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ILDU
ZE
Teil 1
Schmerzmanagement bei
chronischen Schmerzen
Der neue Expertenstandard im Überblick
Teil 2
Wenn Schmerzen im Gedächtnis bleiben
Unerwünschter Lernprozess
Teil 3
Lebensqualität bei Arthrose erhalten
Gelenkschmerzen im Griff
© Fotolia
Zertifizierte Fortbildung in Zusammenarbeit mit
Heilberufe / Das Pflegemagazin
2014; 66 (2)
G
N
TB
R
Chronische
Schmerzen
3
Punkte
E
FO
PflegeKolleg
IFIZIE
RT
RT
9
PflegeKolleg
Chronische Schmerzen
Der neue Expertenstandard im Überblick
Schmerzmanagement
bei chronischen Schmerzen
Im Oktober 2013 wurde der Entwurf des
neuen Expertenstandards zum Schmerzmanagement in der Pflege bei chronischen Schmerzen der Fachöffentlichkeit
vorgestellt. Derzeit läuft die modellhafte
Erprobung des Standards. Im nachfolgenden Beitrag werden wichtige Inhalte
des neuen Expertenstandards vorgestellt.
DNQP-Expertenstandard
Stabile
Schmerzsituation
Instabile
Schmerzsituation
Chronische
Schmerzen
Differenziertes,
multidimensionales Schmerzassessment
Pflegerische
Schmerzexperten
Die pflegerischen Strategien bei akuten und
chronischen Schmerzen unterscheiden sich
deutlich.
10
S
chmerz ist nicht gleich Schmerz. Schmerzen
unterscheiden sich zum Beispiel nach ihrer
Ursache, nach ihrer Intensität, nach der Dauer
und auch nach ihren Auswirkungen. Bedeutsam ist
vor allem die Unterscheidung zwischen akuten
Schmerzen und chronischen Schmerzen. Weil sich
folglich auch die pflegerischen Strategien deutlich
voneinander unterscheiden, ist ein neuer Expertenstandard für das Schmerzmanagement in der Pflege
bei chronischen Schmerzen erarbeitet worden.
Dieser Standard ergänzt den bereits bekannten
Expertenstandard für das pflegerische Management
akuter Schmerzen.
Chronische Schmerzen
erkennen und einschätzen
Chronische Schmerzen lassen sich anhand von drei
Kriterien charakterisieren:
1.Dauer: Eine Schmerzdauer von wenigstens drei
Monaten spricht in der Regel für chronischen
Schmerz.
2.Auswirkungen: Chronische Schmerzen wirken
sich unter anderem negativ auf die Lebensqualität
und die Funktionsfähigkeit der Betroffenen aus.
3.Ätiologie: Chronische Schmerzen können auf
unterschiedliche Ursachen zurückgehen. Nichtmaligne chronische Schmerzen weisen teils nur
geringe Verbindungen zu erkennbaren Pathologien
auf, andere gehen auf chronische Grunderkrankungen zurück. Auch aufgrund von Tumoren
treten chronische Schmerzen auf.
Die Differenzierung zwischen akutem und chronischem Schmerz erfolgt in einem initialen Assess-
ment. Danach wird entschieden, ob der Expertenstandard für das Management akuter Schmerzen oder
der Expertenstandard für das Management chronischer Schmerzen zur Anwendung kommt. Dieses
initiale Assessment erfolgt anhand klarer Kriterien
(Kasten 1). Ein bestimmtes Instrument ist hierfür
nicht vorgeschrieben.
Wurden chronische Schmerzen erkannt, richtet
sich das weitere Vorgehen danach, ob sich der Patient
in einer stabilen oder instabilen Schmerzsituation
befindet.
Stabile und instabile Schmerzsituation
Während sich die Pflege bei akuten Schmerzen am
Ziel der Schmerzfreiheit orientiert, wird bei chronischen Schmerzen das Erreichen einer stabilen
Schmerzsituation handlungsleitend. Die Expertenarbeitsgruppe beschreibt eine stabile Schmerzsitua-
Kriterien für das initiale Assessment
▶▶Schmerzintensität
▶▶Schmerzqualität
▶▶Lokalisation
▶▶Zeitlicher Verlauf des Schmerzes
▶▶Die Bedeutung, die der Patient/Bewohner dem
Schmerz zumisst
▶▶Schmerzbedingte Beeinträchtigungen
Heilberufe / Das Pflegemagazin 2014; 66 (2)
© Mathias Ernert, Chirurgische Klinik
DOI: 10.1007/s00058-014-0228-3
KEYWORDS
▶▶Warnzeichen für (weitere) Chronifizierung („Yellow
Ausgewählte Strukturanforderungen
an Träger und Einrichtungen
▶▶Es ist eine interprofessionell gültige Verfahrensregelung für das Management chronischer
Schmerzen zu erarbeiten.
▶▶Die Einrichtung muss dafür sorgen, dass pflege-
rische Schmerzexperten zugänglich sind, etwa
durch die Weiterbildung eigener Mitarbeiter oder
durch Kooperationsmodelle mit anderen Einrichtungen.
▶▶Für die eigenen Patienten/Bewohner müssen geeignete, aktuelle Assessmentinstrumente und
Dokumentationsmaterialien ausgewählt und
vorgehalten werden. Gleiches gilt etwa für Schulungsmaterial und Patienteninformationen.
▶▶Die personellen, räumlichen und sächlichen
Rahmenbedingungen müssen die Umsetzung von
Beratungsangeboten und die Anwendung geeigneter medikamentöser und nicht-medikamentöser Maßnahmen erlauben.
tion so: „Eine stabile Schmerzsituation ist gekennzeichnet durch eine bestehende medikamentöse und/
oder nicht-medikamentöse Therapie auf Basis eines
Behandlungsplans, der von dem Patienten/Bewohner
akzeptiert wird und aus professioneller Sicht angemessen ist; der Patient/Bewohner ist mit der Situation zufrieden und befähigt zur Teilhabe am Alltagsleben“.
Ziel des pflegerischen Handelns ist also, Patienten
mit chronischen Schmerzen bei der Entwicklung von
Strategien zu begleiten, um ihren Alltag trotz chronischer Schmerzen gut zu meistern. Dazu gehören
die Einhaltung bestimmter Einnahmerhythmen von
Medikamenten, die Anwendung nicht-medikamentöser Verfahren sowie ein gutes Bewusstsein für die
eigenen Belastungsgrenzen. Wenn Betroffenen dies
bereits gelungen ist, sorgen Pflegende dafür, dass
diese Stabilität nicht gestört wird. Zu solchen „Instabilisierungen“ kann es beispielsweise leicht bei Krankenhausaufenthalten oder Versorgungsübergängen
(z.B. Umzug in eine stationäre Einrichtung) kommen,
etwa durch Untersuchungen und Eingriffe, veränderte
Abläufe und psychische Belastungen.
