12.1 Ein Überblick

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326
12 Die Funktion der Nieren
12.1
Ein berblick
Wenn etwas „an die Nieren geht“, wird es ernst, ja
bedrohlich. Noch vor wenigen Jahrzehnten war ein
vlliges Versagen der Nieren gleichbedeutend mit
einem Todesurteil. Gl cklicherweise knnen heute
maschinelle Dialyse („k nstliche Niere“), Peritonealdialyse oder die Transplantation einer Niere das
Schicksal solcher Patienten fast immer zum Besseren
wenden (S. 373 f.). Festzuhalten ist jedoch: Unsere
Nieren haben offenbar lebensnotwendige Aufgaben.
Welche sind das?
Was passiert,
wenn die Nieren versagen?
Die meisten Aufgaben der Nieren (Tab. 12.1) lassen
sich an den Folgen einer Niereninsuffizienz (S. 372 f.)
ablesen. Bei solchen Patienten kommt es zur Ansammlung (Retention) von Harnstoff, Kreatinin, Harns8ure,
Ammoniumionen, Polyaminen und anderen Stoffwechsel-Endprodukten im Organismus. Ohne Urinausscheidung knnen solche Substanzen den Krper offenbar nicht verlassen; man spricht daher von harnpflichtigen Substanzen, f r die die Nieren also die
entscheidende Entsorgungsfunktion haben.
Ein Nierenversagen ist weiterhin von einer Entgleisung des Elektrolyt- und Wasserhaushalts begleitet,
insbesondere wenn die Zufuhr von Wasser und Salzen
nicht strikt reglementiert wird. Bei hoher Kochsalzzufuhr etwa vergrßert sich der Extrazellul8rraum
durch die Einlagerung großer Wassermengen, d. h., es
kommt zu ?demen (vor allem in der Lunge). Bei
starker Kaliumbelastung entwickelt sich rasch eine
bedrohliche Hyperkali8mie, und Ahnliches gilt f r
Magnesium und Phosphat. Je nach Bedarf des Krpers
regulieren die Nieren also den Wasser- und Elektrolythaushalt. In dieser, großteils hormongesteuerten
Bilanzierungsfunktion sind sie z. B. f r die Grße des
Extrazellul8rvolumens, f r die Sicherung des S8ureBasen-Gleichgewichts, f r die Konstanz der Osmolalit8t im Plasma und f r die Homostase des
extrazellul8ren Ionenmilieus verantwortlich (Kap. 1, 11
und 13).
Tabelle 12.1
Nierenpatienten leiden oft an einer Erhhung des
arteriellen Blutdrucks (Hypertonie), d. h., die Nierenfunktion hat auch etwas mit der Einstellung des
arteriellen Blutdrucks zu tun. Daran beteiligt ist das
Renin, das die Bildung des vasoaktiven Angiotensins II
und in der Folge auch die Aussch ttung von Aldosteron auslst (S. 369 und Kap. 13).
Eine Niereninsuffizienz geht weiterhin mit einem
Mangel an bestimmten Hormonen einher, so etwa von
Erythropoietin, was schließlich zu einer An8mie f hrt
(S. 227), oder von Calcitriol, so dass solche Patienten
von einer Hypokalz8mie und, als Reaktion darauf, von
einem sekund8ren Hyperparathyreoidismus bedroht
sind (S. 370 u. Abb. 13.27, S. 403). Die Nieren sind also
ein wichtiger Produktionsort fr Hormone. Andererseits erhht sich bei Niereninsuffizienz die Konzentration extrarenal gebildeter Hormone, was z. T. darauf
beruht, dass die Niere Abbauort von Peptidhormonen ist (S. 358 f.).
Niere
Kelche
Nierenbecken
Ureter
Aufgaben der Niere
– Ausscheidung harnpflichtiger Substanzen,
z. B. Harnstoff, Harns!ure, Kreatinin
– Homostase: Na+ [EZV], K+, Ca2+, Mg2+, Phosphat,
H+, HCO3– u. a.
– Langfristige Blutdruckregulation
– Metabolismus: Proteine, Peptidhormone, Gluconeogenese,
Toxine u. a.
– Hormonbildung: Calcitriol, Erythropoietin;
Renin (Enzym) fi Angiotensin
– Hormonwirkungen: Antidiuretisches Hormon (ADH),
Aldosteron, Adrenalin, Atriopeptin (ANF), Calcitriol,
Parathyrin (PTH), Prostaglandine u. a.
Harnblase
Abb. 12.1 Harnwege. Sie werden in einem Urogramm
dadurch sichtbar gemacht, dass dem Patienten eine rntgendichte (meist jodhaltige) Substanz injiziert wird, die die
Nieren durch tubul!re Sekretion (S. 359 f.) rasch ausscheiden. Der Harn wird von den Nierenkelchen aufgefangen und
gelangt *ber Nierenbecken und Ureter zur Harnblase. Der
Harnabfluss wird durch die Peristaltik des Ureters gefrdert;
sie ist beim linken Ureter (rechts im Bild) als Konturunterbrechung erkennbar (Rntgenbild: G. Schindler).
Klinke, Pape, Silbernagl, Physiologie (ISBN 3137960053), K 2005 Georg Thieme Verlag KG
12.1 Ein Iberblick
Nierenrinde
Schließlich haben die Nieren weitere wichtige Aufgaben
im Zwischenstoffwechsel des Gesamtorganismus. Gluconeogenese (aus Glutamin u. a.) und Argininsynthese
(aus Citrullin) sind zwei Beispiele daf r (S. 370 f.).
Ein kurzer Blick auf die Anatomie
Nierenmark
A. renalis
Kelch
V. renalis
Nierenbecken
Ureter
Abb. 12.2 Bau der Niere. Die R*ckseite der rechten Niere
ist hier abgetragen, um die Schichten des Nierenparenchyms (Nierenrinde und -mark) sowie das Kelchsystem und
das Nierenbecken sichtbar zu machen. Die gesamte Niere
ist von einer widerstandsf!higen Kapsel umgeben.
Glomeruli
BowmanKapsel-Raum
peritubuläre
Kapillaren
Um zu beantworten, wie die Nieren ihre Aufgaben bew8ltigen, m ssen wir uns kurz mit dem Bau dieses paarigen
Organs besch8ftigen (Abb. 12.1 u.12.2). Jede Niere hat
einen arteriellen Zufluss (A. renalis), einen vensen Abfluss (V. renalis), Lymphgef8ße und einen Harnleiter
(Ureter), in dem der in der Niere gebildete Urin kontinuierlich abfließt. Lber den linken und rechten Ureter
gelangt der Urin in die Harnblase, sammelt sich dort an,
um schließlich von Zeit zu Zeit ber die Harnrhre
(Urethra) ausgeschieden zu werden (Miktion; Steuerung
Kap. 27).
