Wider die Relativierung des Völkermords an den Sinti und Roma

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© Dokumentations- und Kulturzentrum Deutscher Sinti und Roma Heidelberg
Wider die Relativierung des Völkermords an den Sinti und Roma
Stellungnahme des Dokumentationszentrum zu neueren Veröffentlichungen zum Thema
Nach Jahrzehnten des Verleugnens und Verdrängens ist der nationalsozialistische
Völkermord an den Sinti und Roma inzwischen zu einem festen Bestandteil des
historischen Gedächtnisses der Bundesrepublik geworden. Dies wäre nicht möglich
gewesen ohne das Engagement der unmittelbar Betroffenen, also der Überlebenden und
ihrer Angehörigen, die lange um die moralische Anerkennung als Opfer des Holocaust
gerungen haben. Eine wichtige Station auf diesem Weg war die Einrichtung des
Dokumentations- und Kulturzentrums Deutscher Sinti und Roma in Heidelberg zu Beginn
der Neunzigerjahre, wo seit März 1997 die erste ständige Ausstellung zur Vernichtung der
Sinti und Roma im Nationalsozialismus zu sehen ist. Inzwischen wurde unter Federführung
unseres Zentrums eine weitere Dauerausstellung im Staatlichen Museum Auschwitz
realisiert. Bei der Eröffnung am 2. August dieses Jahres gedachte neben weiteren hohen
politischen Repräsentanten der polnische Außenminister Prof. Bartoszewski, der als junger
Mann selbst Häftling in Auschwitz war, der Opfer.
Trotz dieser Fortschritte - vielleicht aber auch als Reaktion auf diese Entwicklung - gibt es in
jüngster Zeit verstärkt Versuche, den nationalsozialistischen Völkermord an den Sinti und
Roma umzudeuten und zu relativieren. Insbesondere die beiden Historiker Yehuda Bauer
und Eberhard Jäckel stehen für eine Geschichtsschreibung, die die Vorstellung von der
Singularität des Holocaust an den europäischen Juden als eine Art von Dogma betrachtet.
Beide Historiker verneinen mit aller Entschiedenheit, dass es hinsichtlich der
Vernichtungspolitik gegenüber Juden sowie Sinti und Roma grundlegende
Gemeinsamkeiten gibt. Sie versuchen zudem ihre Sicht der Dinge über die Grenzen der
Wissenschaft hinaus einem breiten Publikum zu vermitteln, u. a. durch Artikel in
Tageszeitungen und politischen Magazinen oder über Rundfunk und Fernsehen.
Kürzlich erschien nun im Propyläen-Verlag ein Buch des emeritierten Politologieprofessors
Guenter Lewy mit dem Titel "Rückkehr nicht erwünscht. Die Verfolgung der Zigeuner im
Dritten Reich". Lewy hatte sich zuvor noch nie mit diesem Thema befasst. Seine Deutung
stellt nicht nur eine Zuspitzung der Thesen von Bauer und Jäckel und eine Rückkehr zu
längst überwunden geglaubten Deutungsmustern dar, sondern es handelt sich um den
Versuch einer grundlegenden Neubewertung der NS-Verbrechen an dieser Minderheit, die
einer Bagatellisierung gleichkommt. Daher nimmt das Dokumentations- und Kulturzentrum
Deutscher Sinti und Roma im Folgenden zu den zentralen Thesen des Buches Stellung, um
diese einer kritischen Prüfung zu unterziehen.
Guenter Lewy bestreitet, dass es einen Völkermord an den Sinti und Roma gegeben habe;
einen "rassisch" motivierten und planmäßigen Genozid hätten die Nationalsozialisten einzig
für die Juden vorgesehen. Die Verfolgung der Sinti und Roma sieht Lewy hingegen
wesentlich von sozialen Faktoren bestimmt. "Bestimmte Aspekte ihrer Lebensweise", so der
Autor, "sind dazu geeignet, bei ihren Mitmenschen Feindseligkeit hervorzurufen." In der
Einleitung seines Buches breitet Lewy das ganze Arsenal negativer Stereotypen über Sinti
und Roma aus: Lügen und Täuschen, Stehlen und Betrügen werden als "typische"
Verhaltensweisen von "Zigeunern" präsentiert. Dabei beruft sich der Autor auf Quellen, die
man kaum als seriös und wissenschaftlich bezeichnen kann; einmal wird als Beleg sogar
das "Deutsche Kriminalblatt" vom August 1934 (!) angeführt. Manchmal verzichtet Lewy
auch auf Nachweise, etwa wenn er schreibt: "Von den Frauen wusste man, dass sie unter
ihren langen Röcken eine Tasche für die Beute trugen." An anderer Stelle weiß Lewy zu
berichten: "Offenstehende Häuser mögen zur leichten Beute werden, aber Zigeuner haben
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eine abergläubische Furcht vor zugeschlossenen Türen und Fenstern als auch von nachts
umherwandernden bösen Geistern, daher werden die meisten Diebstähle bei Tage und
ohne Einsatz von Einbruchswerkzeugen oder Gewalt durchgeführt."
Es kommt dem Autor nicht in den Sinn, derartige antiziganistische Vorurteile, wie sie seit
Jahrhunderten reproduziert werden, kritisch zu hinterfragen; vielmehr scheint er sie zu
teilen. Um sich vor dem Vorwurf der Pauschalisierung zu schützen, schreibt Lewy zwar am
Ende der Einleitung, dass die Verfehlungen Einzelner grundsätzlich nicht einer Gruppe von
Menschen angelastet werden könnten; doch nur wenige Seiten vorher heißt es, bestimmte
betrügerische Methoden, derer sich "Zigeuner" bedienten, "scheinen zeitlos und universal
zu sein". Dem Leser wird so suggeriert, das Verhalten der Minderheit sei für die Verfolgung
der Sinti und Roma verantwortlich gewesen und nicht die "Rassenpolitik" der
Nationalsozialisten. Es lässt sich leicht ausmalen, was für ein Proteststurm sich erheben
würde, wenn ein Autor unter Rückgriff auf das antisemitische Schriftgut vor und nach 1933
in gleicher Weise mit jüdischen Opfern verfahren würde.
