Thema II Rechtfertigung und Entschuldigung bei Befreiung aus besonderen Notlagen (Notwehr, Notstand, Pflichtenkollision) RECHTFERTIGUNG UND ENTSCHULDIGUNG BEI BEFREIUNG AUS BESONDEREN NOTLAGEN (NOTWEHR, NOTSTAND, PFLICHTENKOLLISION) IM SPANISCHEN STRAFRECHT Enrique Gimbernat Ordeig, Madrid I. Notwehr a) Art. 8 Nr. 4 Código Penal befreit von strafrechtlicher Verantwortlichkeit "denjenigen, der in Verteidigung seiner eigenen oder einer fremden Person, seines eigenen oder eines fremden Rechts handelt, wenn folgende Bedingungen erfüllt sind: 1. Rechtswidriger Angriff. Im Falle der Verteidigung von Vermögensgegenständen wird es als rechtswidriger Angriff angesehen, wenn die Handlung ein Verbrechen darstellt und diese Rechtsgüter in erhebliche Gefahr der unmittelbaren Beschädigung oder des Verlustes bringt. Im Falle der Verteidigung der Wohnung oder ihrer Nebenräume wird als rechtswidriger Angriff das unberechtigte Betreten derselben angesehen. 2. Vernunftgemäße Erforderlichkeit des angewandten Mittels, um den Angriff zu verhindern oder zurückzuschlagen. 3. Fehlen einer hinreichenden Provokation seitens des Verteidigers". b) Nach der absolut herrschenden Meinung stellt die Notwehr in Spanien einen Rechtfertigungsgrund dar. Weil sowohl Art. 8 Nr. 4 als auch Art. 8 Nr. 7 (Notstand) Formulierungen verwenden ("in Verteidigung", "um ein Übel ... abzuwenden"), die auf eine bestimmte Einstellung des Täters hinweisen, nimmt die herrschende Lehre an, daß beide - und überhaupt alle - Unrechtsausschließungsgründe nur dann anwendbar seien, wenn die Handlung von einem bestimmten subjektiven Rechtfertigungselement getragen werde. Dieser Meinung kann nicht ge- 72 Enrique Gimbernat Ordeig folgt werden: Vielmehr ist es so, daß die genannten gesetzlichen Formulierungen nur - und ausschließlich - in dem Sinne ausgelegt werden können, daß der Täter die objektive Rechtfertigungslage kennen muß, nicht aber daß dazu noch das Vorliegen eines Verteidigungs- oder Abwendungswillens erforderlich wäre. In diesem Zusammenhang ist nur darauf hinzuweisen, daß bei der Regelung der Indikationen zum Schwangerschaftsabbruch, die nichts anderes sind als Konkretisierungen verschiedener Notlagen Art. 417bis CP erfordert, daß der Eingriff bei der Schwangeren von einem Arzt unternommen wird; diese Vorschrift geht also davon aus, daß sowohl der Arzt als auch die Arztgehilfen für ihre Arbeit ein Honorar erhalten, was eine Anwendung der in Art. 417bis enthaltenen Strafbefreiungsgründe nicht verhindert: In Hinsicht auf den Ausschluß der Strafbarkeit ist es also völlig gleichgültig, ob die Beweggründe der Abtreibungshandlungen Gewinnabsichten sind, wobei das Mitvorliegen eventueller humanitärer Gründe keine Rolle spielt. Es ist nicht einzusehen, weshalb das, was bei den Notstandsfällen des Art. 417bis richtig ist - Nichterforderlichkeit eines subjektiven Rechtfertigungsgelements -, für die übrigen Rechtfertigungsgründe nicht gelten sollte. c) Eine zum Teil überholte Richtung innerhalb der Rechtsprechung faßt den gesetzlichen Ausdruck "Angriff" in einem engeren Sinne als "gewaltsamen Angriff" auf. Demgemäß wird angenommen, daß Angriffe auf die Ehre, die Freiheit usw. nur Anlaß zur Notwehr geben können, wenn der Angreifer so weit gegangen ist, körperliche Gewalt anzuwenden, um seine Absicht zu verwirklichen. Diese Auffassung ist jedoch nicht haltbar: Einmal deswegen, weil der Hinweis des Gesetzes auf "Rechte" ("Person oder Rechte") keinen Sinn haben würde, wenn es keine notwehrbegründenden Angriffe gebe, die nicht gleichzeitig Angriffe auf die Person sind. Zum anderen, weil der Código Penal zweimal (nämlich bei den Angriffen auf das Eigentum und auf die Wohnung) definiert, was er unter rechtswidrigem Angriff versteht, und dabei körperliche Gewalt nicht erwähnt. Die herrschende Lehre und auch zahlreiche Urteile des Obersten Gerichtshofs (Tribunal Supremo) verzichten daher auf das Erfordernis eines körperlichen Angriffs und lassen die Notwehr auch zum Schutze anderer Rechtsgüter als Leben und körperliche Integrität zu. d) Die Frage, ob der rechtswidrige Angriff eine Unrechtshandlung in strafrechtlichem Sinne sein müsse oder ob seine allgemeine Rechtswidrigkeit genügt, ist von der spanischen Lehre, die in dieser Hinsicht der deutschen Rechtfertigung und Entschuldigung bei Befreiung aus Notlagen 73 folgt, dahin entschieden worden, daß die Rechtswidrigkeit anhand der gesamten Rechtsordnung zu bestimmen ist. Das würde aber bedeuten, daß auch gegen verwaltungs-, zivil- oder arbeitsrechtswidrige Handlungen Notwehr zulässig wäre. Demgegenüber bin ich der Meinung, daß in Notwehr nur solche Angriffe abgewehrt werden können, die eine tatbestandsmäßig-strafrechtswidrige Handlung darstellen. Dies ergibt sich daraus, daß die Begehung einer so schwerwiegenden Handlung wie einer Straftat nur dann gerechtfertigt werden kann, wenn sie zur Abwendung eines anderen Verbrechens erforderlich ist. Dazu kommt noch, daß der Código Penal in Art. 8 Nr. 4 Ziff. 1 von zwei Arten von Straftaten - nämlich Übertretungen gegen das Eigentum und Hausfriedensbruch durch Unterlassung - ausdrücklich sagt, daß sie nicht als rechtswidrige Angriffe im Sinne der Notwehrregelung gelten. Um so weniger können daher andere Verhaltensweisen, die nicht einmal das Schwereniveau einer Straftat erreicht haben, rechtswidrige Angriffe darstellen. e) Aus dem Wortlaut des Gesetzes ("um einen Angriff zu verhindern oder abzuwehren") läßt sich schließen, daß Notwehr dann nicht mehr angenommen werden kann, wenn der rechtswiderige Angriff vollendet ist. Ist also die Körper- oder die Eigentumsverletzung vollendet, so kann der Angegriffene sich nicht mehr auf Notwehr berufen; nimmt er den Angreifer fest, so handelt er dennoch nicht rechtswidrig, weil die Festnahme von einem weiteren Rechtfertigungsgrund gedeckt ist, nämlich von "der legitimen Ausübung eines Rechts" (Art. 8 Nr. 11 CP), denn Art. 490 Nr. 2 LECrim erlaubt jedem Bürger die Festnahme in flagranti ertappter Täter. Versucht der Erstangreifer, sich der Festnahme zu entziehen, so tritt zugunsten des auf der Grundlage des Art. 490 LECrim Handelnden Notwehr ein, weil die Festnahme keinen rechtswidrigen Angriff im Sinne des Art. 8 Nr. 4 Ziff. 1 CP bedeutet. f) Ein Teil der Lehre und der Rechtsprechung legt die gesetzliche Voraussetzung, daß die Erforderlichkeit des angewandten Mittels "vernunftgemäß" sein muß, im Sinne von "verhältnismäßig" aus; daraus folgert man, daß die in Notwehr verursachte Rechtsgutsverletzung nicht von größerem Gewicht sein dürfe als diejenige, die man zu vermeiden trachtet. Demgegenüber wird eingewendet, daß die Vorschrift des Art. 8 Nr. 4 unerklärlich wäre, wenn für die Notwehr der Grundsatz der (Interessen- oder Güter-)Abwägung gelte; denn dafür habe man schon die Notstandsregelung (Art. 8 Nr. 7), so daß es sich erübrigen würde, die Notwehr besonders zu regeln. Ich bin der Meinung, daß es bei der Notwehr in der Tat widersinnig wäre, wie 74 Enrique Gimbernat Ordeig beim Notstand eine Güterabwägung zu verlangen. Aber wenn Art. 8 Nr. 4 Ziff. 1 bei bestimmten geringfügigen Straftaten - Hausfriedensbruch durch Unterlassung, Übertretungen gegen das Eigentum - nur eine Rechtfertigung durch Notstand - und damit nach dem Maßstab der Verhältnismäßigkeit offen läßt, dann kann bei anderen Straftaten der Sprung doch nicht so groß sein, daß die Abwehrhandlung in keinem Verhältnis zum bedrohten Gut zu stehen braucht; insbesondere bin ich mit dem Urteil des Obersten Gerichtshofs vom 19.6.1989 der Meinung, daß aufgrund Art. 2 Abs. 2 Buchst. a MRK eine vorsätzliche Tötung nur dann von der Notwehr gedeckt ist, wenn der Angriff in einer Gewalthandlung besteht. g) In bezug auf die letzte Voraussetzung der Notwehr ("Fehlen einer hinreichenden Provokation seitens des Angegriffenen") ist aus Art. 8 Nr. 7 systematisch zu folgern, daß diese Provokation vorsätzlich sein muß. Allerdings bleibt auch dann der Angriff des Provozierten rechtswidrig: Daher kann ein Dritter den Provozierenden gegen den Provozierten in Notwehr schützen, unter der Voraussetzung, daß der verteidigende Dritte an der vorsätzlichen Provokation nicht teilgenommen hat. II. Notstand und Pflichtenkollision a) § 35 dt.StGB enthält eine Strafbefreiung, welche die deutsche Dogmatik nicht hat genügend erklären können. Nach der in Deutschland herrschenden Lehre handelt es sich um keinen Rechtfertigungs-, sondern um einen Entschuldigungsgrund, der die Schuld aufhebt. (Auch der deutsche Gesetzgeber spricht von einem "entschuldigenden" Notstand, wobei er die Grenzen seiner eigenen Zuständigkeiten verkennt: Der Gesetzgeber muß sich darauf beschränken, Sachverhalte zu regeln, aber er kann nicht in Anspruch nehmen, bei der Durchdringung abstrakter Fragen - wie dies bei der Unterscheidung zwischen Rechtswidrigkeit und Schuld der Fall ist - der Weisheit letzten Schluß aussprechen zu dürfen.) Die Schuld wird aber durch die "Vorwerfbarkeit", "Ansprechbarkeit" oder "Motivierbarkeit" des Täters gekennzeichnet, und man stimmt darin überein, daß bei vielen Notstandstaten des § 35 dt.StGB dem Täter seine Handlung vorzuwerfen ist - insoweit als er anders handeln konnte -, oder daß er durch die Norm sich hätte ansprechen oder motivieren lassen können. Es ist daher einfach nicht zu verstehen, warum aufgrund des § 35 dt.StGB Täter als schuldlos behandelt werden, bei denen man sich einig ist, daß sie doch schuldig sind. Auch die Berufung auf prä- Rechtfertigung und Entschuldigung bei Befreiung aus Notlagen 75 ventive Gesichtspunkte vermag nicht zu überzeugen. Denn es ist nicht einzusehen, weshalb der Gesetzgeber präventiv darauf verzichtet, auf die Unterlassung von Taten hinzuwirken, die er eindeutig mißbilligen sollte - sie sind ja rechtswidrig -, obwohl sie von Personen begangen werden, die von der Hemmungswirkung der Strafe durchaus ansprechbar sind und sich ganz genau überlegen können, ob sie die - angeblich präventiv nicht erwünschten Taten verwirklichen oder nicht. Für meine eigene Meinung verweise ich auf meinen Aufsatz in der Welzel-Festschrift: Auch bei dem "entschuldigenden" Notstand haben wir es mit einem Rechtfertigungsgrund zu tun, der sich aber von anderen Unrechtsausschließungsgründen dadurch unterscheidet, daß die Notstandstat nicht positiv bewertet wird. Das strafrechtmäßige Verhalten wird nicht dadurch gekennzeichnet, daß die Rechtsordnung es für wertvoll hält, sondern dadurch, daß darauf verzichtet wird, zu seiner Nichtbegehung mit einer Strafe zu motivieren - eine Auffassung, die viele Berührungspunkte zu Günthers Unterscheidung zwischen allgemeiner und strafrechtlicher Rechtswidrigkeit enthält. b) Nach Art. 8 Nr. 7 CP ist von strafrechtlicher Verantwortlichkeit befreit "wer in einer Notstandslage ein fremdes Rechtsgut oder eine Pflicht verletzt, um ein Übel von sich oder einem anderen abzuwenden, wenn folgende Bedingungen erfüllt sind: 1. Das verursachte Übel darf nicht größer sein als dasjenige, das man zu verhüten trachtet; 2. die Nostandslage darf nicht vorsätzlich von dem Täter herbeigeführt worden sein; 3. dem im Notstand Befindlichen darf aufgrund seines Berufes oder Amtes nicht die Pflicht obligen, sich zu opfern". Art. 8 Nr. 7 bezieht sich sowohl auf den Notstand im engeren Sinne als auch auf die Pflichtenkollision ("oder eine Pflicht verletzt"), auf den Notstand zur Abwendung eines Übels von sich selbst wie auch auf die Nothilfe ("Übel ... eines anderen") sowie auf den Konflikt zwischen ungleichwertigen wie auch zwischen gleichwertigen Rechtsgütern ("... daß das verursachte Übel nicht größer sei als dasjenige, das man zu verhüten trachtet"). c) Die in Spanien bis vor kurzem herrschende Lehre differenziert ebenfalls: Werde das geringere Gut zur Rettung eines höherwertigen geopfert, so stelle der Notstand einen Rechtfertigungsgrund dar; seien die im Konflikt stehenden Interessen gleichrangig, so werde nur die Schuld ausgeschlossen. 76 Enrique Gimbernat Ordeig Wie schon dargelegt, halte ich den Notstand - auch wenn die kollidierenden Güter gleichwertig sind - für einen Rechtfertigungsgrund. Daher ist auch in diesem Fall der Irrtum über das Vorliegen einer Notstandslage ein Irrtum über ein negatives Tatbestandselement; gegen die durch die Notstandslage legitimierte Handlung gibt es keine Notwehr, sondern wiederum nur Notstand, und schließlich bleibt die Teilnahme an der Notstandshandlung straflos. Die Ansicht, daß die Teilnahme an einer Tat, die durch einen Notstand, bei dem die kollidierenden Güter gleichwertig sind, strafbar sei, kann im spanischen Recht, wo die Nothilfe vorbehaltlos anerkannt wird, nicht richtig sein; denn es ist nicht zu verstehen, wieso die Haftung des Handelnden ausgeschlossen wird, wenn er als Haupttäter z.B. irgendeinen der beiden Schiffbrüchigen des Karneades-Falles eigenhändig tötet, und er dagegen doch als Teilnehmer bestraft werden soll, wenn er nicht so weit geht, sondern sich darauf beschränkt, einem der Lebensgefährdeten die Pistole zu reichen. d) Das "Übel", das im Notstand abgewandt werden darf, kann unter Umständen auch in einem rechtswidrigen Angriff bestehen, nämlich dann, wenn ausnahmsweise eine Straftat nicht einen rechtswidrigen Angriff im Sinne des Art. 8 Nr. 4 darstellt: Ein Hausfriedensbruch durch Unterlassen bzw. eine Übertretung gegen das Eigentum kann daher vom Betroffenen nur im Notstand - und daher nur unter Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes abgewehrt werden. Im übrigen muß das abzuwendende Übel entweder in der Verletzung eines verfassungsrechtlich verankerten Grundrechts oder eines strafrechtlich geschützten Rechtsgutes bestehen, da Art. 8 Nr. 7 ja die Begehung einer Straftat erlaubt und ansonsten gegen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz verstoßen werden würde. e) Zwei eng miteinander verknüpfte Sachverhalte sind in letzter Zeit in Spanien aktuell geworden. Die Rechtsprechung des Tribunal Supremo und des Tribunal Constitucional (Verfassungsgericht) hat sich zweimal in dem Sinne geäußert, daß durch Notstand die Verletzung der Glaubensfreiheit und der Freiheit überhaupt sowie der Intimität gerechtfertigt werde, wenn diese Verletzung erforderlich sei, um das Leben von Zeugen Jehovas zu retten, die sich weigern, bei einer Entbindung mit Komplikationen bzw. bei einer Operation einer Blutübertragung zuzustimmen. Aufgrund dieser Doktrin wurden zwei Strafanzeigen gegen zwei Richter, die die entsprechenden Blutübertragungen anordneten, wegen Freiheitsdelikten zurückgewiesen. Seit Monaten erleben wir in Spanien einen massiven Hungerstreik von über 50 Mitgliedern der terroristischen Vereinigung GRAPO, die damit ihre Zusammenlegung in Rechtfertigung und Entschuldigung bei Befreiung aus Notlagen 77 derselben Gefängnisanstalt erzwingen wollen; in dem Moment, in dem Lebensgefahr eingetreten ist, haben die meisten Vollzugsrichter Spaniens aufgrund des Art. 8 Nr. 7 die Zwangsernährung angeordnet. Nur wenige Vollzugsrichter hielten diese Zwangsernährung für rechtswidrig, aber deren Entscheidungen sind später von den zuständigen Berufungsgerichten aufgehoben worden. Die eben dargelegte Rechtsprechung in bezug auf die Zeugen Jehovas und auf die GRAPO-Mitglieder halte ich im Prinzip für richtig; denn auch wenn bei den entsprechenden richterlichen Zwangsmaßnahmen Grundrechte verletzt werden, geschieht dies, um den höheren Wert des Lebens zu retten. f) Noch ein aktueller Fall. In den letzten Jahren wurden von der baskischen terroristischen Organisation ETA zahlreiche erpresserische Menschenraube verübt, um sich auf diese Weise Geldmittel zu verschaffen. An den Verhandlungen über die Freilassung der Entführten haben oft Vermittler teilgenommen, deren Dienste manchmal von den Familien der Geisel mit erheblichen Summen belohnt wurden. Gegen keinen dieser Vermittler ist bisher Strafklage erhoben worden. Mit Recht. Denn, wie oben (I.b) dargelegt wurde, liegt hier ein Notstand vor: Zwar haben die Vermittler objektiv den Tatbestand der Unterstützung einer terroristischen Vereinigung (Art. 175 CP) erfüllt; gleichzeitig haben sie damit aber die höheren Rechtsgüter der Freiheit und - eventuell - des Lebens der Geisel gerettet. Die Frage, ob sie ihre Dienste aus humanitären Gründen oder nur der Belohnung wegen geleistet haben, ist völlig irrelevant, denn - wie wir gesehen haben - der Notstand erfordert als subjektives Rechtfertigungselement keinen Rettungswillen. Bei den Ermittlungen nach der Entführung des später gegen ein sehr großes Lösegeld freigelassenen Industriellen Emiliano Revilla hat vor wenigen Wochen der zuständige Richter zum erstenmal zwischen den verschiedenen Vermittlern differenziert, je nachdem, ob sie ihre Tätigkeit gegen Belohnung dann liege kein Notstand vor - oder umsonst - dann sei die Tat gerechtfertigt geleistet haben. Diese Differenzierung entbehrt meines Erachtens jeder gesetzlichen Grundlage. Anders wäre natürlich zu entscheiden, wenn die Beschuldigten vor der Entführung mit der ETA verabredet hätten, nach der Begehung des Menschenraubes als Vermittler für die Hingabe des Lösegeldes zu agieren, denn dann hätten sie sich wegen Teilnahme an einem Menschenraub strafbar gemacht. 