Im histologischen Schnitt unter dem Mikroskop
(Abb. 12.3) sieht man in der oberfl8chennahen Nierenrinde (Kortex) ein Gewirr von Kan8lchen, die Tubuli, und
dazwischen ab und zu ein rundes Nierenkrperchen, in
das ein Kn8uel von Blutkapillaren, der Glomerulus, eingest lpt ist. Der Glomerulus samt dort entspringendem
Tubulus wird Nephron genannt. Jede Niere besitzt mehr
als 1 Million solcher Nephrone.
Wie entsteht der Harn?
Diese Frage hat der deutsche Physiologe Carl Ludwig
(Abb. 12.4) in der Mitte des vorigen Jahrhunderts erstmals
richtig beantwortet (44). Er postulierte, dass der Harn
prim8r durch Filtration in den Glomeruli entsteht, wobei es der Blutdruck in den glomerul8ren Kapillaren sei,
der den Prim8rharn aus diesen abpresst. Danach entspr8che der dabei gebildete Prim-rharn (Ultrafiltrat) in
seiner Zusammensetzung weitgehend dem Plasmawasser. Der endg ltige Urin ist allerdings ganz anders zusam-
größeres
Blutgefäß
proximaler Tubulus
(Pars convoluta)
Abb. 12.3 Feinbau der Niere. In diesem Schnitt durch die
Nierenrinde sind drei Glomeruli (Durchmesser ca. 0,2 mm)
sichtbar, um die sich die Konvolute proximaler und distaler
Tubuli kn!ueln (s. auch Abb. 12.10, S. 332; histologischer
Schnitt: U. Pfeifer). Dazwischen verlaufen die peritubul!ren
Kapillaren. Ein Teil dieser Strukturen ist zur Verdeutlichung
dunkelgrau hervorgehoben.
Abb. 12.4 Carl F. Ludwig (1816 – 1895; Physiologe in Marburg, Z*rich, Wien und Leipzig) stellte 1842 erstmals die
Hypothese auf (44), dass der Harn durch Ultrafiltration am
Glomerulus entsteht und anschließend durch tubul!re Resorption modifiziert wird (Lithographie von M. Brdel nach
einer Zeichnung von Ludwig Knaus, 1867).
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327
12 Die Funktion der Nieren
Glomerulus
1,0 »
glomerulär filtrierte Menge/Zeit
= fraktionelle Ausscheidung (FE)
0
Abb. 12.5 Filtriert wird (fast) alles; ber die Ausscheidung entscheiden Tubulus und Sammelrohr. Wird weder
resorbiert noch sezerniert, was z. B. (mit kleinen Einschr!nkungen) f*r Kreatinin zutrifft, so gilt: filtrierte Menge/Zeit =
ausgeschiedene Menge/Zeit, d. h., die fraktionelle Ausscheidung (FE) betr!gt 1,0 oder 100%. Harnstoff wird teilweise
mengesetzt. Das erkl8rte Ludwig damit, dass die Stoffe,
die im Endurin fehlen, entlang des Tubulusrohres resorbiert werden, d. h. vom Tubuluslumen in die peritubularen Kapillaren und damit wieder zur ck ins Blut gelangen. Er machte daf r Diffusionsvorg8nge verantwortlich,
doch wissen wir heute, dass dies nur teilweise richtig ist
und eine Reihe von Stoffen mittels aktiver Transportmechanismen (S. 28 f.) aus dem Tubuluslumen entfernt
wird. Bleibt noch zu erkl8ren, warum die Menge einiger
Stoffe im Endurin grßer ist als die im glomerul8ren
Filtrat: Tubuluszellen resorbieren nicht nur, sondern sie
knnen zus8tzlich bestimmte Stoffe in der Gegenrichtung
aktiv sezernieren, d. h. aus dem peritubul8ren Blut ins
Tubuluslumen schaffen.
Damit ergibt sich folgendes Bild: Sieht man von Makromolek len ab, enth8lt das Glomerulusfiltrat alle im
Plasma gelsten Stoffe, und zwar in praktisch der gleichen Konzentration.* Da die glomerul-re Filtrationsrate
(GFR) beider Nieren rund 180 l pro Tag betr8gt (Tab. 12.2,
S. 333), filtrieren unsere Nieren die im Filtrat gelsten
Stoffe in riesigen Mengen. (Die filtrierte Menge/Zeit errechnet sich aus der jeweiligen Plasma(-Wasser)-Kon*
Wegen des Gibbs-Donnan-Potenzials von ca. 1,5 mV (Blutseite
negativ), das durch die ungleiche Verteilung der zumeist
anionischen Proteine am glomerul8ren Filter entsteht, enth8lt
das Filtrat im Vergleich zum Plasma eine um ca. 5 % hhere
Konzentration an filtrierbaren Anionen (z. B. Cl–, HCO3–) und
eine um ca. 5 % niedrigere Konzentration an filtrierbaren
Kationen (z. B. Na+, K+).
Kreatinin 1,0
0,5
Glucose » 0
Ausscheidung
Harnstoff 0,4
keine
Ausscheidung
p-Aminohippurat 5,0
geregelte
Ausscheidung
1,5
1,0
ausgeschiedene Menge/Zeit
20
mmol/d
hohe
Ausscheidung
2,0
+
Sammelrohr
1.000
mmol/d
extrem hohe
Ausscheidung
K 0,03 – 1,5
Sekretion
800
mmol/d
4,5
+
geregelte
Resorption
26.000
mmol/d
Na 0,002 – 0,07
Resorption
180
l/d
5,0
Tubulus
geregelte
Sekretion
800
mmol/d
Wasser 0,003 – 0,1
Filtration
fraktionelle Ausscheidung (FE)
328
resorbiert (FE = ca. 0,4; s. auch Legende zu Abb. 12.27),
Glucose praktisch vollst!ndig (FE = 0,0005) und Wasser, Na+,
K+ und andere nach Bedarf (Regelung u. a. durch Hormone).
Durch tubul!re Sekretion kann die FE auf *ber 1 steigen, im
Extremfall (Hippurat, p-Aminohippurat) sogar auf etwa 5.
zentration mal GFR; s. u.) F r Na+ z. B. sind das t8glich
etwa 26 000 mmol, f r Glucose und Harnstoff rund 800
bzw. 1000 mmol! Davon erscheinen allerdings ganz unterschiedliche Anteile im Endurin (fraktionelle Ausscheidung = fraktionelle Exkretion, FE, Abb. 12.5).
Mit dieser Kombination von immens hoher Filtrationsrate und mehr oder minder stark ausgepr8gter Resorption
sind alle Anforderungen an die Niere erf llt: „Harnpflichtige“ Stoffwechsel-Endprodukte wie Kreatinin, Sulfat und
Harnstoff knnen den Krper in großen Mengen verlassen, w8hrend die Ausscheidung von Wasser und Elektrolyten je nach Bedarf in einem weiten Ausmaß variiert
werden kann. F r Stoffe, die entlang des Tubulus zus8tzlich sezerniert werden (z. B. Hippurat), bietet das hohe
Filtrat zudem ein großes Lsungsvolumen, was ihrer
raschen Ausscheidung im Urin zugute kommt (Abb. 12.5).