Tatsächlich benutzten die Nationalsozialisten wie im Falle der Juden auch bei der gezielten
Diffamierung der Sinti und Roma tief verwurzelte Vorurteile und Projektionsmuster, um ihre
"Rassenpolitik" zu rechtfertigen und um die Akzeptanz der Bevölkerung wie auch die
Mitarbeit der an der Verfolgung beteiligten staatlichen Institutionen sicherzustellen. Zu
dieser Strategie gehörte insbesondere die systematische Kriminalisierung, wie sie die NSPropaganda gleichermaßen gegen Sinti und Roma wie gegen Juden betrieb. Auch die
letzteren wurden von den Nazis als "Parasiten", "Arbeitsscheue" und "Banditen"
stigmatisiert oder als "Asoziale" in KZs verschleppt, doch käme kein ernsthafter Historiker
auf die Idee, derartige Zuschreibungen mit der historischen Wirklichkeit gleichzusetzen und
die Opfer nachträglich zu beleidigen.
Dass Lewy im Falle der Sinti und Roma die in den Täterakten enthaltenen
antiziganistischen Klischees als Begründung für die Verfolgung bereitwillig übernimmt,
kommt nicht von ungefähr. Will er doch belegen, dass die Grundlage der Verfolgung der
Sinti und Roma nicht - wie im Falle der Juden - die mörderische Rassenideologie der Nazis
gewesen sei; vielmehr habe das "soziale Verhalten" in der nationalsozialistischen
"Zigeunerpolitik" eine wichtige Rolle gespielt. Mit den Deportationen nach Auschwitz als
Folge von Himmlers Erlass vom 16. Dezember 1942 wurde, so Lewy, "nicht die Absicht
verfolgt, die Zigeuner als solche zu vernichten, sondern nur bezweckt, diese weithin
verachtete Minderheit aus Deutschland zu vertreiben." Ein Großteil, vielleicht sogar die
Mehrheit der im Reich lebenden "Zigeuner" sei der Deportation in den Osten entgangen,
wobei das Kriterium der "sozialen Anpassung" eine wesentliche Rolle gespielt habe.
Es gibt eine Vielzahl von Quellen, die diese Behauptungen widerlegen. Nichts zeigt dies
deutlicher, als dass Sinti und Roma ebenso wie Juden in ganzen Familien in die
Vernichtungslager im besetzten Polen deportiert wurden und dass ein Großteil der Opfer
Kinder waren. Sinti- und Roma-Kinder, die man nach der KZ-Inhaftierung ihrer Eltern
zunächst in Kinderheime eingewiesen hatte, wurden später ebenfalls nach Auschwitz
verschleppt, und selbst diejenigen Kinder, die bei "arischen" Adoptiveltern aufgewachsen
waren, blieben nicht von der Vernichtung verschont. Dies gilt auch für jene Sinti und Roma,
die während des Ersten Weltkriegs in der Kaiserlichen Armee gedient und damit ihre
Loyalität für ihr Heimatland unter Beweis gestellt hatten. Sogar Sinti und Roma in der
Deutschen Wehrmacht, die an vorderster Front kämpften, wurden nach ihrem Ausschluss aus "rassepolitischen Gründen", wie es ausdrücklich hieß - nach Auschwitz deportiert.
Manche trugen noch ihre Uniform oder ihre Auszeichnungen, als sie dort eintrafen, wie der
Kommandant von Auschwitz, Rudolf Höß, in seinen autobiografischen Aufzeichnungen
festhielt. Andere wurden an ihren Arbeitsplätzen - etwa bei der Reichspost oder bei der
Reichsbahn - verhaftet und zu den bereitstehenden Deportationszügen gebracht.
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All dies ist in den Erinnerungen der überlebenden Sinti und Roma nachzulesen, jedoch
vertraut Lewy offensichtlich mehr den Dokumenten der Täter. Zwar ist im Schnellbrief des
RSHA zu Himmlers Auschwitz-Erlass vom 29. Januar 1943 (der auf den 16. Dezember
1942 datierte Originalerlass ist nicht erhalten) von bestimmten Ausnahmen die Rede, doch
spielte dies in der Praxis der Deportationen kaum eine Rolle. Lokale Untersuchungen
haben vielmehr gezeigt, dass das Bemühen der Behörden vor Ort entscheidend war, ihre
Stadt oder ihren Bezirk "zigeunerfrei" zu machen. Dies wurde sogar von den Tätern selbst
eingeräumt. Pery Broad, Angehöriger der Politischen Abteilung (Lagergestapo) im
"Zigeunerlager" Auschwitz-Birkenau und 1965 im Auschwitz-Prozess zu vier Jahren
Gefängnis verurteilt, schrieb in seinen autobiografischen Aufzeichnungen, die er nach
seiner Verhaftung Anfang 1945 einem britischen Offizier übergab: "Die Reichszentrale [die
für die Verfolgung der Sinti und Roma verantwortliche Abteilung im
Reichssicherheitshauptamt] wusste, dass es der Wille des allmächtigen Reichsführers war,
die Zigeuner vom Erdboden verschwinden zu lassen, soweit man sie erfassen konnte. Man
wusste, dass die Ausnahmeklauseln nur papierne Dekorationen dieser Ausrottungserlasse
waren und dass man sich wegen Milde sehr leicht in Ungnade setzen konnte."
Dass historische Tatsachen nicht einfach mit dem Wortlaut einzelner Täterdokumente
gleichgesetzt werden können, belegt auch das Schicksal der wenigen von NSRassebiologen als "reinrassig" eingestuften "Zigeuner", die als eine Art anthropologische
Anschauungsobjekte in einem Reservat leben und daher nach den formalen Vorgaben des
genannten Schnellbriefs nicht deportiert werden sollten. Für das Sammellager Magdeburg
wurde jedoch nachgewiesen, dass alle dort inhaftierten Sinti und Roma - einschließlich der
als "reinrassig" klassifizierten - am 1. März 1943 nach Auschwitz verschleppt wurden. Für
"Zigeunermischlinge" war als Alternative zur Deportation in das Vernichtungslager ohnehin
die Zwangssterilisation vorgesehen, was nichts anderes als eine andere Form des
Genozids darstellt.