78 Enrique Gimbernat Ordeig g) Zum Schluß noch einige Hinweise zur provozierten Notstandslage. Das Tribunal Supremo hat wiederholt die Meinung vertreten, daß bei fahrlässigen Delikten der Notstand keine strafbefreiende Rolle spiele. Diese Doktrin ist aufgestellt worden, um folgender Fallgruppe gerecht zu werden: Aufgrund einer vorherigen unvorsichtigen Fahrweise - z.B. ein Kraftfahrer fährt weiter, obgleich er sich bewußt ist, daß die Bremsen nur mangelhaft funktionieren gerät der Täter in eine Situation, in der er, um etwa einen Frontalzusammenstoß zu verhindern, das Fahrzeug gegen ein anderes parkendes Auto lenkt, wobei dessen Insassen Körperverletzungen erleiden und das Auto beschädigt wird. Die Rechtsprechung betrachtet diese Fälle als fahrlässige Körperverletzung und Sachbeschädigung: Der Einwand des Fahrers, daß er sich doch in einem Notstand befunden habe, wird mit der Begründung zurückgewiesen, daß bei fahrlässigen Delikten der Notstand keine Anwendung finde. Diese Rechtsprechung überzeugt im Ergebnis, aber nicht in der Begründung. In diesen Fällen ist zu unterscheiden: In bezug auf die Körperverletzungen und Sachbeschädigungen haben wir es zunächst einmal mit einer vorsätzlichen - und nicht, wie das Tribunal Supremo annimmt, mit einer fahrlässigen Straftat zu tun - denn der Fahrer lenkt ja sein Fahrzeug bewußt gegen das haltende Auto - , die durch Notstand insoweit gerechtfertigt werden, als alle Erfordernisse des Art. 8 Nr. 7 vorhanden sind. Mit den eingetretenen Rechtsgutsverletzungen ist ein größeres Übel - der Frontalzusammenstoß - verhindert worden, und obgleich eine Provokation der Notstandslage seitens des Täters vorliegt, ist diese nur fahrlässig und nicht vorsätzlich, wie dies Art. 8 Nr. 7 für den Ausschluß der Strafbefreiung fordert. Der Täter kann also wegen der von ihm begangenen vorsätzlichen Körperverletzung und der Sachbeschädigung nicht haften. Der Unfall ist aber auf ein vorheriges, allerdings fahrlässiges Verhalten zurückzuführen, bei welchem es für den Fahrer vorhersehbar war, daß es zu einer Notstandssituation kommen konnte, in der schutzwürdige Rechtsgüter in Konflikt treten. Da das Recht daran interessiert ist, Notstandssituationen zu verhindern, in denen es keinen anderen Ausweg gibt, als ein schutzwürdiges Rechtsgut zur Rettung eines anderen zu opfern, kann die fahrlässige Provozierung von Notstandssituationen aus generalpräventiven Gründen nicht straflos bleiben. Der Täter haftet aber nicht für das, was er am Ende in einer Notstandssituation (vorsätzlich) begangen hat, sondern für das, was er am Anfang (fahrlässig) tat: eine vermeidbare Notstandslage unnötigerweise hervorzurufen. RECHTFERTIGUNG UND ENTSCHULDIGUNG BEI BEFREIUNG AUS BESONDEREN NOTLAGEN (NOTWEHR, NOTSTAND, PFLICHTENKOLLISION) IM DEUTSCHEN STRAFRECHT Walter Perron, Freiburg i.Br. I. Einführung Notwehr und Notstand beschäftigen die Rechtswissenschaft schon seit der Antike,1 werfen aber auch in der Aktualität immer wieder neue, drängende Fragen auf.2 Insbesondere ist anhand der Notstandsproblematik zu Beginn dieses Jahrhunderts in Deutschland die Differenzierung zwischen Rechtfertigung und Entschuldigung herausgearbeitet worden, welche Theorie und Praxis erst in die Lage versetzte, das verworrene Geflecht der unterschiedlichen einschlägigen Gesetzesvorschriften und theoretischen Konzeptionen aufzulösen und in ein einigermaßen widerspruchsfreies, allseits akzeptiertes System zu integrieren.3 Der folgende Beitrag stellt die wichtigsten Rechtfertigungs- und Entschuldigungsgründe des deutschen Rechts aus diesem Bereich vor und versucht, ihre wesentlichen Strukturmerkmale herauszuarbeiten. Unberücksichtigt bleiben - neben speziellen Notstandsregelungen, beispielsweise den Indikationen zum Schwangerschaftsabbruch des § 218a dt.StGB insbesondere auch dogmatische Sonderkonstruktionen im Bereich zwischen 1 2 3 Vgl. Jescheck, Lehrbuch des Strafrechts, Allgemeiner Teil, 4. Aufl. Berlin 1988, §§ 32 I 1, 33 I 1; Spendel, in: Strafgesetzbuch, Leipziger Kommentar, 10. Aufl. Berlin, New York 1978 ff. (= LK), § 32 Rdn. 15 ff. So etwa bei der Notwehr der tödliche Gebrauch von Schußwaffen (vgl. BGH NStZ 1987, 172; LG München I NJW 1988, 1860, mit Besprechungen von Beulke, Jura 1988, 641 ff.; Mitsch, JA 1989, 79 ff.; Puppe, JZ 1989, 728 ff.; Schroeder, JZ 1988, 567 f.); beim Notstand beispielsweise Fälle im Zusammenhang mit AIDS (vgl. StA Mainz NJW 1987, 2946; GStA Celle NJW 1988, 2395; LG Braunschweig NJW 1990, 770; LG Dortmund bei Sonnen, JA 1990, 211). Eingehend zur jüngeren Entwicklungsgeschichte Küper, in: Eser/Fletcher (Hrsg.), Rechtfertigung und Entschuldigung, Rechtsvergleichende Perspektiven, Band I, Freiburg 1987, S. 324 ff. 80 Walter Perron Rechtfertigung und Entschuldigung, wie etwa die Strafrechtswidrigkeitslehre von Günther,4 die in der Gegenwart vor allem von Arthur Kaufmann vertretene Lehre vom rechtsfreien Raum5 oder Maurachs Lehre von der Tatverantwortung.6 Diese bieten einerseits in weiten Bereichen lediglich neue Kategorien für die als problematisch empfundene systematische Einordnung einzelner, allgemein anerkannter Rechtfertigungs- oder Entschuldigungsgründe in den herkömmlichen Verbrechensaufbau an, ohne deren inhaltliche Ausgestaltung entscheidend zu verändern;7 soweit sie andererseits neue Strafausschließungsgründe vorschlagen, haben sie sich damit noch nicht durchsetzen können.8 II. Die Wesenszüge der einzelnen Rechtfertigungs- und Entschuldigungsgründe 1. Allgemeine Prinzipien Notwehr, Notstand und Pflichtenkollision betreffen im Kern individuelle Notsituationen, in denen rechtlich geschützte Güter und Interessen einzelner Personen dergestalt in Kollision geraten, daß die Rettung oder Bewahrung der einen Seite nur durch Gefährdung oder Verletzung der anderen Seite möglich erscheint. Zwar werden hierbei durchaus auch Interessen der Allgemeinheit mittel- oder unmittelbar berührt, und einzelne dieser Rechtfertigungs- und Entschuldigungsgründe sind sogar auf den Schutz überindivi4 5 6 7 8 Grundlegend seine Monographie "Strafrechtswidrigkeit und Strafunrechtsausschluß", Köln 1983. Siehe auch derselbe, in: Eser/Fletcher (Anm. 3), I, S. 363 ff. Näher dazu in diesem Band Hirsch, S. 35. Maurach-FS, 1972, S. 327 ff. Vgl. dazu auch Günther, Strafrechtswidrigkeit (Anm. 4), S. 262 f.; Hirsch, in: LK, vor § 32 Rdn. 16 f., sowie in diesem Band, S. 40. Vgl. Maurach/Zipf, Strafrecht, Allgemeiner Teil, Teilband 1, 7. Aufl. Heidelberg 1987, §§ 31 ff. Näher dazu in diesem Band Hirsch, S. 42. So zieht Arthur Kaufmann, Maurach-FS, 1972, S. 338 ff., die Lehre vom rechtsfreien Raum insbesondere für die Erklärung der Rechtsnatur der Indikationen zum Schwangerschaftsabbruch heran; insoweit entsprechend auch Günther, Strafrechtswidrigkeit (Anm. 4), S. 314 ff.: echter Strafunrechtsausschließungsgrund. Die Lehre von der Tatverantwortung dient der dogmatischen Erklärung der §§ 33 und 35 dt.StGB (vgl. Maurach/Zipf, AT 1, § 31 I Rdn. 3; allerdings werden dann a.a.O., § 32, von der herrschenden Ansicht abweichende praktische Konsequenzen daraus gezogen). So etwa Günthers Konstruktionen der "notwehrähnlichen Lage" und "notstandsähnlichen Lage" als "echte Strafunrechtsausschließungsgründe" (Strafrechtswidrigkeit [Anm. 4], S. 324 ff.). Vgl. dazu die Kritik von Roxin, Oehler-FS, 1985, S. 181 ff.; Lenckner, in: Schönke/Schröder, Strafgesetzbuch, Kommentar, 24. Aufl. München 1991 (= S/S), vor § 32 Rdn. 8. Rechtfertigung und Entschuldigung bei Befreiung aus Notlagen 81 dueller Güter oder auf das hoheitliche Handeln staatlicher Organe ausgedehnt worden.9 In den beiden letztgenannten Fällen dürfte es sich jedoch eher um analoge Ausweitungen handeln, mit denen offensichtliche Lücken im - für derartige Aufgaben primär zuständigen - öffentlich-rechtlichen Normengeflecht geschlossen werden sollen, als um fundamentale Neuorientierungen dieser traditionell-individualistisch verstandenen Rechtfertigungs- und Entschuldigungsgründe.10 Auf der Rechtfertigungsebene, auf der die normativen Anforderungen an das Verhalten der einzelnen Bürger insbesondere auch in solchen Konfliktsituationen festgelegt werden müssen, geht es daher nicht nur um die Frage, welche der kollidierenden individuellen Güter und Interessen im konkreten Fall vorzugswürdig sind, sondern auch darum, ob der Betroffene diese eigenhändig mit Gewalt durchsetzen und dabei Güter des Kontrahenten verletzen darf oder vielmehr die Gefährdung oder Beeinträchtigung hinnehmen und gegebenenfalls einen anderen Ausgleich in dafür vorgesehenen, staatlich kanalisierten Verfahren suchen muß.11 Durch die individuellen Notrechte wird das staatliche Gewaltmonopol nämlich gerade in solchen Fällen eingeschränkt, in denen es wegen der Schärfe der Konflikte in besonderem Maße gefordert wäre, den Kampf aller gegen alle zu verhindern und ein für alle Seiten akzeptables Verfahren der Konfliktlösung bereitzustellen. Die allgemein gebräuchliche Formulierung, daß die Rechtfertigung wegen Notwehr oder Notstand auf dem Prinzip des überwiegenden Interesses beruht,12 steht zu dieser Erkenntnis zwar nicht in Widerspruch, weil bei der Interessenabwägung auch das Interesse der Allgemeinheit an der Einhaltung der staatlich vorgesehenen Konfliktlösungsverfahren auf die Waagschale zu legen ist.13 Gleichwohl erscheint es - wie noch näher zu zeigen sein wird zweckmäßig, bei den individuellen Notrechten die Abwägung der im konkreten Bürger-Bürger-Verhältnis kollidierenden Güter und Interessen von der Frage des Verzichts auf das Gewaltmonopol im Staat-Bürger-Verhältnis klar zu trennen. 9 10 11 12 13 Vgl. nur die Übersichten bei LK-Hirsch, § 34 Rdn. 5 ff.; S/S-Lenckner, § 32 Rdn. 6 ff., 42 ff., § 34 Rdn. 7, 10 f.; LK-Spendel, § 32 Rdn. 147 ff., 263 ff. Auf eine nähere Darstellung dieser Sonderproblematiken wird daher verzichtet. Siehe dazu etwa Fuchs, Grundfragen der Notwehr, Wien 1986, S. 64 ff.; Jakobs, Strafrecht, Allgemeiner Teil, Berlin, New York 1983, 12/1 f. Grundlegend Lenckner, Der rechtfertigende Notstand, Tübingen 1965, S. 135 ff. Vgl. nur Lenckner (Anm. 12), S. 128, sowie in: S/S, § 34 Rdn. 40 ff. 82 Walter Perron Auf der Entschuldigungsebene geht es dagegen nicht um die Gewährung von Handlungsbefugnissen, sondern "nur" darum, eine zwar rechtswidrige, aber menschlich begreifliche Tat von der Sanktionierung und Stigmatisierung mit dem sozialethischen Unwerturteil der strafrechtlichen "Schuld" auszunehmen.14 Schon diese wenig aussagekräftige Formulierung, mit der die verschiedenen Entschuldigungstheorien auf einen gemeinsamen Nenner gebracht werden sollen, zeigt, daß die grundlegende Ratio und die maßgeblichen Prinzipien der auf individuelle Notlagen gestützten Entschuldigungsgründe nach wie vor nicht befriedigend geklärt sind. Tatsächlich stand bei der Differenzierung zwischen Rechtfertigung und Entschuldigung in diesem Bereich wohl eher das Bemühen im Vordergrund, die - bis 1975 gesetzlich nicht näher bestimmten - Grenzen der Notrechte festzulegen, während man die Entschuldigungsgründe nach dem Niedergang der Unzumutbarkeitslehre mit wesentlich geringerer Aufmerksamkeit bedachte.15 Eine nähere Betrachtung der wissenschaftlichen Entschuldigungstheorien16 und der einzelnen Entschuldigungsgründe zeigt, daß mindestens drei verschiedene Wertungsprinzipien eine Rolle spielen. Die verbrechenssystematische Ansiedlung im Bereich der Schuld lenkte die Aufmerksamkeit zuerst auf den Gesichtspunkt der individuellen Not,17 welche entweder psychologisierend in die Nähe der Schuldunfähigkeit gestellt18 oder normativierend - insbesondere über die Begriffe der "Unzumutbarkeit" und des "durchschnittlichen Könnens" - als allgemeine Grenze der normativen Ansprechbarkeit anerkannt wurde.19 Freilich kann damit weder der fragmentarische Charakter der gesetzlichen Regelung des entschuldigenden Notstands noch der vollständige Verzicht auf den individuellen 14 15 16 17 18 19 Vgl. Perron, Rechtfertigung und Entschuldigung im deutschen und spanischen Recht, Baden-Baden 1988, S. 89 f. Vgl. etwa Küper, in: Eser/Fletcher (Anm. 3), I, S. 335 f. Siehe auch Bernsmann, "Entschuldigung" durch Notstand, Köln 1989, S. 18. Eingehend dazu Bernsmann (Anm. 15), S. 174 ff. Siehe auch Perron (Anm. 14), S. 89 ff., 112 ff. Vgl. Küper, in: Eser/Fletcher (Anm. 3), I, S. 329 ff. So bereits Feuerbach, Lehrbuch des gemeinen in Deutschland gültigen Peinlichen Rechts, 14. Aufl. Gießen 1847, §§ 88, 91. Siehe auch Brauneck, GA 1959, 269. Näher dazu Bernsmann (Anm. 15), S. 178, m.w.N. in Fn. 21. Vgl. etwa Freudenthal, Schuld und Vorwurf, Tübingen 1922; sowie den historischen Überblick bei Achenbach, Historische und dogmatische Grundlagen der strafrechtssystematischen Schuldlehre, Berlin 1974, S. 143 ff. Aktuelle Vertreter dieser Auffassung sind beispielsweise Maurach/Zipf, AT 1, § 31 I Rdn. 1 ff.; siehe auch in diesem Band Hirsch, S. 49. Näher zum ganzen Bernsmann (Anm. 15), S. 185 ff. Rechtfertigung und Entschuldigung bei Befreiung aus Notlagen 83 Nachweis einer konkreten Mindeststärke des Motivationsdrucks erklärt werden. Eine neuere - und inzwischen fast als herrschend anzusehende - Richtung in der Wissenschaft räumt daher ein, daß die "Schuld" im engeren Sinne in derartigen Fällen nicht notwendig ausgeschlossen sei, sondern der Täter wegen des geringen Gesamtunwerts seiner Tat lediglich "entschuldigt" werde. Neben der - nach wie vor anerkannten - Schuldrelevanz wegen des psychischen Motivationsdrucks stützt sich diese Auffassung insbesondere auch auf eine starke Herabsetzung des (Handlungs- und Erfolgs-)Unrechts, welche sich schon daraus ergibt, daß in allen diesen Entschuldigungsfällen die Anforderungen an die Rechtfertigung nur knapp verfehlt werden.20 Auch damit ist aber noch nicht ausreichend erklärt, warum beispielsweise der entschuldigende Notstand des § 35 dt.StGB auf bestimmte Rechtsgüter beschränkt und nicht entsprechend dem rechtfertigenden Notstand des § 34 dt.StGB als Entschuldigungsgeneralklausel wegen starker Unrechts- und Schuldminderung ausgestaltet ist. Der Grund dieser Restriktion dürfte vielmehr darin liegen, daß die Entschuldigungsgründe in einer von den Rechtfertigungsgründen kaum zu unterscheidenden, generalisierenden Form Handlungen von der Bestrafung ausnehmen, die nach den Maßstäben des Rechts gerade nicht vorgenommen werden dürfen und gegen die sich das Eingriffsopfer unter Berufung auf das Notwehrrecht sogar eigenhändig verteidigen darf. Würden die Entschuldigungsgründe zu großzügig ausgestaltet, so könnten sie als eine zweite Stufe rechtlicher Verhaltensbefugnis mißverstanden werden, die zwar eine Tat nicht "rechtfertigt", aber doch ausdrücklich und kalkulierbar von der Sanktionierung ausnimmt und damit nicht mehr auf der Durchsetzung der tatbestandlichen Verbotsnorm beharrt. Die Entschuldigungsgründe müssen deshalb auf solche Anwendungsbereiche beschränkt bleiben, welche entweder schon aus sich heraus oder jedenfalls wegen ihrer geringen praktischen Relevanz nur als singuläre Ausnahmefälle aufgefaßt werden können und die allgemeine Präventivkraft der betroffenen Normen unberührt lassen. Insbesondere zielen neuerdings in diese Richtung die von Roxin und Jakobs vertretenen präventionsorientierten Entschuldigungstheorien.21 Auch diese Theorien beruhen allerdings 20 21 Vgl. etwa Lenckner (Anm. 12), S. 35 ff., sowie in: S/S, vor § 32 Rdn. 111 m.w.N. Eingehend dazu Bernsmann (Anm. 15), S. 204 ff. Vgl. Roxin, Kriminalpolitik und Strafrechtssystem, 2. Aufl. Berlin, New York 1973, S. 33; derselbe, Henkel-FS, 1974, S. 183 ff.; derselbe, Bockelmann-FS, 1979, S. 282 ff.; 84 Walter Perron auf der Annahme, daß der Wegfall des Präventionsbedürfnisses zunächst einmal eine drastische Herabsetzung des Tatunwertgehalts sowohl auf der objektiven Unrechtsebene als auch insbesondere auf der Ebene der subjektiven normativen Ansprechbarkeit voraussetzt,22 so daß letztlich alle drei Gesichtspunkte gleichermaßen zutreffen müssen.23 2. Notwehr a) Der in der Gerichtspraxis wohl am häufigsten zu erörternde Fall einer Notsituation ist die Notwehr, die eine tatbestandsmäßige Handlung gemäß § 32 dt.StGB24 rechtfertigen oder - als Notwehrexzeß - gemäß § 33 dt.StGB25 entschuldigen kann. Voraussetzung ist nach dem Gesetz ein "gegenwärtiger26 rechtswidriger Angriff", d.h. ein menschliches Verhalten, welches in einer in Widerspruch zur Rechtsordnung stehenden Weise rechtlich geschützte Güter unmittelbar bedroht.27 Da bei der Notwehr sowohl die Rechtfertigungs- als auch die Entschuldigungsmöglichkeiten sehr viel weiter reichen als beim Notstand, kommt es vor allem darauf an, die Voraussetzungen der Notwehrlage möglichst eingehend zu präzisieren. Die allgemeine Auffassung neigt hier teilweise zu einer bemerkenswerten Großzügigkeit, wobei im einzelnen freilich vieles umstrit- 22 23 24 25 26 27 derselbe, in: Eser/Fletcher (Anm. 3), I, S. 236 ff.; derselbe, JA 1990, 97 ff.; Jakobs, AT, 17/69 ff. Näher dazu Bernsmann (Anm. 15), S. 213 ff.; sowie in diesem Band Hirsch, S. 43 f. Roxin, in: Eser/Fletcher (Anm. 3), I, S. 237, und Jakobs, AT, 17/69, beziehen sich insoweit allerdings nur auf die Herabsetzung der normativen Ansprechbarkeit. Vgl. Rudolphi, in: Systematischer Kommentar zum Strafgesetzbuch, Band 1, Allgemeiner Teil, 5. Aufl. Stand: 13. Lieferung (November 1990), Frankfurt 1990 (=SK), § 35 Rdn. 4; Schmidhäuser, Strafrecht, Allgemeiner Teil, Studienbuch, 2. Aufl. Tübingen 1984, 8/1 (allerdings ohne Erwähnung der Unrechtsminderung). Siehe auch Perron, (Anm. 14), S. 113. § 32 dt.StGB lautet: "Notwehr. (1) Wer eine Tat begeht, die durch Notwehr geboten ist, handelt nicht rechtswidrig. (2) Notwehr ist die Verteidigung, die erforderlich ist, um einen gegenwärtigen rechtswidrigen Angriff von sich oder einem anderen abzuwenden." § 33 dt.StGB lautet: "Überschreitung der Notwehr. Überschreitet der Täter die Grenzen der Notwehr aus Verwirrung, Furcht oder Schrecken, so wird er nicht bestraft." Ob eine Entschuldigung durch Notwehrexzeß auch bei noch nicht oder nicht mehr gegenwärtigen Angriffen möglich ist, wird sogleich im Text angesprochen . Der Angriff muß nach ganz herrschender Ansicht tatsächlich vorliegen; ansonsten kommt nur Putativnotwehr in Betracht, die nach den Regeln des Erlaubnistatbestandsirrtums (dazu in diesem Band Frisch, S. 247 ff.), behandelt wird. Vgl. S/S-Lenckner, § 32 Rdn. 27 f. Rechtfertigung und Entschuldigung bei Befreiung aus Notlagen 85 ten ist. So werden als "Angriff" nicht nur unmittelbare physische Aggressionen gegen die Person angesehen, sondern auch abstraktere Formen der Bedrohung anderer Rechtsgüter wie beispielsweise unbefugtes Fotografieren (Angriff gegen das Recht am eigenen Bild)28 oder gar schon ein pflichtwidriges Unterlassen.29 Auch bei der Frage, wann ein Angriff als "rechtswidrig" einzustufen ist, will eine verbreitete Meinung es bereits genügen lassen, daß der Angegriffene nicht zur Duldung der Gefährdung oder Verletzung seiner Güter verpflichtet ist, auch wenn dem Angreifer nicht einmal Fahrlässigkeit zur Last gelegt werden kann.30 Die inzwischen wohl herrschende Auffassung verlangt dagegen, daß der Angreifer Verhaltensunrecht verwirklicht,31 und eine neuere Richtung will aus teleologisch-systematischen Erwägungen gar nur schuldhafte Angriffe in den Bereich der Notwehr aufnehmen.32 Übereinstimmend restriktiv wird schließlich das Merkmal der "Gegenwärtigkeit" des Angriffs bestimmt,33 so daß präventive Abwehrhandlungen, sofern sie nicht erst bei oder unmittelbar vor dem Beginn der Aggression vorgenommen werden, ebenso aus dem Anwendungsbereich der Notwehr herausfallen34 wie etwa die gewaltsame Rücknahme einer gestohlenen Sache, wenn der Dieb seine Beute zwischenzeitlich bereits gesichert hatte.35 Freilich dürfen diese Streitfragen um das Ausmaß der notwehrfähigen Situationen nicht isoliert betrachtet werden. Die Rechtsprechung und diejenigen Autoren, welche hier großzügiger sind, kompensieren dies insbesondere auf der Rechtfertigungsebene regelmäßig durch entsprechende Einschrän28 29 30 31 32 33 34 35 Vgl. etwa OLG Karlsruhe NStZ 1982, 123; S/S-Lenckner, § 32 Rdn. 5a. Vgl. nur S/S-Lenckner, § 32 Rdn. 10 ff.; LK-Spendel, § 32 Rdn. 46 ff., beide m.w.N. Etwa LK-Spendel, § 32 Rdn. 57 m.w.N. Etwa Hirsch, Dreher-FS, 1977, S. 222 ff.; S/S-Lenckner, § 32 Rdn. 19 ff. m.w.N. Etwa Hruschka, Strafrecht nach logisch-analytischer Methode, 2. Aufl. Berlin, New York 1988, S. 139 ff.; Jakobs, AT, 12/16 ff. Vgl. etwa Jescheck, AT, § 32 II 1 d; sowie eingehend Roxin, Tjong-GS, 1985, S. 137 ff. Die Situation der Präventivabwehr wird zumeist als "notwehrähnliche Lage" bezeichnet, deren Lösung sich nach der herrschenden Lehre nach den Regeln des rechtfertigenden (Defensiv-)Notstands richtet (vgl. S/S-Lenckner, § 32 Rdn. 17; LK-Spendel, § 32 Rdn. 126 ff. - Siehe aber auch Suppert, Studien zur Notwehr und "notwehrähnlichen Lage, Bonn 1973, S. 371 ff.; sowie Günther, Strafrechtswidrigkeit [Anm. 4], S. 328 ff.). In der Rechtsprechung hatte BGHZ 27, 284, 289, zwar die Möglichkeit einer analogen Ausdehnung der Notwehr in Betracht gezogen, doch stellt BGH NStZ 1982, 254, 255 insoweit klar, daß hierbei die Interessenabwägungsgrundsätze des § 34 dt.StGB heranzuziehen seien. Hierbei kann die Tat jedoch nach § 229 dt.BGB als zivilrechtliche Selbsthilfe gerechtfertigt sein, wenn die Gefahr besteht, daß die Sache vor dem Herbeirufen der Polizei deren Zugriff entzogen werden könnte. 