Woher weiß man,
was in der Niere vorgeht?
Unzug8nglich, wie das Innere der Niere ist, war man bei ihrer
Erforschung bis ins 17. Jahrhundert auf die Untersuchung des
Urins angewiesen. Ihr Ergebnis bildete dann zusammen mit
histologischen Erkenntnissen in der Mitte des 19. Jahrhunderts
die Grundlage, eine fundierte Hypothese ber die intrarenale
Urinbildung aufzustellen (44). Erst im 20. Jahrhundert wurden
moderne Untersuchungstechniken entwickelt, die ein besseres
Verst8ndnis der Nierenfunktion ermglichten. So wurde um 1930
mit der Clearancemessung eine noch heute ben tzte Methode
zur quantitativen Erfassung dessen entwickelt, was die ganze
Niere leistet. Die ersten Versuche zu erfahren, was in dieser Black
Klinke, Pape, Silbernagl, Physiologie (ISBN 3137960053), K 2005 Georg Thieme Verlag KG
12.2 Menge ist Volumen mal Konzentration: die Clearance
Nierenoberfläche
1
Öl
Glomerulus
und Mikroperfusion (75) einzelner Nierentubuli der Ratte in vivo
(Abb. 12.6) brachten dann eine F lle neuer Erkenntnisse ber die
Niere und zeigten andererseits, wie heterogen die Tubulusabschnitte arbeiten. Sp8ter wurden isolierte Tubuli in vitro perfundiert, die B rstensaum- und Basolateralmembranen in Form von
Vesikeln isoliert und getrennt untersucht sowie Nierenzellen in
Kultur gez chtet (Abb. 1.4, S. 7). Es gelang auch, die durch einzelne Membrankan8le fließenden Ionenstrme mit der Patchclamp-Methode zu messen (Abb. 2.8 u. 2.9, S. 26 f.), f r deren
Entwicklung 1991 der Nobelpreis f r Physiologie an E. Neher und
B. Sakmann verliehen wurde. Schließlich konnten k rzlich Kanalund Carriermolek le isoliert und deren molekulare Struktur
bestimmt werden. Das Wissen ber tubul8re, zellul8re, subzellul8re und molekulare Mechanismen der Nierenfunktion wuchs
dadurch in den letzten Jahrzehnten immens, doch sind integrative Leistungen der Niere wie z. B. die Blutdruckregulation nach
wie vor nur am intakten Organ im lebenden Tier zu untersuchen.
Moderne, empfindliche und gleichzeitig schonende Messmethoden haben auch hier große Fortschritte gebracht (z. B. 23, 24, 38).
Leider ist in einem solchen Lehrbuch kein Platz, die Geschichte und die Methoden der Nierenforschung ausf hrlicher zu
schildern, so dass dem interessierten Leser daf r die spannende
Schilderung der Historie (7) und die methodischen Kapitel in
ausf hrlicheren Werken (9,11, 13) empfohlen werden.
Glaskapillare
2
Tubulus
3
Nierenrinde
12.2
peritubuläres
Kapillarnetz
4
Abb. 12.6 Die Mikropunktion einzelner Nierentubuli
(beim narkotisierten Versuchstier, meist bei der Ratte; s.
Foto) erlaubt es, die Funktion des einzelnen Tubulus in vivo
in der intakten Niere zu untersuchen. Unter dem Mikroskop
wird mit feinen Glaskapillaren (Kapillare Nr. 1 – 4 im Bild,
Spitzendurchmesser ca. 10 Mm) in oberfl!chliche Tubuli eingestochen. (Das Foto zeigt die Aufsicht auf die Nierenoberfl!che.) Eine in Kapillare 1 gesammelte Probe z. B. gibt,
verglichen mit dem Plasma, Aufschluss dar*ber, wie sich die
Zusammensetzung des Prim!rharns zwischen Glomerulus
und Punktionsstelle ge!ndert hat (z. B. Abb. 12.19/1, 12.21,
12.22, 12.27, 12.32 und 12.36). Kapillare 2 ist mit einer
Mikroperfusionspumpe verbunden (75). Damit kann dem
Tubulus eine Fl*ssigkeit angeboten werden, die eine vorgew!hlte Zusammensetzung hat und deren Ver!nderung nach
der Tubuluspassage (Probe wird in Kapillare 3 gesammelt)
analysiert wird (z. B. Konzentrationsabfall eines Stoffes im
Vergleich zu mitperfundiertem Inulin = Resorption dieses
Stoffes). Ein stromaufw!rts der Kapillare 2 injizierter Nlblock
(im Foto schwarz) verhindert dabei die Vermischung mit
dem nat*rlichen Tubulusharn. Mit Kapillare 4 kann schließlich auch das peritubul!re Kapillarnetz durchstrmt werden,
so dass z. B. die Sekretion eines Stoffes vom Blut ins
Tubuluslumen verfolgt werden kann.
Box vor sich geht, wurden bereits in den 20er Jahren gemacht, als
am Frosch das erste Mal einzelne Nierentubuli punktiert wurden
(55). Dass diese Methode erst 40 Jahre sp8ter wirkliche Fr chte
brachte, lag daran, dass dazu Ultramikromethoden entwickelt
werden mussten, mit denen man in den winzigen Harnproben
von einigen Nanolitern (10– 9 l!) Stoffe wie Na+, Glucose, Inulin
usw. quantitativ messen konnte. Mikropunktion, Mikroinfusion
Menge ist Volumen mal Konzentration:
die Clearance
Fr die inerte Substanz Inulin ist die Tubuluswand dicht,
so dass die filtrierte Inulinmenge gleich der ausgeschiedenen Menge ist. Aus dieser Bilanz folgt: GFR = InulinClearance = V̇U · U/P (ml/min). Da die endogene Kreatinin-Clearance » GFR, ist die Kreatininplasmakonzentration theoretisch ein reziprokes Maß fr die GFR, hat aber
praktisch nur eine beschr:nkte Aussagekraft. Die Clearance (C) kann fr jeden frei filtrierten Stoff (X) bestimmt werden. Ist CX/GFR < 1, wird der Stoff nettoresorbiert (z. B. Na+, Glucose), gilt CX/GFR > 1, wird er
nettosezerniert (z. B. PAH). Der Quotient CX/GFR ist
identisch mit der fraktionellen Ausscheidung (FE). Die
fraktionelle Resorption = 1 – FE.
Nach dem im vorigen Abschnitt Gesagten ist eine ausreichend hohe glomerul8re Filtrationsrate (GFR) f r eine
normale Nierenfunktion entscheidend. Normalerweise
betr8gt die GFR 85 – 135 ml/ min pro 1,73 m2 K8rperoberfl-che. Viele Nierenerkrankungen werden vor allem
deshalb gef8hrlich, weil in ihrem Verlauf die GFR auf zu
geringe Werte abzusinken droht (S. 372). Die GFR-Bestimmung steht daher im Zentrum, wenn die Nierenfunktion
beurteilt werden soll. Wie aber l8sst sich die intrarenal
ablaufende Filtration beim Patienten von außen messen?