Angesichts der Zielsetzung seines Buches - die Völkermordverbrechen an den Sinti und
Roma grundsätzlich von jenen an den Juden abzugrenzen - kann es kaum verwundern,
dass Lewy auf die wenigen Ausnahmen sein besonderes Augenmerk richtet. Ausnahmen
hat es indes bei allen Opfern gegeben. So waren jüdische "Mischlinge" in Deutschland von
den Deportationsmaßnahmen weitgehend ausgenommen, während die Nazis selbst
"Achtelzigeuner" nach Auschwitz deportierten und dort ermordeten. Bis zum Ende des
Krieges versuchten die Mitarbeiter der "Rassenhygienischen Forschungsstelle" in Berlin, die
im Auftrag Himmlers die systematische Erfassung aller Sinti und Roma im Reich betrieb,
"Zigeunermischlinge" aufzuspüren, um sie dem Verfolgungsapparat zu überantworten. Zu
diesem Zweck wurden umfangreiche genealogische und anthropologische Untersuchungen
durchgeführt. Dieser apparative Aufwand macht deutlich, welche Bedeutung die
Nationalsozialisten der "Zigeunerfrage" beimaßen, obgleich es sich um eine zahlenmäßig
kleine Minderheit handelte. Unter den Opfern befanden sich auch Menschen, die sich
überhaupt nicht als Angehörige der Minderheit der Sinti und Roma betrachteten oder die
nicht einmal wussten, dass sich "Zigeuner" unter ihren Vorfahren befanden. Wie im Falle
der Juden war mithin nicht das Selbstverständnis der von Verfolgungsmaßnahmen
betroffenen Menschen entscheidend, sondern die von außen aufgezwungene
"Rassendiagnose".
Dass die nationalsozialistische Rassenideologie Grundlage der gegen Sinti und Roma
gerichteten Politik war, zeigen zwei Beispiele besonders anschaulich. Im Mai 1940, als
Polizei und SS auf Befehl Himmlers erstmals deutsche Sinti- und Roma-Familien in das
besetzte Polen verschleppten, wurden im hierfür eingerichteten Sammellager Hohenasperg
bei Stuttgart zwanzig zunächst festgenommene Personen von der Deportation
ausgenommen, nachdem sie ein Mitarbeiter der "Rassenhygienischen Forschungsstelle"
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bei einer Nachuntersuchung als "Nichtzigeuner" eingestuft hatte. Ein ganz ähnlicher
Vorgang trug sich fast auf den Tag genau vier Jahre später im Sammellager Westerbork zu,
wo man provisorisch Sinti und Roma aus den Niederlanden inhaftiert hatte, um sie zur
Vernichtung nach Auschwitz zu deportieren. Etwa die Hälfte der zunächst verhafteten
Menschen wurden als "arisch" entlassen; fast alle übrigen, als "Zigeuner" klassifizierten
Menschen jedoch nach Auschwitz deportiert. Auch hier war die "Rasse" das entscheidende
Kriterium für die Selektion.
Lewys undifferenzierter Umgang mit den Opferzahlen hält einer kritischen Überprüfung
ebenfalls nicht stand. Im Gegensatz zu den besetzten Gebieten vor allem Ost- und
Südosteuropas, wo nur grobe Schätzungen der ermordeten Sinti und Roma möglich sind,
lassen sich die Opferzahlen für Deutschland, Österreich oder das ehemalige "Protektorat
Böhmen und Mähren" anhand der erhaltenen Dokumente mit einiger Genauigkeit
bestimmen. Für diese Länder wurde ein prozentualer Anteil der Ermordeten (im Vergleich
zur Sinti- und Romabevölkerung vor dem Krieg) zwischen 60 und 75 Prozent
nachgewiesen. Die Behauptung von Lewy, "ein bedeutender Teil, vielleicht sogar die
Mehrheit" der Sinti und Roma aus dem Reich sei von den Deportationen nach Auschwitz
ausgenommen worden, entbehrt daher jeder Grundlage. Zu berücksichtigen ist überdies,
dass mindestens 2.000 Sinti und Roma zwangssterilisiert wurden. Selbst diejenigen Sinti
und Roma, die nicht in das besetzte Polen deportiert oder in den KZs im Reichsgebiet
inhaftiert waren (für beide Gruppen ist auf der Grundlage der Quellen eine Todesquote von
weit über 50% anzunehmen), mussten zumeist in kommunalen Internierungslagern unter
unmenschlichen Bedingungen leben oder in Rüstungsbetrieben Zwangsarbeit leisten; nicht
wenige starben aufgrund dieser Umstände vorzeitig. Andere haben nur deshalb überlebt,
weil sie fliehen konnten, sich versteckt hielten oder eine falsche Identität annahmen.
Bei der jüdischen Bevölkerung Deutschlands sowie Österreichs (deren absolute Zahl
natürlich um ein Vielfaches höher lag als im Falle der Sinti und Roma) war der prozentuale
Anteil der Ermordeten im Vergleich zum Jahr 1933 deutlich geringer: Er betrug etwa ein
Drittel, weil viele Juden rechtzeitig emigrieren konnten, wenngleich unter immer
schwierigeren Umständen. Die Tatsache, dass die NS-Führung zunächst die Vertreibung
und die wirtschaftliche Ausplünderung der Juden betrieb, zeigt, dass der Vernichtung des
europäischen Judentums im Zweiten Weltkrieg kein von vornherein festgelegtes
Mordprogramm zugrunde lag. Deshalb ist die Behauptung von Lewy, es habe im Falle der
Sinti und Roma keinen "Generalplan zur Vernichtung" gegeben, ohne Wert. Sowohl der
Völkermord an den Juden als auch den Völkermord an den Sinti und Roma lässt sich nur
erklären durch das Ineinandergreifen von intentionalen Faktoren - das rassenbiologisch
begründete Feindbild - sowie situativer Faktoren - also die äußeren Umstände wie der
Kriegsverlauf - , die eine zunehmende Radikalisierung und den Abbau von Hemmschwellen
zur Folge hatten.
Schon vor dem Krieg waren hunderte Sinti und Roma in Konzentrationslagern inhaftiert
worden, wo sie wie ihre jüdischen Leidensgenossen einem grenzenlosen Terror
ausgeliefert waren. Als die SS-Führung nach der Besetzung Polens begann, ihre viel weiter
reichenden rassenpolitischen Zielsetzungen in die Tat umzusetzen, stand von Anfang an
fest, dass alle deutschen Sinti und Roma gemeinsam mit den Juden in das neu
eingerichtete "Generalgouvernement" deportiert werden sollten. Dies beschloss im
September 1939 eine von Heydrich einberufene Konferenz, und zwar, wie Dokumente
belegen, mit ausdrücklicher Billigung Hitlers. Der Vorbereitung der geplanten Deportationen
diente auch Himmlers so genannter Festsetzungserlass vom 17. Oktober 1939, demnach
alle Sinti und Roma unter Androhung von KZ-Haft ihren Wohnsitz nicht mehr verlassen
durften. Ein halbes Jahr später, im Mai 1940, fuhren auf Befehl Himmlers die ersten
Deportationszüge mit Sinti- und Roma-Familien in das "Generalgouvernement", wo die
meisten der verschleppten Männer, Frauen und Kinder später ums Leben kamen.