Differenziertes multidimensionales
Schmerzassessment
Angepasst an die jeweilige Schmerzsituation schließt
sich ein differenziertes, multidimensionales Assessment an. Dabei handelt es sich um eine interprofessionelle Aufgabe, an der auch Ärzte und Therapeuten
zu beteiligen sind. Es sollte einbeziehen:
▶▶Faktoren, die die Schmerzsituation stabilisieren, destabilisieren oder zukünftig (de)stabilisieren könnten
Heilberufe / Das Pflegemagazin 2014; 66 (2)
Flags“)
▶▶Warnzeichen für schwerwiegende, behandlungsbedürftige Erkrankungen („Red Flags“)
▶▶Faktoren, die den Schmerz beeinflussen
▶▶Reaktionen des Patienten/Bewohners auf die
Schmerztherapie
▶▶Bewältigungsstrategien des Patienten / Bewohners
▶▶Auswirkungen des Schmerzes auf die Lebensqualität / Funktionalität des Patienten / Bewohners.
Für dieses Assessment können standardisierte Instrumente genutzt werden, wie das Brief Pain Inventory,
der Deutsche Schmerzfragebogen oder andere. Der
Expertenstandard schreibt aber kein bestimmtes Instrument vor. Angepasst werden muss das Instrument
an das jeweilige Versorgungssetting. So steht im Akutkrankenhaus eventuell die Frage im Vordergrund,
wie die Schmerzsituation kurzfristig stabil gehalten
werden kann, während in der Langzeitversorgung
die Förderung der Lebensqualität und Funktionsfähigkeit im Vordergrund stehen kann.
Zielsetzung des Schmerzmanagements
bei chronischen Schmerzen
Anders als bei akuten Schmerzen, steht bei der Pflege von Menschen mit chronischen Schmerzen nicht
das Ziel der Schmerzfreiheit im Mittelpunkt. Denn
häufig ist die vollständige Befreiung von chronischen
Schmerzen nicht oder nicht in absehbarer Zeit zu
erreichen. Wichtig ist es daher vor allem, die Lebensqualität des Betroffenen zu erhalten oder zu fördern
und es ihm zu ermöglichen, sein Leben selbstbestimmt zu gestalten. Die Zielsetzung des Expertenstandards lautet daher:
„Jeder Patient/Bewohner mit chronischen Schmerzen erhält ein individuell angepasstes Schmerzmanagement , das zur Schmerzlinderung, zu Erhalt oder
Erreichung einer bestmöglichen Lebensqualität und
Funktionsfähigkeit sowie zu einer stabilen und akzeptable Schmerzsituation beiträgt und schmerzbedingten Krisen vorbeugt.“
Das differenzierte
multidimensionale
Assessment chronischer Schmerzen ist
eine interprofessionelle
Aufgabe.
Bei chronischen
Schmerzen ist die
Stärkung des Selbstmanagements das
leitende Prinzip.
Planung und Umsetzung
des Schmerzmanagements
Die Planung des Schmerzmanagements muss im therapeutischen Team erfolgen. Bei chronischen Schmerzen ist die Stärkung des Selbstmanagements des Patienten/Bewohners das leitende Prinzip: Die Betroffenen sollen in die Lage versetzt werden, ihre
Schmerzsituation möglichst eigenständig und selbstbestimmt zu bewältigen. Dazu sind sie aktiv in die
Planung der Pflege und Behandlung einzubeziehen.
Die Zielfindung muss partizipativ und individuell
erfolgen. Während die Aktivierung des Patienten
grundsätzlich wünschenswert ist, können im Einzelfall – etwa in palliativen Situationen am Lebensende
– auch andere Prioritäten erforderlich sein.
11
PflegeKolleg
Chronische Schmerzen
Angepasst an die Schmerzsituation des Patienten
und abgestimmt im interprofessionellen Team, erfolgt
die Umsetzung des Schmerzmanagementplans. Dazu
gehören die Vermeidung von schmerzauslösenden
Interventionen und destabilisierenden Situationen,
die Anwendung angeordneter medikamentöser Maßnahmen und die eigenständige Umsetzung nichtmedikamentöser Maßnahmen. Unerwünschte Wirkungen der Therapie sollen darüber hinaus vermieden bzw. frühzeitig erkannt werden.
Patientenedukation für
mehr Lebensqualität
Von herausragender Bedeutung sind bei chronischen
Schmerzen die Beratung, Anleitung und Schulung
der Patienten / Bewohner. Sie dienen dazu, einer weiteren Chronifizierung vorzubeugen und die Lebensqualität zu fördern. Neben der Förderung des Selbstmanagements, zielt die Patientenedukation auch
darauf, die Schmerzakzeptanz zu fördern. Dazu muss
sie die Bereiche Wissen zum Schmerz(management),
förderliches, eigenes Handeln und persönliche Empfindungen zur Schmerzsituation berücksichtigen. Wie
in allen anderen Schritten des Schmerzmanagements,
sollen hierbei auch Angehörige und das soziale Umfeld einbezogen werden, sofern möglich und sofern
keine konkreten Gründe dagegen sprechen.
Pflegerische Schmerzexperten
Insbesondere bei einer instabilen Schmerzsituation
ist es für Pflegefachkräfte oft nicht einfach, beim Assessment relevante Einflussfaktoren zu identifizieren
und Strategien für die Stabilisierung gemeinsam mit
den Betroffenen zu entwickeln. Auch die Beratung,
Anleitung und Schulung des Betroffenen kann herausfordernd sein, ebenso die Evaluation des
Schmerzmanagements. Daher gibt der Expertenstan-
DNQP-Expertenstandard
„Schmerzmanagement in der Pflege bei chronischen Schmerzen“
Entwickelt wurde Standard von einer Arbeitsgruppe aus Pflegepraxis und
-wissenschaft unter der Leitung von Prof. Dr. Jürgen Osterbrink, Paracelsus
Medizinische Privatuniversität Salzburg. Mitglieder der Expertenarbeitsgruppe waren Andrea Besendorfer, Axel Doll, Thomas Fischer, Irmela Gnass,
Markus Heisel, Bettina Hübner-Möhler, Gabriele Müller-Mundt, Nadja Nestler, Nada Ralic, Erika Sirsch, Monika Thomm, Susanne Wüste (Patientenvertreterin) sowie für das DNQP Martin Moers und Heiko Stehling. Nadine
Schüßler und Jan Stellamans unterstützten die Literaturanalyse. Der Entwurf
des Expertenstandards wurde im Oktober 2013 der Fachöffentlichkeit vorgestellt und konsentiert. Bis Juni 2014 erfolgt nun die modellhafte Implementierung des Standards in einer Reihe von Praxiseinrichtungen. Der
Sonderdruck des Standards einschließlich der Kommentierung kann über
die Internetseite des DNQP bestellt werden.
www.dnqp.de
12
FA Z IT FÜ R D I E PFLEG E
▶▶Die Vorgaben des neuen Expertenstandards zum
pflegerischen Management chronischer Schmerzen orientieren sich am derzeit besten verfügbaren Wissen, ergänzt um die Einschätzung der
Expertenarbeitsgruppe, wo es keine Informationen aus Studien gab.