Nach einem von Adolf Fick eingef hrten Prinzip kann
aus der Mengenbilanz eines Indikators, dessen Konzentrationen an den Ein- und Ausg8ngen des jeweiligen
Organs gemessen werden, auf die Flussraten der Medien
geschlossen werden, in denen der Indikator gelst ist
(Abb. 12.7). Was heißt das im Fall der Niere? Prinzipiell
sind es drei Arten, auf die sich die Menge einer Substanz
im Tubuluslumen erhhen kann, n8mlich durch Filtration, Sekretion und metabolische Bildung, sowie drei
Wege, auf denen die Menge im Lumen verringert werden
kann, n8mlich Resorption, Ausscheidung (Exkretion)
Klinke, Pape, Silbernagl, Physiologie (ISBN 3137960053), K 2005 Georg Thieme Verlag KG
329
H2O
keine Sekretion, keine Resorption
H2O
filtrierte
Inulinmenge
Zeit
=
ausgeschiedene
Inulinmenge
Zeit
Inulinkonzentration
im Plasma
GFR
×
GFR
Pin
=
=
V×U Uin
×
×
VU Uin
×
Pin
8
700
7
600
6
500
5
400
4
obere Normgrenze
für Kreatininkonzentration
3
300
200
2
0
100
0
20
40
60
80
100
120
140
160
2
0
180
Inulin-Clearance = GFR (ml/min pro 1,73 m )
Urinzeitvolumen
und metabolischer Abbau. Kreist nun im Blut ein Stoff,
z. B. das Polysaccharid Inulin, der
– frei filtriert,
– nicht resorbiert,
– nicht sezerniert und
– weder im Tubuluslumen gebildet noch abgebaut wird,
so kann er nur durch Filtration ins Tubuluslumen gelangen und aus diesem nur durch Ausscheidung mit dem
Urin wieder verschwinden. Es muss also gelten:
filtrierte Inulin-Menge/Zeit
= ausgeschiedene Inulin-Menge/Zeit
800
untere Normgrenze
für die GFR
„blinder“ Bereich
Abb. 12.7 Inulin-Clearance = glomerul:re Filtrationsrate
(GFR), da Inulin frei filtriert, aber weder resorbiert noch
sezerniert wird. Die GFR errechnet sich aus einer Mengenbilanz, wie sie Adolf Fick (1829 – 1901, Physiologe in Marburg, Z*rich und W*rzburg) 1872 erstmalig f*r die unblutige Bestimmung des Herzzeitvolumens angewandt hat
(FickOsches Prinzip). Die normale GFR betr!gt ca. 85 – 135,
durchschnittlich rund 125 ml/min pro 1,73 m2 Krperoberfl!che (nach 67).
(12.1)
Da Menge/Zeit = (Volumen/Zeit) mal Konzentration und
außerdem die Konzentrationen eines frei filtrierbaren
Stoffes wie Inulin in Plasma und Filtrat praktisch gleich
groß sind (PIn [g/l]), lautet Gleichung 12.1 nun:
GFR · PIn = V̇u · UIn
9
1
Inulinkonzentration
im Endurin
Endurin
Kreatininkonzentration im Plasma (mg/dl)
Adolf Fick
Inulin
Kreatininkonzentration im Plasma (µmol/l)
12 Die Funktion der Nieren
Inulinkonzentration steigt
wegen H2O-Resorption
330
(12.2)
wobei GFR in ml/min, V̇u = Urinzeitvolumen (ml/min) und
UIn = Inulinkonzentration im Endurin (g/l) ist. Praktisch
infundiert man dazu Inulin und misst anschließend (z. B.
photometrisch) seine Konzentrationen in Plasma und
Urin. F r die Bestimmung von V̇u wird initial die Harnblase geleert (und dieser Harn verworfen: Volumen = 0,
Zeit = 0) und anschließend mglichst lange (12 – 24 Stunden) der Urin gesammelt. Aus dem gesammelten Urinvolumen geteilt durch den Zeitabstand zur initialen
Abb. 12.8 Die Kreatininkonzentration im Plasma (PKr) ist
ein einfacher, aber nur relativ ungenauer Indikator fr
die GFR. Bei konstanter Kreatininbildung (in den Muskeln)
ist PKr theoretisch umgekehrt proportional der GFR. Allerdings streuen die Einzelwerte um diese hyperbolische Funktion so stark, dass die obere Normgrenze von PKr (waagrechte, gestrichelte Linie) im Durchschnitt erst bei einer GFREinschr!nkung auf 40 – 50% und im Einzelfall sogar erst bei
20% *berschritten wird. Ein Absinken der GFR unter ihre
untere Normgrenze (senkrechte gestrichelte Linie) wird also
bei allen Patienten nicht erkannt, deren PKr-Werte im linken
unteren Quadranten liegen: „blinder“ Bereich (nach 43).
Blasenentleerung ergibt sich V̇u. Mit dieser Anwendung
des Fick;schen Prinzips l8sst sich so erstaunlicherweise
die auf direktem Wege praktisch unbestimmbare Grße
GFR aus der umgeformten Gleichung 12.2 berechnen:
GFR = V̇u · UIn/PIn
(12.3)
Man nennt die rechte Seite der Gleichung 12.3 auch
Clearance, so dass festzustellen ist: Inulin-Clearance =
GFR.
Da die Infusion von Inulin ein relativ aufwendiges
Verfahren ist, wird die Inulin-Clearance nur ausnahmsweise bestimmt. Einfacher ist die GFR-Messung mit
einem Indikator, der normalerweise schon im Plasma
vorhanden ist, dem Kreatinin; es entsteht im Muskelstoffwechsel aus Phosphokreatin. Endogenes Kreatinin
erf llt die oben genannten Kriterien (vor allem die der
Nichtsekretion) nicht so streng wie Inulin, doch ist die
endogene Kreatinin-Clearance f r die Routine berpr fung der renalen Filtrationsleistung vllig ausreichend.
Angenommen, die Kreatininproduktion im Krper ist
konstant (was außer nach starker Muskelt8tigkeit
meist der Fall ist), so steigt die Kreatininkonzentration im Plasma (PKr) bei einer abfallenden GFR so
lange an, bis die filtrierte (Menge/Zeit) (GFR · PKr)
wieder der der produzierten Menge/Zeit gleicht. Je
niedriger die GFR, desto hher steigt also PKr . Kann
Klinke, Pape, Silbernagl, Physiologie (ISBN 3137960053), K 2005 Georg Thieme Verlag KG
12.3 Die Nierendurchblutung
man sich also die Clearancebestimmung sparen und
schon allein aus der PKr eines Patienten auf die Hhe
seiner GFR schließen? Wie Abb. 12.8 zeigt, geht dies
leider nur ungenau, es sei denn, die GFR ist schon auf
etwa ein Viertel ihrer normalen Grße abgesunken.