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Obgleich sich das Konzept der "Endlösung" schrittweise herausbildete und von situativen
Faktoren wie dem Kriegsverlauf maßgeblich beeinflusst war, war der Gedanke der
physischen Vernichtung von Anfang an in den Vorstellungen und Plänen der SS enthalten.
Auch die kurzfristig erwogenen Projekte einer "territorialen Endlösung" der "Judenfrage"
und der "Zigeunerfrage" - die Schaffung eines entsprechenden "Reservats" in einem
klimatisch besonders ungünstigen Territorium im Osten - kalkulierten das Massensterben
bewusst mit ein. Dies hebt Peter Longerich in seiner 1998 erschienenen Studie zur
nationalsozialistischen Vernichtungspolitik hervor. Gemeinsam sei allen diesen Plänen die
Perspektive der physischen "Endlösung" gewesen, wenn diese sich auch über einen
längeren Zeitraum hinziehen sollte. Longerich sieht als entscheidende Zäsur für den
Übergang zur Politik der Vernichtung den Beginn des Zweiten Weltkriegs: "Was das
Regime ab 1941 unternahm, war nichts anderes als die Konkretisierung und Realisierung
der bereits 1939 anvisierten Vernichtung."
Für das Ende der Dreißigerjahre sind auch die ersten Dokumente belegt, in denen die SSFührung die "endgültige Lösung der Zigeunerfrage" explizit als politische Zielvorstellung
formuliert - und zwar, wie es in Himmlers Erlass vom 8. Dezember 1938 heißt, "aus dem
Wesen dieser Rasse heraus". Das zu Beginn des Zweiten Weltkriegs in Berlin eingerichtete
"Reichssicherheitshauptamt", die eigentliche Zentrale des SS-Staates, übernahm dabei die
Federführung. Grundlange dieser Politik war nicht allein ein mörderischer Antisemitismus,
sondern der moderne Rassismus insgesamt, der auch das biologisch begründete Feindbild
des "Zigeuners" einschloss. Bei der Ausbildung dieses neuen Vernichtungsrassismus
gegen Sinti und kam der Rassenforschung, die eng mit dem SS-Apparat kooperierte, eine
wichtige - wenngleich stets untergeordnete - Funktion zu: Sie begründete den Völkermord
ideologisch und schuf durch die Erfassung aller im deutschen Reich lebenden Sinti und
Roma zugleich die Voraussetzungen für dessen praktische Umsetzung.
Es waren jedoch keineswegs die an der Verfolgung beteiligten nachgeordneten Instanzen
und "Experten", deren "kriminalpräventive" Konzepte und auch Kompetenzstreitereien für
den Völkermord an den Sinti und Roma ursächlich verantwortlich waren, wie es etwa der
Historiker Michael Zimmermann behauptet. Zwar waren Initiativen von unterer und mittlerer
Ebene für den vielfach beschriebenen Prozess der Radikalisierung der
nationalsozialistischen "Rassenpolitik" von großer Bedeutung, wie auch für die
Verfolgungsgeschichte der Juden gezeigt werden konnte. Zurecht schreibt Peter Sandner
jedoch in seiner Lokalstudie zur Verfolgung der Sinti und Roma in Frankfurt am Main, "dass
bei allen Massenvernichtungsaktionen im Nationalsozialismus - sei es der Kranken- und
Behindertenmord, sei es die Ermordung der europäischen Juden oder die der Sinti und
Roma - nicht sämtliche Einzelheiten von vornherein feststanden, dass vielmehr eine
zeitliche Ausdifferenzierung der Konzepte des Völkermords festzustellen ist. Über die Wege
der Umsetzung ihrer Ziele konnten einflussreiche Personen und verschiedenen
Interessengruppen oder Machtzentren im polykratischen Gefüge des NS-Staats durchaus
unterschiedliche Auffassungen vertreten, ohne dass dies die rassenideologische Basis, die
diese Ziele vom Grundsatz her bestimmte, erschüttert hätte."
Nur unter den spezifischen ideologischen wie strukturellen Voraussetzungen der NSDiktatur und unter den Ausnahmebedingungen des Krieges konnte die Verfolgung der Sinti
und Roma jene mörderische Dynamik entfalten, die immer radikaleren "Lösungen“ zustrebte
und die in den Gaskammern von Auschwitz ihren furchtbaren Höhepunkt erreichte.
Es ist daher kein Zufall, dass Sinti und Roma zu den ersten Opfern der fabrikmäßigen
Massentötungen in den neu errichteten Vernichtungslagern im besetzten Polen zählten.
Wenige Wochen nachdem die Deportationen der Juden aus dem Reichsgebiet begonnen
hatten, wurden im November 1941 etwa 5.000 Sinti und Roma aus Österreich - ein großer
Teil waren Kinder und Jugendliche - in das Getto Lodz deportiert, wo innerhalb des
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jüdischen Gettos ein eigenes "Zigeunergetto" eingerichtet wurde. Zuständig für die
Organisation der "Zigeunertransporte" war Adolf Eichmann. Im Januar 1942 wurden die
letzten Überlebenden des "Zigeunergettos" Lodz wie ihre jüdischen Leidensgenossen in
das Vernichtungslager Chelmno gebracht, wo man sie unmittelbar nach ihrer Ankunft in
Gaswagen erstickte. Wie Hans Safrian in seinem Standardwerk "Eichmann und seine
Gehilfen" betont, handelt es sich bei den aus Österreich nach Lodz verschleppten Sinti und
Roma um "die erste Gruppe der zwangsverschickten Menschen aus Zentraleuropa, die bei
Chelmno/Kulmhof ausnahmslos ermordet wurden." Laut Lewy seien diese Menschen nur
deshalb im Gas erstickt worden, "um der Verbreitung von Typhus im Getto
entgegenzuwirken". Er untermauert diese absurde, ja zynische These u. a. damit, dass es
auch vorkam, dass Juden aufgrund epidemiologischer Maßnahmen umgebracht wurden. In
Anlehnung an Bernhard Streck, der 1981 schrieb, Sinti und Roma seien im
Nationalsozialismus "als Träger von Bakterien und Viren" ermordet worden, begibt sich
Lewy mit dieser Deutung auf eine Stufe mit den Revanchisten - erscheint der
Erstickungstod in Chelmno doch in dieser Lesart geradezu als ein Akt moderner
"Fürsorglichkeit".