▶▶Sie bieten eine gute Orientierung für die Weiter-
entwicklung der Pflegepraxis und setzen Bezugspunkte für die Qualitätsentwicklung.
▶▶Der Aufbau der entsprechenden pflegerischen
Kompetenzen und die Veränderung von Strukturen werden dabei nicht in jeder Hinsicht
kurzfristig möglich sein, sondern bedürfen ausreichender Zeit und Ressourcen.
dard vor, dass in solchen Fällen ein pflegerischer
Schmerzexperte beratend hinzuzuziehen ist.
Pflegerische Schmerzexperten sollen über eine
schmerzbezogene Weiterbildung verfügen (z.B. Pain
Nurse oder Algesiologischen Fachassistenz, ggf. auch
andere). Pflegerische Schmerzexperten können in der
jeweils eigenen Einrichtung angestellt sein. Es ist aber
auch möglich, Schmerzexperten von extern konsiliarisch hinzuziehen. Denkbar sind Kooperationsmodelle – etwa zwischen Pflegeeinrichtungen und Krankenhäusern – oder zukünftig sogar selbständige
pflegerische Schmerzexperten, vergleichbar der Situation im Bereich Wundmanagement.
Einrichtungen und Träger sind gefordert
Um den Pflegefachkräften ein gutes pflegerisches
Management chronischer Schmerzen zu ermöglichen,
sind insbesondere auch die Träger und Leitungen von
Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen gefordert.
Strukturell fordert der neue Expertenstandard von
ihnen, angemessene Voraussetzungen zu schaffen.
Eine Auswahl dieser Strukturanforderungen ist in
Kasten 2 dargestellt. Daneben kommt der personellen
Kontinuität und natürlich auch der ausreichenden
Personalstärke eine herausragende Bedeutung für die
Qualität des pflegerischen Managements chronischer
Schmerzen zu.
Prof. Dr. rer. cur. Thomas Fischer, MPH
Evangelische Hochschule Dresden
Pflegewissenschaft
Dürerstraße 25, 01307 Dresden
[email protected]
Heilberufe / Das Pflegemagazin 2014; 66 (2)
PflegeKolleg
Chronische Schmerzen
Unerwünschter Lernprozess
Wenn Schmerzen
im Gedächtnis bleiben
Rund fünf bis acht Millionen Menschen in Deutschland sind von chronischen Schmerzen
betroffen, die sie in ihrem Alltag, in Beruf und in ihrer Freizeit einschränken. Dies bedeutet nicht nur individuelles Leid, sondern verursacht auch hohe Kosten. Aktuelle Kenntnisse zum Chronifizierungsprozess können dazu beitragen, dieser Entwicklung schon im
Vorfeld zu begegnen.
Chronische
Erkrankung 
Schmerzmessung 
Schmerzmanagement
Die Zunahme der Auftretenshäufigkeit und
Intensität von Schmerzen über die Zeit hinweg wird als Chronifizierung bezeichnet
14
S
chmerz wird von der International Association
for the Study of Pain (IASP) richtungweisend
definiert als „ein unangenehmes Sinnes- und
Gefühlserlebnis, das mit tatsächlicher oder potentieller Gewebeschädigung einhergeht oder in Begriffen einer solchen Schädigung beschrieben wird.“
Dabei wird nicht zwischen akuten und chronischen
Schmerzen unterschieden. Diese Unterscheidung ist
allerdings essenziell, da sie wichtige Implikationen
für das Behandlungsziel hat. Akuter Schmerz dauert
Sekunden bis Wochen, ist meist an erkennbare Auslöser gebunden und besitzt dadurch eine bedeutende
Warn- und Schutzfunktion für den Organismus.
Chronische Schmerzen dagegen haben keine Warnund Schutzfunktion mehr, können intermittierend
(z. B. Migräne) oder dauerhaft auftreten, ihre Auslöser sind unbekannt und vielschichtig oder bekannt,
aber nicht therapierbar.
Lautet das Therapieziel bei akutem Schmerz
Schmerzfreiheit mithilfe von Schonung, Behandlung
der Schmerzursache und/oder zeitbegrenzter analgetischer Behandlung verschieben sich die Behandlungsziele bei chronischen Schmerzen: Im Vordergrund steht hier der bessere Umgang des Patienten
mit Schmerzen, die Minderung der schmerzbedingten
Beeinträchtigungen und nicht zuletzt der Schmerzen
selbst durch den Abbau schmerzunterstützender Faktoren.
Was ist chronischer Schmerz?
Eine Zunahme der Auftretenshäufigkeit und Intensität von Schmerzen über die Zeit hinweg wird als
Chronifizierung bezeichnet. Trotz der Bedeutsamkeit
dieses Prozesses für die Beschreibung von Schmerzen
und Schmerzstörungen ist er wissenschaftlich nicht
präzise defniert. Bisher werden Schmerzen als chronisch bezeichnet, wenn sie zeitlich länger andauern.
In Forschung und Praxis hat sich hierfür ein Zeitraum
von sechs Monaten durchgesetzt („Sechsmonatekriterium“). Bislang werden Schmerzen als chronisch
bezeichnet, wenn sie zeitlich länger andauern. In
Forschung und Praxis hat sich in der Zwischenzeit
das Sechsmonatekriterium durchgesetzt.
Erfassung chronischer Schmerzen
Zeitkriterium. Die Definition von chronischen
Schmerzen anhand lediglich eines Zeitkriteriums
wird dem Konzept von Schmerz als vielschichtigem
Geschehen nicht gerecht. So berücksichtigt die Definition nicht, ob der Schmerz klinisch bedeutsam
ist, beispielsweise aufgrund einer hohen Intensität
und/oder Häufigkeit und/oder wegen schmerzbedingter Einschränkungen. Zudem hat sich das Zeitkriterium im Vergleich zu anderen Chronifizierungskriterien als ein wenig bedeutsamer Prädiktor zum
Beispiel für Arbeitslosigkeit, Depression, Medikamentengebrauch und Arztbesuche erwiesen. In den
Versuchen, Chronifizierung messbar zu machen,
müssen daher weitere Dimensionen herangezogen
werden.
Chronifizierungsgrade. Das international bekannteste Verfahren, um das Ausmaß der Chronifizierung
zu erfassen, ist der Graded Chronic Pain Status.von
von Korff und Kollegen. Er bedient sich einer Kombination der Faktoren „Schmerzintensität“ (gering,
hoch) und „schmerzbedingte Beeinträchtigung“ (gering, stark), sodass Patienten einem von vier Chronifizierungsgraden zugeordnet werden.
