Was ist eine interessante psychologische Theorie?

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Zur Sozialpsychologie psychologischer Forschung:
Was ist eine interessante psychologische Theorie?
Udo Rudolph
Technische Universität Chemnitz
"It has long been thought that a theorist is considered great because
his theories are tme; but this is wrong. A theorist is considered great
not because his theories are tme, but because they are interesting."
Murray S. Davis (1971).
Dieser Beitrag geht der Frage nach, was eigentlich ein psychologisches Phänomen oder eine psychologische Theorie "interessant" macht. Es ist mein
Ziel, einige mögliche Determinanten der "Interessantheit" psychologischer
Forschung zu analysieren, ohne jedoch Anspruch auf Vollständigkeit zu erheben. Vielmehr möchte ich das Augenmerk auf eine Reihe von Variablen
lenken, die in der wissenschaftlichen Diskussion von Fachbeiträgen bislang
kaum explizit adressiert wurden, sondern eher eine implizite - aber dennoch
gravierende - Rolle bei der Bewertung einer Theorie oder eines Forschungsbefundes spielen. Hierbei werden sowohl "große" theoretische Entwürfe wie
auch "kleinere" theoretische Ansatze mit einem eingeschränkterem Geltungsbereich berücksichtigt.
Mein erstes Argument lautet, dass psychologische Theorien nicht allein
aufgrund bestimmter "objektiver" Gütekriterien beurteilt werden, sondern
dass auch subjektivere Kriterien - wie beispielsweise wahrgenommene "InteressantheitM- hierbei eine Rolle spielen. Ein zweites Argument betrifft die
möglichen Determinanten dieser "Interessantheit" : Eine Determinante der Interessantheit ist der subjektive Grad der Abweichung einer (neuen) Theorie
vom Kanon der in einem Feld (schon) existierenden Theorien und Annahmen.
Ich werde zunächst kurz auf allgemeine Kriterien zur Bestimmung der
Güte von Theorien eingehen. Darauf aufbauend werde ich das Merkmal der
"Interessantheit" zu definieren versuchen und zeigen, in welcher Weise
dieses Merkmal die Rezeption einer Theorie beeinflusst. Hierbei werde ich
Überlegungen aufgreifen, die in der psychologischen Fachliteratur, wenn
auch in ganz unterschiedlichen Zusammenhängen, schon angesprochen
wurden, beispielsweise von Autoren wie Fritz Heider (1958), Kemeth
Gergen (1973) und Harold Kelley (1993). Weiterhin greife ich auf wissenschafts-soziologische Arbeiten zurück, die in der Psychologie bislang wenig
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rezipiert wurden, beispielsweise auf Überlegungen Mertons (1973) über die
"Soziologie der Wissenschaften" und Arbeiten von Murray S. Davis zur
"Phänomenologie des Interesses " ( 1971).
Wissenschaftliche Theorien: Merkmale und Kriterien
Betrachten wir zu diesem Zweck zunächst die Merkmale einer wissenschaftlichen Theorie, mit anderen Worten, die Anforderungen, die an eine solche
Theorie zu stellen sind. Das zentrale Kriterium für eine wissenschaftliche
Theorie ist nach Popper (1973) deren "intersubjektive Überprüfbarkeit". Wie
ist dieses Merkmal definiert? Intersubjektive Überprüfbarkeif bedeutet, dass
innerhalb einer Wissenschaftlergemeinschaft zwischen einzelnen Forschern
Einigkeit hergestellt werden kann über den Sinn wissenschaftlicher Sätze
sowie über die Methoden des Beweises und der Überprüfbarkeit der getroffenen Gesetzesaussagen. Diese Definition beschreibt den Sachverhalt, dass hier
etwas überprüft und bewertet wird, und zwar von den in einem gegebenen
Feld arbeitenden ForscherInnen. Die Kriterien für eine solche Prüfung oder
Bewertung unterscheiden sich je nach wissenschaftstheoretischer Grundposition, aber es hat sich in der Psychologie ein dominierendes wissenschaftstheoretisches Modell eingebürgert, nämlich das des sogenannten "Kritischen
Rationalismus " .
Folgt man dem führenden Vertreter des Kritischen Rationalismus, Kar1
Popper, so sind die wichtigsten Merkmale einer guten Theorie Widerspruchsfreiheit, Falsifizierbarkeit, Wertfreiheit und Informationsgehalt. Während die
erstgenannten Kriterien allgemein bekamt sein dürften, bedarf das letztgenannte Kriterium einer kurzen Erläuterung. Mit dem " Inforrnationsgehalt"
einer Theorie ist die Allgemeinheit und die Präzision der getroffenen Gesetzesaussagen gemeint: Die in einer Gesetzesaussage festgelegten Wem-DannBeziehungen sollten ein möglichst allgemeines "wem" und ein möglichst
präzise spezifiziertes "dann" enthalten. Je allgemeiner das "wenn" und je
präziser das "dann", desto höher der Informationsgehalt einer Theorie. Natürlich besteht hierbei eine inverse Beziehung zwischen den beiden Variablen: Theorien mit hohem (allgemeinen) Geltungsanspruch sind gewöhnlich
weniger präzise in ihren Vorhersagen als Theorien mit eng eingegrenztem
Geltungsbereich.
Unabhängig davon, ob wir diese oder andere Kriterien heranziehen (und
die vorauslaufenden, für die Position des Kritischen Rationalismus typischen
Kriterien, seien nur beispielhaft genannt): W e m es um die Beurteilung einer
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Theorie oder auch eines konkreten Forschungsergebnisses geht (das ja nur im
Rahmen eines theoretischen Ansatzes überhaup.t erst gefunden werden kann),
so handelt es sich hier um einen Bewertungsprozess, hinsichtlich dessen es
naturgemäß einen bestimmten Kanon von Regeln und Gewohnheiten gibt.
Dieser mag von Disziplin zu Disziplin geringfügig variieren, wenngleich
übergreifende Analysen (z.B. Cicchetti, 1993) zeigen, dass die Unterschiede
zwischen den Wissenschaften weniger groß sind als man vielleicht vermuten
mag (Cicchetti beispielsweise kommt zu sehr ähnlichen Ergebnissen für die
beiden von ihm verglichenen Disziplinen Psychologie und Physik). Hinsichtlich der Natur dieses Bewertungsprozesses, der die Evolution des theoretischen Fortschrittes in einer Disziplin determiniert, existieren nun zwei verschiedene Extrem-Positionen, die irn Folgenden kurz skizziert werden.