Auch Lewys Darstellung der Geschichte des "Zigeunerlagers" Auschwitz-Birkenau, wie die
SS den Lagerabschnitt B II e im Vernichtungslager Birkenau bezeichnete, ist nicht frei von
solchen apologetischen Tendenzen. Etwa 23.000 Sinti und Roma aus fast ganz Europa
wurden hierher deportiert; die Hälfte davon waren Kinder und Jugendliche unter 14 Jahren.
Nahezu 90 Prozent der im "Zigeunerlager" inhaftierten Menschen fielen dem Hunger, den
zwangsläufig auftretenden Krankheiten und dem Terror der SS zum Opfer. Bereits wenige
Wochen nach dem Eintreffen der ersten Sinti- und Roma-Familien im "Zigeunerlager" kam
es im März und im Mai 1943 zu den ersten Massenvergasungen von Sinti und Roma, bei
denen über 2.700 Frauen, Männer und Kinder einen qualvollen Tod erleiden mussten. Ende
1943 war bereits der größte Teil der bis dahin nach Auschwitz verschleppten Sinti und
Roma aufgrund der unmenschlichen Lebensbedingungen umgekommen. Wie Hermann
Langbein, ehemaliger politischer Häftling in Auschwitz, berichtet, war die Sterblichkeit im
"Zigeunerlager" weitaus höher als in den anderen Lagerschnitten von Auschwitz-Birkenau.
In der Nacht vom 2. auf den 3. August 1944 wurden die letzten überlebenden Sinti und
Roma in den Gaskammern ermordet. Nur etwa 3.000 Angehörige der Minderheit waren in
den Wochen zuvor als "arbeitsfähig" selektiert und zur "Vernichtung durch Arbeit" in andere
KZs ins Reichgebiet deportiert worden.
Trotz dieser Zahlen, die in den erhalten gebliebenen Akten und Statistiken des
Konzentrationslagers Auschwitz-Birkenau präzise dokumentiert sind, unterstellt Lewy, die
dort inhaftierten Sinti und Roma hätten eine Vorzugsstellung genossen, "da sie in Familien
zusammenbleiben durften". Tatsächlich war dies keineswegs eine Besonderheit des
"Zigeunerlagers". Im September 1943 wurde in Auschwitz-Birkenau das "Theresienstädter
Lager" für jüdische Familien aus dem Konzentrationslager Theresienstadt eingerichtet. Wie
die inhaftierten Frauen, Männer und Kinder im "Zigeunerlager", so wurden auch die
Insassen des "Theresienstädter Lagers" in den Gaskammern ermordet, nachdem die SS
zuvor alle "arbeitsfähigen" Menschen selektiert hatte.
Lewy sieht in der "Behandlung der Deportierten, die fast eineinhalb Jahre im
Zigeunerfamilienlager in Auschwitz verbrachten", einen Beleg dafür, dass es keinen Plan
zur Vernichtung der Sinti und Roma gegeben habe. Es sei "sogar denkbar, dass die
Ermordung der als nicht arbeitsfähig eingestuften Zigeuner nicht stattgefunden hätte, wenn
man nicht wegen der Überlastung der Gaskammern eine vorübergehende Unterkunft für die
dem Untergang geweihten ungarischen Juden hätte finden müssen." Die Tatsache, dass
zum Zeitpunkt der "Auflösung" des Zigeunerlagers schon der weitaus größte Teil der nach
Auschwitz deportierten Sinti und Roma um ihr Leben gebracht worden war, wird von Lewy
schlicht ignoriert. Seine Darstellung erinnert in fataler Weise an die Deutung von Ernst
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Nolte, der 1993 in seinem Buch "Streitpunkte" behauptete, die nach Auschwitz deportierten
Sinti und Roma hätten dort "zunächst in einem 'Familienlager' relativ unbehelligt" gelebt, bis
dann die nicht Arbeitsfähigen im August 1944 in die Gaskammern geschickt wurden. Wer
jemals die erschütternden Augenzeugenberichte von Überlebenden des "Zigeunerlagers"
Auschwitz-Birkenau gelesen hat, kann vielleicht ermessen, was diese Menschen bei der
Lektüre solcher Sätze heute empfinden.
Man muss sich fragen, welches Ziel die von Himmler verfügte Deportation der Sinti und
Roma nach Auschwitz hätte haben sollen, wenn die Vernichtung dieser Menschen nicht von
vorneherein intendiert gewesen wäre. Ihr Besitz - Häuser und Grundstücke ebenso wie das
Barvermögen und der zurückgebliebene Hausrat - wurde wie im Fall der Juden als
"reichsfeindlich" beschlagnahmt und zu Gunsten des Reiches eingezogen. Allen am
Prozess der Deportation beteiligten staatlichen Stellen und Personen war klar, dass diese
Menschen niemals wieder zurückkehren würden. Dass die Verschleppung nach Auschwitz
ein Todesurteil war, kommt manchmal auch in den Täterakten (wo man bewusst eine
verschleiernde Sprachregelung verwendete) in kaum verhüllter Form zum Ausdruck. So
wandte sich die Kriminalpolizeistelle Leipzig im April 1943 an den Polizeipräsidenten mit der
Bitte, den Führerschein eines Sinto, der "auf unbestimmte Zeit in ein polizeiliches
Arbeitslager eingewiesen" worden war, für ungültig erklären zu lassen, da man bei der
Verhaftung versäumt hatte, ihm den Führerschein abzunehmen. Tatsächlich war der Mann
nach Auschwitz-Birkenau deportiert worden. Auf die Rückfrage eines Beamten, um welches
Lager es sich denn handele und ob man sich wegen des Führerscheins nicht direkt dorthin
wenden könne, teilte man mit, "dass Angaben über den jetzigen Aufenthalt aus besonderen
Gründen nicht gemacht werden könnten." Laut Aktennotiz wurde weiterhin angeregt,
"diesen Vorgang zunächst nicht weiter zu bearbeiten, da er sich vermutlich von selbst
erledige." Was damit gemeint war, liegt auf der Hand. In einem anderen Schreiben der
Kriminalpolizeistelle Essen vom Juli 1944 heißt es lapidar: "Entlassungen von
zigeunerischen Personen aus dem Zigeunerlager Auschwitz erfolgen grundsätzlich nicht."