Die Eingruppierung der Patienten in eine der vier
Klassen gilt als sehr guter Prädiktor für Arbeitslosigkeit, Depressivität oder häufige schmerzbezogene
Arztbesuche sowohl zum Zeitpunkt der Erfassung
des Chronic Pain Status als auch ein Jahr später. Die
Chronifizierungsgrade nach von Korff sind Bestandteil des Deutschen Schmerzfragebogens, der bei der
Heilberufe / Das Pflegemagazin 2014; 66 (2)
DOI: 10.1007/s00058-014-0230-9
KEYWORDS
Deutschen Schmerzgesellschaft erhältlich ist (www.
dgss.org/deutscher-schmerzfragebogen/). Einen ähnlichen Ansatz verfolgen auch andere Verfahren wie
das Migraine Disability Assessment.
© Thinkstock
Mainzer Stadienmodell der Schmerz-Chronifizierung.
Im deutschen Sprachraum wird häufig das Mainzer
Stadienmodell der Schmerz-Chronifizierung (Mainz
Pain Staging System) eingesetzt, in dem aus vier Achsen ein Gesamtchronifizierungsstadium ermittelt
wird:
▶ Stadium I: akuter, subakuter und intermittierender
Schmerz
▶ Stadium II: chronischer Schmerz
▶ Stadium III: lang andauernder chronischer Schmerz
Verschiedene Studien ergaben einen positiven
Zusammenhang zwischen dem Chronifizierungsstadium und Depressivität, schmerzbedingten Beeinträchtigungen bei Verrichtungen des alltäglichen
Lebens und Arbeitsunfähigkeit. Allerdings wird die
Zuordnung zu einem Chronifizierungsstadium auch
durch die Schmerzlokalisation beeinflusst. So können
z. B. Kopfschmerzpatienten im Vergleich zu Patienten
mit Rückenschmerzen aufgrund der schmerzdiagnosetypischen Merkmale nur ein geringeres Chronifizierungsstadium erreichen.
Das Schmerzgedächtnis
Beteiligte Gehirnareale. Chronische Schmerzen sind
mit funktionellen und strukturellen Veränderungen
vor allem der neuronalen Netzwerke verbunden, die
an der Schmerzverarbeitung beteiligt sind. Diese
Veränderungen werden häufig unter dem Begriff des
„Schmerzgedächtnisses“ zusammengefasst, weil sie
durch unterschiedliche Lernprozesse vermittelt werden.
Bei der Schmerzempfindung wird zwischen folgenden Komponenten unterschieden:
▶ sensorisch-diskriminativ (Wahrnehmung von Reizort, -stärke, -dauer und Art des Reizes),
▶ kognitiv-emotional (Schmerzbewertung vor dem
Hintergrund individueller Erfahrungen, Stimmungen, Erwartungen und Gefühlen) und
▶ behavioral (Bewertung des Schmerzes auf Verhaltensebene)
Dementsprechend ist das Schmerzempfinden mit der
Aktivierung bestimmter Gehirnareale assoziiert, die
folgenden Mechanismen zugeordnet werden:
Heilberufe / Das Pflegemagazin
2014; 66 (2)
PflegeKolleg
In die Schmerzverarbeitung sind neuronale
Netzwerke involviert.
Eine krankhafte
Sensitivierung äußert
sich in einer
erhöhten Schmerzempfindlichkeit.
16
Chronische Schmerzen
▶▶sensorische Schmerzverarbeitung und Schmerz-
inhibition
▶▶Aufmerksamkeitsprozesse/kognitive Verarbeitung,
▶▶emotionale Verarbeitung und
▶▶motorische Reaktionen
Dieses Netzwerk aus unterschiedlichen Gehirnregionen wird oft als „Schmerzmatrix“ bezeichnet. Die
bei chronischem Schmerz veränderte Aktivität der
der „Schmerzmatrix“ zugeordneten Gehirnareale ist
das Resultat neuronaler Umbauprozesse (Plastizität)
infolge wiederholter Schmerzerfahrung und/oder
bestimmter Krankheitsprozesse und Schädigungen
wie z. B. einer Nervenverletzung, die zu neuropathischen Schmerzen führt. Letztlich handelt es sich bei
diesen Veränderungen vermutlich um die Folge des
Zusammenwirkens bereits vor der Erkrankung bestehender Anfälligkeiten (Vulnerabilitäten) und der
neuronalen Umbauprozesse infolge wiederholter
Schmerzerfahrungen.
Sensitivierungsprozesse. Einen besonderen Stellenwert bei erfahrungsbedingten Veränderungen nehmen Sensitivierungsprozesse (Zunahme der Reaktionsstärke bei wiederholter Darbietung desselben
Reizes) ein. Diese führen zu einer verstärkten Aktivierbarkeit des schmerzverarbeitenden Systems.
Dadurch erklärt sich beispielsweise, warum chronischer Schmerz häufig nur gering mit den physiologischen Faktoren korreliert, die ihn ursprünglich
auslösten. Sensitivierung findet an den Schmerzrezeptoren (Nozizeptoren) statt (periphere Sensitivierung), aber auch in Rückenmark und Gehirn (zentrale Sensitivierung). Eine krankhafte Sensitivierung
äußert sich in einer erhöhten Schmerzempfindlichkeit, die durch dauerhaft erniedrigte Schmerzschwellen (Hyperalgesie) und bei manchen Schmerzstörungen durch eine erhöhte Empfindlichkeit für Reize
charakterisiert ist, die normalerweise keinen Schmerz
hervorrufen würden (Allodynie). Erfolgt eine wiederholte oder länger dauernde Schmerzstimulation,
lässt sich eine Zunahme der erlebten Schmerzintensität beobachten. Dabei handelt es sich zunächst um
ein normales, physiologisches Phänomen. Bei Patienten mit chronischen Schmerzen ist allerdings eine
im Vergleich zu gesunden Personen deutlich stärkere
Erhöhung der erlebten Schmerzintensität zu beobachten, die als Hinweis auf eine mit der Schmerzerkrankung einhergehende zentrale Sensitivierung gilt.
Neben funktionellen Veränderungen wurden in
den letzten Jahren zunehmend auch strukturelle Gehirnveränderungen bei chronischem Schmerz festgestellt. Im Vergleich zu Kontrollpersonen ist bei
Schmerzpatienten das Volumen an grauer Substanz
in den der „Schmerzmatrix“ zugeordneten Arealen
reduziert. Eine erfolgreiche Schmerzbehandlung geht
mit einer Normalisierung des Volumens an grauer
Substanz in diesen Arealen einher.
FA Z IT FÜ R D I E PFLEG E
▶▶Bisher werden Schmerzen dann als chronisch
definiert, wenn sie über einen Mindestzeitraum
von drei beziehungsweise sechs Monaten auftreten. Dieses Zeitkriterium beschreibt den Chronifizierungsprozess, also die zunehmende Auftretenshäufigkeit und Intensität von Schmerzen,
allerdings nur unzureichend.
