Blutstillung- Tourniquet und lokale Hämostyptika 15. Kongress der DIVI Leipzig 02.-04.12.2015 Frank Hildebrand Klinik für Unfall- und Wiederherstellungschirurgie Universitätsklinikum Aachen Tourniquet Einleitung • Verbluten in ca. 40% Todesursache in der Akutphase nach Trauma • 10% der Soldaten versterben wegen Extremitätenblutungen • Verbluten aus Extremitätenverletzungen mit 9% häufigste vermeidbare Ursache im Vietnamkrieg Beekley AC J Trauma 2008, Welling et al J Vasc Surg 2012, Hauschild SW, Notfall Rettungsmed 2013 Einleitung • Erster berichteter Einsatz: 1674 (Etienne Morel) • Identifizierung von Komplikationen im 1. Weltkrieg „...tourniquets are an invention of the Evil One“ Lee et al. Emerg Med J 2007, Welling et al J Vasc Surg 2012, Hauschild SW, Notfall Rettungsmed 2013, Beekley AC J Trauma 2008 Einleitung • Anlage von Tourniquets reduziert Mortalitätsrate durch Verbluten nach Extremitätentrauma (38-57% der letalen Fälle durch Tourniquet vermeidbar) • Bisherige Erfahrungen v.a. aus militärischem Bereich • Weniger Daten aus zivilem präklinischen Einsatz Hauschild SW et al. und Kulla M et al. Notfall Rettungsmed 2013 & 2014, King DR et al. J Trauma 2015 FRAGE 1 In meinem Rettungsdienst/ meiner Notaufnahme wird ein Tourniquet (bzw. RR-Manschette als Tourniquet) vorgehalten und im Bedarfsfall regelmäßig eingesetzt 1= ja 2= nein Empfehlungen zum Tourniquet-Einsatz: ATLS® 8th edition: • Tourniquet use may occasionally be life-saving in the presence of ongoing hemorrhage uncontrolled by direct pressure. • If a tourniquet must remain in place for a prolonged period to save a life,... the choice of life over limb has been made 9th edition: • External blood loss is managed by direct manual pressure. Tourniquets are effective in massive exsanguination from an extremity, but carry a risk of ischemic injury • They should only be used when direct pressure is not effective Empfehlungen zum Tourniquet-Einsatz: C-ABCDE: Modifikation des ATLS®-Schemas Kulla M et al. Notfall Rettungsmed 2014, King DR et al. J Trauma Acute Care Surg 2015 Empfehlungen zum Tourniquet-Einsatz: S3-Leitlinie • Aktive Blutungen an den Extremitäten sollten gemäß eines Stufenschemas behandelt werden (Grad B) 1. Manuelle Kompression 2. (Hochlagerung) 3. Tourniquet • Indikationen für den sofortigen Gebrauch des Tourniquets/ der Blutsperre können sein (Grad 0) 1. Lebensgefährliche Blutungen/ multiple Blutungsquellen 2. Keine Erreichbarkeit der eigentlichen Verletzung 3. Massenanfall von Verletzten mit Blutungen S3-Leitlinie Polytrauma/Schwerverletzten-Behandlung Empfehlungen zum Tourniquet-Einsatz: Task Force for Advanced Bleeding Care in Trauma • Empfehlung zur Tourniquet-Verwendung, wenn keine Blutungskontrolle durch Kompression • „We recommend adjunct tourniquet use to stop...bleeding from open extremity injuries in the pre-surgical setting (Grade 1B)“ Spahn DR et al. Crit Care 2013 Weitere Empfehlungen zum Tourniquet-Einsatz • Empfehlung zur Tourniquet-Verwendung, wenn keine Blutungskontrolle durch Kompression: - Management Guidelines der EAST - Prehospital Guideline for External Hemorrhage Control und PHTLS® des Committee on Trauma des ACS - Tactical Combat Casualty Care FRAGE 2 In meinem Rettungsdienstbereich/ meiner Notaufnahme werden folgende Geräte zum Abbinden der Extremitäten verwendet 1= Blutdruckmanschette 2= pneumatisches Tourniquet 3= mechanisches Tourniquet 4= verschiedene Geräte Tourniquet: Anwendungsempfehlung • Anlageort - So distal wie möglich, Mindestabstand zur Wunde ca. 5cm - Ggf. proximaler bei Explosions- oder Ausrissverletzungen - Auch am Unterarm und Unterschenkel möglich, nicht über Gelenken - Anlage direkt auf der Haut, um Abrutschen zu vermeiden • Tourniquet-Design - Möglichst breit (mind. 3,8cm) - Bevorzugt pneumatische Tourniquets - RR-Manschette bedingt geeignet (zu kurz, Klettverschluss öffnet sich) Lee C et al. Emerg Med J 2007, , S3-Leitlinie Polytrauma/Schwerverletzten-Behandlung, Waydhas