Als im Frühjahr 1943 die ersten Deportationszüge mit Sinti und Roma nach AuschwitzBirkenau fuhren, war die systematische Vernichtung dieser Minderheit bereits im vollen
Gang, wie die Massenerschießungen von Sinti und Roma im besetzten Polen oder in der
besetzten Sowjetunion (wo seit Herbst 1941 im Rücken der Front die SS-"Einsatzgruppen"
wüteten) belegen. Dies zeigt auch die erwähnte vollständige Ermordung der im November
1941 ins Lodzer Getto deportierten österreichischen Sinti und Roma. Seit 1941 wurden Sinti
und Roma auch im Rahmen der "Aktion 14 f 13" (so die Tarnbezeichnung für die Selektion
kranker und arbeitsunfähiger Häftlinge in den Konzentrationslagern) in Gaskammern
ermordet. Vor diesem Hintergrund kann die These von Lewy, die Deportationen der Sinti
und Roma nach Auschwitz hätten nicht deren Vernichtung gegolten, sondern nur den
Zweck verfolgt, "diese weithin verachtete Minderheit aus Deutschland zu vertreiben", nur als
Verharmlosung dieses Völkermordverbrechens betrachtet werden.
Dies gilt auch für Lewys grundsätzliche Bewertung, die Verfolgung der Sinti und Roma im
"Dritten Reich" sei überhaupt kein Genozid gewesen. Die Kriterien, die laut Lewy die
"Singularität" des Völkermordes an den Juden ausmachen, erweisen sich jedoch letzten
Endes als willkürlich, als bloße Konstrukte. Allein die Tatsache, dass - betrachtet man den
gesamten Zeitraum der NS-Diktatur - der prozentuale Anteil der in Deutschland und
Österreich ermordeten Sinti und Roma höher ist als im Falle der Juden, widerlegt die
Behauptung, allein der Völkermord an den Juden sei "total" gewesen - ein Begriff, der für
die historische Analyse schon deshalb nicht taugt, weil er überhaupt keine Ausnahmen
zulässt. Ausnahmen hat es jedoch bei allen Opfergruppen gegeben, und deshalb macht es
keinen Sinn, wie Lewy Bedingungen an den Begriff des Genozids zu knüpfen, die der
Komplexität der historischen Wirklichkeit nicht gerecht werden.
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Lewys Fragestellungen und Intentionen beim Schreiben seines Buches waren ganz
offensichtlich von der Absicht bestimmt, die Einmaligkeit des Völkermords für das jüdische
Schicksal zu reklamieren. Sein Buch ist wohl nicht nur wissenschaftlich motiviert oder der
"Genauigkeit des Geschichtsbildes" geschuldet, wie der Autor Glauben machen will. Es ist
daher nicht erstaunlich, dass Lewys Darstellung auch jüdischerseits Kritik hervorgerufen
hat. So schrieb Norman G. Finkelstein in einem Beitrag in der Süddeutschen Zeitung vom
11. August: "Man kann sich die öffentliche und wissenschaftliche Reaktion leicht ausmalen,
wenn in Lewys Buch Zigeuner durch Juden ersetzt würden."
Wie eingangs erwähnt, ist Lewys Buch nur eine neue Variante des Versuchs, grundlegende
Parallelen der Verfolgungsgeschichte der Sinti und Roma zu der der Juden in Abrede zu
stellen, ja jeden Vergleich von vorneherein als absurd erscheinen zu lassen. Für Gilad
Margalit, dessen Buch Die Nachkriegsdeutschen und "ihre Zigeuner" jüngst in deutscher
Sprache erschien, verbietet sich ein solcher Vergleich ebenfalls, seine Argumente gleichen
denen Lewys. Das "quasi-jüdische Narrativ" der Zigeunerverfolgung und die Spaltung des
Holocaust in zwei Opfergruppen diene, so Margalit, dem unbewussten Zweck, "die Last der
Schuldgefühle gegenüber den jüdischen Opfern zu lindern und den Sonderstatus der
Judenverfolgung und des Judenmordes im deutschen Kollektivbewusstsein zu verwischen."
In dieser Sichtweise scheint jeder Hinweis auf die Gemeinsamkeiten des Genozids an Sinti,
Roma und Juden von der Absicht bestimmt, die Shoah zu relativieren.
Man kann jedoch auch den umgekehrten Schluss ziehen: Um das Dogma von der
Singularität des Holocaust an den europäischen Juden - der, wie Peter Novick jüngst
gezeigt hat, insbesondere in der amerikanischen Öffentlichkeit weniger als geschichtliches
Ereignis, denn als ein Mysterium wahrgenommen wird - zu verteidigen, müssen die
Völkermordverbrechen an den Sinti und Roma notwendigerweise bagatellisiert werden.
Insbesondere der Historiker Yehuda Bauer wendet sich in seinen Publikationen seit Jahren
gegen eine Parallelisierung des Völkermords an Juden sowie Sinti und Roma. Er kann auch
als Spiritus Rector von Lewys Buch gelten, der Bauers Argumentation in weiten Teilen
übernimmt. Vor einigen Monaten hat Bauer seine Auffassungen nochmals im "Spiegel" (Nr.
22/2001) dargelegt: Während der Genozid an den europäischen Juden auf "reiner
Ideologie" basiert habe, seien allen anderen Völkermorden pragmatische Überlegungen
nicht fremd gewesen: So hätten die Nazis umherziehende Roma für Spione gehalten und
deshalb umgebracht. Bereits in seiner Rede vor dem Bundestag am 27. Januar 1998 (die
im Fernsehen live übertragen wurde) gab Bauer seiner Meinung Ausdruck, im Falle der
Shoah sei "die völkermordende Ideologie auf reiner Phantasie aufgebaut", während bei
allen anderen Völkermorden - so auch im Falle der Sinti und Roma - das Motiv "irgendwie
realistisch" gewesen sei. Es stellt sich auch hier die Frage, warum Bauer im Fall der
jüdischen Opfer die Rechtfertigungen und Rationalisierungen der Täter hinterfragt und
zurecht als Propaganda, als ideologische Konstruktionen oder Wahngebilde entlarvt, im
Falle der Sinti und Roma jedoch stigmatisierende Zuschreibungen als Begründung für den
Völkermord unkritisch als solche akzeptiert und übernimmt.
Auch bei den Massenmorden an den europäischen Juden verschleierten die
Nationalsozialisten ihre rassistisch motivierte Vernichtungspolitik mit Begriffen wie
"Banditen" oder "Bandenbekämpfung", um dem Massenmord eine "rationale" Legitimation
zu verleihen. Nicht anders verfuhren die Nationalsozialisten im Falle der Sinti und Roma,
und sie bedienten sich dabei ebenso rassistischer Klischees wie im Falle der Juden.