▶▶Chronifizierung wird mehrdimensional erfasst; z. B.
durch die Berücksichtigung von Beeinträchtigungen durch die Schmerzen und die Intensität. Verschiedene Lernprozesse tragen zur Chronifizierung von Schmerzen bei, da sie Veränderungen an
den neuronalen Netzwerken vermitteln, die in die
Schmerzverarbeitung involviert sind.
Lernprozesse. Außer der Sensitivierung tragen auch
andere Lernprozesse wie klassisches Konditionieren,
operantes Konditionieren und Modelllernen zur
Schmerzchronifizierung und zur Ausbildung eines
Schmerzgedächtnisses bei. Insbesondere Konditionierungsprozesse und Modelllernen bedingen Veränderungen der kognitiv-emotionalen und der behavioralen Schmerzreaktion im Sinne einer Schmerzgedächtnisbildung.
Schmerzchronifizierung geht mit einer zunehmenden Angst vor Schmerzen einher, die durch klassisches Konditionieren erworben wird. Darunter
versteht man die Verknüpfung von Schmerzempfindungen mit ursprünglich nicht mit Schmerzen verbundenen konditionierten Reizen. Als konditionierte
Reize können von außen kommende Reize (exterozeptive Stimuli) wie eine bestimmte Situation (z. B.
Arbeitsplatz, Konflikt), Reize aus dem Bereich der
Tiefensensibilität (propriozeptive Stimuli) wie eine
bestimmte Bewegung (z. B. Gehen, Beugen), aber
möglicherweise auch Signale aus dem Körperinneren
(interozeptive Signale) wie eine beschleunigte Herzrate fungieren. Diese lösen durch die wiederholte
Kopplung mit einer Schmerzempfindung zunehmend
Angst vor Schmerz aus. Eine schmerzbezogene antizipatorische Angst kann die später erlebte Schmerz­
intensität und so wiederum Sensitivierungsprozesse
verstärken.
Bezugspersonen können den
Chronifizierungsprozess beeinflussen
Die Bedeutung der operanten Konditionierung von
Schmerzverhalten für die Schmerzchronifizierung
wurde bereits in einem der ersten verhaltensorientierten Schmerzmodelle, dem operanten Schmerzmodell von Fordyce betont. Danach nehmen
Schmerzverhaltensweisen wie Klagen, Seufzen,
Schonhaltung durch positive Verstärkung (z.B. AufHeilberufe / Das Pflegemagazin 2014; 66 (2)
merksamkeit, Zuwendung) oder negative Verstärkung
(z.B. kurzfristige Schmerzreduktion durch Schonen
oder Vermeiden von Konflikten) in ihrer Auftretenshäufigkeit zu. Gleichzeitig können gesunde Verhaltensweisen wie körperliche Aktivitäten, aktives Bewältigungsverhalten nur unzureichend positiv verstärkt werden und treten folglich seltener auf. Eine
wichtige Rolle spielen hierbei Bezugspersonen und
ihre Reaktion auf Schmerzäußerungen des Patienten.
Beispielsweise sind Patienten beeinträchtigter, deren
Partner mit sehr viel Fürsorge und Aufmerksamkeit
auf den Schmerz reagieren.
Wenn Patienten schmerzbezogene Ängste entwickelt haben, können diese ähnlich wie bei der pathologischen Angst durch negativ verstärktes Vermeidungsverhalten aufrechterhalten werden. Vielfach
halten die Reduktion des Schmerzes, aber auch die
Reduktion der Angst vor dem Schmerz Einschränkungen von körperlichen und sozialen Aktivitäten
aufrecht. Aufgrund des Vermeidungsverhaltens werden Patienten in immer geringerem Ausmaß belastbar und fühlen sich isoliert.
Daraus ergeben sich grundsätzlich zwei therapeutische Ansätze. Ein wichtiges Ziel ist der Aktivitätsaufbau durch eine systematische Verstärkung von
körperlicher Aktivität und bewältigendem Verhalten,
beispielsweise durch die Modifikation des Verhaltens
von Bezugspersonen. Liegen ausgeprägte schmerzbezogene Ängste vor, bietet sich die systematische
Konfrontation mit gefürchteten Bewegungen und
körperlichen Aktivitäten analog zur Konfrontationstherapie bei Angststörungen an.
Soziales Lernen oder Modelllernen ist ein weiterer
Lernprozess, der die Schmerzchronifizierung fördern
kann. Durch die Beobachtung der Schmerzreaktion
von anderen, insbesondere Bezugspersonen, werden
die eigene Reaktion auf Schmerz, die kognitiv-emotionale Bewertung von Schmerz sowie komplexe
Verhaltens- und Bewältigungsmuster erlernt und
moduliert. Beispielsweise kann Angst vor Schmerz
durch stellvertretende Konditionierung erworben
werden. Durch soziales Lernen könnten beispielsweise auch Kinder Erwartungen erwerben, wie die Umwelt auf Schmerz einer Person reagiert, und dann das
spätere eigene Verhalten in Schmerzsituationen modulieren. Dies könnte ein Faktor sein, der zur vielfach
dokumentierten familiären Häufung von chronischen
Schmerzproblemen beiträgt.
Patienten, deren
Partner mit sehr
viel Fürsorge auf
den Schmerz
reagieren, sind
beeinträchtigter.
Dr. Judith Kappesser
Abteilung für Klinische Psychologie
Justus-Liebig-Universität
Otto-Behaghel-Str. 10F
35394 Gießen
[email protected]
Prof. Dr. Christiane Hermann
Abteilung für Klinische Psychologie,
Justus-Liebig-Universität
Otto-Behaghel-Str. 10F
35394 Gießen
[email protected]
Literatur bei den Verfassern
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PflegeKolleg
Chronische Schmerzen
Gelenkschmerzen im Griff
Lebensqualität bei Arthrose erhalten
Arthrosen zählen zu den häufigsten Ursachen für chronische Schmerzen im Alter und sind daher in
Pflegeeinrichtungen von großer Relevanz. Auch wegen der häufigen Begleiterkrankungen von Senioren
stellen sie einen erheblichen Anspruch an die Behandlung. Oberstes Ziel ist es, Operationen zu vermeiden
oder zu verzögern – im Vordergrund aber steht die Lebensqualität.