Einen grßeren Aussagewert hat die (einfach zu messende) PKr allerdings dann, wenn bei ein und demselben Patienten der Verlauf seiner Nierenfunktion in
engen Zeitabst8nden verfolgt werden soll.
12.3
ungesättigt
0
p-Aminohippurat-Konzentration im Plasma (mmol/l)
2
4
6
8
10
700
5
4
500
p-Aminohippurat (PAH)
400
3
300
2
200
Inulin
fraktionelle Ausscheidung
600
Clearance (ml/min)
1
100
Glucose
0
0
ungesättigt
Auch f r einen x-beliebigen Stoff im Filtrat l8sst sich eine
Clearance (Cx) bestimmen, wobei jede renale Clearance
formal das bei der Nierenpassage vom Stoff X vllig
befreite oder „gekl8rte“ Plasmavolumen/Zeit ist (daher
der Name Clearance). Anschaulicher ist wohl der Clearancequotient (CX/CIn). Er ist identisch mit der Fraktion
der filtrierten Stoffmenge/Zeit, die ausgeschieden wird.
Man nennt ihn daher auch fraktionelle Ausscheidung
oder fraktionelle Exkretion, kurz FE. Bei Inulin und
Kreatinin wird die gesamte filtrierte Menge ausgeschieden: FE = 1. Ist FE < 1, wird der betreffende Stoff entlang
des Tubulus und des Sammelrohrs nettoresorbiert. (Eine
solche Netto- oder Per-saldo-Resorption kann u. U. auch
das Ergebnis einer Resorption in einem Tubulusabschnitt
und einer im Vergleich dazu geringeren Sekretion in
einem anderen Tubulusabschnitt sein; s. u.) Der Teil der
filtrierten Menge/Zeit, der wieder resorbiert wird, heißt
fraktionelle Resorption; sie errechnet sich aus 1 – FE
(Abb. 12.5, S. 328).
F r bestimmte Substanzen wird eine FE > 1 gefunden.
Wenn ein solcher Stoff nicht im Tubuluslumen gebildet
wird, muss daraus geschlossen werden, dass er durch
Sekretion ins Lumen gelangt ist (Abb. 12.5). Das ist
typisch f r Substanzen, die besonders rasch aus dem
Organismus entfernt werden sollen. Bestimmte Abfall-,
Gift- und Fremdstoffe, z. B. Hippurat oder Penicillin, gehren dazu. Aber auch schon bei einer FE von 0,2 – 0,7,
wie sie f r Harnstoff gemessen wird (Abb. 12.5, S. 328), ist
die absolute Ausscheidung bereits sehr hoch, da ja die
Bezugsgrße (filtrierte Menge/Zeit = GFR · Harnstoffplasmakonzentration = 180 l/d · 5 mmol/l = 900 mmol/d) so
gewaltig ist.
Die FE von p-Aminohippurat (PAH) betr8gt, als Extremfall, sogar rund 5 oder 500 %, d. h., die sezernierte
PAH-Menge/Zeit ist rund viermal so groß wie die filtrierte
Menge/Zeit. 100% Filtration + 400 % Sekretion ermglichen eine so schnelle Ausscheidung, dass in der Nierenvene kaum mehr PAH zu finden ist (s. u.). Da die Sekretion
von PAH und anderen organischen S8uren und Basen
durch s8ttigbare Carrier vermittelt wird (Abb. 12.35,
S. 350 f.), sinkt die FE dieser Stoffe allerdings, wenn ihre
Plasmakonzentration ansteigt (Abb. 12.9, obere Kurve).
Sekretion
zunehmend gesättigt
20
40
60
80
100
120
0
Glucosekonzentration im Plasma (mmol/l)
Resorption
zunehmend gesättigt
Abb. 12.9 Hohe Plasmakonzentrationen s:ttigen die tubul:ren Carrier. Im Falle der Glucose (Resorptionscarrier)
steigt dadurch die fraktionelle Ausscheidung (FE) von praktisch 0 bei normalen Plasmawerten gegen 1 an. Beim pAminohippurat (PAH; Sekretionscarrier) hingegen, das zur
Bestimmung des renalen Plasmaflusses infundiert wird, f!llt
die FE von ca. 5 (bei niedriger Plasmakonzentration) in
Richtung 1 ab. Die PAH-Clearance ist daher nur bei unges!ttigter Sekretion als Maß f*r den renalen Plasmafluss
g*ltig (nach 54).
die GFR der meisten Glomeruli weitgehend blutdruckunabh:ngig ist und ganz den Anforderungen des SalzWasser-Haushalts angepasst werden kann. Als Mechanismen liegen der Autoregulation die myogene
Reaktion der pr:glomerul:ren Gef:ße und ein tubuloglomerul:res Rckkopplungssignal im juxtamedull:ren
Apparat sowie der Renin-Angiotensin-Mechanismus zugrunde. Eine Blutdruckabh:ngigkeit der Nierenmarkdurchblutung ist Ursache der Druckdiurese, die fr die
Langzeitregulation des Blutdrucks wichtig ist.
Die Nierendurchblutung
Die hohe renale Durchblutung (RBF » 1,2 l/min) kommt
zu 90 % der Rinde zugute, wo O2 grKßtenteils fr
Resorptionsprozesse verbraucht wird. Da PAH von der
Niere fast vollst:ndig extrahiert wird, ist die PAHClearance ein Maß fr den renalen Plasmafluss (RPF),
aus dem sich mit dem H:matokrit der renale Blutfluss
(RBF) errechnet. RBF und GFR sind autoreguliert, so dass
Das Wundernetz
Jede der beiden Nieren bekommt ihr arterielles Blut
durch die A. renalis, das ber die Aa. interlobares in die
Aa. arcuatae gelangt. Aus ihnen zweigen senkrecht in
Richtung Nierenoberfl8che die Aa. interlobulares ab, von
denen w8hrend des ganzen Verlaufs durch die Rinde
allseits afferente Arteriolen abgehen, an denen die Glo-
Klinke, Pape, Silbernagl, Physiologie (ISBN 3137960053), K 2005 Georg Thieme Verlag KG
331
332
12 Die Funktion der Nieren
B
Rinde
Vas afferens
peritubuläres
Kapillarnetz
Bürstensaum
Verbindungsstück
A. interlobularis
distaler
Tubulus
(Konvolut)
Glomerulus
A. arcuata
®F
proximaler
Tubulus
(Konvolut)
kortikales
Nephron
äußeres
Mark
®D
juxtamedulläres
Nephron
Vasa recta
proximaler
Tubulus
(Pars recta)
inneres
Mark
D
proximaler Tubulus (Konvolut)
distaler Tubulus
(dicker, aufsteigender
Teil der Henle-Schleife)
Henle-Schleife
E
Papille
Mark
dünner Teil der Henle-Schleife
®E
Rinde
Schaltzelle
dünner Teil
der Henle-Schleife
A
Hauptzelle
A.