86 Walter Perron kungen der Verteidigungsbefugnisse,36 während umgekehrt die Verfechter einer prinzipiellen Beschränkung schon der Notwehrlage in den problematischen Fällen statt dessen auf eine eigenständige Figur des Defensivnotstands ausweichen, welche gegenüber der allgemeinen Notstandsvorschrift des § 34 dt.StGB wesentlich weiterreichende Gefahrabwendungsbefugnisse einräumt.37 Die Auswirkungen derartiger Verschiebungen auf der Entschuldigungsebene werden allerdings kaum erörtert. b) Die Großzügigkeit des deutschen Notwehrrechts zeigt sich insbesondere auf der Rechtfertigungsebene. Nach dem Gesetzeswortlaut darf der Angegriffene (oder sein Nothelfer) alles tun, was zur Verteidigung erforderlich ist. Er muß sich weder auf etwaige Möglichkeiten, dem Angriff auszuweichen oder durch Flucht zu entgehen, noch auf weniger scharfe, aber unsicherere Abwehrmittel verweisen lassen,38 und Proportionalitätserwägungen zwischen dem angegriffenen und dem durch die Verteidigungshandlung beeinträchtigten Gut spielen grundsätzlich keine Rolle.39 Allerdings wurden im Laufe der Zeit zunehmend Einschränkungen anerkannt.40 Gegenüber schuldlos Handelnden und Personen, denen er aufgrund enger familiärer oder ähnlicher Beziehungen zu besonderer Rücksichtnahme verpflichtet ist, sowie im Fall der Notwehrprovokation muß der Angegriffene erhebliche Abstriche bei der Wahl seiner Verteidigungsmittel hinnehmen oder bei weniger bedrohlichen Angriffen gar, wie generell bei grobem Mißverhältnis zwischen angegriffenem und durch die Verteidigung beeinträchtigtem Gut, ganz auf eine Abwehr verzichten und sich notfalls mit dem Verlust seiner Güter abfinden.41 Die Gründe für diese großzügige gesetzliche Ausgestaltung wie auch ihre sukzessive Einschränkung durch die Rechtsprechung und Wissenschaft er36 37 38 39 40 41 Siehe die Nachweise in Anm. 40 und 41. Vgl. etwa Hruschka (Anm. 32), S. 144 ("Ergänzungsverhältnis zwischen dem Notwehrrecht und der Defensivnotstandsbefugnis"); Jakobs, AT, 12/18. Vgl. etwa BGH NJW 1980, 2263; sowie die Nachweise bei S/S-Lenckner, § 32 Rdn. 40. Vgl. nur S/S-Lenckner, § 32 Rdn. 34 m.w.N., insbesondere auch zur Rechtsprechung. Jescheck, AT, § 32 III 1, bezeichnet die "moderne Entwicklung des Notwehrrechts" als "Geschichte seiner sozialethisch begründeten Einschränkungen". Zur hier nicht weiter erwähnten Streitfrage, ob § 32 dt.StGB außerdem durch Art. 2 EMRK eingeschränkt wird, vgl. S/S-Lenckner, § 32 Rdn. 62 m.w.N. Vgl. etwa die Darstellungen bei Jescheck, AT, § 32 III 3; S/S-Lenckner, § 32 Rdn. 43 ff.; Roxin, ZStW 93 (1981), S. 68 ff. Rechtfertigung und Entschuldigung bei Befreiung aus Notlagen 87 geben sich aus den bereits angeführten allgemeinen Rechtfertigungsgrundsätzen. Im Bürger-Bürger-Verhältnis kann der Angegriffene entsprechend § 1004 dt.BGB die sofortige Beendigung bzw. Unterlassung des rechtswidrigen Angriffs verlangen, ohne daß es auf Proportionalitätserwägungen oder ein persönliches Verschulden des Angreifers ankäme.42 Kommt der Angreifer dieser Unterlassungspflicht nicht nach, so hängt die Verteidigungsbefugnis des Angegriffenen allein davon ab, ob und in welchem Umfang der Staat auf sein Gewaltmonopol verzichtet und dem Angegriffenen die eigenhändige, gewaltsame Durchsetzung seiner Rechte gestattet. Hierbei spielen nach allgemeiner Auffassung zwei verschiedene Gesichtspunkte eine Rolle: das Selbstschutzinteresse des Angegriffenen einerseits und das allgemeine Interesse an der Bewährung des Rechts gegenüber dem rechtswidrigen Angreifer andererseits.43 Das Selbstschutzinteresse rechtfertigt jedenfalls insoweit eine Gewaltermächtigung, als der Staat dem Angegriffenen in der Notwehrsituation die Durchsetzung seiner zivilrechtlichen Unterlassungsansprüche (durch Polizei und Gerichte) gerade nicht mehr garantieren kann und ihm deshalb zumindest die Möglichkeit offenlassen muß, sich durch eigene Geschicklichkeit und Stärke selbst zu retten. Eine darauf gestützte Verteidigungsbefugnis wird aber dann problematisch, wenn der Angegriffene sich dem Angriff auch durch Ausweichen entziehen könnte und eine aktive Verteidigung nur noch zur Wahrung der Rechtsposition als solcher, nicht aber der durch diese geschützten Güter erforderlich ist. Sie läßt sich auch in solchen Fällen jedoch auf den Gesichtspunkt der Rechtsbewährung stützen, da die Allgemeinheit ein Interesse daran hat, illegale Aggressionen prinzipiell zu unterbinden, 42 43 § 1004 dt.BGB lautet: "(1) Wird das Eigentum in anderer Weise als durch Entziehung oder Vorenthaltung des Besitzes beeinträchtigt, so kann der Eigentümer von dem Störer die Beseitigung der Beeinträchtigung verlangen. Sind weitere Beeinträchtigungen zu besorgen, so kann der Eigentümer auf Unterlassung klagen. (2) Der Anspruch ist ausgeschlossen, wenn der Eigentümer zur Duldung verpflichtet ist." Von der Rechtsprechung wird die Vorschrift in entsprechender Anwendung auf alle anderen Rechtsgüter und rechtlich geschützte Interessen sowie auch auf vorbeugende Unterlassungsansprüche gegen erst drohende Beeinträchtigungen ausgedehnt. Vgl. Bassenge, in: Palandt, Bürgerliches Gesetzbuch, 50. Aufl. München 1991, § 1004 Rdn. 2, 27; Gursky, in: Staudinger, Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch, 12. Aufl. §§ 937-1011; ErbbVO, Berlin 1989, § 1004 Rdn. 6, 150 ff. Vgl. etwa BGHSt 24, 356, 359; Maurach/Zipf, AT 1, § 26 I. Die Begründung des Notwehrrechts aus individual- und sozialethischen Wurzeln gehört freilich zu den umstrittensten Fragen der deutschen Strafrechtsdogmatik (Nachweise zum Streitstand bei S/SLenckner, § 32 Rdn. 1a). 88 Walter Perron und dem Angegriffenen deshalb das Recht einräumt, pro magistratu dieses öffentliche Interesse wahrzunehmen. Auch die anerkannten Einschränkungen der Notwehrbefugnis lassen sich teilweise auf das Zusammenspiel von Selbstschutz und Rechtsbewährung zurückführen.44 So ist gegenüber schuldlos handelnden Angreifern regelmäßig keine Rechtsbewährung erforderlich, weshalb die Verteidigungsbefugnis hier auf das durch das Selbstschutzinteresse legitimierte Maß reduziert wird.45 Im Falle der Notwehrprovokation sind sowohl das Rechtsbewährungsinteresse als auch die Notwendigkeit der Respektierung des Selbstschutzinteresses eingeschränkt, weil der Angegriffene die Entstehung der Konfliktlage, die überhaupt erst den Verzicht auf das staatliche Gewaltmonopol erforderlich macht, mitzuverantworten hat.46 Die weiteren Beschränkungen (Notwehr gegen Angehörige, grobes Mißverhältnis zwischen angegriffenem und durch die Verteidigung beeinträchtigtem Gut) beruhen allerdings auf anderen Erwägungen, nämlich auf besonderen Solidaritätspflichten gegenüber Angehörigen und sonst nahestehenden Personen47 sowie auf der gegenüber jedermann bestehenden allgemeinen Pflicht zur Wahrung einer Mindestsolidarität,48 die auch der Staat bei der Gewährleistung der Durchsetzbarkeit privater Ansprüche in gerichtlichen Verfahren berücksichtigen muß, beispielsweise durch die Schuldnerschutzvorschriften im Rahmen der Zwangsvollstreckung.49 c) Abgesehen von den Einschränkungen in Sonderfällen stellt jedoch das Merkmal der Erforderlichkeit die wichtigste Grenze der Verteidigungsbefugnisse in einer bestehenden Notwehrlage dar. Genau an dieser Grenze setzt auch die Entschuldigung wegen Notwehr ein. § 33 dt.StGB läßt den 44 45 46 47 48 49 Vgl. Jescheck, AT, § 32 III 3; Roxin, ZStW 93 (1981), S. 77 ff. Vgl. Jescheck, AT, § 32 III 3 a; S/S-Lenckner, § 32 Rdn. 52; Roxin, ZStW 93 (1981), S. 81. Vgl. Jescheck, AT, § 32 III 3 a; Roxin, ZStW 93 (1981), S. 85 ff. Die genaue Begründung dieser Einschränkung ist jedoch sehr umstritten (Überblick bei S/S-Lenckner, § 32 Rdn. 54). Vgl. Jakobs, AT, 12/57 f. Anders Jescheck, AT, § 32 III 3 a; S/S-Lenckner, § 32 Rdn. 53; Roxin, ZStW 93 (1981), S. 101 f.: ebenfalls Zurücktreten der Rechtsbewährung. Vgl. Jakobs, AT, 12/46 f. Anders Roxin, ZStW 93 (1981), S. 94 f.: ebenfalls Zurücktreten der Rechtsbewährung. Z.B. §§ 811, 850 ff. dt.ZPO. Rechtfertigung und Entschuldigung bei Befreiung aus Notlagen 89 Schuldvorwurf dann entfallen,50 wenn der Angegriffene die "Grenzen der Notwehr aus Verwirrung, Furcht oder Schrecken" "überschreitet". Die herrschende Ansicht bezieht den Begriff der "Grenzüberschreitung" allein auf das Erforderlichkeitsmerkmal und faßt unter § 33 dt.StGB daher nur solche Fälle, in denen der Täter sich gegen einen gegenwärtigen rechtswidrigen Angriff heftiger als notwendig verteidigt (intensiver Notwehrexzeß),51 während eine andere Auffassung die Entschuldigung auch dann noch gewähren will, wenn der Angegriffene mit seiner Abwehr schon einsetzt, bevor der Angriff begonnen hat, oder damit nicht aufhört, obwohl der Angriff bereits erkennbar abgeschlossen ist (extensiver Notwehrexzeß).52 Jedoch dürften in der Praxis die Fälle des extensiven und des intensiven Notwehrexzesses häufig nur schwer voneinander zu trennen sein. Oft geht es nämlich darum, daß der Angegriffene mehrere Abwehrhandlungen nacheinander ausführt, obwohl schon die erste genügt hätte, und es ist dann kaum noch festzustellen, ob der Angreifer zum Zeitpunkt der weiteren Schläge, Stiche etc. bereits vollständig aufgegeben hatte (dann extensiver Exzeß) oder sich etwa nur auf dem Rückzug befand und bei einer Unaufmerksamkeit des Verteidigers die Feindseligkeiten möglicherweise fortgesetzt hätte (dann intensiver Exzeß).53 Die Notwehrüberschreitung muß weiterhin auf "Verwirrung, Furcht oder Schrecken" beruhen, d.h. auf Affekten, die aus dem Gefühl des Bedrohtseins heraus entstanden sind (asthenische Affekte).54 Nicht erforderlich ist nach herrschender Ansicht dagegen, daß der Affekt die Wahrnehmungsfähigkeit des Angegriffenen soweit beeinträchtigt, daß dieser das exzessive Ausmaß seiner Verteidigung nicht mehr erkennt: Eine Entschuldigung wird vielmehr auch bei bewußter Notwehrüberschreitung gewährt.55 50 51 52 53 54 55 Obwohl der Gesetzeswortlaut nur festlegt, daß der Täter "nicht bestraft" wird, wird § 33 dt.StGB einhellig als Entschuldigungsgrund angesehen. Vgl. etwa SK-Rudolphi, § 33 Rdn. 1 m.w.N. Vgl. etwa BGH NStZ 1987, 20; sowie Jescheck, AT, § 45 II 4; SK-Rudolphi, § 33 Rdn. 2, beide m.w.N. So etwa Jakobs, AT, 20/31; S/S-Lenckner, § 33 Rdn. 7; Roxin, Schaffstein-FS, 1975, S. 112 ff., alle m.w.N. Vgl. etwa den Fall von BGH NStZ 1987, 20. Vgl. S/S-Lenckner, § 33 Rdn. 4. H.M. Siehe etwa BGH NStZ 1989, 474; Roxin, Schaffstein-FS, 1975, S. 107 ff. Die Gegenmeinung (unter anderem S/S-Lenckner, § 33 Rdn. 6 m.w.N. zum Streitstand) muß mindestens einräumen, daß im Zweifel in dubio pro reo von einer unbewußten Überschreitung auszugehen sein wird. 90 Walter Perron An dieser Ausgestaltung des Notwehrexzesses lassen sich die angeführten allgemeinen Entschuldigungsprinzipien unschwer erkennen. Anknüpfungspunkt ist eine deutliche Herabsetzung des Schuldgehalts der Tat durch den Affekt, ohne daß dieser allerdings ein der Schuldunfähigkeit nahekommendes Maß erreichen müßte, was sich insbesondere auch an der Einbeziehung der bewußten Notwehrüberschreitung zeigt.56 Daneben mindert die objektive Notwehrsituation auch den Unrechtsgehalt,57 freilich nicht in einem solchen Grad, daß auch bei völlig überzogenen Abwehrreaktionen der Tatunwertgehalt von vornherein jenseits der Strafwürdigkeitsgrenze angesiedelt werden müßte. Die besondere Großzügigkeit des Gesetzgebers läßt sich daher letztlich nur durch einen Mangel an präventiven Straf- und Normstabilisierungsbedürfnissen erklären.58 Da dem Angegriffenen schon auf der Rechtfertigungsebene die umfassende Verteidigung seiner Güter erlaubt wird, kann die Exkulpation von menschlich begreiflichen Exzessen kaum noch als Erweiterung der Handlungsbefugnisse mißverstanden werden. Auch die Nichtprivilegierung sthenischer Affekte (Zorn, Haß, Kampfeseifer etc.) weist eindeutig in diese Richtung, da diese Affekte trotz ihrer schuldmindernden Wirkung nicht geeignet sind, bei den Betrachtern ähnliche Solidaritätsgefühle mit dem Exzeßtäter zu entwickeln.59 3. Notstand a) Im Gegensatz zur Notwehr sieht das deutsche StGB beim Notstand keine einheitliche Ausgangssituation für die Rechtfertigung einerseits und die Entschuldigung andererseits vor. Während der rechtfertigende Notstand gemäß § 34 dt.StGB60 als Generalklausel grundsätzlich alle Arten von Notlagen umfaßt, hat sich der Gesetzgeber beim entschuldigenden Notstand in 56 57 58 59 60 Vgl. Rudolphi, JuS 1969, 462. Vgl. Rudolphi, JuS 1969, 462 f. Vgl. insbesondere Roxin, Schaffstein-FS, 1975, S. 116 f. Siehe auch Perron (Anm. 14), S. 114 f. Vgl. Roxin, Schaffstein-FS, 1975, S. 117, 121 f. § 34 dt.StGB lautet: "Rechtfertigender Notstand. Wer in einer gegenwärtigen, nicht anders abwendbaren Gefahr für Leben, Leib, Freiheit, Ehre, Eigentum oder ein anderes Rechtsgut eine Tat begeht, um die Gefahr von sich oder einem anderen abzuwenden, handelt nicht rechtswidrig, wenn bei Abwägung der widerstreitenden Interessen, namentlich der betroffenen Rechtsgüter und des Grades der ihnen drohenden Gefahren, das geschützte Interesse das beeinträchtigte wesentlich überwiegt. Dies gilt jedoch nur, soweit die Tat ein angemessenes Mittel ist, die Gefahr abzuwenden." Rechtfertigung und Entschuldigung bei Befreiung aus Notlagen 91 § 35 dt.StGB61 von vornherein auf Gefahren für die Rechtsgüter Leben, Leib und Freiheit des Täters selbst oder einer ihm nahestehenden Person beschränkt. Jedenfalls muß in beiden Fällen gleichermaßen eine gegenwärtige Gefahr für ein - beim rechtfertigenden Notstand beliebiges, beim entschuldigenden Notstand näher bestimmtes - Rechtsgut bestehen, die nur durch einen Eingriff in ein anderes Rechtsgut abgewendet werden kann.62 b) Die gesetzliche Formulierung des rechtfertigenden Notstands ist angesichts der starken Generalisierung der Notstandslage notwendigerweise sehr pauschal und verlangt vom Anwender einigen Interpretationsaufwand. Sofern die beschriebene Notstandslage besteht, dürfen der Gefährdete oder ein beliebiger Nothelfer alles zur Abwehr Erforderliche tun, sofern "bei Abwägung der widerstreitenden Interessen, namentlich der betroffenen Rechtsgüter und des Grades der ihnen drohenden Gefahren, das geschützte Interesse das beeinträchtigte wesentlich überwiegt" und "die Tat ein angemessenes Mittel ist, die Gefahr abzuwenden". Bei allen Unterschieden in Einzelfragen ist man sich in Wissenschaft und Rechtsprechung jedenfalls darin einig, daß alle wichtigen Gesichtspunkte in die Abwägung einfließen müssen, neben der eigentlichen Güterkollision insbesondere auch überindividuelle Interessen (etwa: Bedeutung der Handlung für die Rechtsordnung im ganzen) und allgemeine sozialethische Wertungen, und daß diese Ge- 61 62 § 35 dt.StGB lautet: "Entschuldigender Notstand. (1) Wer in einer gegenwärtigen, nicht anders abwendbaren Gefahr für Leben, Leib oder Freiheit eine rechtswidrige Tat begeht, um die Gefahr von sich, einem Angehörigen oder einer anderen ihm nahestehenden Person abzuwenden, handelt ohne Schuld. Dies gilt nicht, soweit dem Täter nach den Umständen, namentlich weil er die Gefahr selbst verursacht hat oder weil er in einem besonderen Rechtsverhältnis stand, zugemutet werden konnte, die Gefahr hinzunehmen; jedoch kann die Strafe nach § 49 Abs. 1 gemildert werden, wenn der Täter nicht mit Rücksicht auf sein besonderes Rechtsverhältnis die Gefahr hinzunehmen hatte. (2) Nimmt der Täter bei Begehung der Tat irrig Umstände an, welche ihn nach Abs. 1 entschuldigen würden, so wird er nur dann bestraft, wenn er den Irrtum vermeiden konnte. Die Strafe ist nach § 49 Abs. 1 zu mildern." Das Merkmal "nicht anders abwendbar" hat eine zweifache Bedeutung: Erstens charakterisiert es die Notstandslage, die voraussetzt, daß überhaupt eine Interessen- und Güterkollision vorliegt - zweitens weist es darauf hin, daß die Rettungshandlung dem Erforderlichkeitsprinzip genügen muß. Vgl. Lenckner, Lackner-FS, 1987, S. 96. Zur höchst streitigen Frage, in welchem Maße das Vorliegen der Gefahr durch eine reine ex-ante-Prognose oder auch aufgrund der erst nachträglich bekannt gewordenen Umstände festzustellen ist, und ob es nur auf die Sicht eines objektiven oder eines sachkundigen Beobachters ankommt, vgl. etwa LK-Hirsch, § 34 Rdn. 27 ff., § 35 Rdn. 17, einerseits und S/S-Lenckner, § 34 Rdn. 13 f., § 35 Rdn. 11, andererseits, beide m.w.N. 92 Walter Perron samtabwägung einen klaren Ausschlag zugunsten des in die Notlage Geratenen ergeben muß.63 Insbesondere in den letzten Jahren wurde allerdings zunehmend erkannt, daß sich innerhalb des Notstands zwei unterschiedliche Typen bilden lassen, die für den Fall der Beschädigung und Zerstörung von Sachen im deutschen Zivilrecht von den §§ 228, 904 dt.BGB auch klar voneinander getrennt werden: der Defensivnotstand und der Aggressivnotstand.64 Wesensmerkmal des Defensivnotstands ist, daß die Gefahr gerade aus der Sphäre des Eingriffsopfers droht. Im Zivilrecht ist anerkannt, daß der Inhaber eines Rechtsguts von jedem Dritten, der durch sein Verhalten oder durch den Zustand seiner Sachen das Rechtsgut beeinträchtigt oder gefährdet, die Beseitigung der Beeinträchtigung oder Gefährdung verlangen kann, es sei denn, er ist zu ihrer Duldung verpflichtet.65 Läßt man die Fälle einer bereits vom Zivilrecht anerkannten Pflicht zur Hinnahme der Gefahr beiseite, in denen die Rechtfertigung von vornherein ausscheidet, so entspricht im BürgerBürger-Verhältnis die Situation des Defensivnotstands derjenigen der Notwehr: Der Gefährdete kann vom Eingriffsopfer die Unterlassung oder Beseitigung der Gefährdung verlangen.66 Maßgeblich für die Befugnis zur eigenhändigen Durchsetzung dieses Unterlassungs- oder Beseitigungsanspruchs ist daher wiederum, ob und in welchem Umfang das staatliche Gewaltmonopol zugunsten des Gefährdeten zurücktritt. Im Gegensatz zur Notwehr kann sich dieser hier aber nicht auf ein allgemeines Rechtsbewährungsinteresse berufen, da kein rechtswidriger Angriff vorliegt, sondern allein auf die Unfähigkeit des Staates, den Schutz des bedrohten Rechtsguts 63 64 65 66 Vgl. nur S/S-Lenckner, § 34 Rdn. 22, 45 m.w.N. § 228 dt.BGB lautet: "Wer eine fremde Sache beschädigt oder zerstört, um eine durch sie drohende Gefahr von sich oder einem anderen abzuwenden, handelt nicht widerrechtlich, wenn die Beschädigung oder die Zerstörung zur Abwendung der Gefahr erforderlich ist und der Schaden nicht außer Verhältnis zu der Gefahr steht. Hat der Handelnde die Gefahr verschuldet, so ist er zum Schadensersatz verpflichtet." § 904 dt.BGB lautet: "Der Eigentümer einer Sache ist nicht berechtigt, die Einwirkung eines anderen auf die Sache zu verbieten, wenn die Einwirkung zur Abwendung einer gegenwärtigen Gefahr notwendig und der drohende Schaden gegenüber dem aus der Einwirkung dem Eigentümer entstehenden Schaden unverhältnismäßig groß ist. Der Eigentümer kann Ersatz des ihm entstehenden Schadens verlangen." Eingehend zu dieser Unterscheidung Roxin, Jescheck-FS, 1985, S. 457 ff. Siehe oben Anm. 42. Anders liegt die Sachlage freilich bei der Tötung eines Kindes während der Geburt, um eine Gefahr für das Leben oder die Gesundheit der Mutter abzuwenden. Zweifelnd daher, ob hier auch ein Fall des Defensivnotstands vorliegt, Jakobs, AT, 13/47. Rechtfertigung und Entschuldigung bei Befreiung aus Notlagen 93 mit seinen rechtlich kontrollierten Gewaltmitteln in einem geordneten Verfahren zu gewährleisten. Der Defensivnotstand entspricht damit weitgehend denjenigen Fällen der Notwehr, in denen eine Einschränkung der Verteidigungsbefugnis wegen mangelndem Rechtsbewährungsinteresse angenommen wird.67 Gleichwohl gewinnt die herrschende Meinung den Beurteilungsmaßstab hier aus der allgemeinen Notstandsformulierung des § 34 dt.StGB. Die Tatsache, daß dem Notstandstäter gegen das Eingriffsopfer ein zivilrechtlicher Beseitigungs- oder Unterlassungsanspruch zusteht, wird dabei als sehr gewichtiger Faktor innerhalb der Interessenabwägung angesehen, der die Waagschale zwar weit zugunsten des Notstandstäters hinunterdrückt, aber je nach Sachlage von allen anderen Faktoren auch wieder aufgewogen werden kann.68 Hruschka will demgegenüber unmittelbar auf § 228 dt.BGB zurückgreifen, welcher die Notstandsbefugnis erst dort enden läßt, wo der durch die Rettungshandlung angerichtete Schaden "außer Verhältnis zu der Gefahr steht".69 Wo auch immer man die Lösung dogmatisch ansiedelt, dürften die Ergebnisse jedoch letztlich nicht allzu weit voneinander abweichen. Alle Autoren erkennen nämlich an, daß dem Selbstschutzinteresse des Gefährdeten im Defensivnotstand im Zweifel der Vorrang einzuräumen ist.70 Problematisch ist daher vor allem die Frage der Grenzziehung, und hier wird man sich nicht - wie in § 228 dt.BGB - auf die Ebene der Güter- und Gefahrenproportionalität beschränken können.71 Solidaritätspflichten gegenüber dem Eingriffsopfer, die eine Hinnahme der Gefahr gebieten, entstehen wie bereits bei der Notwehr gezeigt72 - auch aus anderen Gründen, und die Schutzwürdigkeit der Interessen des Notstandstäters kann auch sonstigen Beschränkungen, wie etwa aufgrund besonderer Gefahrtragungspflichten (Feuerwehrleute etc.), unterliegen. In besonderem Maße problematisch ist schließlich die Rechtfertigung in den Fällen des Aggressivnotstands. Hier ist das Eingriffsopfer gerade nicht 67 68 69 70 71 72 Vgl. Roxin, Jescheck-FS, 1985, S. 459; Hruschka (Anm. 32), S. 142 f. Grundlegend Roxin, Jescheck-FS, 1985, S. 464 ff. Siehe auch LK-Hirsch, § 34 Rdn. 72 ff.; S/S-Lenckner, § 34 Rdn. 30. Hruschka, NJW 1980, 22; derselbe (Anm. 32), S. 78 f., 81 f. Ähnlich auch Jakobs, AT, 13/46. Eingehend Roxin, Jescheck-FS, 1985, S. 468 ff. Siehe auch LK-Hirsch, § 34 Rdn. 74. Vgl. Roxin, Jescheck-FS, 1985, S. 466 f. Siehe oben II.2.b, bei Anm. 47 und 48. 