In einem oft-zitierten Standardwerk zur "Sociology of Science" hat Merton (1973) die These aufgestellt, der Prozess der Bewertung von wissenschaftlichen Theorien habe normativen Charakter, das heißt: Dieser intersubjektive Prozess orientiere sich ausschließlich an objektiven Kriterien, die
von allen Vertretern einer Disziplin geteilt werden. Eine andere, gegensätzliche Position besagt, dass sich die Genese und Bewertung von Theorien in
einem sozialen Raum abspielt, in dem auch andere als nur objektive oder
wissenschaftliche Faktoren zum Tragen kommen. Eine besonders extreme
Position hat beispielsweise Murray S. Davis vertreten. Davis (1971) nimmt
an, dass die subjektive "Interessantheit" einer Theorie deren zentrales Bewertungskriterium sei. Im Einklang mit klassichen Lexikondefinitionen bezeichnet Davis das Interessante als dasjenige, das unsere Aufmerksamkeit auf
sich zieht, und der Zustand des Interesses ist demzufolge gekennzeichnet als
ein Zustand, in dem wir gerne mehr über eine fragliche Entität erfahren
möchten.
Es erscheint plausibel, eine Synthese dieser beiden Extrempositionen zu
vertreten: Widerspruchsfreiheit, Falsifizierbarkeit und Informationsgehalt um wiedemm nur Beispiele zu nennen - sind sehr wohl Kriterien, die im
Prozess der wissenschaftlichen Bewertung von Theorien eine zentrale Rolle
spielen. Die Bewertung von Theorien und der resultierenden Forschungsergebnisse findet jedoch in einem Kontext statt, der durchaus Spielraum lässt
für subjektivere Kriterien, und es nähme Wunder, wenn sich für die Gemeinschaft der WissenschaftlerInnen die sonst geltenden Spielregeln menschlichen
Miteinanders gänzlich außer Kraft setzen ließen.
Ziel dieses Beitrags ist es nun, ein solches subjektives Kriterium - nämlich die Interessanthei t einer Theorie - etwas genauer zu betrachten. Anhand
einiger Beispiele wird zudem illustriert werden, wie herausragende Autoren
aus allen Teilgebieten der Psychologie es verstanden haben, Merkmale des
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Interessanten zu nutzen, um die Aufmerksamkeit einer Zuhörerschaft auf ihre
Ideen zu lenken. Auf diese Weise wird deutlich werden, wie die Frage nach
der Interessantheit einer Theorie sowohl für die Studierenden unseres Fachs
als auch für die wissenschaftlich arbeitenden Psychologen, und schließlich
auch für die Rezeption des Faches in einer breiteren Öffentlichkeit sehr wohl
eine wichtige Rolle zukommt, derer wir uns bewusst sein sollten.
Interesse und Interessantheit als Bewertungskriterien
Sucht man nach einer empirischen Antwort auf die Frage, ob die "Interessantheit" einer Theorie ihre Rezeption beeinflusst, so ist es gewiss nicht
leicht, hierzu Untersuchungen oder gar auch nur Anhaltspunkte zu finden.
Indikatoren für die Rezeption einer Theorie (oder auch eines Forschungsbefundes, der irn Rahmen einer theoriegeleiteten Untersuchung vorgelegt wird)
sind beispielsweise - um nur einige wenige Beispiele zu nennen - die Zitationshäufigkeit, die Aufnahme in Standardwerke und Lehrbücher der psychologischen Literatur, aber auch die Aufmerksamkeit, die eine Theorie in der
breiten Öffentlichkeit oder unter den Studierenden des Fachs Psychologie
findet. Einen ersten Anhaltspunkt für wahrgenommene Interessantheit, der
allerdings auf die Rezeption einer Theorie in "Scientific Comrnunity" beschränkt ist, bietet vielleicht arn ehesten eine Analyse des Peer-ReviewSystems für Publikationen in Fachzeitschriften.
Der Begriff "Peer-Review-System" bezeichnet die Beurteilung eines bei
einer Zeitschrift eingereichten Beitrags durch FachkollegImen. Die Begutachtung von Manuskripten, die bei Fachzeitschriften eingereicht werden,
gehört zu denjenigen Bewertungsprozessen innerhalb der Gemeinde der WissenschaftlerImen, die mit besonders hohem Aufwand und großer Sorgfalt
betrieben werden. Es ist dies ein Prozess, der zudem - relativ betrachtet gut dokumentiert und ansatzweise auch erforscht ist (vgl. zusammenfassend
Cicchetti, 1993). Die Analyse der Peer-Review-Verfahren mag die Kriterien
erhellen, nach denen zumindest Zeitschriften-Publikationen (nicht aber: Monographien, Kongressvorträge, et cetera) beurteilt werden. Folgt man den
Richtlinien der Arnerican Psychological Association, so sind es vor allem
fünf Kriterien, die zur Bewertung eines zur Publikation eingesandten Manuskriptes herangezogen werden sollten: (1) Die Vollständigkeit der Darstellung
hinsichtlich der relevanten Literatur; (2) die Angemessenheit der gewählten
Methode; (3) die Angemessenheit der statistischen Auswertung; (4) die all-
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gemeine Klarheit der Darstellung; und (5) das Interesse, das ein Beitrag bei
der Leserschaft eines PubIikationsorgans vermutlich finden wird.
Reflektieren diese Kriterien einen Ideal-Maßstab zur B e w e m g von Zeitschriften-Beiträgen, so geben weitere Untersuchungen darüber Auskunft,
welche dieser Kriterien auf das (Publikations-) Schicksal eines eingereichten
Beitrags tatsächlich besonders großen Einfluss haben. Es sind dies unter den
eben genannten insbesondere zwei Kriterien, nämlich (1) die Angernessenheit
der gewählten Untersuchungsmethodik, und (2) das Interesse, das ein gegebener Beitrag (vermutlich) bei der Leserschaft einer Zeitschrift finden wird mit anderen Worten, wie interessant der zu begutachtende Beitrag in den
Augen der Gutachter (für die jeweilige Leserschaft) ist.