renalis
C
Abb. 12.10 Feinstruktur der Niere. Die Nierenrinde enth!lt
pro Niere ca. eine Million Glomeruli, die großteils kortikal (C
links) und zu rund 20% marknah (juxtamedull!r, C rechts)
angeordnet sind. Zu jedem Glomerulus gehrt ein Tubulus
(zusammen Nephron genannt), dessen Henle-Schleife bei
juxtamedull!ren Nephronen bis ins innere Nierenmark hinab-
meruli wie Apfel am Stiel h8ngen (Abb. 12.10). Die afferente Arteriole (Vas afferens) verzweigt sich im Glomerulus in die glomerul-ren Kapillaren. Im Unterschied zu
anderen Organkreisl8ufen schließen sich jetzt keine Venolen an, sondern die Glomeruluskapillaren treten wieder zu einer efferenten Arteriole (Vas efferens) zusammen, die sich in den oberfl8chlichen und mittelkortikalen
Glomeruli anschließend erneut zu den peritubul-ren
Kapillaren verzweigt (daher die alte Bezeichnung „Wundernetz“). Sie versorgen vor allem die Tubuluszellen der
Nierenrinde. Das Nierenmark wird nicht durch Arterien,
sondern durch die efferenten Arteriolen der marknahen,
sog. juxtamedull8ren Glomeruli versorgt. Diese Arteriolen verzweigen sich im Mark in die absteigenden Vasa
recta (Abb. 12.10). Von den peritubul8ren Kapillaren (Nierenrinde) sowie ber aufsteigende Vasa recta (Nierenmark) gelangt das vense Blut nacheinander in die Vv.
arcuatae, die Vv. interlobares und die V. renalis und
erreicht schließlich die V. cava.
Sammelrohr
F
kortikales Sammelrohr
reicht. Der distale Tubulus m*ndet *ber ein Verbindungsst*ck in ein Sammelrohr. Das Kapillarnetz der Rinde wird von
den Vasa efferentia der kortikalen Glomeruli, die Vasa recta
des Marks von den Vasa efferentia juxtamedull!rer Glomeruli
gespeist (B) (elektronenmikroskopische Aufnahmen: W.
Kriz).
Die Nierenrinde ist stark durchblutet
Zu den Nieren fließen etwa 15 – 25 % des Herzzeitvolumens (im Mittel rund 1,2 l/min, s. Tab. 12.2, S. 333), eine
enorm starke Durchblutung (renaler Blutfluss, RBF)
also, wenn man bedenkt, dass sie am Krpergewicht nur
mit ca. 0,4 % beteiligt sind. Ihre auf das Organgewicht
bezogene Durchblutung von 3 – 5 ml/min pro g Gewebe
wird z. B. vom Myokard nur bei maximaler Koronardilatation erreicht. W8hrend es beim Herzmuskel aber der
Sauerstoffbedarf ist, der die hohe Durchblutung erfordert,
steht die hohe renale Durchblutung ganz im Dienste der
Filtratbildung und damit letztendlich in dem der Regulations- und Ausscheidungsaufgaben der Nieren. Da die
Filtratbildung eine Aufgabe der Rinde ist, verwundert es
nicht, dass diese rund 90 % des RBF erh8lt, w8hrend das
8ußere Mark ca. 10 % und das innere Mark gar nur 1 – 2%
bekommt.
Die renale arterioven8se O2-Differenz betr8gt wegen
der vergleichsweise extrem hohen Durchblutung nur etwa
14 ml/l Blut, d. h., dem arteriell herangef hrten Blut (mit
ca. 200 ml O2/l Blut) werden nur 7% seines O2 entnommen
Klinke, Pape, Silbernagl, Physiologie (ISBN 3137960053), K 2005 Georg Thieme Verlag KG
12.3 Die Nierendurchblutung
Voraussetzung f r die Bestimmung des RBF mit der PAHClearance ist, dass die Nieren auch wirklich die oben
genannten 90 % des arteriellen PAH extrahieren. Das tun
sie allerdings nur bei relativ niedriger PAH-Plasmakonzentration (KM » 10 mmol/l), bei der die PAH-Sekretion
noch nicht ges8ttigt ist (Abb. 12.9, obere Kurve).
Wird der Urin nicht durch Miktion aus der Harnblase,
sondern mittels eines Katheters aus einem der beiden
Ureteren gesammelt, kann die Nierendurchblutung mit
der PAH-Clearance auch seitengetrennt bestimmt werden. Mit Radioisotopen oder Rntgenkontrastmitteln, die
sich in der Niere 8hnlich wie PAH verhalten, ist es
mglich, die Nierendurchblutung auch mit Scannern
bzw. am Rntgenschirm abzusch8tzen und vor allem
einen Vergleich zwischen den beiden Nieren anzustellen.
Tabelle 12.2 Globale Funktionswerte der Nieren
– Renaler Plasmafluss (RPF, autoreguliert):
480 – 800 ml/min pro 1,73 m2 KO*
– Renale Durchblutung (RBF) = RPF/(1 – Hkt**) =
870 – 1540 ml/min pro 1,73 m2 KO*
– Glomerul!re Filtrationsrate (GFR, autoreguliert):
ca. 120 ml/min pro 1,73 m2 KO*
– Filtrationsfraktion (FF = GFR/RPF):
ca. 0,19 (u. a. Atriopeptin-abh!ngig)
– Urinzeitvolumen (V̇U): 0,7 – 1,8 l/d
– Harnosmolalit!t: Normalbereich
ca. 250 – 1000 mosm/kgH2O
– Harn-pH-Wert: 4,5 – 8,2
– Fraktionelle Ausscheidung im Harn (FE):
s. Tab. 12.3 (S. 338) und Abb.12.5 (S. 328)
Blutdruckabfall entlang der Nierengef1ße
* Krperoberfl!che
** H!matokrit, hier 0,45 eingesetzt
(s. a. Tab. 10.7, S. 302). Bentigt wird der Sauerstoff haupts8chlich f r die prim8r-aktive, d. h. ATP-verbrauchende
Resorption des filtrierten Na+. In einer nicht filtrierenden und daher nicht resorbierenden Niere sinkt der O2Verbrauch auf einen basalen Wert von etwa 10 % des
normalen Wertes. Das heißt, wenn RBF und GFR kleiner
werden, sinkt die Na+-Resorption und folglich auch der
O2-Bedarf. Hier bestimmt also die Durchblutung den
O2-Verbrauch und nicht umgekehrt – wie etwa beim
Myokard – der O2-Bedarf die Durchblutung. Damit wird
auch klar, dass die renale Durchblutung nicht (wie etwa
die von Herz und Gehirn) metabolisch geregelt sein kann,
sondern im Dienste der spezifischen Nierenfunktionen,
n8mlich Filtration, Resorption und Ausscheidung, steht.