94 Walter Perron für die Beseitigung der Gefahrenquelle zuständig, sondern hat nur das Pech, zufällig mit seinen Gütern als geeignetes und erforderliches Gefahrabwendungsmittel zur Verfügung zu stehen. Seine Inanspruchnahme setzt daher voraus, daß ihm erstens im Bürger-Bürger-Verhältnis aus solidarischen Gründen eine entsprechende Aufopferungspflicht auferlegt wird und daß es zweitens auch die unmittelbare Durchsetzung dieser Verpflichtung durch den Begünstigten oder dessen Helfer hinnehmen muß. Dabei ist zu berücksichtigen, daß den Bürgern schon aufgrund des Sozialstaatsprinzips zahlreiche allgemeine und besondere Solidaritätspflichten auferlegt werden (Bezahlung von Steuern entsprechend den Einkommens- und Vermögensverhältnissen, Sozialpflichtigkeit des Eigentums, Mieterschutz, Arbeitnehmerschutz, Schuldnerschutz etc.), die teils den Staat allgemein in die Lage versetzen sollen, jedem Bürger ein Mindestmaß an Güterpartizipation zu garantieren und einen effektiven Güterschutz bereitzustellen (so bei den Steuern), teils auch den Begünstigten unmittelbar zugutekommen (so beim Mieterschutz, Arbeitnehmerschutz etc.). Diese Solidaritätspflichten sind jedoch regelmäßig so angelegt, daß sie nur in den dafür vorgesehenen, staatlich kontrollierten Verfahren eingefordert und durchgesetzt werden dürfen. Eine unmittelbar vom Begünstigten durchsetzbare Aufopferungs- und Solidaritätspflicht muß demgegenüber auf wenige Ausnahmefälle beschränkt bleiben. Musterbeispiel ist die allgemeine Hilfeleistungspflicht des § 323c dt.StGB, welche jeden, der dazu in zumutbarer Weise in der Lage ist, in "Unglücksfällen oder gemeiner Gefahr oder Not" trifft. Ihre Nichtbefolgung ist nicht nur unter Strafe gestellt, sondern löst auch ein Notwehr- oder zumindest Notstandsrecht des in Not Geratenen gegen den die Hilfe Verweigernden aus.73 Das Gesetz beschränkt diese Pflicht auf plötzlich auftretende oder die Allgemeinheit betreffende schwerwiegende, sich in aller Regel auf persönliche Rechtsgüter (Leib, Leben) beziehende Gefahren und schließt damit Konstellationen, die kein existenzbedrohliches Ausmaß annehmen, weitgehend aus.74 Auch sonst herrscht jedenfalls insoweit Einigkeit, als es nicht allein auf das rechnerische Überwiegen des bedrohten Gutes gegenüber dem Eingriffsgut ankommen darf.75 Der Gesetzgeber hat dem in § 34 dt.StGB dadurch Rechnung getragen, daß er einerseits nicht eine Abwägung von Gütern, sondern von "Interessen" verlangt, obwohl er konkreti73 74 75 Zur Notwehr gegen unterlassene Hilfeleistung vgl. Lagodny, GA 1991, II 2 (im Druck). Eingehend dazu Geilen, Jura 1983, 78 ff., 138 ff. Vgl. nur S/S-Lenckner, § 34 Rdn. 36 ff. m.w.N. Rechtfertigung und Entschuldigung bei Befreiung aus Notlagen 95 sierend gerade die "betroffenen Güter" und die "ihnen drohenden Gefahren" als Grundlage der Interessenabwägung anführt, und andererseits eine zusätzliche Kontrolle des Ergebnisses anhand des Kriteriums der "Angemessenheit" fordert.76 Ein Blick auf die Rechtsprechung zeigt, daß die Gerichte bislang sehr vorsichtig operieren und bei aggressivem Notstand schwerwiegendere Gefährdungen oder gar Verletzungen nur in existenzbedrohenden Situationen zulassen.77 c) Der entschuldigende Notstand des § 35 dt.StGB ist sehr viel restriktiver ausgestaltet als der Notwehrexzeß. Schon die Notstandslage ist beschränkt auf Gefahren für die Rechtsgüter Leben, Leib oder Freiheit,78 und die Entschuldigung kommt nur dem Gefährdeten selbst oder ihm nahestehenden Personen zugute. Damit steht die Entschuldigungsmöglichkeit von vornherein nur für einen Teil derjenigen Fälle zur Verfügung, die den strengen Anforderungen des rechtfertigenden Notstands nach § 34 dt.StGB nicht genügen. Auch muß die Rettungshandlung wie beim rechtfertigenden Notstand erforderlich sein, so daß Exzesse nicht privilegiert werden.79 Statt dessen verzichtet der Gesetzgeber auf ein wesentlich überwiegendes Interesse und verlangt lediglich, daß es dem Täter nicht "zugemutet werden konnte, die Gefahr hinzunehmen". Freilich zeigen schon die zur Illustration dieser Einschränkung im Gesetz selbst angeführten Beispiele der Gefahrverursachung 76 77 78 79 Freilich ist streitig, ob die Kriterien der "Angemessenheit" nicht bereits innerhalb der Interessenabwägung zu überprüfen sind, so daß ihre selbständige gesetzliche Erwägung leerläuft. Vgl. dazu etwa LK-Hirsch, § 34 Rdn. 78 ff.; S/S-Lenckner, § 34 Rdn. 46, einerseits; sowie Jakobs, AT, 13/36 ff.; Jescheck, AT, § 33 IV 3 d; Maurach/Zipf, AT 1, § 27 III Rdn. 38 ff., andererseits. Vgl. die Übersichten bei Dreher/Tröndle, Strafgesetzbuch und Nebengesetze, 45. Aufl. München 1991, § 34 Rdn. 22; LK-Hirsch, § 34 Rdn. 42 ff.; S/S-Lenckner, § 34 Rdn. 53 f. Dabei ist freilich zu beachten, daß in den meisten dort angeführten Fällen ein Defensivnotstand vorlag. Instruktiv für den Aggressivnotstand sind die Entscheidungen zu Verstößen im Straßenverkehr: Während es das OLG Schleswig, VRS 30, 462, für gerechtfertigt ansah, die zulässige Höchstgeschwindigkeit erheblich zu überschreiten, um die lebensgefährlich erkrankte Ehefrau zum Arzt zu bringen, lehnten das OLG Karlsruhe, VRS 46, 275, die Rechtfertigung eines Überfahrens von Rotlichtern mit hoher Geschwindigkeit, das zu einem Unfall mit Todesfolge führte, um einen Schwerkranken zum Arzt zu bringen, und das OLG Koblenz NJW 1988, 2316, die Rechtfertigung einer längeren Autofahrt mit einer Blutalkoholkonzentration von 1,8 zum Zwecke des Transports eines dem Anschein nach zwar schwer, aber nicht lebensgefährlich Verletzten ins Krankenhaus ab. Und auch diese Rechtsgüter werden einschränkend ausgelegt. Vgl. Bernsmann (Anm. 15), S. 41 f., 64 f., 74 ff.; Roxin, JA 1990, 100 ff. Teilweise wird zwar eine analoge Ausdehnung des § 33 dt.StGB auf den Notstandsexzeß befürwortet (vgl. dazu LK-Hirsch, § 34 Rdn. 92), doch haben sich derartige Auffassungen in der Rechtsprechung bislang nicht durchsetzen können. 96 Walter Perron durch den Täter und der erhöhten Gefahrtragungspflicht aufgrund eines besonderen Rechtsverhältnisses, erst recht aber die Ausdehnung dieses Merkmals durch die Rechtsprechung und Wissenschaft auf Einhaltung einer Mindestproportionalität von bedrohtem und verletztem Gut,80 daß hierfür im wesentlichen dieselben Kriterien heranzuziehen sind wie bei der Interessenabwägung des § 34 dt.StGB. Damit kommt eine Entschuldigung wegen Notstands nur in Frage, wenn die Rechtfertigungsanforderungen nicht allzuweit verfehlt werden. Der entschuldigende Notstand setzt somit eine sehr erhebliche Minderung des Unrechtsgehalts der Tat voraus. Die zusätzliche besondere Schuldminderung wird im Gegensatz zum Notwehrexzeß nicht durch das Erfordernis eines bestimmten Affekts sichergestellt, sondern durch die Begrenzung der Notstandslage auf Gefahren für elementare Rechtsgüter und die Beschränkung der Nothilfe auf Sympathiepersonen. Allerdings ist dieser Zusammenhang zwischen der Art des bedrohten Rechtsguts und der Verringerung der normativen Ansprechbarkeit des Bedrohten nur zum Teil plausibel, da einerseits viele Menschen auch in zugespitzten Gefahrsituationen noch einen kühlen Kopf bewahren und andererseits beispielsweise die Bedrohung der wirtschaftlichen Existenz einen ebenso starken Motivationsdruck wie Leibes- oder Freiheitsgefahren erzeugen kann. Entscheidend für die Restriktion des Gesetzes dürften vielmehr wiederum präventive Erwägungen sein. Da in den meisten Fällen des § 35 dt.StGB eine Rechtfertigung von vornherein ausscheidet, weil auch die mildeste Rettungshandlung sich nicht auf ein wesentlich überwiegendes Interesse stützen könnte, besteht hier im besonderen Maße die Gefahr, daß ein zu weitreichender Sanktionsverzicht von dem Betroffenen als Erweiterung des rechtlich tolerierten Handlungsspielraums aufgefaßt würde. Die Entschuldigung wird deshalb von vornherein auf solche Situationen beschränkt, in denen plausibel ist, daß der Täter keine Rücksicht mehr auf die Güter anderer Personen nimmt.81 Außerdem verlangen die Voraussetzungen der Erforderlichkeit und Unzumutbarkeit vom Täter auch in diesem engen Rahmen ein so hohes Maß an Zurückhaltung und Gefahrduldung, daß die tatsächlich entschuldigten Fälle seltene 80 81 Näher dazu unten III.4, bei Anm. 120 ff. Vgl. Jakobs, AT, 20/8. Siehe auch SK-Rudolphi, § 35 Rdn. 3a. Rechtfertigung und Entschuldigung bei Befreiung aus Notlagen 97 Ausnahmen bleiben, die ohne Gefährdung der Normstabilität als "gesetzgeberische Nachsicht" verständlich gemacht werden können.82 4. Pflichtenkollision a) Keine gesetzliche Anerkennung als selbständige Rechtsfigur hat in Deutschland bislang die Pflichtenkollision erlangt, und auch die Rechtsprechung wendet auf diese Fälle lediglich die allgemeinen Notstandsgrundsätze an.83 Dabei weist die Pflichtenkollision durchaus Besonderheiten auf, die eine getrennte Behandlung nahelegen.84 Wesensmerkmal ist, daß für den Betroffenen zwei oder mehrere rechtliche Verhaltenspflichten (Handlungsoder Unterlassungspflichten) in der Weise miteinander kollidieren, daß er nur die eine (bzw. den einen Teil) oder die andere (bzw. den anderen Teil), nicht aber alle zusammen erfüllen kann.85 Die Pflichtenkollision setzt begrifflich keine Gefahr für ein Rechtsgut voraus,86 so daß man sie prima facie ganz aus dem Bereich des Notstands herausnehmen könnte. Tatsächlich dürften in den strafrechtlich relevanten Fällen jedoch in aller Regel Pflichten betroffen sein, die den Schutz eines akut oder zumindest mittelbar gefährdeten Rechtsguts bezwecken. Die Besonderheit dieser Situationen gegenüber dem allgemeinen Notstand liegt vielmehr darin, daß rechtliche Verhaltenspflichten nahezu ausschließlich zugunsten anderer aufgestellt werden. Man kann daher den Betroffenen nicht wie beim allgemeinen Notstand darauf verweisen, im Zweifel die Gefahr auszuhalten und den Verlust der eigenen Güter hinzunehmen, sondern muß prinzipiell entscheiden, welchem der von den kollidierenden Pflichten Begünstigten jeweils der Vorrang einzuräumen ist. 82 83 84 85 86 Der Anwendungsbereich des entschuldigenden Notstands ist in der Praxis sehr beschränkt (vgl. die Übersichten bei Bernsmann [Anm. 15], S. 17 f., 23; LK-Hirsch, § 35 Rdn. 37; S/S-Lenckner, § 35 Rdn. 1a). Zumeist handelt es sich um Fälle des Nötigungsnotstands (etwa BGHSt 5, 371; BGH GA 1967, 113), insbesondere auch im Zusammenhang mit NS-Verbrechen (etwa BGHSt 18, 311; BGH NJW 1964, 730), oder um Tötung eines Familientyrannen im Defensivnotstand (etwa BGH NJW 1966, 1823). Vgl. etwa RGSt 61, 242, 254. Weitere Nachweise bei LK-Hirsch, vor § 32 Rdn. 71, 74. In den gängigen Lehrbüchern und Kommentaren wird daher die Pflichtenkollision getrennt vom allgemeinen rechtfertigenden Notstand behandelt. Vgl. LK-Hirsch, vor § 32 Rdn. 74 f. Zur Definition vgl. Küper, Grund- und Grenzfragen der rechtfertigenden Pflichtenkollision im Strafrecht, Berlin 1979, S. 16 f.; derselbe, in: Eser/Fletcher (Anm. 3), I, S. 343 ff. Vgl. LK-Hirsch, vor § 32 Rdn. 75; Küper, in: Eser/Fletcher (Anm. 3), I, S. 345. 98 Walter Perron b) Auf der Rechtfertigungsebene geht es somit um die Frage, wann eine rechtliche Verhaltenspflicht zugunsten einer anderen rechtlichen Verhaltenspflicht zurücktritt. Das staatliche Gewaltmonopol ist hiervon allenfalls mittelbar betroffen, denn der in der Pflichtenkollision stehende Täter (T) macht keine eigenen Rechte geltend, für deren Durchsetzung er auf staatliche Verfahren verwiesen werden könnte. Entscheidend ist vielmehr, ob es der Begünstigte der einen Pflicht (B1) hinnehmen muß, daß sein Erfüllungsanspruch zugunsten des Erfüllungsanspruchs des Begünstigten der zweiten Pflicht (B2) zurücktritt. Auch ein Bürger-Bürger-Verhältnis mit dem Defensiv- oder dem Aggressivnotstand vergleichbaren Strukturen entsteht deshalb nicht zwischen T einerseits und B1 oder B2 andererseits, sondern höchstens zwischen B1 und B2. Freilich stehen diese nicht unmittelbar zueinander in Beziehung. Die Kollision ihrer Güter wird vielmehr erst über T und dessen Pflichtenstellung vermittelt, so daß sich bei der Abwägung die problematische Frage stellt, ob es allein auf das Verhältnis B1-B2 ankommen soll oder ob auch die Innenverhältnisse T-B1 und T-B2 eine Rolle spielen, da es ja letztlich um die - strafbewehrten - rechtlichen Verhaltensanforderungen an T geht. Auch wenn viele wichtige Aspekte der Problematik bereits eingehend behandelt worden sind, bleiben doch noch manche Fragen offen. Im wesentlichen wird von der herrschenden Lehre zwischen zwei Fallgruppen unterschieden: der Kollision einer Handlungs- mit einer Unterlassungspflicht und der Kollision von mehreren Handlungspflichten. Im ersten Fall geht es in aller Regel darum, daß T zum Schutz der Güter von B1 verpflichtet ist (Handlungspflicht gegenüber B1), dieser Pflicht aber nur durch einen - prinzipiell verbotenen - Eingriff in die Güter des B2 nachkommen kann (Unterlassungspflicht gegenüber B2). Die ganz herrschende Auffassung behandelt hier T wie einen Nothelfer von B1 und erlaubt ihm den Eingriff in die Güter des B2 nur, wenn sich B1 gegenüber B2 nach dem Maßstab des § 34 dt.StGB auf ein wesentlich überwiegendes Interesse berufen kann; ansonsten tritt die Handlungspflicht hinter der Unterlassungspflicht zurück.87 Bei der Kollision von Handlungspflichten ist T dagegen aktiv zum Schutz der Güter sowohl von B1 als auch von B2 verpflichtet, und sein Verstoß liegt in der schlichten Untätigkeit gegenüber der einen oder anderen Seite. In diesem Fall mißt die überwiegende Ansicht der Kollisionslage bei T ein solches 87 Vgl. Küper, Grundfragen (Anm. 85), S. 29 ff.; derselbe, in: Eser/Fletcher (Anm. 3), I, S. 351 ff. Rechtfertigung und Entschuldigung bei Befreiung aus Notlagen 99 Gewicht bei, daß dieser bei Gleichwertigkeit der Pflichten frei wählen dürfe, welcher er Folge leistet, mit der Konsequenz, daß die andere Pflicht zurücktritt, weil ansonsten überhaupt keine rechtmäßige Verhaltensalternative für T bestehe. Insoweit wird die Pflichtenkollision deshalb von der herrschenden Lehre als eigenständiger Rechtfertigungsgrund außerhalb des Notstands anerkannt.88 Lenckner geht in diesem Fall noch einen Schritt weiter und verbannt die besonderen Aspekte des Verhältnisses B1-B2 aus der Bewertung (etwa die schuldhafte Herbeiführung der Kollisionslage durch B1 oder B2),89 während er umgekehrt die konkrete Pflichtenstärke für T (etwa: besondere Garantenpflicht gegenüber B1 - nur allgemeine Hilfeleistungspflicht gegenüber B2) ausdrücklich in die Abwägung einbezieht,90 so daß es hier nur noch auf den Vergleich der Pflicht im Verhältnis T-B1 mit der Pflicht im Verhältnis T-B2 ankommt. Ob eine so scharfe Trennung der Kollision von Handlungspflichten einerseits und einer Handlungs- mit einer Unterlassungspflicht andererseits sachlich tatsächlich geboten ist, erscheint allerdings fraglich. Zwar ist es notwendig, für die Kollision gleichwertiger Handlungspflichten eine Rechtfertigung anzunehmen, wenn T eine der Pflichten erfüllt, da § 34 dt.StGB hierfür keine Lösung vorsieht und das Versagen der Rechtfertigung zu einer der Güterschutzfunktion des Rechts widersprechenden Demotivierung von T führen könnte, aufgrund derer er resignierend völlig untätig bleiben würde.91 Auch ist der prinzipielle Vorrang der Unterlassungspflicht vor der Handlungspflicht anzuerkennen,92 so daß für diese Kollisionsfälle § 34 dt.StGB mit seiner flexiblen Formulierung einen geeigneten Rahmen bildet. Jedoch darf in beiden Gruppen bei der Beurteilung des Rangverhältnisses der kollidierenden Pflichten die spezifische Dreieckskonstellation zwischen T, B1 und B2 nicht außer acht bleiben. Auch wenn man bei der Kollision von Handlungs- und Unterlassungspflicht sich vor allem auf das Verhältnis B1-B2 stützt und bei der Kollision mehrerer Handlungspflichten primär die 88 89 90 91 92 Vgl. nur Küper, Grundfragen (Anm. 85), S. 19 ff.; derselbe, in: Eser/Fletcher (Anm. 3), I, S. 349 ff.; sowie in diesem Band Hirsch, S. 53. In: S/S, vor § 32 Rdn. 74. In: S/S, vor § 32 Rdn. 75 m.w.N., auch zur Gegenmeinung. Vgl. auch LK-Hirsch, vor § 32 Rdn. 80. Überzeugend Küper, Grundfragen (Anm. 85), S. 24, 26 f. Vgl. auch LK-Hirsch, vor § 32 Rdn. 73. Auch insoweit überzeugend Küper, Grundfragen (Anm. 85), S. 33 f., 57 ff. 100 Walter Perron Verhältnisse T-B1 und T-B2 gegeneinander abwägt, sollten doch die jeweils verbleibenden Beziehungen grundsätzlich mitberücksichtigt werden. c) Die Möglichkeit einer Entschuldigung durch Pflichtenkollision wird schließlich in der deutschen Strafrechtswissenschaft nur sehr zögernd bejaht. Angesichts des prinzipiell sehr restriktiven Maßstabs des entschuldigenden Notstands in § 35 dt.StGB wird auch hier keine Notwendigkeit zu besonderer Großzügigkeit gesehen. Auf der anderen Seite hat das Beispiel der Euthanasieärzte93 zumindest theoretisch die Einsicht gefördert, daß allein schon das Gewicht der in Konflikt stehenden Pflichten beim Betroffenen T eine schwere Gewissensnot hervorrufen kann, die einen ähnlichen Motivationsdruck erzeugt wie die Situation des entschuldigenden Notstands, auch wenn T nicht in engen persönlichen Beziehungen zu den jeweils Begünstigten B1 oder B2 steht und sich deshalb nicht auf § 35 dt.StGB berufen kann. Von vielen Autoren wird daher ein eigenständiger Entschuldigungsgrund der Pflichtenkollision für den Sonderfall anerkannt, daß T gefährdetes menschliches Leben nur dadurch retten kann, daß er anderes menschliches Leben gefährdet oder vernichtet und damit den Vorrang der Unterlassungs- vor der Handlungspflicht mißachtet.94 Die allgemeinen Entschuldigungsgrundsätze bleiben in diesem Fall gewahrt: Die Situation Leben gegen Leben führt zu einer erheblichen Minderung des Unrechtsgehalts sowie - vermittelt über den Gewissenskonflikt - der normativen Ansprechbarkeit des Täters; auch aus präventiver Sicht erscheint es unbedenklich, wenn in derartig seltenen Ausnahmesituationen von einer Bestrafung Abstand genommen wird. III. Übergreifende Wertungsgesichtspunkte 1. Allgemeines Die Rechtfertigungs- und Entschuldigungsgründe der Notwehr, des Notstands und der Pflichtenkollision unterscheiden sich voneinander erstens in der Art der Notlage und zweitens im Bewertungsmaßstab für die Rettungshandlung. Bei den Notlagen hebt sich die Notwehr durch eine besondere Art 93 94 Vgl. OGHSt 1, 321; OGHSt 2, 117. Überblicke mit umfassenden Nachweisen bei LK-Hirsch, vor § 32 Rdn. 200; S/SLenckner, vor § 32 Rdn. 115 ff. Siehe auch Küper, in: Eser/Fletcher (Anm. 3), I, S. 354 f. Rechtfertigung und Entschuldigung bei Befreiung aus Notlagen 101 der Rechtsgutsgefahr, nämlich durch den gegenwärtigen rechtswidrigen Angriff eines Menschen heraus, während das spezifische Merkmal der Pflichtenkollision die indirekte, über die Pflichtenstellung des Täters vermittelte Kollisionsbeziehung der bedrohten Rechtsgüter darstellt und der Notstand jedenfalls auf der Rechtfertigungsebene, wo keine Begrenzung der notstandsfähigen Güter vorgenommen wird - als allgemeiner Typus alle Arten von Notlagen umfaßt. Die jeweiligen Anforderungen an die Rettungshandlung ergeben sich sodann aus der Anwendung der allgemeinen Rechtfertigungs- und Entschuldigungsmaßstäbe auf die verschiedenen Notlagentypen. Allerdings lassen sich die einzelnen Rechtfertigungs- und Entschuldigungsgründe auf diese Weise nur sehr abstrakt beschreiben. So mußten schon bei der Darstellung ihrer Wesenszüge immer wieder Kriterien etwa der "Erforderlichkeit" oder "Verhältnismäßigkeit" angeführt werden, ohne daß diese untereinander in einen systematischen Zusammenhang gestellt werden konnten. Der folgende Teil versucht daher, einen vergleichenden Überblick über die maßgeblichen Wertungsgesichtspunkte zu geben. Dabei zeigt sich, daß bei aller Unterschiedlichkeit der Ausgangssituationen und Maßstäbe letztlich doch überall dieselben oder zumindest ähnliche Kriterien maßgeblich sind und zwischen allen Fällen eine enge strukturelle Verwandtschaft besteht. Die wesentlichen Ergebnisse dieses Teils sind in der folgenden Übersicht zusammengefaßt. 