Inwiefern besteht nun zwischen verschiedenen Gutachtern Einigkeit hinsic.htlich der jeweils herangezogenen Bewertungskriterien? Analysen von
Peer-Review-Verfahren zeigen, dass die Übereinstimmung zwischen verschiedenen Gutachtern allenfalls mittelmäßig ausfällt - auch dies ist ein gemeinsames Merkmal so unterschiedlicher Disziplinen wie der Psychologie,
der Medizin oder der Physik. Besonders auffällig ist jedoch, dass die wahrgenommene Interessantheit eines Beitrages bei weitem die geringste Übereinstimmung zwischen verschiedenen Gutachtern aufweist und in vielen Fällen
nicht einmal signifikant positiv korreliert (vgl. Cicchetti, 1993).
Was also ist das Interessante an einer gegebenen wissenschaftlichen oder
psychologischen Theorie, und welches sind die gemeinsamen Merkmale derjenigen psychologischen Theorien, über die wir alle gerne mehr wissen, lesen, oder forschen wollen? Davis (1971) hat die These vertreten, dass es eine
ganz bestimmte Größe sei, welche die Interessantheit einer Theorie entscheidend determiniere: Es ist dies der Grad der Abweichung von Kanon der gegebenen Grundannahmen einer Zuhörerschaft.
Wir haben es hier mit einem Sachverhalt zu tun, der durch die Arbeitsgruppe um Wulf-Uwe Meyer, wenn auch in einem ganz anderen Zusammenhang, einer eingehenden empirischen Prüfung unterzogen wurde (z.B. Meyer, Miepel, Rudolph & Schützwohl, 1991): Es handelt sich hierbei um die
Analyse der Überraschung als emotionale Reaktion. So haben Meyer und
Mitarbeiter gezeigt, dass die'schemadiskrepanz eines Ereignisses - die Abweichung vom Erwarteten also - maßgeblich die Stärke der Überraschungsreaktion determiniert. Weiterhin führt die Überra~chun~sreaktion
(unter anderem) zu einer Unterbrechung ablaufender Handlungen sowie zu einer Fokussiening der Aufmerksamkeit auf das emotionsauslösende Ereignis und
nachfolgend zu besonders guten Erimerungsleistungen für dieses (schemadiskrepante) Ereignis. Die Parallelen zu den überlegungen von Davis sind
nicht zu übersehen: Folgt man Davis, so ist es auch bei der "Wahrnehmung"
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von Theorien und Befunden die Abweichung vom Gewohnten, welche die
Reaktion (wahrgenommene Interessantheit, das Interesse) determiniert, und
welche einer Theorie, einem Phänomen oder einem Forschungsfeld herausragende Aufmerksamkeit sichert.
W e m interessante Theorien nun bestimmte grundlegende Annahmen einer
Zuhörerschaft bestreiten, so stellt sich zunächst einmal die Frage, was in
diesem Zusammenhang mit "Zuhörerschaft" gemeint ist und welches diese
"grundlegenden Annahmen" sein sollten. Die Klärung dieser Frage erfordert
es, unsere Aufmerksamkeit zunächst einmal für einen Augenblick von dem
möglicherweise "Interessanten" abzuwenden, um diese dem Begriff der "Zuhörerschaften", insbesondere im Hinblick auf die Psychologie, zuzuwenden.
Wie wir sehen werden, befindet sich die Psychologie hier in einer besonderen
Position. die sie von anderen Naturwissenschaften unterscheidet.
Determinanten der Interessantheit: Naive
versus Wissenschaftliche Psychologie
Folgt man Heider (1958), so ist die Psychologie insofern in einer besonderen
Situation unter den verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen, als wir es
hier in viel höherem Maße als dies beispielsweise bei der Physik, der Chemie
oder der Linguistik der FaIl ist (um nur einige Beispiele zu nennen), mit mindestens zwei Arten von Zuhörerschaften zu tun haben. Zur Bezeichnung dieses Sachverhaltes und um eine ganze Reihe oft austauschbarer Begriffe zu
vereinheitlichen, hat Harold Kelley (1993) die Begriffe "Common-SensePsychology" und "Scientific Psychology" eingeführt. In Anlehnung an Heider werde ich die Begriffe "Naive Psychologie" und "Comrnon-SensePsychology" synonym gebrauchen, wobei der Begriff "naiv", wie auch Heider und Kelley betonen, im Folgenden keineswegs in abwertender Weise
gebraucht wird (eher im Gegenteil). Die naive Psychologie und die wissenschaftliche Psychologie lassen sich am ehesten veranschaulichen als zwei
große Mengen von Annahmen und Hypothesen, die (1) eine große Schnittmenge wie auch (2) jeweils separate Teilmengen aufweisen: So gibt es psychologische Annahmen, die von der wissenschaftlichen wie auch der naiven
Psychologie vertreten werden. Andererseits gibt es Annahmen der naiven
Psychologie, die im Rahmen der wissenschaftlichen Psychologie als widerlegt
gelten, und auch Annahmen der wissenschaftlichen Psychologie, die dem
Cornrnon Sense zuwiderlaufen.