Durchblutungsmessung mit PAH
Wie bereits oben erw8hnt, wird p-Aminohippurat (PAH)
nicht nur filtriert, sondern auch sehr stark sezerniert, so
dass fast die gesamte (90 %) arteriell ankommende PAHMenge mit dem Urin ausgeschieden wird. Setzt man also
die arteriell ankommende mit der ausgeschiedenen PAHMenge/Zeit (ungef8hr) gleich, so ergibt sich:
RPF · PPAH » V̇u · UPAH
RPF » (V̇u · UPAH)/PPAH
oder
(12.4)
(12.5)
Mit anderen Worten: Der renale Plasmafluss (RPF) entspricht in etwa der PAH-Clearance (S. 331). Das heißt,
nach Messung der drei Grßen auf der rechten Seite der
Gleichung 12.5 kann der RPF errechnet werden. Wird
auch noch ber cksichtigt, dass im Urin nicht 100%,
sondern nur 90% des arteriell herangef hrten PAH erscheinen, so muss die PAH-Clearance noch durch 0,9
geteilt werden, um den RPF zu erhalten. Und nun der
letzte Schritt, die Umrechnung von renalem Plasmafluss
(RPF) in renale Durchblutung (renaler Blutfluss, RBF)
mit Hilfe des H8matokrits (Hkt; S. 224):
RBF = RPF/(1 – Hkt)
Der Druck am Ende der Aa. arcuatae betr8gt rund
96 mmHg. Wie groß der Druckabfall in den anschließenden Aa. interlobulares ist, h8ngt nun von deren einbezogener L8nge ab, d. h., wie fr h die betrachtete afferente
Arteriole abzweigt: 90 mmHg marknah und 67 mmHg
unter der Nierenoberfl8che sind Werte, die bei der Ratte
gemessen wurden. Andern sich diese unterschiedlichen
Werte entlang dieses Gef8ßes absolut und/oder relativ
zueinander, sei es durch Widerstands8nderung entlang
der A. interlobularis selbst oder im Verlauf der nachgeschalteten Gef8ße, so wird sich der Druck in den marknahen und markfernen Glomeruli unterschiedlich 8ndern.
Dies ist eine der Mglichkeiten, wie sich der Anteil der
Markdurchblutung an der gesamten Nierendurchblutung
sowie der jeweilige Beitrag der kortikalen und der juxtamedull8ren Glomeruli zur gesamten glomerul8ren Filtrationsrate (GFR) ver8ndern kann.
In den glomerul8ren Kapillaren herrscht ein Druck von
ca. 48 mmHg. (Dieser Druck wurde an der Ratte direkt
gemessen und d rfte beim Menschen sehr 8hnlich sein.)
Dieser Kapillardruck ist die treibende Kraft f r die glomerul8re Filtration (S. 337 f.). Der Druckabfall innerhalb der
Glomeruluskapillaren ist sehr gering (ca. 1 – 2 mmHg).
Andert sich der pr-glomerul-re Widerstand (A. interlobularis und Vas afferens) alleine, so variieren Durchblutung und GFR gleichsinnig, w8hrend eine gleichzeitige
Anderung des postglomerul-ren Widerstands (v. a. Vas
efferens) eine weitgehend unabh8ngige Regulation der
beiden Grßen ermglicht (S. 338 f.). Zum postglomerul8ren Widerstand tragen auch die intrarenalen Venen bei.
W8hrend die Gef8ßweite der A. interlobularis und der
Arteriolen vorwiegend durch deren glatte Muskulatur
eingestellt wird, ist die Weite der intrarenalen Venen sehr
stark vom interstitiellen Druck in der Niere abh8ngig.
Eine Abflussbehinderung z. B. in den ableitenden Harnwegen (S. 363 f.) oder eine osmotische Diurese (S. 353),
bei der die Lumina der Tubuli vergrßert sind, erhhen
diesen Druck in der gesamten Niere, weil sie von einer
widerstandsf8higen Kapsel umgeben ist.
(12.6)
Klinke, Pape, Silbernagl, Physiologie (ISBN 3137960053), K 2005 Georg Thieme Verlag KG
333
GFR
4
2
3
1
4
3
5
6
7
0,4
Autoregulationsbereich
2
0,2
RBF
1
0
0
40
120
160
200
mittlerer arterieller Blutdruck (mmHg)
180
240
0
7
6
150
Blutdruck (mmHg)
80
GFR (ml/min pro g Gewebe)
0,6
5
120
Kapillardruck
konstant
4
3
90
2
60
1
Harnzeitvolumen in % der GFR
12 Die Funktion der Nieren
RBF (ml/min pro g Gewebe)
40
30
20
Druckdiurese
10
0
Anurie
0
80
160
240
mittlerer arterieller Blutdruck (mmHg)
320
Abb. 12.12 Druckdiurese. Trotz Autoregulation von RBF
und GFR (Abb. 12.11) steigt bei einer Blutdruckerhhung die
fraktionelle Wasserausscheidung (Harnzeitvolumen/GFR)
(54). Verantwortlich daf*r ist eine druckabh!ngige Underung der Nierenmarkdurchblutung. Obwohl die Mechanismen der Druckdiurese nicht ganz gekl!rt sind (u. a. Beteiligung vasodilatatorischer Prostaglandine?), spielt sie eine
entscheidende Rolle bei der langfristigen Blutdruckregulation (23, 29). Zu beachten ist auch, dass die Urinproduktion
versiegt (Anurie), wenn der arterielle Mitteldruck auf ca.
50 mmHg abgesunken ist.
Glomerulus
Vas afferens
0
A. interlobularis
30
A. arcuata
334
Abb. 12.11 Autoregulation der Niere. Die Nieren(rinden)durchblutung (RBF) bleibt bei Schwankungen des systemischen mittleren Blutdrucks im Bereich von ca. 80 –
170 mmHg weitgehend konstant. Die Folge davon ist eine
ebenfalls konstante glomerul!re Filtrationsrate (GFR). Diese
autoregulatorische Underung der intrarenalen Strmungswiderst!nde scheint bei kleinen Abweichungen (3 und 5)
vom Normaldruck (4) in den Aa. interlobulares und bei
st!rkeren Underungen (2 und 6) zus!tzlich in den Vasa
afferentia zu geschehen. Bei noch grßeren Druckabweichungen f!llt bzw. steigt RBF (1 und 7). (Der hier im
Tierversuch gefundene Ausgangsdruck bei 4 von 120 mmHg
betr!gt beim Menschen normalerweise ca. 100 mmHg)
(nach 52 und 64).
Autoregulation im Dienst
von Filtration und Salzausscheidung
Die Nierendurchblutung (RBF) steigt zwar mit dem mittleren Blutdruck bis etwa 80 mmHg linear an, bleibt dann
aber trotz weiterer Steigerung des Mitteldrucks bis ca.