Arthrose
Gelenkverschleiß
Arthritis
Chronische
Schmerzen
E
inzelne oder mehrere schmerzhafte Gelenke
(Mon/Oligo- bzw. Polyarthritis) werden bei
verschiedenen entzündlich-rheumatologischen
Erkrankungen, aber auch bei Verletzungen, Frakturen, Impingement-Syndromen oder Tumoren bei
Beschwerden am Bewegungsapparat gefunden. Im
Gegensatz dazu werden Arthrosen als degenerative
TAB. 1 DIFFERENTIALDIAGNOSEN
Mono- und oligoartikulär
Polyartikulär
Gicht
Gicht
Pseudogicht
(Chondrocalcinose)
Pseudogicht
(Chondrocalcinose)
Reaktive Arthritiden
Rheumatoide Arthritis
Sarkoidose
(Löfgren-Syndrom)
Psoriasisarthritis
M. Crohn / Colitis ulcerosa
Spondyloarthritiden
Streptokokken
Vaskulitiden
Borrelien
Posttraumatisch
Impingement-Syndrome
Bursitis
Insertionstendinopathie
Osteonekrosen
Diabetes mellitus
Akromegalie
Rheumatoide Arthritis
Psoriasisarthritis
Spondyloarthritiden
Kollagenosen
Frakturen
Tumore
18
Erkrankungen mit Beteiligung des Gelenkknorpels
betrachtetet, die als primäre Formen nach Überlastung und vorwiegend im Alter auftreten. Bei den
sekundären Formen kommen ursächlich andere
Vorerkrankungen in Betracht wie beispielsweise
Rheumatoide Arthritis, Gicht, Psoriasisarthritis oder
Kollagenosen (Tab. 1).
Die Einteilung der Arthrosen – zumindest der primären Formen – sollte aufgrund der verschiedenen
Pathomechanismen erweitert werden. Ähnlich wie
bei entzündlichen Erkrankungen werden einzelne
oder mehrere Gelenke symmetrisch oder asymmetrisch befallen. Im Falle der Finger sind fast ausschließlich die Endgelenke mit typischer Knotenbildung (Heberden-Arthrose), die Mittelgelenke
(Bouchard-Arthrose) oder Daumensattelgelenke
(Rhizarthrose) betroffen. Diese Form betrifft häufig
Frauen nach der Menopause und tritt symmetrisch
und ohne offensichtliche Fehlbelastung oder Trauma
auf. Vorwiegend einzelne oder wenige Gelenke betreffende Arthrosen entstehen dagegen häufig nach
jahrzehntelanger Überlastung und bei adipösen Menschen. Aber auch Patienten ohne Übergewicht entwickeln arthrotische Veränderungen, die nahezu
ausschließlich erst nach dem 40. Lebensjahr beobachtet werden.
Gelenkschmerz kann
vielfältige Ursachen haben
In der Anamnese finden sich meist langjährig bestehende und im Verlauf zunehmende Beschwerden.
Typisch ist ein Belastungsschmerz – im Gegensatz zu
entzündlich-rheumatologischen Erkrankungen. Nur
in sehr fortgeschrittenen Fällen tritt auch ein nächtlicher Ruheschmerz auf, der mit Überwärmung und
einem Erguss verbunden sein kann (aktivierte Arthrose). Finger, Knie, Hüften und Wirbelgelenke sind
häufig betroffen, Sprunggelenke und Ellenbogen
seltener. Fortgeschrittene Formen werden als Arthrosis deformans bezeichnet.
Bei der Untersuchung durch den Arzt können Krepitation (knirschende Geräusche) und nach längerem
Heilberufe / Das Pflegemagazin 2014; 66 (2)
DOI: 10.1007/s00058-014-0229-2
© PC-PROD fotolia.com; Fischer
KEYWORDS
Verlauf eine Kapselkontraktur (Fehlstellung),
schmerzhafte Bewegungseinschränkung oder Instabilität auffallen. In der Labordiagnostik fehlen Anzeichen einer systemischen Entzündung oder andere
rheumatologische Parameter wie Rheumafaktoren
oder antinukleäre Antikörper. Werden diese dennoch
gefunden, stehen sie in Zusammenhang mit einer
anderen, möglicherweise autoimmunologischen
Zweiterkrankung.
Im Röntgenbild zeigt sich meist eine mehr oder
weniger stark ausgeprägte Verschmälerung des Gelenkspalts aufgrund von Knorpelsubstanzverlust,
Sekundäre Kniegelenksarthrose bei einer 79-Jährigen. Bemerkenswert ist der erhebliche Knorpelsubstanzverlust mit nahezu aufgehobenem Gelenkspalt,
subchondraler Sklerosierung und Osteophyten.
zusätzlich finden sich Geröllzysten, Knochenverdichtungen unter dem Gelenkknorpel (subchondrale
Sklerosierung) und Knochenanbauten (osteophytäre
Anbauten). An den Fingergelenken werden in fortgeschrittenen Fällen knöcherne Erosionen gefunden.
Es gibt immer wieder eine Diskrepanz zwischen den
radiologischen Veränderungen und dem klinischen
Beschwerdebild: Geringe radiologische Veränderungen können unerwartet viele Beschwerden verursachen und umgekehrt.
Der Gelenkultraschall (Arthrosonographie) verschafft einen Überblick über das Ausmaß eines eventuell vorhandenen Gelenkergusses, der bei einer
klinischen Untersuchung nicht festgestellt werden
kann, so z.B. an der Hüfte. Zudem lässt sich die Aktivität einer Synovialitis (Entzündung der Gelenkinnenhaut) abschätzen. Mittels Magnetresonanztomografie (MRT) können darüber hinaus eventuelle
Meniskusläsion am Knie, aber auch das Ausmaß des
Knorpelsubstanzdefekts bestimmt werden. Außerdem
kommen bei entsprechenden Fragestellungen (z.B.
Verdacht auf Mikrofrakturen, Abgrenzung von Arthritiden) Computertomografie (CT) oder Skelettszintigrafie zum Einsatz.
Typisch für Arthrosen
ist der
Belastungsschmerz.
PflegeKolleg
Der Patient sollte ausreichend aufgeklärt
und zu einer Änderung
des Lebensstils und
eventuell zur Gewichtsreduktion angeregt
werden.
Chronische Schmerzen
Was die Gelenkflüssigkeit verrät
Eine wichtige, aber häufig nicht eingesetzte diagnostische Maßnahme ist die Analyse der Gelenkflüssigkeit (Synovialflüssigkeit), die durch Punktion gewonnen werden kann. Zellzahl (bei Arthrose 200 bis 2.000
Zellen/µl), Differenzierung der Leukozyten (Lymphozyten bei Arthrose, vermehrt Granulozyten bei
entzündlichen Arthritiden), Viskosität (erhöht bei
Arthrose) oder das polarisationsmikroskopische Bild
(Kristalle bei Gicht oder Pseudogicht) liefern den
möglicherweise entscheidenden Hinweis für die weiteren differentialtherapeutischen Schritte.
Bei einer autoimmunen Arthritis kann die Bestimmung der Rheumafaktoren oder Anti-CCP-Antikörper in der Gelenkfüssigkeit hilfreich sein. Beim Verdacht einer infektassoziierten Problematik kann die
Analyse der Antikörper beispielsweise für Borrelien
oder anderer Erreger diagnostisch weiter führen.
Sollten sich in der Anamnese oder bei der Untersuchung Anhaltspunkte für eine andere Differentialdiagnose ergeben, muss diese weiter verfolgt werden.
Hierzu zählen pathologische Veränderungen in den
gelenknahen Weichteilen (Periarthropathien) wie
Sehnen, Sehnenscheiden, Bänder und Schleimbeutel.