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Das so beschriebene Verhältnis zwischen naiver und wissenschaftlicher Psychologie also den psychologischen Annahmen des "Comrnon Sense" einerseits, und den Annahmen der wissenschaftlichen Psychologie andererseits dieses Verhältnis erinnert ein wenig an die Geschichte vom Hasen und vom
Igel: "Ick bin all dür" - "Ich bin schon da", schallt es dem noch so eilig heranrasenden Hasen von Seiten des Igels stets entgegen, der es aufgrund
eines geschickten Arrangements der "Versuchs"- beziehungsweise Wettbewerbsbedingungen so eingerichtet hat, dass der Hase beim vereinbarten
sportlichen Konkurrenzkampf tatsächlich stets das Nachsehen hat. Der wissenschaftlichen Psychologie ergeht es hier wie dem Hasen: Die naive Psychologie ist stets schon da (wenngleich hier die Meinungen beträchtlich variieren hinsichtlich der Frage, ob es bei diesem Wettbewerb nun mit rechten
Dingen zugeht oder - wie im Falles des Hasen und des Igels mit Sicherheit
feststeht - eher nicht). Joynson (1971) hat diesen Sachverhalt auf andere
Weise zum Ausdmck gebracht, indem er schreibt:
-
-
"Die menschliche Natur ist kein unbekanntes Land, keine Terra Incognita auf
der Karte des Wissens. Die menschliche Natur ist unser Zuhause. Menschliche
Wesen sind keine Dinge. wie etwa die Objekte der Physik, die sich nicht selbst
verstehen, und wir können unser eigenes Verhalten wie auch das anderer Personen m einem beträchtiichen Ausmaß verstehen und vorhersagen." Joynsons
ironisches Fazit lautet: "Selbst Menschen, die nicht Psychologen sind, verstehen einander eigentlich ganz gut. "
Diese These zur beeindruckenden Funktionstüchtigkeit der naiven Psychologie lässt sich noch weiter untermauern: Es existieren Studien zu der noch
weitergehenden Annahme, dass nämlich "ganz normale Menschen" nicht nur
sich selbst und andere verstehen und vorhersagen können, sondern auch zentrale Ergebnisse der wissenschaftlichen Psychologie in sehr zutreffender Weise wahrnehmen. So hat Houston (1983) in seinem Beitrag zu "Lay knowledge
of the principles of psychology" zufallig ausgewählten Personen, die er an
einem Sonntag Nachmittag in verschiedenen Parks von New York getroffen
hat, klassische Prüfungsfragen aus dem Curriculum des PsychoIogiestudiums
der New York University vorgelegt. Die durchschnittliche Zahl der richtig
beantworteten Fragen lag für eine Sammlung von 40 Prüfungsfragen bei
75 Prozent - die weitaus meisten Versuchspersonen hätten eine entsprechende Prüfung also mit zumindest befriedigenden, viele auch mit sehr guten
Leistungen bestanden. Houston (1983) schließt aus diesen Befunden cicht,
dass der durchschnittliche New Yorker oder die durchschnittliche New Yorkerin über ein fundierteres psychologisches Wissen verfügt als andere Bevölkemngsgmppen. Houston - und mit ihm auch eine große Zahl anderer Autoren - schließen aus diesen und anderen Beobachtungen vielmehr, dass ein
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nicht unbeträchtlicher Teil fachpsychologischen Wissens auch in der Common-Sense-Psychologie verankert ist und vermutlich auch schon dort verankert war, bevor die wissenschaftliche Psychologie ihren Aufschwung nahm.
So betrachtet, scheint die Mär vom Hasen und vom 1~e1sich auf wunderbare
Weise m bestätigen.
Dennoch gibt es bestimmte fachpsychologische Befunde, die mit der Miven Psychologie von Heiders "Mann auf der Straße" nichts oder nur wenig
zu tun haben, oder zu diesen sogar in Widerspruch stehen. Wie wir alle wissen, kommen Wissenschaftliche Psychologie und Cornrnon-Sense-Psychologie teils zu ähnlichen, vielleicht sogar in großen Teilen ni ähnlichen, teils
aber eben auch zu widersprüchlichen Vorhersagen. So fehlt es auch nicht an
kritischen oder warnenden Stimmen: Peters (1960) sieht eine Hauptschwierigkeit der wissenschaftlichen Psychologie darin, "dass wir schon zuviel über
das menschliche Verhalten wissen (...) denn die Cornmon-Sense-Psychologie, die in der alltäglichen Sprache immer schon enthalten ist, hat die wichtigsten Unterscheidungen und Konzepte der wissenschaftlichen Psychologie
verschleiert. " Und während eine bestimmte Tradition der Psychologie ihre
Aufgabe darin sieht, in den Worten von Harold Kelley (1973), die "naive
Psychologie nicht zu widerlegen, sondern zu verfeinern und ni systematisieren", haben andere Autoren, gerade in jüngster Zeit, eine Abkehr von der
Naiven Psychologie gefordert. So schreiben Cosmides und Tooby (1994) in
ihrem vielbeachteten programmatischen Beitrag zur Evolutionspsychologie:
"[Im Rahmen einer evolutionären] kognitiven Psychologie haben wir die Möglichkeit, eine theoretisch anspruchsvolle Disziplin zu werden. innerhalb derer
eine Anzahl mächtiger Theorien unsere Beobachtungen organisieren und neue
Hypothesen generieren. Dies wird aber nicht geschehen, solange die Konzepte
der Naiven Psychologie ["Folk Psychology"] weiterhin unsere Forschungsprogramme leiten. " (Cosmides & Tooby, 1994, S. 4 1).
Unabhängig davon, welchen Standpunkt wir hier einnehmen wollen, ist unbestreitbar, dass die jeweiligen Vorannahmen eines Publikums der Hintergrund
sind, vor dem neue Theorien und Forschungsbefunde beurteilt werden. Und
natürlich unterscheiden sich diese Vorannahmen beträchtlich, je nach dem,
ob die Zuhörerschaft psychologische Laien sind - wie beispielsweise Studienanfinger dieses Fachs - oder ob es sich um ein Fachpublikum handelt,
bei dem nicht etwa laienpsychologische, sondern spezifische wissenschaftiiche Hypothesen als Bewertungshintergrund in Rechnung zu stellen sind.
Welche Implikationen haben diese Überlegungen für die subjektive Interessantheit von Theorien aus der Perspektive der naiven versus aus der Perspektive der wissenschaftlichen Psychologie? Es folgt aus dem eben Gesagten, dass Theorien ganz verschiedene "Chancen" haben, als interessante The-
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orien wahrgenommen zu werden, indem sie je verschiedene Annahmen
bestreiten: Eine interessante Theorie könnte entweder Grund-Annahmen der
Comrnon-Sense-Psychologie, Grund-Annahmen der Wissenschaftlichen Psychologie, oder - vielleicht das ideale Betätigungsfeld für jeden Wissenschaftler, der seinen Ehrgeiz daran setzt, eine besonders interessante Theorie
zu entwerfen - eine Theorie bestreitet die Grundannahrnen von ComrnonSense-Psychologie und Wissenschaftlicher Psychologie zugleich. Betrachten
wir diese verschiedenen grundsätzlichen Fälle zunächst einmal getrennt voneinander.
