten zur Problemlösung werden von der Ergotherapeutin eingesetzt, um zu entscheiden, welche Vorgehensweise gewählt wird Pragmatic Reasoning (Pragmatische Urteilsbildung) (Rogers und Holm 1991) Die Ergotherapeutin erwägt unter pragmatischen Aspekten (z. B. Ressourcen, Rahmenbedingungen), ob die Therapie so praktizierbar ist Ethical Reasoning (Ethische Urteilsbildung) (s. dazu Deutscher Verband der Ergotherapeuten 2003) Die Therapeutin beurteilt, ob die Interventionen moralisch (im Hinblick auf die Berufsethik), vorteilhaft und im besten Interesse des Patienten sind. Insbesondere dann, wenn der Patient stark beeinträchtigt ist Interactive Reasoning (Interaktive Urteilsbildung) (Mattingly und Fleming 1994) Bewusstes Vorgehen der Therapeutin, um Kontakt aufzunehmen, Vertrauen zu fördern, den Patienten zu motivieren und ihn als Person zu verstehen Narrative Reasoning (Narrative Urteilsbildung) (Mattingly und Fleming 1994) Die Therapeutin hilft dem Patienten, „seine Geschichte zu erzählen“, um sein persönliches Krankheitserleben zu verstehen und gemeinsam mit ihm eine therapeutische Geschichte zu gestalten. Informelle Gespräche unter Kollegen tragen ebenfalls dazu bei, Informationen über das jeweilige Krankheitserleben zu sammeln cal Reasoning beschrieben, die sich auf das therapeutische Vorgehen direkt auswirken (Tab. 2.5). Mattingly (1991, in Jones 1998, S. 1) kritisiert den „diagnostischen“ Fokus der Medizin. Das Clinical Reasoning der Therapeutin sollte ihrer Ansicht nach weit über die „diagnostische Urteilsbildung“ hinausgehen. So kann z. B. die interaktive oder narrative Urteilsbildung im klientenzentrierten Ansatz der Therapeutin dazu dienen, die individuelle Bedeutung, die die Erkrankung bzw. Behinderung für den Klienten hat, gemeinsam mit ihm zu erforschen. Die Erkenntnisse darüber sind bedeutungsvoll, da die persönlichen Gefühle, Erwartungen und Ziele des Klienten einen starken Einfluss auf seine Motivation und Beteiligung am Behandlungsprozess sowie auf den Verlauf der Behandlung haben. Clinical Reasoning trägt dazu bei, dass therapeutische Beurteilungs- und Entscheidungsprozesse gerade im Arbeitsfeld der Psychiatrie das „intuitive“ Element verlieren. Diese Prozesse können so systematisch beschrieben und nachvollzogen werden, sie sind so vermittelbar und erlernbar. Damit leistet Clinical Reasoning einen wesentlichen Beitrag zur Qualitätssicherung und -verbesserung der psychiatrischen Ergotherapie. 2.2.5 Therapieziele In einer klientenzentrierten Ergotherapie wird die Therapiezielerarbeitung und -festlegung von Klient und Therapeutin gemeinsam vorgenommen. Hierbei ist auf Folgendes zu achten: − Die Ziele müssen für den Klienten persönliche Relevanz haben und Wünsche bzw. Bedürfnisse des Klienten berücksichtigen. − Die Therapieziele orientieren sich an seiner individuellen Lebenssituation sowie an den gesellschaftlichen Rollen, die er hier übernimmt. − Die Ziele werden verständlich und positiv formuliert. Kubny-Lüke (Hrsg.), Ergotherapie im Arbeitsfeld Psychiatrie (ISBN 3131255714) © 2003 Georg Thieme Verlag