Wie bei jeder unklaren Schmerzsymptomatik sind
auch eventuelle extrasomatische Momente zu berücksichtigen. Außerdem muss bedacht werden, dass
neben einer über möglicherweise lange Jahre entstandenen Arthrose sich in jedem Lebensalter im selben
Gelenk eine entzündliche Arthritis entwickeln kann.
In diesem Fall gleicht das radiologische Bild dann
einer Arthrose, obwohl eine zusätzliche und möglicherweise das klinische Bild bestimmende Arthritis
TAB. 2 THERAPIE BEI ARTHROSE
Nicht medikamentös
Medikamenös
Gewichtsreduktion bei Adipositas
Paracetamol
Diätumstellung
Externe tNSAR
Krankengymnastik
tNSAR bzw. COX-2-Hemmer p. o.
Gehhilfe
Metamizol p. o.
Ergotherapie
Intraartikuläre Kortikosteroide
TENS
(Radiosynoviorthese)
Orthesen und Schuheinlagen
Kälte bzw. Wärme
Operativ
evtl. arthroskopische Lavage
evtl. Debridement
Umstellungsosteotomie
TEP
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vorliegt. Wertvolle differentialdiagnostische Hinweise liefert dann die Analyse der Gelenkflüssigkeit.
Viele rheumatische Erkrankungen lassen sich mit
serologischen Parametern weiter eingrenzen, darunter anti-CCP-Antikörper, Rheumafaktoren u.a. Als
Ultima Ratio kann nach Ausschluss einer infektiologischen Problematik auch ein Behandlungsversuch
mit Steroiden in Betracht gezogen werden. Grund:
Arthrosen sprechen nicht auf eine systemische Immunsuppression an und bei Besserung der Beschwerdesymptomatik könnte auch eine entzündliche Arthritis vorliegen.
Multimodale Therapieoptionen
sind unverzichtbar
Zur Behandlung stehen nicht-medikamentöse, einschließlich operative Maßnahmen sowie medikamentöse Therapieoptionen zur Verfügung. In jedem Fall
sollte der Patient aber ausreichend aufgeklärt, zu einer
Änderung des Lebensstils und eventuell zur Gewichtsreduktion mit diätetischer Umstellung angeregt
werden. Auch eine Anbindung an Selbsthilfegruppen
kann für den Patienten sehr wertvoll sein.
Neben einer Gehhilfe ist eine konsequente physikalische Therapie eine der wichtigsten nicht-medikamentöse Behandlungsmöglichkeit. Hier wird durch
die gezielte Koordination der Muskelfunktion eine
Stabilisierung des Gelenks erreicht und Beugekontrakturen entgegengewirkt. Obwohl vermutet wird,
dass wegen des belastungsabhängigen Charakters der
Arthrose eine Immobilisierung einen positiven Einfluss hat, sollte diese nicht langfristig sein und durch
regelmäßige, physiotherapeutisch dosierte Belastung
ersetzt werden. Allerdings ist bisher nicht eindeutig
geklärt, in welchem Ausmaß die Übungen erfolgen
sollten. Weitere Maßnahmen sind Orthesen, weiches
Schuhwerk oder Schuheinlagen. Noch nicht gänzlich
geklärt ist, wie sich lokale Kälte oder Wärme auswirken, wobei letztere wahrscheinlich den synovialen
Reiz aktiviert und somit die Krankheitsproblematik
verstärkt. Interferenzstrom ist eine weitere konservative Behandlungsoption bei Arthrose. Andere alternativmedizinische Verfahren wie Akupunktur können
in einigen Fällen hilfreich sein.
Medikamentöse Behandlung
Medikamentöse Therapien können bisher eine Arthrose nicht heilen. Deshalb haben Pharmaka als
symptomatische Behandlungsalternative zum Ziel,
die Lebensqualität zu verbessern und den Funktionsverlust zu verzögern. Dieser ergibt sich durch mechanische Folgeschäden wie Kapselkontrakturen oder
muskuläre Dysbalancen.
Paracetamol wird als erste Behandlungsoption
empfohlen, ist aber aufgrund der begrenzten analgetischen und antiphlogistischen Eigenschaften häufig
nur eingeschränkt einsetzbar – zumal in höheren
Heilberufe / Das Pflegemagazin 2014; 66 (2)
Dosen ein ähnliches Nebenwirkungsprofil wie bei
traditionellen nichtsteroidalen Antirheumatika (tNSAR) beobachtet wird. Diese sind bei Arthrose besser
wirksam, allerdings sollten die möglichen Nebenwirkungen unter Einschluss der gastrointestinalen, kardiovaskulären, hepatischen und renalen Anamnese
sorgfältig bei mittel- bis langfristiger Anwendung
abgewogen werden. Unter Umständen kann aber
durch den Gebrauch von tNSAR mit konsekutiver
Schmerzbesserung der Verlauf einer Arthrose beschleunigt werden. Inhibitoren der Cyclooxygenase(COX)-2 haben den Vorteil, im oberen Gastrointestinaltrakt besser verträglich zu sein. Metamizol kann
bei Unverträglichkeit oder Kontraindikationen von
tNSAR oder COX-2-Hemmern eingesetzt werden.
Klinische Studien zeigen für extern angewendete tNSAR ebenfalls eine Wirksamkeit. In fortgeschrittenen
Fällen kommen zudem intraartikuläre Injektionen
mit Kortikosteroiden in Betracht. Diese sind aber
aufgrund des Nebenwirkungsprofil (z.B. Osteonekrosen oder Exazerbation bei Diabetes mellitus) eingeschränkt (maximal vier Injektionen pro Jahr und
Gelenk) und ihre Wirksamkeit zeitlich begrenzt.
Alternativ werden gelegentlich, aber mit ähnlicher
Limitierung radiochemische Verfahren eingesetzt.
Infiltrationen mit Lokalanästhetika bei z.B. Periarthritis sind ebenso denkbar. Opiate sollten Ausnahmesituationen vorbehalten bleiben, in denen sie
entweder nur kurzfristig eingesetzt werden oder erst,
wenn alle anderen Therapieoptionen ausgeschöpft
und operative Maßnahmen nicht möglich sind.
Operative Verfahren (z.B. Débridement, Umstellungsosteotomie oder Endoprothese) sind indiziert,
wenn konservative Therapiemaßnahmen ausgeschöpft sind. Ein Gelenkersatz ist meist dann erforderlich, wenn die Einschränkung der Lebensqualität
des Patienten nicht mehr vertretbar ist.