Das Interessante und die Naive Psychologie:
Eine empirische Untersuchung
Der besondere Status der Naiven Psychologie - die Tatsache, dass wir auch
als psychologische Laien über sehr kluge und dezidierte Laienpsychologische Annahmen über das eigene Verhalten oder das Verhalten
anderer haben - ermöglicht es, unsere bisherigen Überlegungen einer genaueren Überprüfung zu unterziehen. Für eine solche erste empirische Überprüfung haben wir insgesamt 100 Versuchspersonen - teils Studienanfanger in
Psychologie, teils Studierende anderer Disziplinen - je drei intuitiv plausible
Theorien und Befunde und drei kontraintuitive Theorien und Befunde vorgelegt: Bei den kontraintuitiven Phänomenen handelte es sich um Befunde zur
Dissonanztheorie (Personen halten langweilige Aktivitäten dam für attraktiver, wenn sie eine geringe Bezahlung erhalten), zum Depressiven Realismus
(Personen, die ihre Umwelt realistisch sehen, sind mit höherer Wahrscheinlichkeit depressiv) und zum Bystander-Effekt (je höher die Anzahl der potentiellen Helfer in einer gegebenen Situation, desto geringer die Wahrscheinlichkeit einer Hilfeleistung). Bei den intuitiv plausiblen (common-sense) Phänomenen handelte es sich um das Kovariationsprinzip (ein Effekt wird auf die
Ursache zurückgeführt, die vorhanden ist, wenn der Effekt vorhanden ist,
und die nicht vorhanden ist, wenn der Effekt nicht vorhanden ist), den Zusammenhang von Attribution und Depression (stabile und globale Attributionen für negative Ereignisse führen zu länger andauernden und schwerwiegenderen depressiven Reaktionen als variable und spezifische Attributionen),
und zum Zusammenhang von Verantwortlichkeit und Hilfe (Personen, die
unverschuldet hilfebedürftig weiden, haben größere Chancen auf Hilfeleistungen als solche Personen, die aufgrund selbstverschuldeter, kontrollierbarer
Umstände in Not geraten sind). Somit wurde zu einem bestimmten For-
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schungsthema (Kausale Schlussfolgerung, Depression, Hilfeverhalten) je ein
kontraintuitives und ein intuitiv plausibles Phänomen ausgewählt. Dieses
Vorgehen sollte ausschließen, dass die Beurteilungen der Probanden allein
darauf beruhen, dass bestimmte Inhaltsbereiche (aufgrund msätzlicher Merkmale) als interessanter wahrgenommen werden.
Als abhängige Variablen wurden erfasst, ob die Studierenden die entsprechenden Ergebnisse erwartet hätten, wie interessant diese seien, ob man
selbst gerne eine Exarnens- oder Diplomarbeit hierzu vorlegen würde, und
wie wahrscheinlich es aus der Sicht der Studierenden sei, dass man den jeweiligen Befund im Rahmen einer eigenen Arbeit replizieren könne. In Anbetracht der hier vorgestellten Überlegungen wird hypostasiert, dass kontraintuitive Befunde weniger envartungskonform sind als solche Befunde, die
mit der Naiven Psychologie in Einklang stehen, dass diese kontraintuitiven
Befunde aber andererseits mehr Interesse bei dieser Zuhörerschaft hervormfen. Tatsächlich finden wir hoch-signifikante Effekte in der erwarteten Richtung; die Erwartetheit eines Phänomens erklärt etwa 60 Prozent der Varianz
hinsichtlich der wahrgenommenen Interessantheit eines Phänomens. Und
auch wenn die Wahrscheinlichkeit einer Replikation der betreffenden Forschungsergebnisse für kontraintuitive Phänomene deutlich niedriger eingeschätzt wird, würden die weitaus meisten Studierenden es vorziehen, zu solchen kontraintuitiven Phänomenen zu arbeiten.
Diese Befunde bestätigen Davis' Annahme, dass die Einschätzung der Interessantheit einer Theorie oder eines Forschungsbefundes zumindest unter
Laien betrachtiich in Abhängigkeit davon variiert, inwieweit die grundlezenden Annahmen dieser Zuhörerschaft - also der Naiven Psychologie bestritten werden. Für sich allein genommen ist dieser Befund allerdings
noch kein hinreichendes Argument dafür, dass die Wahrnehmung der Interessantheit - und somit die hier genannte Determinante, nämlich eine geringe
Erwarningskonforrnität - auch in der wissenschaftlichen Psychologie eine
Rolle spielt. Welche Indikatoren stehen uns zur Verfügung, diese Frage
schlüssig zu beantworten?
Das Interessante in der Wissenschaftlichen Psychologie:
Versuch einer Illustration
Zur Beantwortung dieser Frage möchte ich einige weitere Beispiele vorstellen. Wie wir gesehen haben, ist das vermutete Interesse des AdressatenkreiSes einer Fachzeitschrift eines der zentralen Kriterien, die einem Manuskript
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zur Publikation verhelfen. Damit ist aber noch nicht gesagt, dass hier ebenfalls die Unerwartetheit (in der Terminologie von Davis: inwieweit ein Beitrag bestehende Grundannahmen verletzt) bei der Bestimmung der subjektiven Interessantheit eine Rolle spielt. In Ermangelung genauerer empirischer
Analysen dieser Frage mag es wiederum einen Anhaltspunkt geben, der dafür
spricht, dass die subjektive Interessantheit einer Theorie auch in der "Scientific Community" keineswegs ein zu vernachlässigender Faktor ist. Dieser
Anhaltspunkt ergibt sich aus einer etwas näheren Betrachtung besonders erfolgreicher Theorien und insbesondere auch der Art und Weise, wie diese
Theorien einem Publikum unterbreitet werden. Anhand einiger Beispiel
möchte ich im 'Folgenden illustrieren, dass sich herausragende Autoren in
der Psychologie stets bemüht haben, ihre theoretischen Überlegungen mit
eben denjenigen grundlegenden Annahmen in der naiven und wissenschaftlichen Psychologie zu kontrastieren, die zu den eigenen - teils vorgeblich, teils
tatsächlich neuen - theoretischen Annahmen in scharfem Widerspruch stehen. Eine solche Illustration möchte ich gerne in zwei Teile gliedern:
Zum einen werde ich ein Beispiel für eine Theorie präsentieren, deren
Autor es in sehr geschickter Weise verstanden hat, den Widerspruch zwischen den eigenen Annahmen und der naiven wie auch wissenschaftlichen
Psychologie herauszuarbeiten; es handelt sich in diesem Falle um Wulf-Uwe
Meyers ~berlegungen(und Befunde) zu den "paradoxen Wirkungen von Lob
und Tadel" (siehe z.B. Meyer, 1984). Da ein solches einzelnes Beispiel noch
wenig Auskunft darüber gibt, ob wir es hier mit einem generelIen Phänomen