102 Walter Perron Notwehr ( § 32) Notlage: Art der Notlage gegenwärtiger rechtswidriger Angriff (Ausweichmöglichkeit darf bestehen) rechtfertigender rechtfertigende Notstand (§ 34) Pflichenkollision gegenwärtige Gefahr für Rechtsgut, nur durch Eingriff in anderes Rechtsgut abwendbar Kollision mehrerer rechtlicher Verhaltenspflichten, so daß nur die eine(n) oder die andere(n) erfüllt werden kann (können) Zurechenbarkeit der Notlage zum Eingriffsopfer wesentliches Merk- prägt Unterscheimal der Notwehr dung defensiveraggressiver Notstand wirkt sich u.U. auf Rangverhältnis der Pflichten aus Zurechenbarkeit der Notlage zum Täter schränkt Notwehrrecht ein oder hebt es auf wirkt sich u.U. auf Rangverhältnis der Pflichten aus Rettungshandlung: Erforderlichkeit bezogen auf Been- bezogen auf Retdigung des Angriffs tung des gefährdeten Guts regelmäßig bereits durch Kollisionslage erfüllt Verhältnismäßigkeit kein grobes Mißverhältnis zwischen verteidigtem und verletztem Gut Handlungspflichten: Gleichwertigkeit - Handlungsund Unterlassungspflicht: Überwiegen der befolgten Pflicht Angemessenheit schränkt in Einzel- schränkt Notstands- wirkt sich auf fällen Notwehrrecht recht ein oder hebt Rangverhältnis der ein oder hebt es auf es auf Pflichten aus Rettungswille erforderlich erforderlich erforderlich Persönliche Betroffenheit nicht notwendig Nothilfe uneingeschränkt zulässig nicht notwendig Nothilfe uneingeschränkt zulässig Täter muß selbst in Pflichtenstellung stehen führt u.U. zu Einschränkungen des Notstandsrechts aggressiv: wesentliches Überwiegen des geschützten Guts - defensiv: kein wesentliches Überwiegen des Eingriffsguts Rechtfertigung und Entschuldigung bei Befreiung aus Notlagen Notwehrexzeß (§ 33) gegenwärtiger (str.) rechtswidriger Angriff (Ausweichmöglichkeit darf bestehen) 103 entschuldigender Notstand (§ 35) entschuldigende Pflichtenkollision gegenwärtige Gefahr für Leben, Leib oder Freiheit, nur durch Eingriff in anderes Rechtsgut abwendbar Menschliches Leben kann nur durch Eingriff in anderes menschliches Leben gerettet werden wesentliches Merkmal des wirkt sich u.U. auf Notwehrexzesses Zumutbarkeitsabwägung aus irrelevant (?) schließt u.U. Entschuldigung aus schließt regelmäßig Entschuldigung aus irrelevant (?) irrelevant bezogen auf Rettung des gefährdeten Guts durch Kollisionslage erfüllt grobes Mißverhältnis schließt u.U. Entschuldigung aus keine Unverhältnismäßig- kollidierende Güter sind keit der Rettungshandlung nicht abwägbar, mangelnde Gleichwertigkeit ergibt sich aus Vorrang der Unterlassungspflicht wirkt sich - soweit erkennbar - nicht aus schließt u.U. Entschuldigung aus schließt u.U. Entschuldigung aus erforderlich erforderlich erforderlich Notwehrlage muß beim Täter selbst den Affekt hervorrufen Nothilfe auf Angehörige und nahestehende Personen beschränkt Täter muß selbst in Pflichtenstellung stehen 104 2. Walter Perron Zurechenbarkeit der Entstehung der Gefahr zur Sphäre des Eingriffsopfers oder zur Sphäre des durch die Rettungshandlung Begünstigten a) Aus den bisherigen Darlegungen läßt sich unschwer erkennen, daß die Frage, ob die Entstehung der Gefahrsituation der Sphäre des Eingriffsopfers zuzurechnen ist oder dieses lediglich zufällig mit seinen Gütern als geeignetes Rettungsmittel zur Verfügung steht, sowohl für die Rechtfertigung als auch für die Entschuldigung von erheblicher Bedeutung ist. So beruht die besondere Großzügigkeit der Notwehr- und Notwehrexzeßvorschriften allein auf der Tatsache, daß das Eingriffsopfer dem Täter den Konflikt mit seinem eigenen Handeln, welches nicht nur unmittelbar gefährlich ist, sondern auch im Widerspruch zu rechtlichen Verhaltensnormen steht, aufgezwungen hat.1 Auch beim rechtfertigenden Notstand ist allgemein anerkannt, daß die Unterscheidung zwischen defensiver (= gegen die Gefahrenquelle selbst gerichteter) und aggressiver (= gegen andere Güter gerichteter) Rettungshandlung sich zumindest wesentlich auf die Interessenabwägung auswirkt, wenn nicht gar zur Ausbildung verschiedener Notstandstypen führt.2 Beim entschuldigenden Notstand spielen defensive Rettungshandlungen zwar eine geringere Rolle;3 soweit jedoch innerhalb der Zumutbarkeitseinschränkung des § 35 Abs. 1 Satz 2 dt.StGB eine Gesamtabwägung der unrechts- und schuldrelevanten Umstände vorzunehmen ist, erlangt dieser Gesichtspunkt dort ebenfalls Bedeutung.4 Schließlich gelten die Notstandsgrundsätze insoweit auch für die rechtfertigende Pflichtenkollision, jedenfalls wenn man dem Verhältnis der von den Pflichten Begünstigten (B1 und B2) untereinander bei der Bewertung des Rangverhältnisses überhaupt eine Bedeutung beimißt.5 Die Zurechenbarkeit oder Nichtzurechenbarkeit der Gefahr zur Sphäre des Eingriffsopfers ist somit ein Gesichtspunkt, der nicht nur in nahezu allen Fällen innerhalb der jeweils geforderten Interessenabwägungen eine wichtige Rolle spielt, sondern darüber hinaus wesentlich zur Ausbildung der verschiedenen Notlagetypen beiträgt. 1 2 3 4 5 Siehe oben II.2. Siehe oben II.3.b. Vgl. jedoch Bernsmann (Anm. 15), S. 57 ff. mit Beispielen aus der Rechtsprechung. Vgl. etwa LK-Hirsch, § 35 Rdn. 52 (Hinnahme der Gefahr kann trotz eigener Verursachung unzumutbar sein, wenn Opfer die Kollisionslage pflichtwidrig mitverursacht hat). Siehe oben II.4.b. Rechtfertigung und Entschuldigung bei Befreiung aus Notlagen 105 b) Demgegenüber hat die Frage der Verantwortlichkeit des durch die Rettungshandlung Begünstigten für die Entstehung der Gefahr keine Auswirkungen auf die Differenzierung zwischen den einzelnen Notwehr-, Notstands- und Pflichtenkollisionsformen. Aber sie kann doch in fast allen Fällen zu einer Beschränkung oder zum völligen Ausschluß der jeweiligen Rechtfertigungs- oder Entschuldigungsmöglichkeit führen.6 So muß sich bei der Notwehr der Angegriffene auf bestehende Ausweichund Fluchtmöglichkeiten oder unter Umständen auf weniger sichere, aber mildere Verteidigungsmittel verweisen lassen, wenn er den Angriff schuldhaft provoziert hat.7 Soweit ihm die Verteidigung nach diesen Grundsätzen verwehrt ist, kommt ihm nach herrschender Ansicht auch die Notwehrexzeßvorschrift des § 33 dt.StGB nicht zugute.8 Auch innerhalb der Interessenabwägung des rechtfertigenden Notstands ist das Vorverschulden des in Gefahr Geratenen als Faktor zu berücksichtigen, wenngleich keine Einigkeit darüber besteht, ob ein völliger Ausschluß oder nur gewisse Einschränkungen der Notstandsbefugnis darauf gestützt werden können.9 Für den entschuldigenden Notstand bestimmt dagegen § 35 Abs. 1 Satz 2 dt.StGB ausdrücklich, daß die Verursachung der Gefahr durch den Täter selbst regelmäßig dessen Exkulpation verhindert.10 Bei der Pflichtenkollision kommt es schließlich wiederum darauf an, ob und in welchem Ausmaß das Innenverhältnis zwischen B1 und B2 in die Bewertung einfließt;11 soweit dies der Fall ist, muß bei der Bewertung der kollidierenden Pflichten be- 6 7 8 9 10 11 Freilich sind sowohl die generellen Begründungen wie auch die Lösungen im Detail sehr umstritten. Vgl. etwa die Monographien von Küper, Der "verschuldete" rechtfertigende Notstand, Berlin 1983; Neumann, Zurechnung und "Vorverschulden", Berlin 1985; sowie die Nachweise in den folgenden Anm. Siehe oben II.2.b, mit Nachweisen in Anm. 46. Ein besonderes Problem stellt hierbei die Absichtsprovokation dar, bei welcher der Täter den Angriff gerade deshalb herausgefordert hat, um die Notwehrlage zu einer Verletzung des Angreifers ausnützen zu können. Hier verneint die herrschende Meinung - mit unterschiedlichen Begründungen - jegliche Rechtfertigungsmöglichkeit (Nachweise bei S/S-Lenckner, § 32 Rdn. 55). Vgl. S/S-Lenckner, § 33 Rdn. 9 m.w.N. Siehe auch LK-Spendel, § 33 Rdn. 74. Überblicke über den Streitstand bei LK-Hirsch, § 34 Rdn. 70; S/S-Lenckner, § 34 Rdn. 42. Allerdings ist man sich darin einig, daß die Verursachung auf einem zumindest objektiv sorgfaltswidrigen (so etwa LK-Hirsch, § 35 Rdn. 49), nach anderer Ansicht darüber hinaus auch schuldhaften (so etwa S/S-Lenckner, § 35 Rdn. 26) Vorverhalten beruhen muß (vermittelnd Maurach/Zipf, AT 1, § 34 I Rdn. 5; vgl. zum ganzen auch Roxin, JA 1990, 139). Siehe oben II.4.b. 106 Walter Perron rücksichtigt werden, daß der Begünstigte der vom Täter tatsächlich erfüllten Pflicht die Kollisionslage schuldhaft provoziert hatte. 3. Erforderlichkeit Ein ebenso durchgängiges Prinzip, das auf nahezu alle diese Rechtfertigungsund Entschuldigungsgründe gleichermaßen zutrifft, ist das der Erforderlichkeit. Außer bei dem besonders großzügig ausgestalteten Notwehrexzeß des § 33 dt.StGB muß die Rettungshandlung zur Abwendung des Angriffs, Beseitigung der Gefahr oder Wahrnehmung der Pflicht geeignet sein, sowie gegenüber etwaigen alternativen Rettungsmöglichkeiten das relativ mildeste Mittel darstellen. Zwar ergeben sich zwischen den verschiedenen Rechtfertigungs- und Entschuldigungsgründen im einzelnen durchaus Unterschiede. So ist Bezugspunkt der Notwehr nicht die Rettung des angegriffenen Rechtsguts, sondern die Beendigung des rechtswidrigen Angriffs, weshalb Flucht oder Ausweichmöglichkeiten keine in die Erforderlichkeitsabwägung einzubeziehenden Alternativen darstellen.12 Notstand und Pflichtenkollision setzen demgegenüber schon als Rechtfertigungs- oder Entschuldigungslage voraus, daß das gefährdete Gut nur durch Eingriff in ein anderes Gut bzw. die zu erfüllende Pflicht nur durch Verstoß gegen eine andere Pflicht gewahrt werden kann.13 Weiterhin verwenden die gesetzlichen Formulierungen des Notstands - im Gegensatz zur Notwehrvorschrift des § 32 dt.StGB - nicht den Begriff "erforderlich", sondern verlangen, daß die Gefahr "nicht anders abwendbar" ist. Von der Rechtsprechung und manchen Autoren werden daher beim entschuldigenden Notstand in dieses Merkmal auch zusätzliche "Zumutbarkeitserwägungen" einbezogen,14 die sich aus den Kriterien der "Verhältnismäßigkeit" und "Angemessenheit" zusammensetzen;15 sie treten dann jedoch lediglich neben das Erforderlichkeitskriterium, ohne es als solches zu verändern. Bei der Pflichtenkollision ist die Erforderlichkeit schließlich überhaupt nur dann zu prüfen, wenn mehr als zwei Pflichten in der Weise miteinander kollidieren, daß der Täter zwar mehrere, aber nicht alle erfüllen kann und deshalb auswählen muß, welche er verletzt, um eine be12 13 14 15 Siehe oben II.2.b, mit Anm. 38. Siehe oben II.3.a und II.4.a, mit Anm. 62 und 84. Vgl. Lenckner, Lackner-FS, 1987, S. 110 f., sowie in: S/S, § 35 Rdn. 13a m.w.N. Dagegen etwa Bernsmann (Anm. 15), S. 108 f.; LK-Hirsch, § 35 Rdn. 46. Dazu sogleich unten III.4 und 5. Rechtfertigung und Entschuldigung bei Befreiung aus Notlagen 107 stimmte andere wahrnehmen zu können. Kollidieren nur zwei Pflichten miteinander, so ist die Verletzung der einen bereits definitionsgemäß zur Erfüllung der anderen Pflicht "erforderlich". Die Eignung eines Mittels zur Abwendung der Gefahr etc. ist vor allem dann problematisch, wenn diesem von vornherein nur geringe Erfolgschancen eingeräumt werden können. Allgemein stellt man hier aber keine hohen Anforderungen und läßt es genügen, wenn überhaupt die Möglichkeit der Gefahrabwendung durch die konkrete Rettungshandlung plausibel erscheint.16 Schwierige Abwägungsprobleme können sich schließlich stellen, wenn mehrere alternative Rettungsmittel zur Verfügung stehen.17 In derartigen Fällen ist einerseits der jeweilige Grad der Eignung bzw. die Höhe der Rettungschancen festzustellen sowie andererseits aufgrund einer wertenden Gesamtbetrachtung insbesondere der Gefährlichkeit des Mittels für andere Güter zu ermitteln, welches Rettungsmittel als das konkret mildere anzusehen ist.18 Sind die Alternativen gleich geeignet, so muß die mildeste gewählt werden. Ein schärferes Rettungsmittel ist dagegen nur dann zulässig, wenn es zugleich höhere Rettungschancen verspricht. Im letzteren Fall ist sowohl die mildere, aber weniger geeignete, als auch die besser geeignete, aber schärfere Rettungshandlung "erforderlich"; eine weitergehende Abwägung kann dann nur anhand anderer Kriterien, nämlich der - sogleich zu erörternden - "Verhältnismäßigkeit" und der "Angemessenheit" erfolgen.19 4. Verhältnismäßigkeit Die Hauptunterschiede zwischen den einzelnen notlagenbezogenen Rechtfertigungs- und Entschuldigungsgründen ergeben sich bei der Frage, in welchem Verhältnis die durch die Ausgangsgefahr einerseits sowie durch die Rettungshandlung andererseits bedrohten Güter hinsichtlich ihrer Art und Menge sowie der Art und des Grades der ihnen gegenseitig drohenden Gefahren zueinander stehen müssen. Obgleich dieses Kriterium nur in § 34 dt.StGB ausdrücklich erwähnt wird und auch dort nur Teil einer umfassen16 17 18 19 Vgl. etwa S/S-Lenckner, § 32 Rdn. 35; derselbe, Lackner-FS, 1987, S. 98 f.; Warda, Jura 1990, 344 ff.. Eingehend dazu Lenckner, Lackner-FS, 1987, S. 99 ff. Diese Entscheidung beruht nicht nur auf einer faktischen Bewertung der Erfolgsaussichten und Gefahren, sondern es können sich auch schwierige normative Abwägungsprobleme stellen. Vgl. Lenckner, Lackner-FS, 1987, S. 101 ff. Dies erkennt Lenckner, Lackner-FS, 1987, S. 109 f., beim Notstand allerdings nur für § 34, nicht aber für § 35 dt.StGB an (siehe auch oben bei Anm. 107). 108 Walter Perron deren Interessenabwägung bildet, ist es der Sache nach in allen Fällen von großer Bedeutung und zeigt sehr klar die unterschiedlichen Abstufungen auf. So wird bei der Notwehr einhellig anerkannt, daß die von der Verteidigung ausgehenden Gefahren für die Güter des Angreifers nicht in einem "groben Mißverhältnis" zur Gefährlichkeit des Angriffs selbst stehen dürfen.20 Zwar läßt es der Wortlaut des § 32 dt.StGB genügen, wenn die Verteidigungshandlung zur Abwehr des Angriffs "erforderlich" ist, doch bildet die Verhältnismäßigkeit auch für diese großzügige Handlungsbefugnis eine Mindestschranke, jenseits derer der Angegriffene sich auf unsicherere, aber weniger scharfe Verteidigungsmittel verweisen lassen oder notfalls den Verlust seiner Güter hinnehmen muß. Ob entsprechende Fälle des Notwehrexzesses überhaupt vorkommen, erscheint fraglich, da im wesentlichen wohl nur Bagatellangriffe betroffen sind, die kaum "Verwirrung, Furcht oder Schrecken" auslösen. Soweit dies jedoch ausnahmsweise einmal der Fall sein sollte, müßte unter Umständen auch diese Entschuldigungsmöglichkeit ausgeschlossen werden, wenn nämlich von vornherein kein Notwehrrecht besteht, dessen Grenzen "überschritten" werden könnten. Die gesetzliche Formulierung des rechtfertigenden Notstands in § 34 dt.StGB erwähnt ausdrücklich die Verhältnismäßigkeitsabwägung zwischen den betroffenen Rechtsgütern und dem Grad der ihnen drohenden Gefahren, bettet diese aber in eine umfassendere Interessenabwägung ein, die zum Ergebnis des "wesentlichen Überwiegens" des geschützten Interesses führen muß. Die zusätzlich dafür als maßgeblich angesehenen Kriterien lassen sich allerdings unter die anderen in diesem Teil unserer Darstellung angeführten Wertungsgesichtspunkte subsumieren,21 so daß auch hier die Verhältnismäßigkeitsabwägung der kollidierenden Güter eine selbständige Bedeutung hat.22 Darüber hinaus zeigt eine nähere Betrachtung der anderen Wertungsgesichtspunkte, daß diese - bis auf eine Ausnahme - auf die Gesamtabwägung nur insoweit Einfluß haben, als sie zu einer Verneinung des wesent20 21 22 Siehe oben II.2.b, mit Anm. 41 und 48. Jakobs, AT, 12/47, will allerdings in manchen Fällen auf jegliche Güterproportionalität verzichten. Vgl. nur die Aufzählung bei LK-Hirsch, § 34 Rdn. 53 ff.; S/S-Lenckner, § 34 Rdn. 22 ff. Zwar ist Lenckner, in: S/S, § 34 Rdn. 22, sowie GA 1985, 299 ff., zuzugeben, daß über die Frage der Rechtfertigung nicht allein aufgrund der Abwägung der kollidierenden Güter entschieden werden kann; gleichwohl stellt die Verhältnismäßigkeit von bedrohtem und geschütztem Gut in ihrer konkreten Kollisionssituation einen sehr wichtigen Punkt innerhalb der Gesamtbewertung dar. Rechtfertigung und Entschuldigung bei Befreiung aus Notlagen 109 lich überwiegenden Interesses führen können, auch wenn sich bei der gegenseitigen Aufrechnung der kollidierenden Güter und Gefahren ein eindeutiges Plus zugunsten des Notstandstäters ergibt.23 Führt dagegen schon die Verhältnismäßigkeitsabwägung nicht zu einem überwiegenden Täterinteresse, so bleibt die Rechtfertigung von vornherein ausgeschlossen. Die einzige Ausnahme zu diesem Prinzip bildet der Fall des Defensivnotstands, bei welchem sich die Rettungshandlung gegen die Gefahrenquelle selbst richtet. Unabhängig von den konstruktiven Unterschieden24 dürften hier die verschiedenen Auffassungen darin übereinstimmen, daß die Verhältnismäßigkeitsabwägung lediglich kein deutliches Überwiegen der Güterinteressen des Eingriffsopfers ergeben darf, ansonsten der in Not Geratene aber - unter Beachtung der weiteren Wertungsgesichtspunkte - befugt ist, seine Interessen gegenüber dem für die Gefahrenquelle Zuständigen durchzusetzen.25 Damit zeigt sich schon innerhalb des rechtfertigenden Notstands, aber auch im Vergleich zur Notwehr, wie das Kriterium der Zurechenbarkeit der Gefahrentstehung zur Sphäre des Eingriffsopfers sich unmittelbar auf die Verhältnismäßigkeitsabwägung auswirkt. Beim entschuldigenden Notstand des § 35 dt.StGB läßt sich ein solcher Zusammenhang zwar nicht mehr nachweisen, doch reflektieren hier die Verhältnismäßigkeitsanforderungen in ähnlich klarer Form die Differenzierung zwischen Rechtfertigung und Entschuldigung. Allerdings enthält der Wortlaut - wie bei der Notwehr - keinerlei Hinweis auf dieses Kriterium. Rechtsprechung und Schrifttum halten jedoch übereinstimmend die Hinnahme der Gefahr für "zumutbar" im Sinne des § 35 Abs. 1 Satz 2 dt.StGB, wenn die Folgen der Rettungshandlung gegenüber den für Leib oder Freiheit26 drohenden Gefahren "unverhältnismäßig" groß wären.27 Wo diese Schwelle konkret liegt, läßt sich anhand der wenigen Entscheidungen, die zu dieser Pro23 24 25 26 27 Dies sind - neben der sogleich erörterten Unterscheidung zwischen Aggressiv- und Defensivnotstand - insbesondere das Vorverschulden des Notstandstäters und die fehlende "Angemessenheit", beispielsweise wegen erhöhter Gefahrtragungspflicht, Vorrangs staatlich vorgegebener Verfahren, allgemeinrechtlicher oder sozialethischer Hinderungsgründe etc. (dazu sogleich unten III.5). Siehe oben II.3.a. Vgl. die Nachweise in Anm. 70. Bei Lebensgefahren kann dagegen prinzipiell nicht von einer solchen Unverhältnismäßigkeit ausgegangen werden. Vgl. etwa BGH NJW 1964, 370; S/S-Lenckner, § 35 Rdn. 33. Vgl. Bernsmann (Anm. 15), S. 132 f. 110 Walter Perron blematik ergangen sind, nicht genau bestimmen.28 Die Anforderungen dürften zwar etwas geringer sein als bei dem Ausschluß der Notwehr wegen grobem Mißverhältnis, aber sie liegen doch so hoch, daß eine Verweigerung der Entschuldigung nur selten vorkommt und deshalb auch eine weitere Differenzierung zwischen aggressivem und defensivem entschuldigendem Notstand sich kaum noch darauf auswirken könnte. Soweit schließlich die Pflichtenkollision eigenen Regeln folgt und nicht lediglich als besonderer Notstandsfall behandelt wird, beeinflußt die Verhältnismäßigkeitsabwägung der zwischen den Begünstigten B1 und B2 kollidierenden Güter und Gefahren maßgeblich die Bewertung des Rangverhältnisses der Pflichten und damit auch die Frage der übergesetzlichen Rechtfertigung oder Entschuldigung. In beiden Fällen ist insoweit zuerst eine Gleichwertigkeit der Güterinteressen erforderlich, bevor bei der Rechtfertigung danach gefragt werden kann, ob etwa eine unterschiedliche Intensität der Verpflichtungen des Täters gegenüber B1 und B2 (beispielsweise Garantenpflicht gegenüber B1, allgemeine Hilfeleistungspflicht gegenüber B2) letztlich doch die eine Pflicht über die andere überwiegen läßt, und bevor eine Entschuldigung auf die Kollision von vergleichbar dringenden Handlungs- und Unterlassungspflichten zur Rettung