Die verfügbaren medikamentösen Therapieoptionen zielen vorwiegend auf eine Analgesie und lassen
den natürlichen und zumeist progredienten Krankheitsverlauf unberührt. Die Diagnose einer Arthrose
oder anderer rheumatischer Erkrankungen veranlasst
Patienten immer wieder, alternative Therapieoptionen zu suchen. Häufig werden Phytotherapeutika
angeboten, ohne dass die Wirksamkeit in randomisierten klinischen Studien belegt ist. Glucosamin,
Chondroitin-Sulfat, Oxaceprol und Hyaluron-Säure
gehören zur Gruppe der „Symptomatic Slow Acting
Drugs“ (SYSADOA), zeigen aber einen unterschiedlichen klinischen Evidenzgrad. Angesichts der beschränkten und häufig über viele Jahre erforderlichen
Therapiemaßnahmen kommen auch ganz andere
Stoffgruppen in Betracht – wie Antagonisten für
Serotoninrezeptoren des Subtyps 3 (5-HT3-RezeptorAntagonisten), die bisher zur Behandlung der Chemotherapie-induzierten Nausea zugelassen sind.
Diese Substanzen stellen eine sichere Option dar,
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FA Z IT FÜ R D I E PFLEG E
▶▶Erst die genaue Differenzialdiagnose ermöglicht
eine zielgerichtete Behandlung bei Patienten mit
chronischen Gelenkschmerzen.
▶▶Bei älteren und eventuell adipösen Patienten ist
Arthrose die häufigste Differenzialdiagnose. Die
Anamnese für Infekte, Fieber, rheumatische Erkrankungen, chronische entzündliche Darmerkrankungen oder Psoriasis lenkt aber möglicherweise auf eine andere oder zusätzliche Genese der
Beschwerden.
▶▶Obwohl eine konventionelle Röntgendiagnostik
häufig den typischen Befund einer Arthrose zeigt,
sollten andere Differenzialdiagnosen bei entsprechender Hinweisen bedacht und weiter untersucht werden.
▶▶Therapeutische Maßnahmen sind in Abhängigkeit
des Befalls (z.B. Gewichtsreduktion oder Ergotherapie) neben einer medikamentösen Therapie mit
tNSAR oder COX-2- Hemmern die ersten Maßnahmen.
wenngleich noch keine klinischen Langzeitdaten bei
Arthrose vorliegen.
Neue Behandlungsoptionen
Das Risikoprofil für die bisher zugelassenen medikamentösen Therapien wie traditionelle nichtsteroidalen Antirheumatika (tNSAR) bzw. Opiate haben in
den letzten Jahren die Suche nach neuen Behandlungsoptionen angeregt. Hierbei rückten Antagonisten für den Nerve Growth Factor (NGF) zunehmend in den Fokus. NGF ist u.a. auch für die Chronifizierung von Schmerzen und neurogene Entzündungen verantwortlich. Eine vermehrte NGF- Synthese wird bei vielen rheumatischen Erkrankungen,
Arthrose eingeschlossen, beobachtet. Mittlerweile
wurden Antikörper entwickelt, die gegen NGF gerichtet sind. Sie werden in Studien u.a. bei Arthrose
und anderen chronischen Schmerzzuständen untersucht.
PD Dr. med. Matthias F. Seidel
Fachbereichsleiter Internist. Rheumatologie
Medizinische Klinik und Poliklinik III
Universitätsklinikum Bonn
Sigmund-Freud-Str. 25, 53125 Bonn
[email protected]
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2. Welche Aussage zum/r Schmerzgedächtnis/matrix ist falsch?
A Das Schmerzgedächtnis umfasst Veränderungen
in neuronalen Netzwerken, die an der Schmerzverarbeitung beteiligt sind.
B Zur Schmerzmatrix gehören Gehirnareale, die der
sensorischen und kognitiv-emotionalen Verarbeitung, nicht aber den motorischen Reaktionen zugeordnet sind.
C Das Schmerzgedächtnis ist das Ergebnis neuronaler Umbauprozesse u.a. aufgrund wiederholter
Schmerzerfahrungen.
3. Welche Lernprozesse tragen zur Ausbildung
eines Schmerzgedächtnisses bei?
A Sensitivierung, klassisches Konditionieren,
operantes Konditionieren, Habituation.
B Klassisches Konditionieren, operantes
Konditionieren, Habituation, Modelllernen.
C Modelllernen, Sensitivierung, klassisches
Konditionieren, operantes Konditionieren.
4. Welche Aussage zum Krankheitsbild „Arthrose“
ist falsch?
A Primäre Arthrosen entstehen auf der Basis von
Entzündungsprozessen.
B Bei Arthrosen handelt es sich um degenerative Erkrankungen mit Beteiligung des Gelenkknorpels.
C Arthrosen können sowohl einzelne als auch
mehrere Gelenke betreffen.
Name, Vorname
Straße
E
Fernfortbildung
zum Mitmachen
1. Die Chronifizierung von Schmerzen ist schwer
zu erfassen. Welche Aussage trifft nicht zu?
A Chronische Schmerzen sind ein multidimensionales
Phänomen. Daher muss die Chronifizierung auf
mehreren Ebenen erfasst werden.
B Nur die Dauer des Schmerzes ist das einzige
zuverlässig messbare Kriterium.
C Schmerzintensität und Beeinträchtigung durch
die Schmerzen sind wichtige Dimensionen der
Schmerzchronifizierung.
3
N
TB
G
Punkte
R
(Es ist jeweils nur eine Antwort richtig.)
IFIZIE
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FO
Chronische Schmerzen
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ILDU
5. Was kennzeichnet die Schmerzsituation
von Arthrosepatienten?
A Typischerweise tritt der Schmerz bei Ruhe auf.
B Die Patienten leiden unter Belastungsschmerzen.
C Auch bei sehr fortgeschrittenen Fällen entwickelt
sich kein nächtlicher Ruheschmerz.
6. Welche typische Veränderung zeigt sich im
Röntgenbild bei Arthrose?
A Die Verschmälerung des Gelenkspalts
durch Knorpelsubstanzverlust.
B Die Vergrößerung des Gelenkspalts.
C Eine Entzündung der Gelenkinnenhaut.
7. Wozu dient das initiale Schmerzassessment?
A Zur Differenzierung zwischen chronischen
und akuten Schmerzen.
B Zur reinen Ermittlung der Schmerzstärke.
C Zum Ausschluss einer Schmerzproblematik.
8. Was wird beim initialen Schmerzassessment
nicht erfasst?
A Die Schmerzintensität
B Die schmerzbedingte Beeinträchtigung
C Der BMI
9. Sind Instrumente für das differenzierte
multidimensionale Schmerzassessment in
allen Versorgungsbereichen anwendbar?
A Sie lassen sich ohne Anpassung im Akutkrankenhaus und in der Langzeitpflege anwenden.
B Es müssen jeweils für das Setting und die versorgten Patientengruppen geeignete Instrumente
ausgewählt werden.
C Es existieren keine standardisierten Instrumente.
10. Was ist bei der Behandlung chronischer
Schmerzen meist nicht erreichbar?
A Völlige Schmerzfreiheit.
B Erhaltung und Förderung der Lebensqualität des
Betroffenen.
C Vorbeugung schmerzbedingter Krisen.
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