zu tun haben, werde ich im abschließenden Teil dieses Beitrages eine tentative Systematik des Interessanten vorstellen, ein Kategoriensystem, das von
Murray S. Davis entwickelt wurde. Dieses Kategoriensystem werde ich anhand jeweils einiger kurzer Stichpunkte mit Beispielen füllen. Betrachten wir
jedoch, bevor wir diese Systematik zu Rate ziehen, zunächst ein allgemeines,
einführendes Beispiel. Es handelt sich um Meyers Überlegungen zu den paradoxen Wirkungen von Lob und Tadel. Meyer (1984, S. 164) beginnt die
Darstellung seiner Überlegungen folgendermaßen:
"Lob und Tadel werden in der Regel als positive und negative soziale Bekräftigungen aufgefasst, die die Aufiretenswahrscheinlichkeit desjenigen Verhaltens beeinflussen, mit dem sie in kontingenter Weise verknüpft sind. Lob soll
dazu führen, dass ein in Frage stehendes Verhalten verstärkt auftritt; Tadel soll
auf der anderen Seite zur Folge haben, dass ein bestimmtes Verhalten mehr
und mehr unterlassen wird. Das ist sicherlich in vielen Fallen zutreffend. Diese Betrachtung von Lob und Tadel unter dem Aspekt der Bekräfrigung ist aber
zu einfach. "
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In diesen einleitenden Sätzen skizziert der Autor kurz die "Grundannahmen
seiner Zuhörerschaft", indem kurz referiert wird, was üblicherweise mit den
Konzepten Lob und Tadel verbunden wird. Die Neugier der Leserschaft ist
jedoch allein schon dadurch geweckt, dass diesen Grundannahmen widersprochen wird. Meyer (1984, S. 164-165) fährt fort:
"StellenSie sich folgende Situation vor: Sie selbst und eine andere Person haben Erfolg bei einer sehr leichten Aufgabe, die fast jeder schaffen kann. Eine
dritte bewenende Person lobt Sie Wr ihren Erfolg bei dieser Aufgabe (...),
während der andere kein Lob erfährt. Sie werden aus dieser Reaktion möglicherweise den Schluss ziehen, dass die bewenende Person denkt, sie seien
nicht sonderlich begabt für diese An von Aufgaben. "
Aus dieser Darstellung wird deutlich, dass der Autor (1) sich der Grundannahmen seiner Zuhörerschaft - insbesondere bezüglich der positiven Komotationen von Lob und der negativen Konnotationen von Tadel - bewusst ist
und (2) seine eigene Auffassung in kontrastierender Weise von diesen
Grundannahmen abhebt. Es ist eben gerade das "Paradoxe" an den "paradoxen Wirkungen von Lob und Tadel", das diese Wirkungen so interessant
werden lässt.
Irn Folgenden möchte ich illustrieren, dass eine solche Strategie, zumal
unter besonders erfolgreichen Autoren und Theorien in der Psychologie,
durchaus häufig anzutreffen ist. Einerseits ist es hier erstrebenswert, eine
Vielzahl von Beispielen aus möglichst vielen Teilgebieten der Psychologie
und aus 100 Jahren psychologischer Forschung zusammenzustellen, andererseits wäre es sicherlich unbefriedigend, einfach nur eine Liste von relativ
unzusammenhängenden Beispielen zu generieren. Aus diesem Grunde möchte
ich auf schon erwähnte Davis'sche Ordnungsscherna zurückgreifen. Davis
unterscheidet zwischen Aussagen, die sich auf die Merkmale einer gegebenen
Größe (eine Entität oder eine abhängige Variable) beziehen, und solche Aussagen, die sich auf die Relation zwischen zwei oder mehr Größen (Entitäten,
abhängigen Variablen) beziehen.
Aussagen über die Merkmale einer bestimmten Größe können (unter anderem) Bezug nehmen auf deren Organisation, Generalität, Stabilität, Funktionalität oder Valenz. Aussagen über die Relationen zwischen zwei oder mehr
Größen können sich (unter anderem) beziehen auf deren Relation, KoExistenz, Kovariation, Gegensätzlichkeit oder Kausalität. Wir werden anhand
einiger Beispiele die Frage untersuchen, welche Form interessante Aussagen
in Bezug auf diese verschiedenen Kategorien annehmen k ö ~ e und
n ob wir in
der Psychologie hierzu Beispiele finden werden. Hierzu betrachten wir jeweils eine mögliche These zu den genannten Variablen (Organisation, Generalität, Stabilität, Funktionalität, Valenz sowie Relation, Ko-Existenz, Kova-
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riation, Gegensätzlichkeit und Kausalität), um anschließend ein kurzes Beispiel für eine psychologische Theorie (einen Autor) zu nennen, die sich diese
Struktur des Argumentes zu Eigen macht.
These zur Homogenität: Was homogen und einheitlich erscheint,
ist in Wirklichkeit heterogen und uneinheitlich
Ein Beispiel hierfür sind die Befunde von Baltes und Mitarbeitern zur differentiellen Entwicklung unterschiedlicher Komponenten der Intelligenz. Hierzu schreiben Oerter und Montada in ihrem Lehrbuch (1995): "Einige der
interessantesten [sic!] entwicklungspsychologischen Erkenntnisse sind gewonnen worden durch Ausdifferenzierung ursprünglich als Einheit gesehener
Funktionen in mehrere Teilfunktionen oder -dimensionen, für die unterschiedliche Entwicklungsverläufe nachweisbar sind. " Das zentrale Argument
lautet demzufolge, dass scheinbare homogene Gesamtfunktionen (ein generelles Intelligenzmaß) differenziert werden müssen in tatsächlich inhomogene
Unterfunktionen (je verschiedene Teilaspekte von Intelligenz).
These zur Generalität: Was auf einen spezifischen Bereich
beschränkt zu sein scheint, ist in Wirklichkeit ein generelles
(universelles) Phänomen
Beispielhaft hierzu sind Freuds Überlegungen zur Sexualität bei Kindern, die
zu seiner Zeit großes Aufsehen erregten. In seinen Vorlesungen zur Sexualentwicklung trägt Freud das Argument folgendermaßen vor: "Dem das Sexuelle ist keineswegs nur die Domäne der Erwachsenenwelt [. . .] Sie werden
nämlich jetzt die sexuelle Entwicklung [beim Menschen] in einem anderen
Lichte sehen (...), aber auf Kosten welcher Überraschungen und für Ihr Gefühl peinlichen Inkongruenzen! Sie werden gewiss geneigt sein, zuerst alles
zu bestreiten, (vor allem zunächst) die Richtigkeit unserer Beobachlungen
(. ..), dass nämlich Kinder durchaus bereits ein Sexualleben haben. " (Freud,
1916). Freuds zentrales Argument lautet demzufolge, und er ist sich der
Wirkung seiner Thesen wohl bewusst, dass ein scheinbar spezifisches Phänomen in Wirklichkeit ein generelles (auch in der Kindheit anzutreffendes)
Phänomen ist. Das Aufsehen, das diese Thesen zu Freuds Zeit erregt haben,
ist uns noch heute wohlbekannt.