Insbesondere der pauschale Vorwurf der Spionage oder die generelle Gleichsetzung von
Juden bzw. "Zigeunern" mit Partisanen war ein bequemes Alibi für die rassistisch motivierte
Vernichtungspolitik, wie die Täter nach dem Krieg selbst einräumten. Erich von dem BachZelewski - nach dem Überfall auf die Sowjetunion Höherer SS- und Polizeiführer im Bereich
der Heeresgruppe Mitte und als Chef der "Bandenkampfverbände" verantwortlich für die
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Erschießung tausender Menschen - sagte vor dem Nürnberger Gerichtshof aus: "Außerdem
wurde der Kampf gegen die Partisanen mehr und mehr als ein Vorwand für die
Durchführung anderer Maßnahmen genutzt, wie die Ausrottung von Juden und Zigeunern,
die systematische Verringerung der slawischen Völker um dreißig Millionen Seelen (um die
Vorherrschaft des deutschen Volkes sicherzustellen) und die Terrorisierung von Zivilisten
durch Erschießungen und Plünderungen. Die Befehlshaber, mit denen ich in Kontakt kam
und mit denen ich zusammenarbeitete (zum Beispiel die Generalfeldmarschälle Weichs,
Küchler, Bock und Kluge, Generaloberst Reinhardt und General Kitzinger), waren sich der
Zwecke und Methoden der Partisanenbekämpfung ebenso bewusst wie ich."
Sowohl für die besetzte Sowjetunion als auch für das "Generalgouvernement" gibt es
zahlreiche Belege dafür, dass die von Bauer angeführte Unterscheidung zwischen
"sesshaften" und "wandernden Zigeunern", wie sie in einigen Dokumenten auftaucht, bei
den Mordaktionen vor Ort ohne Bedeutung war. Seine Behauptung, eine solche
Differenzierung sei "überall in Europa angewendet" worden, hat mit der historischen
Realität nichts zu tun.
Auch in seinem jüngsten Buch, Die dunkle Seite der Geschichte, beharrt Bauer darauf,
dass die Shoah präzedenzlos sei: "Kein bisher geschehener Völkermord basierte so
vollständig auf Mythen und Halluzinationen, auf einer so abstrakten, nichtpragmatischen
Ideologie, die dann mit äußerst rationalen, pragmatischen Mitteln in die Tat umgesetzt
wurde." Er verwendet ein eigenes Kapitel auf den Vergleich mit anderen Völkermorden und
widmet sich dabei insbesondere dem Völkermord an den Sinti und Roma, natürlich nur in
der Absicht aufzuzeigen, dass dieser sich fundamental vom Völkermord an den Juden
unterscheide. Auch in diesem Text finden sich neben groben Vereinfachungen
Behauptungen, die schlichtweg unwahr sind, so wenn Bauer schreibt: "In Deutschland
ermordete man nichtsesshafte wie sesshafte Roma und Sinti, doch außerhalb
Deutschlands stellten die Roma und Sinti kein besonderes Problem dar; die Nazis
versuchten nicht, die Roma und Sinti außerhalb des Reichs zu registrieren." Tatsächlich
stammte die große Mehrheit der Sinti- und Roma-Opfer aus den deutsch besetzten oder mit
Nazi-Deutschland verbündeten Ländern, und Angehörige dieser Minderheit wurden auch
außerhalb Deutschlands gezielt registriert: etwa in Frankreich (wo die deutsche
Militärverwaltung im Oktober 1940 anordnete, "Zigeunerlisten" zusammenstellen zu lassen
und Sinti und Roma in Sammellager zu überführen) oder in Serbien (wo der deutsche
Militärbefehlshaber in seiner "Verordnung betreffend die Juden und Zigeuner" vom 30. Mai
1941 verfügte, Sinti und Roma in "Zigeunerlisten" eintragen zu lassen, ebenso wie Juden in
"Judenregistern") oder im so genannten Protektorat Böhmen und Mähren. Dort wurden Sinti
und Roma von Sommer 1942 bis Frühjahr 1943 nach dem gleichen Muster wie im
Deutschen Reich systematisch erfasst und anschließend in das Vernichtungslager
Auschwitz-Birkenau deportiert. Und selbst in den besetzten Gebieten der Sowjetunion, wo
Juden sowie Roma nicht in Lager verschleppt, sondern direkt vor Ort umgebracht wurden,
sind entsprechende Fälle belegt: So hat man in Simferopol auf der Krim alle Roma vor ihrer
Ermordung durch Erschießungskommandos der Einsatzgruppe D namentlich registriert.
Dies ist nur ein Beispiel für Bauers Umgang mit historischen Fakten, die nicht in sein
Interpretationsschema passen.
Während Bauer im Falle der jüdischen Opfer nicht müde wird zu betonen, dass es sich bei
den Zuschreibungen durch die Nazis um nichts anderes als "mörderische Phantasien"
handelte, erscheinen Sinti und Roma bei Bauer wie bei Lewy fast ausschließlich in der
Perspektive der Mörder, als Objekte der Verfolgung, nicht jedoch als reale Menschen. Die
Lebenswirklichkeit der Sinti und Roma wird mit den Stereotypen der Nazis mehr oder
weniger gleichgesetzt. Dass es sich dabei um eine Rationalisierung aus ideologischen
Motiven handeln könne, die ebenso wie im Falle der Juden dazu diente, eine mörderische
Politik zu rechtfertigen, scheint den Autoren nicht in den Sinn zu kommen. Vielmehr setzten
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sie durch ihre Fixierung auf die Täterquellen und die Übernahme der in ihnen enthaltenen
Kategorien und Stigmatisierungen die Entpersönlichung der Opfer fort und machen diese
letztlich für die erlittene Verfolgung selbst verantwortlich. Dies gilt insbesondere für Guenter
Lewy, der den Völkermord an den Sinti und Roma nicht im biologischen Rassismus der
Nationalsozialisten, sondern im Verhalten der Minderheit begründet sieht und der das
nationalsozialistische Zerrbild vom "asozialen Zigeuner" mit in seine Bewertungen dieses
Verbrechens übernimmt. Damit gerät Lewy zumindest in die Nähe jenes rassistischen
Diskurses über Sinti und Roma, der die fünfziger und sechziger Jahre bestimmte.