von Menschenleben und die dadurch ausgelöste schwere Gewissensnot gestützt werden kann. 5. Angemessenheit Die Zurechenbarkeit der Gefahrentstehung zur Täter- oder Opferseite, Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit bilden zweifellos die wichtigsten Gesichtspunkte, die bei der strafrechtlichen Beurteilung von Rettungshandlungen zu beachten sind. Gleichwohl ist anerkannt, daß sie den Bewertungsspielraum nicht vollständig ausfüllen, sondern von einer sehr heterogenen Gruppe weiterer Kriterien ergänzt werden, die hier - in Anlehnung an den Sprachgebrauch des § 34 dt.StGB - unter dem Begriff der "Angemessenheit" zusammengefaßt werden sollen. Diese Kriterien bilden zumeist keine konstitutive Voraussetzung der jeweiligen Rechtfertigung oder Entschuldigung, sondern führen nur dazu, daß diese im Einzelfall erschwert oder ganz verweigert wird, obwohl die Rettungshandlung den entsprechenden allgemeinen 28 RGSt 66, 397, 399 f., verlangte etwa für die Entschuldigung eines Meineids wegen Leibesgefahr, daß eine erhebliche und nachhaltige Beeinträchtigung der körperlichen Unversehrtheit drohen müsse. Eingehend zur Problematik der Konkretisierung Bernsmann (Anm. 15), S. 401 ff. Rechtfertigung und Entschuldigung bei Befreiung aus Notlagen 111 Erforderlichkeits- und Verhältnismäßigkeitsanforderungen genügen würde. Auf ein näher bestimmbares allgemeines Prinzip läßt sich die "Angemessenheit" allerdings nicht zurückführen; gemeinsam ist diesen Fällen nur, daß der Täter aufgrund besonderer rechtlicher oder sozialethischer Wertungen zur erhöhten Hinnahme von Gefahren oder Rücksichtnahme gegenüber dem Eingriffsopfer verpflichtet ist. So wird etwa das Notwehrrecht zwischen Personen mit engen persönlichen Beziehungen eingeschränkt.29 Für den rechtfertigenden Notstand verlangt § 34 dt.StGB ausdrücklich, daß "die Tat ein angemessenes Mittel ist, die Gefahr abzuwenden". Allerdings ist hier umstritten, ob dieser Klausel überhaupt ein selbständiges Gewicht zukommt oder ob nicht alle diesbezüglichen Kriterien bereits innerhalb der Interessenabwägung zu berücksichtigen sind.30 Der Sache nach besteht jedoch Einigkeit, daß, unabhängig von ihrer dogmatischen Einordnung, Gesichtspunkte wie besondere Gefahrtragungspflichten oder die Bedeutung der Handlung für die Rechtsordnung im ganzen innerhalb der Gesamtabwägung eine wichtige Rolle spielen.31 Eine Entschuldigung wegen Notstands ist nach § 35 Abs. 1 Satz 2 dt.StGB regelmäßig ausgeschlossen, wenn der Täter aufgrund eines besonderen Rechtsverhältnisses zu erhöhter Gefahrhinnahme verpflichtet ist; die Bestimmung des Rangverhältnisses kollidierender Pflichten hängt schließlich ebenfalls - auch - von derartigen Gesichtspunkten ab. Das Angemessenheitskriterium bildet somit ein allgemeines Auffangbecken für diejenigen Wertungsgesichtspunkte, welche mit den anderen Kriterien nicht erfaßt werden können. Es zeigt, daß die Konkretisierung der allgemeinen Rechtfertigungs- und Entschuldigungsprinzipien in einzelne Rechtfertigungs- und Entschuldigungsgründe an Grenzen stößt und überall eine Tür offen gehalten werden muß für Gesichtspunkte, die vom jeweiligen Wortlaut nicht näher bestimmt oder überhaupt nicht erwähnt werden. Freilich ist die Bedeutung dieser Öffnung bei der in § 32 dt.StGB relativ klar umrissenen Notwehr wesentlich geringer als etwa bei der Generalklausel des recht29 30 31 Siehe oben II.2.b. Auf den Notwehrexzeß wirken sich diese Einschränkungen dagegen weniger aus: In aller Regel wird der Angegriffene in derartigen Fällen nämlich nur auf die Verwendung weniger gefährlicher Abwehrmittel, nicht aber auf die Duldung des Verlusts seiner Güter verwiesen (vgl. S/S-Lenckner, § 32 Rdn. 53), so daß die Nichtbeachtung dieser Beschränkung (nur) zu einem - von § 33 dt.StGB gerade privilegierten intensiven Notwehrexzeß führt. Siehe Anm. 76. Vgl. nur LK-Hirsch, § 34 Rdn. 67, 69; S/S-Lenckner, § 34 Rdn. 34, 40 ff., beide m.w.N. 112 Walter Perron fertigenden Notstands in § 34 dt.StGB.32 Dennoch kann man als generelle Linie festhalten, daß sowohl die Gewährung von Notrechten als auch die Entschuldigung von Nothandlungen grundsätzlich unter dem Vorbehalt einer im voraus nicht vollständig bestimmbaren allgemeinrechtlichen und sozialethischen Korrektur steht. 6. Rettungswille Nahezu vollständig durchgesetzt hat sich heute die Auffassung, daß alle Rechtfertigungsgründe ein "subjektives Rechtfertigungselement" enthalten33 - bei den Entschuldigungsgründen war eine entsprechende Korrelation von objektivem Geschehen einerseits und täterpsychischer Wahrnehmung und Motivation andererseits von vornherein als selbstverständlich vorausgesetzt worden.34 Dennoch ist immer noch streitig, welche Anforderungen konkret an die Motivation des Täters zu stellen sind. Weitgehende Einigkeit besteht insoweit, als der Täter einerseits in allen Fällen die Notlage zumindest erkannt haben muß,35 andererseits von ihm aber - jedenfalls bei den hier behandelten Notwehr-, Notstands- und Pflichtenkollisionsfällen - keine besondere "gewissenhafte" oder "pflichtgemäße" Prüfung der Situation zu verlangen ist.36 Die Ansichten gehen jedoch darüber auseinander, ob über die Kenntnis der Notsituation hinaus die Rettung der bedrohten Güter oder Befolgung der Pflicht gezielt angestrebt werden oder gar das Motiv der Handlung bilden muß.37 32 33 34 35 36 37 Aber auch bei der Notwehr stellen sich hier schwierige Abwägungsfragen, beispielsweise wenn man die Nichtbefolgung rein privatrechtlicher Handlungspflichten (auf Zahlung von Forderungen, Räumung von Mietwohnungen etc.) als gegenwärtigen rechtswidrigen Angriff ansieht und sodann entscheiden muß, ob und in welchem Umfang die Verteidigungsbefugnis durch die am Vorrang des staatlichen Gewaltmonopols orientierten zivilrechtlichen Selbsthilfevorschriften beschränkt wird (eingehend dazu Lagodny, GA 1991 [im Druck]). Vgl. nur LK-Hirsch, vor § 32 Rdn. 50 ff.; S/S-Lenckner, vor § 32 Rdn. 13 ff. Eingehend zur materiellen Begründung Frisch, Lackner-FS, 1987, S. 115 ff. Vgl. Bernsmann (Anm. 15), S. 103, mit Fn. 303 f. Vgl. etwa S/S-Lenckner, vor § 32 Rdn. 14. Teilweise einschränkend jedoch LK-Hirsch, vor § 32 Rdn. 55. Vgl. LK-Hirsch, vor § 32 Rdn. 54; S/S-Lenckner, vor § 32 Rdn. 17 ff. Näher dazu für die Rechtfertigungsgründe Frisch, Lackner-FS, 1987, S. 133 ff.; für den entschuldigenden Notstand (der Notwehrexzeß setzt nach dem Wortlaut des § 33 dt.StGB zwingend einen konkret durch die Notwehrlage verursachten Affekt voraus) Bernsmann (Anm. 15), S. 103 f. Rechtfertigung und Entschuldigung bei Befreiung aus Notlagen 113 Die Ursache der Divergenzen liegt darin begründet, daß auf der einen Seite bei einer täterorientierten Betrachtungsweise durchaus höhere Anforderungen an den "Rettungswillen" gestellt werden können, diese dann andererseits aber für einen äußeren Betrachter - und nicht zuletzt auch in der forensischen Rekonstruktion - kaum noch erkennbar sind. Da die Entschuldigungsgründe zumindest auch an einer Einschränkung der Fähigkeit zur normgemäßen Motivation aufgrund der Notsituation anknüpfen, erscheint es geradezu selbstverständlich, daß in allen Fällen, in denen es dem Täter trotz Kenntnis der äußeren Notlage gar nicht oder nicht in erster Linie um die Rettung der bedrohten Güter geht, sondern um ganz andere Zwecke, der Entschuldigung die Basis entzogen ist. Konsequenterweise müßte daher in allen Fällen verlangt werden, daß die Rettung nicht nur als mögliche Folge der Handlung angesehen wird, sondern deren Motiv bildet.38 Aber auch bei den Rechtfertigungsgründen führt eine am Handlungsunrecht orientierte Betrachtungsweise zu dem Ergebnis, daß die Notrechte nur zum Zweck der Wahrnehmung der gefährdeten Interessen eingeräumt werden und der Täter dieses Wahrnehmung daher zielgerichtet anstreben muß.39 Auf der anderen Seite erscheint es, abgesehen von besonderen Ausnahmefällen, wie etwa der Absichtsprovokation, kaum denkbar, daß ein Täter, der die Gefahr für seine Güter erkannt hat und aus dieser Kenntnis heraus eine Handlung vornimmt, die eine objektive Rettungstendenz hat, nicht zumindest auch - neben anderen Zielen wie etwa Rache - die Rettung subjektiv anstrebt.40 Würde man demgegenüber verlangen, daß die Rettung das alleinige oder dominierende Motiv oder den Hauptzweck des Täters darstellt, so liefe das auf ein - heute einhellig abgelehntes - Gesinnungsstrafrecht hinaus.41 Tatsächlich dürften daher die verschiedenen Auffassungen in den meisten Fällen zu denselben Ergebnissen führen.42 Lediglich bei der Not38 39 40 41 42 So etwa Bernsmann (Anm. 15), S. 105; S/S-Lenckner, § 35 Rdn. 16. Vgl. Jescheck, AT, § 31 IV 1. Kritisch hierzu allerdings Frisch, Lackner-FS, 1987, S. 124 ff. Siehe aber auch Loos, Oehler-FS, 1985, S. 230. Das ist bei den Rechtfertigungsgründen wohl einhellige Meinung. Vgl. etwa Rudolphi, Maurach-FS, 1972, S. 57 f.; Stratenwerth, Strafrecht, Allgemeiner Teil I, 3. Aufl. Köln 1981, Rdn. 489. Für den entschuldigenden Notstand vgl. Roxin, JA 1990, 103. So betreffen beispielsweise alle BGH-Entscheidungen, die S/S-Lenckner, § 32 Rdn. 63, als Beleg dafür anführt, daß die Rechtsprechung bei der Notwehr ein Verteidigungsmotiv verlange, Fälle, in denen das Tatgericht den Verteidigungswillen nach Ansicht des BGH gerade fehlerhaft verneint hatte. Jakobs, AT, 20/11, spricht beim entschuldigenden Notstand davon, daß ein "Bedürfnis, zur Entschuldigung bei erweisbarem Notstand 114 Walter Perron hilfe oder bei mehraktigen Rettungshandlungen, wo der erste - und bereits den Straftatbestand verwirklichende - Akt die Rettung nur vorbereitet, wird man die Rettungsabsicht trotz Kenntnis der Notlage tatsächlich problematisieren können,43 obgleich sie auch hier im Strafprozeß oft nicht mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit auszuschließen sein wird. 7. Persönliche Betroffenheit des Täters durch die Notlage Den einzigen Wertungsgesichtspunkt, an dem die strukturellen Unterschiede zwischen notlagenbezogenen Rechtfertigungs- und Entschuldigungsgründen unmittelbar ablesbar sind, bildet schließlich die persönliche Betroffenheit des Täters durch die Notlage. Da die hier vorgestellten Rechtfertigungsgründe nicht nur subjektive Handlungsbefugnisse einräumen, sondern ihrem Wertungsmaßstab nach auch den Bürger-Bürger-Konflikt objektiv zu Lasten des Eingriffsopfers entscheiden,44 kommt es nicht darauf an, ob der in Not Geratene selbst die Rettungshandlung vornimmt oder ob ihm ein beliebiger Dritter dafür zu Hilfe kommt. Bei der Notwehr und dem rechtfertigenden Notstand ist daher die Nothilfe uneingeschränkt erlaubt. Eine Ausnahme bildet allerdings die rechtfertigende Pflichtenkollision, die ihrer Natur nach nur denjenigen betrifft, der selbst in der Pflichtenstellung steht. Ein Nothelfer könnte entweder nur als unselbständiger Ausführungsgehilfe in Erscheinung treten, oder er würde durch sein eigenständiges Handeln die Pflichtenkollision auflösen, indem er durch Übernahme der einen Pflicht dem Täter die Erfüllung auch der anderen ermöglicht. Die Entschuldigung beruht demgegenüber immer auch auf einer - zumindest vermuteten - erheblichen Verringerung der normativen Ansprechbarkeit durch den äußeren Druck der Notsituation, so daß nur derjenige privilegiert werden kann, der selbst diesem Druck ausgesetzt ist. Beim Notwehrexzeß ist zwar die Nothilfe nicht prinzipiell ausgeschlossen, doch muß der Täter selbst durch den Angriff in einen der vom Gesetz genannten Affektzustände versetzt worden sein. Der entschuldigende Notstand verlangt demgegenüber keinen konkreten Affekt, beschränkt aber die Nothilfe auf Angehörige und 43 44 und erweisbarem Fehlen der Möglichkeit anderer Abwendung mehr als Kenntnis zu verlangen," sich "bisher freilich nicht gezeigt" habe. Das Beispiel von S/S-Lenckner, vor § 32 Rdn. 16a (ein Arzt überfährt eine rote Ampel auf dem Weg zur Unfallstelle), stellt eine Kombination von mehraktiger Rettung und Nothilfe dar. Siehe zu den mehraktigen Rettungshandlungen auch Frisch, Lackner-FS, 1987, S. 145 ff. Näher dazu Perron (Anm. 14), S. 85 ff. Rechtfertigung und Entschuldigung bei Befreiung aus Notlagen 115 nahestehende Personen. Die entschuldigende Pflichtenkollision betrifft schließlich wiederum nur den in der Pflichtenstellung Stehenden selbst. IV. Zusammenfassung Die Betrachtung der Wesenszüge der Rechtfertigung und Entschuldigung bei Notwehr, Notstand und Pflichtenkollision sowie der übergreifenden Wertungsgesichtspunkte zeigt, daß die Differenzierungen zwischen verschiedenen Notlagetypen einerseits und zwischen Rechtfertigung und Entschuldigung andererseits in Deutschland heute zu einem weitgehend konsistenten System verbunden worden sind. Voraussetzung dafür war allerdings, daß die ältere Notwehrvorschrift über den Gesetzeswortlaut hinaus zunehmend einschränkend ausgelegt und die jüngeren Notstandsvorschriften von vornherein mit den sehr flexibel handhabbaren, generalklauselartigen Begriffen der "Interessenabwägung", "Angemessenheit" und "Zumutbarkeit" ausgestattet wurden. Pflichtenkollisionen spielen demgegenüber jenseits des Bereichs, der durch die allgemeinen Notstandsregelungen abgedeckt wird, in der Praxis offensichtlich keine besondere Rolle, so daß ein Bedürfnis nach eigenständiger gesetzlicher Regelung nicht geäußert wird. Im Bereich der Rechtfertigungsgründe verläuft die Entwicklung hin zu stufenlosen Übergängen von Notwehr zu defensivem Notstand und von defensivem zu aggressivem Notstand. Dadurch entsteht ein Rechtfertigungsbreitband, dessen äußere Extreme allerdings noch nicht ausreichend bestimmt sind. Bei der Notwehr muß eine absolute Begrenzung aller Notbefugnisse gefunden werden, wofür sich vor allem der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz anbietet.45 Am anderen Ende stellt sich beim aggressiven Notstand die Frage, in welchem Umfang und in welcher Intensität einem einzelnen gewaltsam durchsetzbare Solidaritätsansprüche gegen beliebige andere gewährt werden sollen. Hier dürfte das wenig bestimmte Kriterium der rechtlichen und vor allem auch sozialethischen Angemessenheit eine zentrale Rolle spielen. Innerhalb dieser Grenzen verläuft die Abwägung dann weitgehend linear, wobei die Faktoren der Zurechenbarkeit der Entstehung der Notlage zur Sphäre des Eingriffsopfers oder des durch die Rettungshandlung Begünstigten auf der einen Seite und der Verhältnismäßigkeit und Angemessenheit auf der anderen Seite jeweils in einem ausgewogenen Ver45 Vgl. dazu Eser, Strafrecht I, 3. Aufl. München 1980, 9/A 27 ff. 116 Walter Perron hältnis stehen müssen, während Erforderlichkeit und Verteidigungswille grundsätzlich in allen Fällen gleichermaßen verlangt werden. Die Entschuldigungsgründe werden neben den Prinzipien der wesentlichen Unrechts- und Schuldminderung insbesondere auch von präventiven Erfordernissen beherrscht und sind deshalb nur lückenhaft ausgestaltet. Ihre strukturelle Verwandtschaft zu den Rechtfertigungsgründen zeigt sich daran, daß bis auf die Notwendigkeit einer erheblichen persönlichen Betroffenheit des Täters durch die Notlage und den Verzicht auf die Erforderlichkeit beim Notwehrexzeß dieselben Wertungsgesichtspunkte gelten, wenn auch an die Verhältnismäßigkeit - und eventuell auch an die Angemessenheit - geringere Anforderungen gestellt werden. Ein bloßes Anknüpfen an die Unrechts- und Schuldminderung würde daher die Einführung eines der Rechtfertigung vergleichbaren Entschuldigungsbreitbandes verlangen. Diesem käme dann aber gerade wegen der Rechtfertigungsähnlichkeit die Wirkung einer weiteren Stufe rechtlicher Verhaltensanforderung zu, was mit der Intention der "gesetzgeberischen Nachsicht" gegenüber der individuellen Schwäche nicht zu vereinbaren wäre. Es wird daher auch in Zukunft bei dem fragmentarischen Charakter der Entschuldigung bleiben, so daß etwaigen Härtefällen im wesentlichen nur innerhalb der Strafzumessung oder des prozessualen Opportunitätsprinzips begegnet werden kann.46 46 So lautet etwa § 153 Abs. 1 Satz 1 dt.StPO: "Hat das Verfahren ein Vergehen zum Gegenstand, so kann die Staatsanwaltschaft mit Zustimmung des für die Eröffnung des Hauptverfahrens zuständigen Gerichts von der Verfolgung absehen, wenn die Schuld des Täters als gering anzusehen wäre und kein öffentliches Interesse an der Verfolgung besteht." RECHTFERTIGUNG UND ENTSCHULDIGUNG BEI BEFREIUNG AUS BESONDEREN NOTLAGEN IM ITALIENISCHEN STRAFRECHT* Mario Romano, Mailand I. Die verschiedenen Fälle von "Straflosigkeit" im italienischen Strafgesetzbuch und ihre Unterscheidung. Die fehlende Thematisierung der Schuldausschließungsgründe Das italienische Strafgesetzbuch1 enthält im zentralen Teil des Ersten Buches, der der Straftat gewidmet ist (III. Titel: Die Straftat, Kapitel I: Das vollendete und das versuchte Verbrechen) zahlreiche Vorschriften, in denen der Ausdruck "Straflosigkeit" (non punibilità) verwendet wird. So ist z.B. nicht strafbar "wer die Tat aus Zufall oder unter dem Einfluß höherer Gewalt begangen hat" (Art. 45), oder "wer die Tat begangen hat, weil er dazu von anderen durch körperliche Gewalt gezwungen wurde" (Art. 46), oder ferner "wer eine Tat, die keine Straftat darstellt, in der irrtümlichen Annahme begeht, daß sie eine Straftat sei", oder wenn "wegen der Untauglichkeit der Handlung oder des Nichtvorhandenseins des Tatobjekts der schädliche oder gefährliche Erfolg nicht eintreten kann" (Art. 49 Abs. 1 und 2). Derselbe Ausdruck "Straflosigkeit" - wird auch unmittelbar nach den genannten Vorschriften verwendet, um die Behandlung des Täters einer tatbestandsmäßigen Handlung im Falle der Einwilligung des Berechtigten (Art. 50), bei Notwehr (Art. 52), bei rechtmäßigem Waffengebrauch (Art. 53) oder bei Notstand (Art. 54) anzugeben. Außer diesen Bestimmungen im Allgemeinen Teil gibt es eine ganze Reihe anderer Vorschriften, die für einzelne Tatbestände oder auch für bestimmte Gruppen von Tatbeständen ebenfalls auf die Straflosigkeit des Täters hinweisen: So ist z.B. nicht strafbar, wer den Teilnehmern an einer Verschwö* 1 Übersetzung von Johanna Bosch, Freiburg i.Br. Der Codice penale wurde bekanntlich im Jahre 1930 eingeführt. 