Rudolph
These zur Stabilität: Was stabil oder konsistent zu sein scheint,
ist in Wirklichkeit variabel und inkonsistent
Eines der ersten Phänomene, welches hier in den Sinn kommt, ist möglicherweise das von Walter Mische1 (z.B. 1968) untersuchte KonsistenzParadox - einem offensichtlichen Widerspruch zwischen unseren alltäglichen
Intuitionen und einschlägigen wissenschaftIichen Daten (zitiert nach: Atkinson et al., 1996): "Unsere alltäglichen Intuitionen sagen uns, dass Individuen
konsistente Wesen sind und sich in sehr konsistenter Weise verhalten. Die
empirischen Befunde sprechen dagegen eine ganz andere Sprache. Was ist
hier schief gelaufen?". Etwas scheinbar Stabiles erweist sich somit, ganz der
Struktur des oben skizzierten Argumentes folgend, als etwas Instabiles und
Inkonsistentes.
These zur Funktionalität: Was unfunktional zu sein scheint,
ist in Wirklichkeit funktional oder zielführend
Beispielhaft für diese Form des Arguments sind Ronald D. Laings Überlegungen zur Schizophrenie (R. D. Laing; 1964); Laing stellt diesen Sachverhalt folgendermaßen dar: "Die Erfahrungen und Verhaltensweisen, die mit
der Bezeichnung "schizophren" versehen werden, sind in Wirklichkeit eine
bestimmte Art von Strategie, die eine Person erfindet, um in einer Situation
zu leben, in der sie sonst nicht leben könnte (. ..) Dabei durchlebt sie Veränderungen, die dem ungeübten Betrachter regressiv erscheinen, aber es handelt sich vielmehr um eine Entdeckungsreise, auf der die Person ihr wahres
inneres Selbst finden und mit ihm Frieden schließen kann, [. ..] um wieder in
die Realität einzutreten. " Hier gilt, dass etwas scheinbar Unfunktionales in
Wirklichkeit einen hohen subjektiven Nutzen oder Wert haben kann.
These zur Valenz: Was wie ein nichtiges, bedeutungsloses
oder gar schlechtes Phänomen aussieht, ist in Wirklichkeit
ein beachtenswertes, wertvolles Phänomen
In einer Vorlesung über die Geschichte der Gestaltpsychologie behandelt
Wolfgang Köhler (1966) die Arbeiten Max Wertheimers zu stroboskopischen
(Schein-) Bewegungen, indem er sagt: "Wertheimer untersuchte die besonderen Bedingungen, unter denen ein solches Phänomen erscheint. Andere Psy-
Zur Sozialpsychologie psychologischer Forschung
253
chologen hatten das nicht getan, weil sie glaubten, dass die Scheinbewegung
eine Täuschung sei - zum einen, weil sie nicht mit den physikalischen Tatsachen übereinstimmte, zum anderen, weil sie in Widerspruch stand zu der
These, dass Wahrnehrnungsfakten sich aus unabhängigen Einzelreizen zusammensetzen. " (Köhler, 1966). Was Wertheimer also in seinen Arbeiten zu
Scheinbewegungen vorlegte, war die Analyse eines Phänomens, das zuvor als
irrelevant oder wertlos abgetan worden war, und wir wissen heute, wie bedeutsam diese Arbeiten für die spätere Entwicklung der Gestaltpsychologie
gewesen sind.
These zur Relation: Was unabhängig voneinander zu sein scheint,
steht sehr wohl in einem gemeinsamen Wirkungsgefüge
TuIvings Analyse der Interaktion von Enkodierungs- und Abrufbedingungen
ist für diese Form eines interessanten Arguments beispielhaft (Tulving,
1983). Tulving selbst stellt diesen Sachverhalt so dar: "Angesichts dieser
Daten können wir nicht umhin festzustellen, dass die Erinnerung wie auch
das Vergessen nicht allein eine Funkti0.n der Enkodierung sind, sondern
ebenso von der Zahl und Art der Abrufhinweise abhängt. Wir schließen
daraus, dass die Erinnerung eines Ereignisses nur dann möglich ist, wenn die
Merkmale der niedergelegten Gedächtnisspur und die Merkmale der Abrufinformation einander in hinreichendem Masse ähnlich sind. Es ist also
unmöglich, Effekte der Reizenkodiemng von Merkmalen des Reizabrufs zu
trennen. " Scheinbar unabhängige Prozesse - Reizenkodierung und Reizabruf
- erweisen sich also in Wirklichkeit als miteinander verwoben, und der Autor
weist auch in diesem Beispiel explizit auf den Umstand hin, dass Schein (in
diesem Fall auch: Cornrnon Sense) und Wirklichkeit (die eigenen
Erkenntnisse) nicht deckungsgleich sind.
These zur Ko-Existenz: Was unvereinbar erscheint,
kann sehr wohl gemeinsam auftreten
Das von Bleuler und Freud unabhängig voneinander entwickelte Konzept der
Ambivalenz von Gefühlszuständen liefert ein Beispiel für diese Form des
Arguments: Bei Bleuler (1916) heißt es: "Schon der Gesunde spürt oft zwei
Seelen in seiner Brust: Er kam die Übernahme einer neuen Arbeit fürchten
und doch herbeiwünschen." Freuds Analysen der Angstlust bei Kindern
weisen in eine ähnliche Richtung, Beide Autoren wecken das Interesse des
Lesers, indem sie scheinbar Unvereinbares gleichzeitig beobachten.
254
Rudolph
These zur Kovariation: Wo scheinbar ein positiver Zusammenhang
zwischen zwei Größen erwartet wird, besteht in Wirklichkeit ein
negativer Zusammenhang
Decis Konzept der intrinsischen Motivation mag hier als Beispiel dienen. In
Weiners (1992) einführendem Lehrbuch zur Motivation heißt es hierzu: "Der
vielleicht arn besten dokumentierte Befund der psychologischen Literatur
lautet, dass die Kopplung eines Verhaltens mit einem Verstärker die zukünftige Auftretenswahrscheinlichkeit dieses Verhaltens erhöht. Es gibt jedoch
Befunde, die dieses allmächtige Verstärkungsprinzip in Frage stellen. So verlieren beispielsweise Kinder, die sich ursprünglich für eine Aufgabe interessieren, einen Teil dieses Interesses, wenn ihnen externe Belohnungen für die
Ausführung versprochen werden" (Deci, 1975; zitiert nach Weiner, 1986).