170 mmHg weitgehend konstant. Ahnliches gilt f r die
GFR, doch steigt diese, im Gegensatz zum RBF, auch bei
sehr hohem Blutdruck kaum weiter an (Abb. 12.11), weil
es entlang der Glomeruluskapillaren dann fr hzeitig
zum Filtrationsgleichgewicht kommt (Abb. 12.14, S. 337).
Die zunehmende Drucksteigerung zwischen 80 und
170 mmHg wird also offenbar mit einer zunehmenden
Erhhung des renalen Strmungswiderstands beantwortet. Da diese Regulation auch ohne Innervation und
ohne extrarenale Hormone funktioniert, ist sie ein intra-
renaler Prozess: Autoregulation der Nierendurchblutung
(S. 189).
Dass trotz der im Regelbereich konstanten GFR die
renale Ausscheidung von Salz und Wasser mit dem Blutdruck etwas ansteigt (Druckdiurese, Abb. 12.12), wird
damit erkl8rt, dass die juxtamedull8ren Glomeruli – und
damit deren GFR sowie die von ihnen ausgehende Markdurchblutung – nicht oder nicht im gleichen Umfang wie
die kortikalen Glomeruli autoreguliert sind (s. o.). Eine
Verminderung der renalen Konzentrierungsf8higkeit (unter eventueller Mitwirkung von Angiotensin II und Prostaglandinen) ist daran beteiligt. Die Druckdiurese spielt
eine entscheidende Rolle bei der Langzeitregulation des
Blutdrucks. Steigt er volumenbedingt an, wird der Extrazellul8rraum via Druckdiurese verkleinert, was den Blutdruck wieder senkt usw. (S. 385).
Die Mechanismen der renalen Autoregulation sind
noch nicht vllig gekl8rt. Sicher daran beteiligt sind zwei
Prozesse:
1. Die myogene Reaktion (Bayliss-Effekt) der pr8glomerul8ren Nierengef8ße. Die Aa. interlobulares und die
afferenten Arteriolen beantworten eine Blutdruckerhhung mit einer Konstriktion. Bei nur geringer Druckerhhung reagieren von diesen in Serie geschalteten
Gef8ßabschnitten die am weitesten stromaufw8rts
liegenden, so dass die Druckerhhung gar nicht bis zu
den afferenten Arteriolen durchdringt. Steigt der Blutdruck st8rker an, werden zunehmend auch die weiter
stromabw8rts liegenden Gef8ßabschnitte in die Reaktion mit einbezogen. Erst bei Dr cken jenseits der
Autoregulationsgrenze von ca. 170 mmHg schl8gt die
Druckerhhung auf Glomerulus und postglomerul8re
Gef8ße durch (Abb. 12.11).
2. Der tubuloglomerul-re Rckkopplungs-(Feedback-)
Mechanismus (TGF; S. 338 f.). Voraussetzung f r ihn
Klinke, Pape, Silbernagl, Physiologie (ISBN 3137960053), K 2005 Georg Thieme Verlag KG
12.3 Die Nierendurchblutung
Vas afferens
distaler
Tubulus
Nervenfasern
Vas efferens
Macula
densa
granulierte Zellen
Mesangiumzellen
Endothel
dreischichtige
Basalmembran
Endothelpore
Epithelzelle
Filtration
BowmanKapsel-Raum
Schlitzmembran
Fußfortsatz
proximaler
Tubulus
Fußfortsatz
Filtrat
Abb. 12.13 Glomerul:res Filter und juxtaglomerul:rer
Apparat. Das glomerul!re Filter besteht aus drei Schichten,
dem gefensterten Kapillarendothel, der Basalmembran und
dem harnseitigen Epithel mit Podozyten, zwischen deren
Fußforts!tzen Schlitzmembranen mit kleinen Poren ausgespannt sind. Durch dieses Filter werden pro Glomerulus ca.
70 Ml/d und in beiden Nieren zusammen 180 l/d abfiltriert
(GFR). Zum juxtaglomerul!ren Apparat (JGA) gehren die
ist die anatomische Tatsache, dass die in der Wand des
distalen Tubulus gelegene Macula densa innerhalb des
juxtaglomerul-ren Apparats mit dem eigenen Glomerulus in direktem Kontakt steht (Abb. 12.13). Informationen ber die Zusammensetzung des distalen
Tubulusharns knnten somit, so besagt eine 50 Jahre
alte Idee, ber Macula-densa- und Mesangiumzellen
v. a. die afferente Arteriole erreichen und dort den
Strmungswiderstand ver8ndern. Tats8chlich konnte
dann (viel sp8ter) gezeigt werden, dass eine Erhhung
der luminalen NaCl-Konzentration an der Macula densa die Filtrationsrate am zugehrigen Glomerulus
senkt. Da die distale NaCl-Konzentration (unter anderem) von der filtrierten NaCl-Menge/Zeit (= GFR · Plasma-Na+-Konzentration) und somit von der Filtrationsrate des eigenen Glomerulus abh8ngt, kann diese R ckkopplungsschleife der Autoregulation von RBF und GFR
dienen.
reninhaltigen, sog. granulierten Zellen (in der Wand des Vas
afferens), die Macula-densa-Zellen des zu diesem Glomerulus
gehrigen distalen Tubulus und die extraglomerul!ren Mesangiumzellen (Polkissen). Der JGA bietet die Mglichkeit, die
GFR der Zusammensetzung (NaCl!) des fr*hdistalen Tubulusharns anzupassen: tubuloglomerul!rer R*ckkopplungsmechanismus (nach 10 und 47; rasterelektronenmikroskopische
Aufnahmen: W. Kriz).
Trotz einiger noch offener Fragen l8sst sich ber die
physiologische Bedeutung der beiden Mechanismen vereinfachend Folgendes sagen: Der myogene Mechanismus
h8lt ber eine Widerstands8nderung pr8glomerul8rer
Gef8ße den RBF und (davon abh8ngig) die GFR trotz stark
wechselndem (vor allem erhhtem) systemischen Blutdruck konstant (Reaktionszeit ca. 1 s). Der TGF-Mechanismus hingegen passt im normalen Blutdruckbereich die
GFR den Salz-Wasser-Ausscheidungsbed rfnissen an, wobei die Gef8ßweite v. a. der afferenten Arteriole verstellt
wird (Reaktionszeit ca. 10 s). Sind diese Bed rfnisse konstant, werden GFR und RBF durch den TGF-Mechanismus
stabilisiert (s. a. S. 338 f.).
Zu den beiden genannten Mechanismen kommt ein
weiterer Regelkreis hinzu: der Renin-Angiotensin-Mechanismus (S. 369 f. und S. 384 f.). Zusammen mit den
beiden obigen Mechanismen verhindert er am unteren
Ende des Autoregulationsbereichs (80 – 90 mmHg) wahrscheinlich dadurch ein Absinken der GFR, dass er den
Widerstand in der efferenten Arteriole erhht, wobei die
Filtrationsfraktion (s. u.) ansteigt.
Klinke, Pape, Silbernagl, Physiologie (ISBN 3137960053), K 2005 Georg Thieme Verlag KG
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