118 Mario Romano rung oder einem bewaffneten Haufen "Zuflucht gewährt oder Verpflegung liefert", wenn die unterstützte Person ein naher Angehöriger ist (Art. 307 Abs. 3). Dasselbe gilt gemäß Art. 418 Abs. 3 auch bei der Unterstützung von Teilnehmern an einer kriminellen Vereinigung. Nicht strafbar sind ferner die unterlassene Anzeige einer Straftat sowie andere Straftaten gegen die Rechtspflege, "wenn der Täter die Tat begangen hat, weil er dazu durch die Notwendigkeit gezwungen war, sich oder einen nahen Angehörigen vor einem schweren und unvermeidlichen Nachteil für die Freiheit oder die Ehre zu bewahren" (Art. 384 Abs. 1). Mit Ausnahme des Falles, in dem Gewalt gegenüber Personen angewendet wurde, ist außerdem auch derjenige nicht strafbar, der eine Straftat gegen das Vermögen begangen hat, und zwar zum Nachteil seines nicht gesetzmäßig getrennt lebenden Ehegatten, eines Verwandten auf- oder absteigender Linie, eines in gerader Linie Verschwägerten, eines an Kindesstatt Annehmenden oder Angenommenen oder eines Geschwisterteils, mit dem der Täter zusammenlebt (Art. 649 Abs. 1). Und so fort. Wie man sieht, hat es der Gesetzgeber von 1930 nicht für zweckmäßig gehalten, dogmatische Qualifikationen einzuführen, die zu jener Zeit noch gar nicht klar genug definiert waren.2 Vielmehr überließ er es Lehre und Rechtsprechung, in einer fortwährenden Entwicklung die verschiedenen Kategorien herauszuarbeiten, bei denen der Begriff "Straflosigkeit" - bei einer erschöpfenden und überzeugenden Gliederung der Verbrechensstruktur - korrekterweise eine angemessene Spezifizierung erhalten kann und muß, die dann bei einer zukünftigen Reform auch in die Gesetzgebung Eingang finden könnte. Wenn nach 60 Jahren auch nicht alle Probleme als gelöst angesehen werden können, kann doch heute niemand bezweifeln, daß sich hinter der scheinbar unterschiedslosen Bezeichnung "Straflosigkeit" zutiefst verschiedene Werturteile verbergen.3 Die Lehre hat sich z.B. lange Zeit mit Fällen von Straflosigkeit beschäftigt, die bloß den völligen Mangel an Tatbestandsmäßigkeit widerspiegeln, weil das Verhalten des Täters auf höherer Gewalt oder kör2 3 Zu der entsprechenden Entwicklung beim StGB für das Deutsche Reich von 1871: A. Eser, Justification and Excuse: A Key Issue in the Concept of Crime, in: Eser/ Fletcher (Hrsg.), Rechtfertigung und Entschuldigung, I, 1987, S. 35. Vgl. dazu M. Romano, Commentario sistematico del codice penale, I, 1987, vor Art. 50 Rdn. 8 ff. Ausführlich jetzt derselbe, Cause di giustificazione, cause scusanti e cause di non punibilità in senso stretto, Riv. it. dir. proc. pen. 1990, 55 Rechtfertigung und Entschuldigung bei Befreiung aus Notlagen 119 perlichem Zwang beruhte.4 Oder es wurden diejenigen Fälle besser herausgearbeitet, in denen die Handlung zwar tatbestandsmäßig im Sinne einer Vorschrift des Besonderen Teils ist, jedoch unter Umständen begangen wurde, die den negativen Bedeutungsgehalt entfallen lassen, so daß sie im Ergebnis von der Rechtsordnung gebilligt werden oder doch jedenfalls als Äußerung der allgemeinen Handlungsfreiheit zu betrachten sind. Oder es wurden Fälle von Straflosigkeit klarer herausgearbeitet, in denen - trotz erheblicher Probleme bezüglich einer weiteren Kategorie, die man "cause di estinzione del reato" nennt, und die ihrerseits wichtige prozessuale Konsequenzen hat5 - das Unwerturteil über die Tat außer Diskussion steht, aber im Hinblick auf den Schutz anderer, mit den durch die Straftat verletzten Gütern nicht vergleichbarer Interessen,6 praktische ("politische") Gründe der Zweckmäßigkeit den Verzicht auf die Bestrafung im konkreten Fall angezeigt erscheinen lassen. Während also die Fälle des Fehlens der Tatbestandsmäßigkeit, die Rechtfertigungsgründe und die Strafausschließungsgründe i.e.S. Gegenstand einer sorgfältigen Vertiefung in unserer Literatur gewesen sind, kann dasselbe nicht von den Schuldausschließungsgründen bzw. Entschuldigungsgründen behauptet werden.7 Diese werden mit einigen seltenen Ausnahmen im allgemeinen nur im Rahmen des Fehlens der subjektiven Tatseite behandelt, etwa in der Irrtumslehre beim Tatbestands- oder Rechtsirrtum, haben aber außerhalb dieses Bereichs nicht zu eigenständigen Untersuchungen geführt.8 4 5 6 7 8 Die Frage ist umstritten; anders noch kürzlich G. Vassalli, Stichwort "Colpevolezza", in: Enc. giur. Treccani, VI, 1988, S. 20, der diese Fälle unter die Schuldausschließungsgründe einordnet. Es handelt sich um Strafaufhebungsgründe, die dem materiellen Strafrecht angehören. Da sie aber prozessual eine besondere Behandlung erfahren, bilden sie terminologisch eine eigene Kategorie. Gemeint sind also nur die cause di estinzione "im technischen Sinne", die auch im Besonderen Teil des C.p. in einer Reihe von Fällen vorgesehen sind (vgl. z.B. Art. 556 Abs. 2; 641 Abs. 2; vor seiner Aufhebung durch Gesetz vom 5. August 1981 Nr. 442 auch Art. 544). Prozessual sind sie dadurch gekennzeichnet, daß der Richter ihr Vorhandensein durch unverzügliche Entscheidung feststellen muß (Art. 129 des neuen C.p.p.). Interessen also, die "außerhalb der Strafwürdigkeit" liegen; dazu mehr bei Romano, Cause di giustificazione (Anm. 3), S. 63 ff. Über das grundsätzliche Zusammenfallen der Entschuldigungs- und der Schuldausschließungsgründe sowie auch über den Nutzen einer Grenzlinie zwischen den beiden Bezeichnungen, siehe unten VII. Einzige Ausnahme ist die Monographie von R. Dolce, Lineamenti di una teoria generale delle scusanti nel diritto penale, 1957. 120 Mario Romano Es gibt viele Gründe für das Fehlen der Thematisierung der Schuldausschließungsgründe bzw. Entschuldigungsgründe. Abgesehen von der Bedeutung, die bei uns früher die subjektive Auffassung von der Rechtswidrigkeit hatte, scheint ein wesentlicher Grund in der Zurückhaltung gegenüber der vollständigen Übernahme des normativen Schuldbegriffs zu liegen. Offensichtlich hat dieses Zögern z.B. im Bereich der Schuldfähigkeit dazu geführt, daß die "Einsichts- und Willensfähigkeit" oft als einfache "Straffähigkeit" des Täters aufgefaßt und infolgedessen die "Schuldunfähigkeit" nicht als Schuldausschließungsgrund, sondern nur als Strafausschließungsgrund angesehen wurde.9 Die Schuldfähigkeit spielt dabei eine nach meiner Ansicht zu beschränkte Rolle; diese verhindert nämlich die (auch verfassungsrechtlich gebotene) Auffassung von der Straftat als Werk eines frei handelnden Täters, der gerade wegen dieser Freiheit legitimer Adressat des "Schuldvorwurfs" ist, daß er anders gehandelt hat, als er in der konkreten Situation hätte handeln können und sollen. Abgesehen davon, daß die Unzumutbarkeit als allgemeiner Entschuldigungsgrund wegen ihrer Unvereinbarkeit mit vorrangigen Forderungen der "Geschlossenheit" der Rechtsordnung und der Bestimmtheit der gesetzlichen Grenzen der persönlichen Verantwortlichkeit nahezu vollständig abgelehnt wird,10 hat gegen die Thematisierung der Schuldausschließungsgründe auf einem anderen jenseits von Vorsatz und Fahrlässigkeit gelegenen Gebiet sicherlich die traditionelle Tendenz unserer Lehre (und mehr noch unserer Strafrechtsordnung) eine entscheidende Rolle gespielt, die objektiven Merkmale der Straftat scharf zu betonen. Diese in den verschiedenen Bereichen der allgemeinen Strafrechtslehre anzutreffende und meines Erachtens bis zu einem gewissen Grade gerechtfertigte und wohltuende Tendenz äußert sich insbesondere dann, wenn man beim Systemaufbau und bei der Auslegung zwischen Rechtfertigungs- und Entschuldigungsgründen die Wahl hat, in der entschiedenen Bevorzugung der ersteren und in der entsprechenden Neigung zur Beschränkung der zweiten Gruppe. 9 10 Vgl. noch kürzlich z.B. G. Marini , Lineamenti del sistema penale, 1988, S. 437, und derselbe, Stichwort "Colpevolezza", in: Digesto delle Discipline penalistiche, II, 1988, S. 321. Vgl. statt aller F. Antolisei, Manuale di diritto penale, Parte generale, 11. Aufl. (hrsg. von L. Conti), 1989, S. 376; G. Fiandaca/E. Musco, Diritto penale, Parte generale, 2. Aufl. 1989, S. 301; F. Mantovani, Diritto penale, Parte generale, 2. Aufl. 1988, S. 297. Eine Aufwertung der Unzumutbarkeit als allgemeinen Schuldausschließungsgrund findet sich dagegen noch kürzlich bei Vassalli (Anm. 4), S. 21, dort auch Schrifttumsangaben. Rechtfertigung und Entschuldigung bei Befreiung aus Notlagen II. 121 Notwehr und Notstand als Rechtfertigungsgründe. Der objektive Aufbau des Notstands Die Vorschriften des Allgemeinen Teils, die in unserem Strafgesetzbuch die Befreiung aus Notlagen im einzelnen regeln, werden heute fast ausnahmslos als Rechtfertigungsgründe verstanden. Dies gilt natürlich für die Notwehr, die in allen ihren Teilen - und die Bezeichnung legittima difesa zeigt dies hervorragend - die totale, vollständige Rechtmäßigkeit der Verteidigungshandlung erkennen läßt, wenn sich diese nur im konkreten Fall innerhalb der vom Gesetz vorgeschriebenen Grenzen hält. Aber das gilt auch für den Notstand, der in unserem System nur in einer einzigen Version vorkommt, und zwar auf der Grundlage einer im wesentlichen objektiven Abwägung der Interessen und Rechtsgüter (auch wenn diese Abwägung nach einem "umfassenden" Kriterium - und infolgedessen mit einem elastischeren Maßstab von Verhältnismäßigkeit zwischen Tat und Gefahr vorzunehmen ist),11 und der deshalb, nach meiner Ansicht zu Recht, als Rechtfertigungsgrund angesehen wird. Obwohl gelegentlich Zweifel angemeldet wurden,12 ist die Natur des Notstands als eines Rechtfertigungsgrundes sicher, besonders wenn man berücksichtigt, daß in Art. 54 neben der eigenen Rettung im Notstand in gleicher Weise auch die Rettung eines anderen, ganz Außenstehenden vorgesehen ist ("Notwendigkeit, sich oder andere zu retten"), der mit dem Täter nicht durch Verwandtschaft oder Neigung verbunden ist. Hier zeigt sich deutlich, daß die Vorschrift geradezu zurückweicht vor der Berücksichtigung der psychischen Rückwirkungen einer existentiellen Notsituation, die der Täter erlebt, bzw. einer tatsächlichen oder möglichen Abweichung vom normalen Motivationsprozeß, um sich statt dessen ausschließlich auf eine objektive Abwägung der Interessen zu stützen.13 Aber nicht nur dies. Die objektive Basis des Notstands spiegelt sich auch in dem Merkmal des "Zwangs" wider, das im Wortlaut des Art. 54 erscheint. In 11 12 13 Über diese umfassende ethisch-soziale Bewertung der Tat im Lichte der Rechtsordnung vgl. umfassend G. V. de Francesco, La proporzione nello stato di necessità, 1978, S. 260 ff. Vgl. vor allem L. Scarano, La non esigibilità nel diritto penale, 1948, S. 117 ff. Für die Natur des Notstands, wie er in Art. 54 C.p. formuliert ist, als Rechtfertigungsgrund z.B. G. Azzali, Stichwort "Stato di necessità (dir. pen.)", in: Nov. Dig. it., XVIII, 1971, S. 356 ff.; A. Molari, Profili dello stato di necessità, 1964, S. 98 ff.; C.F. Grosso, Stichwort "Necessità (stato di: Dir. pen.)", in: Enc. dir., XXVII, 1977, S. 894. 122 Mario Romano derselben Weise wie bei der Notwehr des Art. 52 wird der Zwang, der sehr wohl subjektiv als psychologische Empfindung des Täters aufgefaßt werden könnte, allgemein in rein objektiver Bedeutung verstanden. Deshalb wird vom Täter auch keine Verteidigungsabsicht hinsichtlich eigener oder fremder Rechte (bei der Notwehr) noch die Absicht verlangt, sich oder Dritte zu retten (beim Notstand). Voraussetzung ist vielmehr nur ein rechtswidriger Angriff (bei der Notwehr) oder eine gegenwärtige, nicht willentlich verursachte und nicht vermeidbare Gefahr eines schweren Schadens für eine Person (beim Notstand). Es ist eine Situation, die in dem einen oder anderen Fall auch vom Täter nicht erkannt oder irrtümlich als nicht gegeben angesehen werden könnte, ohne daß deshalb sein Verhalten rechtswidrig würde (Art. 59 Abs. 1).14 III. Der Exzeß bei den Rechtfertigungsgründen: Der Verweis des Gesetzes auf die allgemeine, eventuell verbleibende Verantwortlichkeit des Täters wegen Fahrlässigkeit Unsere Rechtsordnung kennt keine besonderen Vorschriften, die die Pflichtenkollision regeln, ein Thema, das bei uns auch nicht jene Entwicklung genommen hat, wie sie in der Bundesrepublik Deutschland durch die bekannten tragischen Ereignisse und dadurch bedingten Fälle eingetreten ist. Diese Fälle werden bei uns in der Regel durch einen Verweis auf die Problematik des eigentlichen Notstands und auf die Anwendbarkeit desselben Art. 54 gelöst, von dem bereits die Rede war.15 Dagegen enthält unser Strafgesetzbuch in Art. 55 eine ausdrückliche Vorschrift über den fahrlässigen Exzeß: "Sind bei Begehung einer der in den Art. 51, 52, 53 und 54 umschriebenen Taten die durch das Gesetz oder den obrigkeitlichen Befehl bestimmten oder durch die Notwendigkeit gebotenen Grenzen fahrlässig überschritten worden, so werden die Bestimmungen über das fahrlässige Verbrechen angewendet, 14 15 Für den Notstand in diesem Sinne z.B. Grosso (Anm. 13), S. 895; für die Notwehr neuestens T. Padovani, Stichwort "Difesa legittima", in: Digesto delle Discipline penalistiche, III, 1989, S. 509 (in der Rechtsprechung ebenso Cass. vom 6. März 1980, Giust. pen. 1980, 646; anders jedoch, da implizit ein Verteidigungswille verlangt wird, Cass. vom 23. Januar 1978, Riv. pen. 1978, 498). Vgl. z.B. Mantovani (Anm. 10), S. 268; Fiandaca/Musco (Anm. 10), S. 303. Rechtfertigung und Entschuldigung bei Befreiung aus Notlagen 123 wenn die Tat vom Gesetz als fahrlässiges Verbrechen unter Strafe gestellt ist."16 Zwei Punkte sind es, auf die hier hingewiesen werden sollte. Zum ersten betrifft diese Vorschrift, anders als im deutschen Strafgesetzbuch, nicht nur die Notwehr, sondern auch die anderen Rechtfertigungsgründe. Ausdrücklich werden neben der Notwehr nur der Notstand, die Ausübung eines Rechts, die Erfüllung einer Pflicht und der rechtmäßige Waffengebrauch genannt, aber es wird allgemein angenommen, daß Art. 55 als Ausdruck allgemeiner Grundsätze der strafrechtlichen Verantwortlichkeit in gleicher Weise auch auf den Exzeß im Bereich der Einwilligung wie auch anderer Rechtfertigungsgründe angewendet werden kann, die im Nebenstrafrecht oder in Spezialvorschriften vorgesehen sind (z.B. die rechtmäßige Reaktion auf Willkürakte eines öffentlichen Beamten: Art. 4 Gesetzesverordnung vom 14.9.1944 Nr. 288).17 Der zweite Punkt, der hervorzuheben ist, ist der Verweis auf die Verantwortlichkeit des Täters wegen Fahrlässigkeit, sofern auch die fahrlässige Begehungsweise der Tat mit Strafe bedroht ist und im konkreten Fall das Verhalten des Täters die Merkmale der Fahrlässigkeit aufweist. Mit anderen Worten: In unserer Rechtsordnung wird überhaupt nicht zwischen den verschiedenen Situationen unterschieden, in denen ein Exzeß stattfinden kann, auch nicht zwischen den asthenischen Affekten (Verwirrung, Furcht, Schrecken) und den sthenischen Affekten (Wut, Zorn). Eine Tat, die wegen der objektiven Überschreitung der in der vorliegenden Situation der Rechtfertigung gezogenen Grenzen objektiv rechtswidrig ist, wird nur dann entschuldigt, wenn die irrtümliche Bewertung der Voraussetzungen der Rechtfertigung oder die Überschreitung der dem Täter bekannten Grenzen des Rechtfertigungsgrundes nicht im konkreten Fall verschuldet, weil vermeidbar und fahrlässig waren. In beiden Fällen des in Art. 55 geregelten Exzesses,18 d.h. in beiden Fällen eines nicht willentlichen (unbewußten) Exzesses, sei es, daß der Täter eine irrtümliche Vorstellung von den Voraussetzungen des Rechtfertigungsgrundes hatte, sei es, daß nur eine Abweichung von dem 16 17 18 Über diesen Begriff ausführlich G. Azzali, L'eccesso colposo, 1955; sowie kürzlich C. Faranda, L'eccesso colposo, Errore di giudizio ed errore modale nell'art. 55 c.p., 1988. Vgl. z.B. A. Pagliaro, Principi di diritto penale, Parte generale, 3. Aufl. 1987, S. 467. Weitere Hinweise bei Romano, Commentario sistematico (Anm. 3), Art. 55 Rdn. 11. Darüber jetzt P. Siracusano, Stichwort "Eccesso colposo", in: Digesto delle Discipline penalistiche, IV, 1990, S. 9 des Sonderdrucks, dort zahlreiche Schrifttumsangaben. 124 Mario Romano vom Täter aufgrund einer richtigen Vorstellung von der gegebenen Situation gewollten Erfolg vorliegt, beruht die Straflosigkeit des Verhaltens niemals auf einer abstrakten Typologie seelischer Zustände (Erregung, Panik, Schrecken), in denen die Tat begangen worden ist, sondern nur auf dem konkreten Fehlen der Merkmale der Fahrlässigkeit. IV. Zur Reform des italienischen Strafgesetzbuchs: Die Aufnahme einer ausdrücklichen gesetzlichen Regelung des entschuldigenden Notstands. Die Hervorhebung der Rolle der Unzumutbarkeit in bestimmten Fällen Wenn man die Regelung der Fälle der Rettung aus einer Notlage unter dem Gesichtspunkt der Alternative Rechtfertigungsgrund/Entschuldigungsgrund insgesamt betrachtet, ergibt sich als Richtlinie für den zukünftigen Gesetzgeber, die auf einer weitgehenden Übereinstimmung der Ansichten beruhen würde, die Einführung einer eigenen Vorschrift über den entschuldigenden Notstand in unser Strafrechtssystem, neben Art. 54 und dem rechtfertigenden Notstand.19 Im Unterschied zur Notwehr, die einen gegenwärtigen rechtswidrigen Angriff voraussetzt (gerade deshalb ist bei einer Reform des Gesetzbuchs wenn nicht die Betonung einer spezifischen Absicht, ein Verteidigungsrecht auszuüben, so doch mindestens eines "tatsächlichen Verteidigungswillens"20 zu empfehlen, damit so die Kenntnis des Täters von der objektiv vorliegenden Tatsituation miteingeschlossen ist), kann der Notstand in denjenigen Fällen nicht als Rechtfertigungsgrund angesehen werden, in denen es sich um gleichwertige Güter handelt, und vor allem dann nicht, wenn Güter auf dem Spiel stehen, die sich aufgrund ihrer Natur einem Vergleich entziehen. Wenn höchstpersönliche Rechtsgüter in Konflikt treten, erscheint weder eine reine Austauschbarkeit des einen mit dem anderen vertretbar, noch die einfache Annahme eines "Fehlens der Sozialschädlichkeit" hinsichtlich des 19 20 Ein klarer Hinweis in diesem Sinne wurde übrigens einstimmig gegeben von der "Commissione per la riforma del codice penale", die im Mai 1988 beim Justizministerium eingerichtet wurde und von A. Pagliaro geleitet wird. Zusammenfassend zu dieser Frage für die Rechtsordnung der Bundesrepublik Deutschland G. Spendel, in: Strafgesetzbuch, Leipziger Kommentar, 10. Aufl. 1982, § 32 Rdn. 138 f.; ferner derselbe, Notwehr und "Verteidigungswille", objektiver Zweck und subjektive Absicht, Festschrift für Oehler, 1985, S. 203 mit zahlreichen Schrifttumsund Rechtsprechungshinweisen. Rechtfertigung und Entschuldigung bei Befreiung aus Notlagen 125 Verlustes des einen oder des anderen Gutes. Handelt es sich um das menschliche Leben, so erweist sich insbesondere jedweder Vergleich als unhaltbar und jede Auswahl als willkürlich: Wenn zwei Personen in Lebensgefahr sind, so ist es eine Sache, daß die Rechtsordnung praktisch nicht beide schützen kann, während es eine andere Sache ist, daß diese Rechtsordnung schon theoretisch eine absolute Gleichgültigkeit gegenüber der Aufopferung des einen wie des anderen zeigt, so daß von vornherein die unsolidarische Anwendung von Gewalt oder List von jedem der beiden gegen den anderen legitimiert wird.21 In solchen Fällen, wie auch bei den entsprechenden Fällen der Pflichtenkollision, ist vernünftigerweise nur Raum für einen Entschuldigungsgrund. Mit der Voraussetzung einer spezifischen Absicht, sich oder einen nahen Angehörigen aus einer schweren und unvermeidbaren Gefahr für das Leben oder die persönliche Unversehrtheit zu retten, hätte die Vorschrift die Bedeutung, daß die Rechtsordnung, unter Aufrechterhaltung der Norm und Beibehaltung des Unwerturteils über die Tat, sich nicht im Stande fühlt, dem Täter gegenüber einen Schuldvorwurf zu erheben: Die besondere existenzielle Situation schließt ein Schuldurteil aus und die Rechtsordnung enthält sich deswegen, ein solches auszusprechen. Der Gesetzgeber sollte in Zukunft die Rolle einer durch spezifische Merkmale zweckmäßig umschriebenen Unzumutbarkeit besser hervorheben und entsprechend die in Art. 384 bei den Straftaten gegen die Rechtspflege erwähnte "Straflosigkeit" besser klären. Art. 384 ist aber nach meiner Ansicht schon jetzt im Sinne eines Falles der Unzumutbarkeit zu verstehen.22 21 22 Dazu zuletzt Romano, Cause di giustificazione (Anm. 3), S. 62. Im Sinne der Auffassung der "Fälle von Straflosigkeit" des Art. 384 C.p. als Sonderfälle des Notstands nach Art. 54 C.p. (eine Auffassung, die manchmal maßgebend ist für die Einordnung der in Art. 384 nicht erwähnten Anforderungen der Verhältnismäßigkeit und der Nicht-Gewolltheit der Gefahr): z.B. Cass. vom 30. Juni 1975, Cpma 1977, 65; Cass. vom 30. Mai 1984, Cp 1985, 2231; statt aller F. Antolisei, Manuale di diritto penale, Parte speciale, II, 8. Aufl. 1982, S. 917; V. Manzini, Trattato di diritto penale italiano, V, 5. Aufl. 1982, S. 750. Für die Qualifikation der fraglichen Fälle als Schuldausschließungsgründe dagegen P. Suchan, Stato di necessità e cause di non punibilità previste dall'art. 384 C.p., Cpma 1977, 68. In der Rechtsprechung für eine ausdrückliche Unterscheidung zwischen dem Notstand des Art. 54 als "objektivem Grund des Ausschlusses der Rechtswidrigkeit" und den Fällen des Art. 384 als "Schuldausschließungsgründe", Cass. vom 12. November 1980, Cp 1982, 463, wo in klaren Worten bestätigt wird, daß Art. 384 sich auf das Prinzip der Unzumutbarkeit gründet. 