Hier tritt also der Fall ein, sehr zum Erstaunen des Lesers, dass die positive
Wirkung von Bekräftigung sich umkehrt; ein Fall, der Meyers Analyse der
negativen Wirkungen von Lob (siehe oben) sehr ähnlich ist.
These zur Gegensätzlichkeit: Was gänzlich gegensätzlich erscheint,
beruht doch auf den gleichen zugrunde liegenden Mechanismen
Nisbett und Ross (1980) haben in ihrer Monographie zu den "Leistungen und
Fehlleistungen in der menschlichen Informationsverarbeitung" folgendes Argument herausgearbeitet: "Eines der ältesten Paradoxe der Philosophie, welches sich bis in die moderne Psychologie fortgesetzt hat, ist der scheinbare
Widerspruch zwischen den großen Triumphen des menschlichen Geistes und
dessen dramatischen Fehlleistungen andererseits. (. ..) Wir nehmen jedoch
(, ..) statt dessen an, dass wir es hier nur mit einem scheinbaren Widerspruch
zu tun haben, dass nämlich die Fehler im menschlichen Schlussfolgern aus
demselben Holz geschnitzt sind wie die entsprechenden Erfolge. Wir werden
zeigen, dass den intellektuellen und sozialen Errungenschaften des Menschen
dieselben Prozesse zu Grunde liegen wie seinen Urteilsfehlern und Konflikten. " (Nisbett & Ross, 1980).
These zur Kausalität: Was in einem Ursachen-Wirkungs-Gefüge
wie die Ursache aussieht, ist in Wirklichkeit der Effekt
Auf den ersten Blick scheint es, als seien für diese Form des Arguments nur
wenige Beispiele zu finden, zumal die menschliche Inforrnationsverarbeining
Zur Sozialpsychologie psychologischer Forschung
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so überaus gut in der Lage ist, Ursachenzusammenhänge zu erkennen. Ein
Beispiel für diese Form des Arguments finden wir jedoch bei Scheffs Überlegungen zum "Etikett Geisteskrankheit" : "Nicht die Krankheit (Schizophrenie)
führt zur Diagnose, sondern die Diagnose verursacht in entscheidendem Maße die Krankheit." (Scheff, 1973). Auch wenn die Ausführungen Scheffs inzwischen längst als widerlegt gelten können, haben diese doch zur Zeit ihrer
Publikation großes Aufsehen in der Fachwelt erregt, und werden bis heute
trotz der negativen Datenlage in einschlägigen Lehrbüchern der klinischen
Psychologie dargestellt.
Diese Liste von Beispielen ließe sich, so denke ich, beliebig fortführen.
Auch wenn die hier vorgestellten Kategorien keinesfalls schon Anspruch auf
Vollständigkeit erheben dürfen, so sind sie doch geeignet, unsere Wahrnehmung für diese eine, hier erläuterte Determinante der subjektiven Interessantheit zu schärfen. Es lässt sich auf diese Weise illustrieren, dass zahlreiche erfolgreiche Autoren in der Psychologie es verstanden haben, ihre (theoretischen) Ideen in sehr geschickter Weise in Relation zu setzen zu den bestehenden Grundannahmen ihrer Zuhörerschaft, sei es einer "naiven" oder aber
einer wissenschaftlichen Zuhörerschaft.
Zusammenfassung und Schlussfolgerungen
Die bisherigen Ausfühningen lassen sich wie folgt zusammenfassen: Die Genese und Bewertung psychologischer Theorien geschieht in einem sozialen
Kontext. Neue Annahmen oder Theorien werden vor dem Hintergrund der
schon vorhandenen "Grundannahmen" einer "Zuhörerschaft" wahrgenommen
und bewertet. Ein Merkmal interessanter Theorien ist der Grad der Abweichung der Aussagen einer Theorie von den bestehenden Grundannahmen
einer Zuhörerschaft. Innerhalb der Psychologie sind mindestens zwei Arten
von Zuhörerschaften zu differenzieren, nämlich die naive Psychologie einerseits und die wissenschaftliche Psychologie andererseits. Interessante Theorien ...
1.. ..bestreiten grundlegende Annahmen der naiven Psycho-
logie,
2 . ..,bestreiten grundlegende Annahmen wissenschaftlicher
Psychologie,
3.. ..oder sie bestreiten - idealer Weise - die Annahmen von
naiver und wissenschaftlicher Psychologie.
256
Rudolph
Ein erster empirischer Hinweis auf die Richtigkeit dieser Ausführungen liefert unsere Untersuchung zur Wahrnehmung psychologischer Theorien durch
Studienanfänger. Mögliche Hinweise auf die Richtigkeit von [I] und 121 liefert unsere beispielhafte Analyse besonders erfolgreicher psychologischer
Theorien anhand der von Murray S. Davis entwickelten Kriterien. Aus dem
Gesagten ergeben sich weiterhin unmittelbar die folgenden beiden zentralen
Schlussfolgerungen:
Schlussfolgemng 1: Es erscheint sinnvoll, die Grundamahrnen unserer
Zuhörerschaft - beispielsweise diejenige der Studierenden - bei der Vermittlung unseres Stoffes in Rechnung zu stellen. Interessante Lehrveranstaltungen
werden auch abheben auf die Unterschiede zwischen den Grundannahmen
der naiven Psychologie und den zentralen Aussagen der jeweiligen wissenschaftlichen Inhalte.
Schlussfolgenrng 2: Es erscheint sinnvoll, bei der kreativen Entwicklung
eigener Ideen die Grundannahmen der naiven wie der wissenschaftlichen
Psychologie in Rechnung zu stellen. Interessante wissenschaftliche Arbeiten
werden auch abheben auf die Unterschiede zwischen neuen Theorien einerseits und den jeweils vorherrschenden Annahmen und Theorien andererseits.
Natürlich hoffe ich, dass die Inhalte dieses Beitrags auf Interesse gestoßen
sind. Ich muss jedoch zugleich hoffen, dass dieses Interesse nicht etwa darauf
zurückgeht, dass einige oder gar die Mehrheit meiner Ausführungen irn Widerspruch zu den Grundannahmen der Leserschaft stehen. Umso mehr obliegt es mir, den geneigten Lesern für ihre Aufmerksamkeit zu danken.
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