Die Deutungen von Bauer, Lewy und anderen werden der historischen Dimension der
nationalsozialistischen Völkermordverbrechen an den Sinti und Roma nicht gerecht. Das
Spezifische der NS-Verfolgung bestand gerade darin, dass sie sich nicht gegen Individuen
mit "abweichendem" oder "unerwünschtem" Verhalten richtete, sondern gegen eine
genetisch definierte Gruppe, mithin gegen die Minderheit der Sinti und Roma als Ganzes.
Was den Völkermord an Sinti, Roma und Juden grundlegend verbindet, ist die Tatsache,
dass allen diesen Menschen auf der Grundlage ihrer Geburt das schiere Recht zu
existieren abgesprochen wurde. Durch nichts wird dies augenfälliger als durch die
Tatsache, dass bei diesen beiden Opfergruppen selbst kleine Kinder in die
Vernichtungslager deportiert wurden. Bei Säuglingen kann kein noch so verzerrter
Schuldbegriff in Anwendung gebracht werden. Ihre Ermordung entsprach der mörderischen
Logik eines Denkens, welches in der "Rasse" und dem "Rassenkampf" das Antriebsgesetz
der Geschichte und daher auch in kleinen Kindern eine Bedrohung einer zu schaffenden
"rassisch" homogenen "Volksgemeinschaft" sah. Diese biologistische Deutung von
Geschichte und Gesellschaft und ihre radikale Umsetzung in politisches Handeln machen
das eigentlich Neue und Revolutionäre des Nationalsozialismus aus. Die Vorstellungen
eines genetischen Determinismus sowie der zunehmende Einfluss der
"Rassenwissenschaften" auf die politischen Entscheidungsträger waren wesentliche
Voraussetzungen auch für die Herausbildung des Konzeptes der "Endlösung der
Zigeunerfrage", anders lässt sich die mörderische Dynamik der gegen Sinti und Roma
gerichteten Politik nicht erklären.
Diese "Rassenpolitik", an deren Ende der staatlich organisierte Völkermord stand,
unterschied sich fundamental von allen vorangegangenen Formen der Verfolgung und kann
nicht einfach als bloße Verschärfung oder Steigerung staatlicher "Zigeunerpolitik" betrachtet
werden. Die Idee der "Rasse" stand ja gerade konträr zur traditionellen Vorurteilsbildung,
indem sie von individuellen Faktoren wie persönlichem Verhalten, religiöser oder politischer
Überzeugung völlig abstrahieren konnte. Deshalb wurden sogar Adoptivkinder aus
"arischen" Familien oder "Achtelzigeuner" nach Auschwitz deportiert, nur weil
Rassebiologen unter den Vorfahren einen "Zigeuner" ausgemacht hatten. Die innere Logik
eines solchen Denkens wird besonders deutlich in einem Schreiben der Verwaltung des
"Generalgouvernements/Abteilung Bevölkerungswesen und Fürsorge" vom 30.09.1941, das
an einen deutschen Gefreiten gerichtet war, dessen Verlobte man ins besetzte Polen
deportiert hatte. Darin heißt es: "Da die Zigeuner ebenso wie die Juden Fremdblütige sind,
sind eheliche Verbindungen von deutschen Volkszugehörigen mit Zigeunern dazu geeignet,
den deutschen Volkskörper zu zersetzen und sind daher grundsätzlich abzulehnen. Wenn
die Zigeunerin, die Sie als Verlobte bezeichnen, auch nicht vorbestraft sein mag und anders
geartet als die Zigeuner erscheint, bleibt sie eine Fremdblütige, deren mit ihrem Blut
verbundene Eigenschaften zu gegebener Zeit hervortreten können und auch bei ihren
Kindern in Erscheinung treten werden."
Einem Regime, das dazu entschlossen war, seine ideologischen Ziele unter den
Ausnahmebedingungen des Krieges mit aller Radikalität in die Wirklichkeit umzusetzen,
erschien die physische Vernichtung ihrer "rassischen" Feinde letztlich als unausweichliche
Notwendigkeit. Dies war eine Konsequenz, die in der NS-Ideologie bereits angelegt war,
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wenngleich es natürlich zahlreicher weiterer Faktoren und Voraussetzungen bedurfte, um
dieses Denken furchtbare Realität werden zu lassen. Das ist der Kontext, in dem der
Völkermord an den Sinti und Roma analysiert werden muss.
Die Interpretationen und Bewertungen von Bauer oder Lewy stehen nicht für die
Wissenschaft, so sehr dies die Protagonisten auch behaupten mögen. Ebenso wenig
Eberhard Jäckel, der in der FAZ meinte, die deutsche Gesellschaft müsse sich "von ihr
aufgedrängten Legenden" hinsichtlich der Homosexuellen und Zigeuner befreien und "zu
einem wahren Geschichtsbild des Holocaust" zurückfinden. Denn es gibt zahlreiche
Wissenschaftler, die hervorheben, dass der Völkermord an Juden wie an Sinti und Roma
grundlegende Übereinstimmungen aufweist. Stellvertretend sei zum Abschluss Prof. Dr.
Steinbach zitiert, als Direktor der Gedenkstätte Deutscher Widerstand und Vorsitzender des
Internationalen Beirats der Stiftung Topographie des Terrors einer der renommiertesten
deutschen Zeithistoriker. Er sagte anlässlich der Eröffnung der transportablen Ausstellung
zum nationalsozialistischen Völkermord an den Sinti und Roma in der Berliner
Staatsbibliothek am 1. März 2001, "dass der industriemäßig betriebene Mord an den Juden
und an der Volksgruppe, die man 'Zigeuner' nannte, aus einer gemeinsamen, gleichen
rassenideologischen Wurzel legitimiert wurde. Deshalb ist es geschichtsphilosophisch völlig
unangemessen, die parallel verlaufenden Vernichtungsversuche - den Völkermord an den
Juden und an den Sinti und Roma - zu isolieren und die Vergleichbarkeit und Einzigartigkeit
des einen Völkermordes zu betonen und die Bedeutung des anderen zu relativieren." Die
Ausstellung mache deutlich, "dass sich der Völkermord an den europäischen Sinti und
Roma, die wie die Juden seit Jahrhunderten in Europa leben, sich identischer Methoden
bediente, dass die Praktiken der Vernichtung von Juden und Sinti und Roma völlig identisch
waren. Insofern ist es völlig müßig, irreführend und abwegig, die Sinti und Roma
auszugrenzen oder zu isolieren, wenn es um die Beschreibung des nationalsozialistischen
Völkermordes geht."
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