126 Mario Romano Wenn man die Frage aufwirft, warum jemand nicht bestraft wird, der dem eigenen Vater nach einer von diesem begangenen Straftat geholfen hat, sich den Nachforschungen der Behörden zu entziehen, oder der aufgrund persönlicher Qualifikation an sich dazu verpflichtet, den Justizbehörden eine schwere Straftat nicht angezeigt hat, wegen deren er einen nahen Angehörigen im Verdacht hat, kann man nicht überzeugend eine Abwägung der Rechtsgüter ins Feld führen, die voneinander so weit entfernt und so heterogen sind wie "Freiheit" und "Ehre" eines nahen Angehörigen (persönliche Beziehung zum Täter!) und das ausschließlich öffentliche Interesse der Rechtspflege im Sinne des III. Titels des Strafgesetzbuchs, wo die Straftaten der persönlichen Begünstigung und der unterlassenen Anzeige geregelt sind. Nach meiner Ansicht befindet man sich hier außerhalb eines Rechtfertigungsgrundes, weil man nicht behaupten kann, daß die Rechtsordnung dazu ermächtigt oder fordert oder es auch nur gestattet oder als Äußerung der Freiheit ansieht, einem Verwandten zu helfen, der möglicherweise ein Verbrechen begangen hat. Es ist dagegen plausibel und vernünftig, daß Art. 384, der zu Unrecht wegen seiner Ähnlichkeit mit der Formulierung des Art. 54 und des Notstands oft als Rechtfertigungsgrund bezeichnet wird, eine andere und ganz verschiedene Aussage enthält: Es ist immer ein Nachteil für die Rechtsordnung, wenn der Lauf der Gerechtigkeit behindert wird, aber man kann nicht so streng sein zu fordern, daß der Sohn dem Vater, der durch eine von ihm begangene Straftat in Bedrängnis geraten ist, in keiner Weise helfe oder daß er ihn sogar persönlich bei der Polizei anzeige, und man kann auch nicht von ihm verlangen, daß er eine so hohe Meinung von der Gerechtigkeit haben soll, daß er sich so verhält, wie wenn der Täter irgendein Dritter wäre, der ihn überhaupt nichts angeht.23 V. Die Probleme der Notwehrüberschreitung und die Ablehnung eines abstrakt entschuldigenden Exzesses Im Unterschied zu unseren Bemerkungen zum entschuldigenden Notstand läßt sich in unserem Rechtssystem nicht die Notwendigkeit eines Entschuldigungsgrundes feststellen, wie ihn das deutsche Strafgesetzbuch bezüglich der Notwehrüberschreitung aus Verwirrung, Furcht oder Schrecken vorsieht. 23 Dafür schon Romano, Cause di giustificazione (Anm. 3), S. 62. Rechtfertigung und Entschuldigung bei Befreiung aus Notlagen 127 Art. 33 dt.StGB scheint in der Tat mehr Probleme aufzuwerfen, als man mit dieser Vorschrift lösen wollte. Wenn man zunächst einen Augenblick bei der inneren Logik der Vorschrift verweilt, bleibt unsicher, ob sie nur den intensiven Exzeß regelt (d.h. die Überschreitung des Maßes der notwendigen Verteidigung) oder auch den extensiven Exzeß (nämlich die Überschreitung der zeitlichen Grenzen der Verteidigung, die durch die Gegenwärtigkeit des Angriffs gezogen sind).24 Wenn nämlich die erste Lösung auf die Tatsache gegründet werden kann, daß beim extensiven Exzeß nicht mehr dieselbe mildernde Wirkung für das Unrecht der Tat wie bei der echten Verteidigungssituation gegeben ist, so bleibt es doch ebenso wahr, daß einerseits eine geringe Überschreitung der zeitlichen Grenzen nahe an den gemilderten Unrechtsgehalt herankommt und daß auf der anderen Seite der Wortlaut des Gesetzes nicht auf die Überschreitung (nur) des Maßes der notwendigen Verteidigung anspielt, sondern ganz allgemein auf die Überschreitung der "Grenzen der Notwehr", zu denen auch die zeitlichen Grenzen zählen.25 Zum zweiten bleiben nicht unerhebliche Zweifel bestehen in bezug auf die Zulässigkeit einer analogen Anwendung des Art. 33 dt.StGB auf andere ähnliche Fälle, die jedoch sicherlich nicht unter die Vorschrift fallen. Das gilt insbesondere für den Fall der Überschreitung bei der Putativnotwehr, die von der objektiven Abwesenheit der vom Täter irrig angenommenen Notwehrsituation und darüber hinaus von einer Überschreitung dieser putativen Notwehrsituation charakterisiert ist. Sofern hier die Überschreitung ebenfalls auf Verwirrung, Furcht oder Schrecken beruht, sollte die Lösung nach einem Teil der Literatur analog zu § 33 dt.StGB erfolgen, während nach anderer Ansicht die Anwendbarkeit des § 33 in eindeutiger Weise verlangt, daß sowohl eine tatsächliche Notwehrsituation als auch eine hohe emotionale Erregung des Täters gegeben sein müssen.26 Gleichfalls bestehen Zweifel für den Fall der Überschreitung aus Verwirrung, Furcht oder Schrecken in anderen Rechtfertigungsfällen, weil trotz der ausdrücklichen 24 25 26 Im erstgenannten Sinne z.B. A. Eser, Strafrecht, I, 2. Aufl., 1976, S. 116; H.-H. Jescheck, Lehrbuch des Strafrechts, Allgemeiner Teil, 4. Aufl. 1988, S. 444; K. Lackner, Strafgesetzbuch mit Erläuterungen, 17. Aufl. 1987, § 33 Rdn. 2; im letzteren Sinne z.B. G. Jakobs, Strafrecht, Allgemeiner Teil, 1983, S. 483; C. Roxin, Über den Notwehrexzess, Festschrift für Schaffstein, 1975, S. 118. Insbesondere in diesem Sinne z.B. T. Lenckner, in: Schönke/Schröder, Strafgesetzbuch, Kommentar, 23. Aufl. 1988, § 33 Rdn. 7. Für die zwei Meinungen zu diesem Punkt vgl. z.B. H.-J. Rudolphi, in: Rudolphi/Horn/ Samson, Systematischer Kommentar zum Strafgesetzbuch, 5. Aufl. 1987, § 33 Rdn. 6 (im erstgenannten Sinne) bzw. Jescheck (Anm. 24), S. 444 (im letztgenannten Sinne). 128 Mario Romano gesetzlichen Bestimmung, die sich nur auf die Notwehr bezieht, geltend gemacht wird, daß es keinen Grund gibt, nicht auch in anderen Fällen - typisch in diesem Sinne ist der sogenannte Defensivnotstand - auf analogem Wege die Vorschrift des § 33 dt.StGB zum Zuge kommen zu lassen.27 Angesichts dieser häufigen und auch erheblichen Meinungsverschiedenheiten in der Lehre muß man sich fragen, ob es sich lohnt, diese Bestimmung da beizubehalten, wo es sie schon gibt, und vor allem, ob Anlaß besteht, sie dort einzuführen, wo sie noch unbekannt ist. In dieser Beziehung vertrete ich die Ansicht, daß die Übernahme eines Entschuldigungsgrundes nach Art des § 33 dt.StGB in das italienische System nicht wünschenswert ist. Zu allererst ist überhaupt nicht einzusehen, warum die Notwehr in diesem Punkt von den anderen Rechtfertigungsgründen so verschieden sein soll, daß sie eine solche Bestimmung verlangte (und wenn andererseits Gründe in diese Richtung für gegeben gehalten werden, müßte jede Möglichkeit einer analogen Anwendung dieser Vorschrift entfallen). Daß außerdem Verwirrung, Furcht oder Schrecken im Falle der Notwehr derartig sein sollen allein unter der Voraussetzung einer Ursache-Wirkung-Beziehung mit der exzessiven Verteidigungshandlung -, daß sie immer entschuldigend wirken, auch in Fällen der vorsätzlichen, d.h. bewußten oder gar absichtlichen Überschreitung der Grenzen der Verteidigung,28 erscheint mir eine Lösung, die im Widerspruch mit dem Erfordernis einer angemessenen Selbstkontrolle des Täters steht. Zutreffender erscheint daher vielleicht die Lösung unserer Rechtsordnung: Abgesehen vom vorsätzlichen Exzeß, der durch die bewußte Ausnutzung der Situation, in der der Täter sich befindet, gekennzeichnet ist,29 wird in jedem Falle - auch bei Vorstellung und Wollen des Erfolges - eine "Vorsatzschuld" des Täters ausgeschlossen und eine eventuelle Verantwortlichkeit wegen Fahrlässigkeit (außer von der gesetzlichen Androhung der Fahrläs27 28 29 Für die analoge Anwendung des § 33 dt.StGB im Falle des Verteidigungsnotstands z.B. Lenckner (Anm. 25), § 34 Rdn. 52. Für dieses Ergebnis u.a. Eser (Anm. 24), S. 115; Roxin (Anm. 24), S. 110, auch auf der Grundlage eines geschichtlichen Arguments; im entgegengesetzten Sinne dagegen Lenckner (Anm. 25), § 33 Rdn. 6. Daß in Fällen des vorsätzlichen Notwehrexzesses unabhängig von der emotionalen Situation des Täters eine "normale" gewöhnliche Verantwortlichkeit wegen Vorsatzes vorliegt, wird angenommen z.B. von Cass. vom 29. Dezember 1978, Cpma 1980, 53 und Cass. vom 5. Oktober 1982, Cp 1983, 1977. Rechtfertigung und Entschuldigung bei Befreiung aus Notlagen 129 sigkeitsstrafe auf die Tat) von dem tatsächlichen Vorliegen der Fahrlässigkeitsmerkmale in der konkreten Situation abhängig gemacht.30 Zwar ist es möglich, daß auf diese Weise die besondere emotionale Situation des Augenblicks dazu führt, daß die strafrechtliche Verantwortlichkeit ebenfalls vollständig ausgeschlossen wird, aber gleichzeitig wird vermieden - ein Umstand, der im Bereich der Werte nicht außer acht zu lassen ist -, daß schon die emotionale Situation, die der Täter vielleicht sogar kontrollieren könnte, für sich allein als Entschuldigung dient. VI. Besondere Notlagen außerhalb von Notwehr, Notstand und Pflichtenkollision Wie schon gesagt, ist die Befreiung aus besonderen Notlagen in der Strafrechtsordnung auch außerhalb der Notwehr, des Notstands und der Pflichtenkollision vorgesehen, die als allgemeine Regeln verstanden werden, die möglicherweise auf alle Straftatbestände Anwendung finden dürfen. So hat man den Fall des Art. 38431 bezüglich der Delikte gegen die Rechtspflege ins Auge gefaßt, der zukünftig eine gesetzliche Bestätigung seiner entschuldigenden Funktion erhalten soll, im Gegensatz zu der nach meiner Ansicht schon heute nicht vertretbaren Auffassung als Rechtfertigungsgrund. Aber es sind auch andere Entschuldigungsgründe feststellbar in bezug auf Situationen, die vom Täter unter einer gewissen Belastung durch Verwirrung oder seelische Spannung erlebt werden, die möglicherweise einen normalen Willensbildungsprozeß beeinträchtigen. Als Beispiele für diesen Typ der gesetzlichen Umschreibung einer Situation "erweiterter" Notlage in bestimmten Straftatbeständen können die genannten Art. 307 Abs. 3 und 418 Abs. 3 angesehen werden. Die entschuldigende Wirkung beruht hier auf der engen verwandtschaftlichen oder schwägerschaftlichen Beziehung zu dem Täter oder Teilnehmer eines Organisationsdeliktes (z.B. bewaffnete Bande oder kriminelle Vereinigung), einer Beziehung, die zwar nicht dazu führt, das Handlungsunrecht desjenigen zu beseitigen, der einem nahen Angehörigen Hilfe leistet, jedoch den Verzicht der 30 31 Für eine Verantwortlichkeit wegen Fahrlässigkeit im Falle, daß der Exzeß infolge eines asthenischen Affekts durch Fahrlässigkeit verursacht ist, vgl. § 3 Abs. 2 österr.StGB. Anders als die Lösung des § 33 dt.StGB ist auch diejenige des Art. 33 Abs. 2 schweiz.StGB, für das die emotionale Situation, in der sich der Exzeß ereignet, entschuldigt, sofern sie selbst entschuldbar ist. Oben IV. 130 Mario Romano Rechtsordnung verständlich macht, gegen den Täter einen Schuldvorwurf zu erheben. In diesen Fällen kann man feststellen, daß der Entschuldigungsgrund vom Gesetz nicht auf das tatsächliche Vorliegen einer emotionalen Situation gegründet wird, sondern nur auf die persönliche Beziehung, die wahrscheinlich - d.h. nach dem Maß des id quod plerumque accidit - diese im konkreten Fall hervorrufen kann. Darin liegt - und es ist absolut nicht einzusehen, wie es anders sein könnte, da es in der Praxis unmöglich ist, die tatsächliche affektive Beziehung zwischen den beiden Personen festzustellen - eine "Standardisierung" der Rollen und der Beziehungen.32 In ähnlicher Weise wurde jüngst in unsere Gesetzgebung ein anderer Entschuldigungsgrund eingeführt. Art. 19 Abs. 5 Gesetz Nr. 194/1978 sieht die Straflosigkeit einer Frau unter 18 Jahren vor, die einen Schwangerschaftsabbruch beantragt (der also mit ihrer Einwilligung durchgeführt wird), ohne Einhaltung des vom Gesetz für den Abbruch in diesen Fällen vorgeschriebenen Verfahrens (insbesondere die Vornahme des Eingriffs durch einen Arzt, mit Einwilligung des Erziehungsberechtigten und in besonderen Fällen mit Genehmigung des Vormundschaftsrichters). Hier handelt es sich nach meiner Ansicht nicht um einen einfachen persönlichen Strafausschließungsgrund i.e.S., weil die Strafbefreiung nicht (wie z.B. im Falle einer Straftat gegen das Vermögen zwischen Vater und Sohn nach Art. 649) auf einem rein äußerlichen Grund der praktischen ("politischen") Zweckmäßigkeit des Verzichts auf Strafe beruht. Bei eindeutigem Bestehen der Rechtswidrigkeit der Tat (die Teilnehmer der Frau bleiben strafbar), liegt der Grund für die Straflosigkeit der Minderjährigen - bei der auch die volle Schuldfähigkeit vorausgesetzt werden kann - in dem Verständnis der Rechtsordnung für die besonderen Bedingungen und deshalb für die besondere Lebenssituation, in der sie sich befindet. Auch wenn es sich hier um eine keineswegs unangreifbare Lösung handelt (nach meiner Ansicht sollte es vor allem nicht um eine abstrakte Straflosigkeit der Frau gehen, die von jeder Feststellung der tatsächlichen Situation 32 Ausgehend von der Überzeugung, daß eine Feststellung der wirklichen Lage in der konkreten Situation überflüsssig oder irrelevant ist, neigt statt dessen zur Natur von Strafausschließungsgründen i.e.S. in solchen Fällen G. Vassalli, Stichwort "Cause di non punibilità", in: Enc. dir., VI, 1960, S. 631. Rechtfertigung und Entschuldigung bei Befreiung aus Notlagen 131 des Vorliegens einer schweren Verwirrung in einem Fall der Nichtbeachtung der den Eingriff legitimierenden Verfahrensvorschriften absieht: entgegen dem Ziele des Gesetzes, nämlich heimliche Schwangerschaftsabbrüche zu verhindern),33 bleibt der Bezugspunkt für die Straflosigkeit immer eine Situation, die letztlich auf den Begriff der Unzumutbarkeit zurückzuführen ist: Die gesetzliche Vorschrift, deren Verletzung einen objektiven Unrechtsgehalt anzeigt, bleibt sehr wohl in Geltung, aber man "kommt der Frau entgegen", unter Berücksichtigung ihres jugendlichen Alters, im Hinblick auf ihre besondere Lage und einer damit verbundenen möglichen psychologisch-emotionalen Verwirrung. VII. Ergebnisse: Die Rolle der Entschuldigungsgründe in den Wertentscheidungen der Rechtsordnung. Entschuldigungsgründe und Schuldausschließungsgründe Auch durch das soeben erwähnte Beispiel aus der jüngsten Gesetzgebung wird bestätigt, daß der Gedanke der Unzumutbarkeit, wenn auch innerhalb der engen Grenzen einer genauen gesetzlichen Beschränkung, beachtliche Lebenskraft besitzt. Die Unzumutbarkeit erscheint zu Recht als materielle Basis einzelner Entschuldigungsgründe,34 auch wenn sie nicht als Generalklausel annehmbar ist, weil sie, wenn auch nicht schon von vornherein eine Abdankung des Strafrechts bedeuten, so doch sicherlich unerträgliche Willkür und schwere Ungleichheit in der richterlichen Anwendung des Gesetzes zur Folge haben würde. Da, wo die Entscheidung eines Menschen für ein bestimmtes Verhalten aufgrund eines besonderen Motivationsdrucks sich als außerordentlich dramatisch oder jedenfalls besonders schwierig darstellt, treten die Entschuldigungsgründe zur rechten Zeit auf den Plan - wobei sie sich schon auf der Ebene der Werte und noch vor ihrer praktischen Regelung von den Rechtfertigungsgründen unterscheiden -, um die Bewertung der Tat durch die Rechtsordnung zu unterstreichen, welche unter Aufrechterhaltung der Mißbilligung der Tat (ohne diese als Äußerung der allgemeinen Hand33 34 Eine deutlich negative Bewertung der "Straflosigkeit" der Minderjährigen in diesen Fällen findet sich bei G. Galli, in dem Sammelwerk L'interruzione volontaria della gravidanza (Commento alle legge 22 maggio 1978, n. 194), 1978, S. 319. Anders dagegen T. Padovani, in: Le nuove leggi civili commentate, 1978, S. 1711. Zur Ablehnung der Unzumutbarkeit als eines allgemeinen Entschuldigungsgrundes vgl. oben den Text bei Anm. 10. Über die Unzumutbarkeit als unzweifelhaftes Leitprinzip von einzelnen, spezifischen Bestimmungen vgl. z.B. schon B. Petrocelli, La colpevolezza, 3. Aufl. 1962, S. 144. 132 Mario Romano lungsfreiheit anzusehen oder auf dem Gebiet der Güterabwägung zu rechtfertigen) sich trotzdem des Ausspruchs eines Schuldurteils gegenüber dem Täter enthält. Im grundsätzlichen Unterschied zu den Rechtfertigungsgründen (die die tatbestandsmäßige Handlung rechtmäßig machen) und auch zu den Strafausschließungsgründen i.e.S. (die nur den Täter einer tatbestandsmäßigen, rechtswidrigen und schuldhaften Tat von der Strafbarkeit ausnehmen), fallen die Entschuldigungsgründe in ihrem Wesen mit den Schuldausschließungsgründen zusammen. Nicht annehmbar ist nach meiner Ansicht die in den Lehrmeinungen deutscher Sprache vielfach verbreitete Unterscheidung zwischen Schuldausschließungsgründen (Schuldunfähigkeit, unvermeidbarer Verbotsirrtum), bei denen die Schuld vollständig fehle, und Entschuldigungsgründen (entschuldigender Notstand, Notwehrexzeß aus Verwirrung, Furcht oder Schrecken etc.), bei denen eine gewisse Schuld sehr wohl vorliege, da der Täter nicht schuldunfähig und deshalb an sich motivationsfähig sei, während aber die Rechtsordnung dem Täter gegenüber "ein Auge zudrücke".35 Die Unterscheidung überzeugt nicht, weil erstens auch ein vom Gesetz als schuldunfähig betrachteter Täter vielfach durchaus motivierungsfähig ist (und dieselbe Relativierung muß vernünftigerweise auch für die Unvermeidbarkeit des Verbotsirrtums angenommen werden),36 und weil zweitens das, was zählt, nur die Tatsache ist, daß sich die Rechtsordnung im Ergebnis eines Schuldurteils enthält. Mit anderen Worten ist es die Rechtsordnung, die mit ihrer wohlbegründeten und auf jeden Fall nicht nachprüfbaren Entscheidung bezüglich des zu fällenden Urteils denjenigen, der sich in einer besonderen Lebenssituation befindet, die geeignet ist, einen gegenwärtigen schweren Gewissenskonflikt hervorzurufen, demjenigen gleichstellt, der nicht fähig ist, sich frei zu entscheiden. 35 36 Für diese Unterscheidung vgl. nur z.B. Eser (Anm. 24), S. 193; Jescheck (Anm. 24), S. 429; Rudolphi (Anm. 26), vor § 19 Rdn. 6. Für eine grundsätzlich einheitliche Betrachtung dagegen z.B. J. Baumann/U. Weber, Strafrecht, Allgemeiner Teil, 9. Aufl. 1985, S. 441; H. Blei, Strafrecht I, Allgemeiner Teil, 18. Aufl. 1983, S. 207. Gegen die h.L., aber auf der Grundlage einer Theorie (über die Beziehungen zwischen der Schuld und der General- und Spezialprävention), die mir nicht annehmbar erscheint, C. Roxin, Zur jüngsten Diskussion über Schuld, Prävention und Verantwortlichkeit im Strafrecht, Festschrift für Bockelmann, 1979, S. 277. Dazu übereinstimmend C. Roxin, Rechtfertigungs- und Entschuldigungsgründe in Abgrenzung von sonstigen Strafausschließungsgründen, in: Eser/Fletcher (Anm. 2), S. 237. Rechtfertigung und Entschuldigung bei Befreiung aus Notlagen 133 Jedoch könnte eine Trennungslinie zwischen Schuldausschließungsgründen und Entschuldigungsgründen - bei Aufrechterhaltung der objektiven Rechtswidrigkeit der Tat in beiden Fällen - auf einer anderen Grundlage gezogen werden, indem in der ersten Weise die Fälle bezeichnet werden, in denen der Wegfall der Schuld vom Gesetz an die konkrete Feststellung der Nichtvorwerfbarkeit der Tat gebunden wird, indem man den physischen oder psychischen Bedingungen des Täters, seinen Vorstellungen und seiner individuellen Fähigkeit zum richtigen Handeln in der gegebenen Situation Rechnung trägt (Schuldunfähigkeit; unvermeidbarer Verbotsirrtum; unvermeidbarer Irrtum über das Vorliegen oder die gesetzlichen Grenzen eines Rechtfertigungsgrundes; in unserem System auch der nichtfahrlässige Irrtum über die Voraussetzungen eines Rechtfertigungsgrundes oder der nichtfahrlässige Exzeß in den Fällen des Art. 59 Abs. 3 bzw. 55). Zu der Bezeichnung Entschuldigungsgründe könnte man dagegen in den Fällen greifen, in denen das Gesetz spezifisch angeführten äußeren Umständen und ihren tatsächlich vorhandenen oder abstrakt postulierten psychologisch-emotionalen Wirkungen auf den Täter Bedeutung beimißt (entschuldigender Notstand; Art. 307, 384 und 480 C.p.; § 33 dt.StGB usw.). Ohne das gemeinsame Wesensmerkmal preiszugeben, das in beiden Fallgruppen im Fehlen der Schuld liegt, böte eine herkömmliche Unterscheidung dieser Art meiner Ansicht nach den Vorteil, die Verwendung des Begriffs "Schuld" für die Fälle vorzubehalten, in denen wirklich ein individuelles Können des Täters auf dem Spiel steht. Außerdem könnte sie klarstellen, daß wenigstens als Entsprechung zum Irrtum über Rechtfertigungsgründe ein Irrtumsproblem (über die Voraussetzungen, aber auch über das Bestehen und die gesetzlichen Grenzen)37 nur bezüglich der Entschuldigungsgründe und nicht dagegen auch für die Schuldausschließungsgründe entstehen kann, weil diese letztlich, wie gesagt, durch innere Faktoren beim Täter bedingt sind. 37 Über einige Punkte zum Thema des Irrtums über Entschuldigungsgründe vgl. Romano, Commentario sistematico (Anm. 3), vor Art. 50 Rdn. 10, Art. 59 Rdn. 14. Weiterhin jetzt derselbe, Cause di giustificazione (Anm. 3), S. 70.