C et al. Unfallchirurg 2012, Hauschild SW et al. Notfall Rettungsmed 2013 Tourniquet: Anwendungsempfehlungen • Tourniquet-Drücke - Möglichst geringer Abbindedruck (70-100mmHg über systol. RR) - Bei adipösen Patienten ggf. deutlich mehr - Blutungsstopp entscheidend - Bei Ineffektivität Neuanlage mit mehr Kompression, danach bei Bedarf 2. Tourniquet direkt proximal des ersten • Maximale Anlagedauer - 60-90 Min., max. 120 Min. - Reduziert bei älteren Patienten und bei vaskulären Vorerkrankungen Lee C et al. Emerg Med J 2007, , S3-Leitlinie Polytrauma/Schwerverletzten-Behandlung, Waydhas C et al. Unfallchirurg 2012, Hauschild SW et al. Notfall Rettungsmed 2013 Tourniquet: Anlagedauer • Empfehlung zur maximalen Anlagedauer: - 2 Stunden (basierend auf Daten bei Normovolämie mit pneumatischen Tourniquets) • (Teilweise) vorgeschlagene Option: - Transport 30-60 Min: Belassen bis OP - Transport >1h: Lösen des Tourniquet und Konversion zum Druckverband bei hämodynamischer Stabilität erwägen Lee C et al. Emerg Med J 2007, S3-Leitlinie Polytrauma/Schwerverletzten-Behandlung, Waydhas C et al. Unfallchirurg 2012, Hauschild SW et al. Notfall Rettungsmed 2013 Einsatz des Tourniquets: Militär • Im militärischen Einsatz gängiges Verfahren zur temporären Erstversorgung von kritischen Extremitätenverletzungen - Verbesserte Kontrolle der Hämorrhagie (v.a. bei ISS >15) - Größte Effekte bei früher Anlage (vor Schock Manifestation) - Keine Amputation aufgrund von Tourniquet-Nutzung Beekley AC et al. J Trauma 2008, Fischer C et al. und Kulla M et al. Notfall Rettungsmed 2010 & 2014 Einsatz des Tourniquets: Ziviler Bereich • Im zivilen Rettungsdienst nur wenige Studien mit begrenzter Patientenzahl • Indikationen für (primäre) Tourniquetanlage: - Penetrierendes Trauma/ Gefäßverletzung/ vitale Bedrohung - Unmögliche Blutstillung durch Kompression - MANV - Industrielle Unfälle (z.B. Einklemmung in Maschine) - Terroristische Anschläge Hauschild SW, Notfall Rettungsmed 2013, Kulla M, Notfall Rettungsmed 2014, Inaba K et al. J Trauma Acute Care Surg 2015 Einsatz des Tourniquets: Ziviler Bereich • Aktuelle retrospektive Studien mit großen Patientenkollektiven: - 87 Patienten (Zeitraum: 8,5 Jahre) und 197 Patienten (Zeitraum: 3 Jahre) - Sicherer und effektiver Einsatz - 1 Tourniquet-assoziierte Komplikation - Großzügiger Einsatz empfohlen • Weitere Studien mit 8-11 Patienten (Zeitraum: 7,5-10 Jahre) beschreiben keine Komplikationen bei guter Wirksamkeit Kalish et al. JEMS 2008, Passos et al. Injury 2014, Inaba K et al. J Trauma Acute Care Surg 2015, Schroll R et al. J Trauma Acute Care Surg 2015 Systematischer Review • Präklinischer Einsatz des Tourniquet bei signifikanter Extremitätenblutung, wenn direkter Druck ineffektiv (Empfehlungsgrad: stark, Evidenz: moderat) • Pneumatische oder mechanische Tourniquets einsetzbar (improvisierte Tourniquets nur als Ausnahme) (Empfehlung: schwach, Evidenz: niedrig) • Korrekt angelegtes Tourniquet bis zur chirurgischen/ interventionellen Blutstillung belassen (Empfehlung: schwach, Evidenz: niedrig) Bulger EM et al. Prehosp Emerg Care 2014 Tourniquet: Komplikationen • Mögliche Komplikationen - (Persistierende) Schmerzen (Analgesie zur Anlage!) - Haut- und Nervenschäden (2-10% bei Ischämiezeit >2h) - Muskelschäden (CK und Laktat , wenn Ischämiezeit >2h) - Kompartmentsyndrom (v.a. bei >3h Ischämiezeit) - Thrombembolie (i.d.R. 40-50 Sek. nach Öffnung, nicht signifikant ) - pH (Anfluten von CO2-reichem Blut, Laktat ) - Reperfusionssyndrom (nach 60 Min. Ischämiezeit möglich) Lee C et al. Emerg Med J 2007, Lokstein D et al. J Trauma 2003, Kragh JF et al. Ann Surg 2009, Hauschild SW et al. Notfall Rettungsmed 2013 Tourniquet: Komplikationen • Vermehrte Blutung bei inkorrekter Anlage durch venöse Okklusion bei nicht komplettem arteriellen Verschluss • Intermittierendes Lösen resultiert häufig in erneuter Hämorrhagie • Hämodynamische Stabilisierung kann trotz angelegtem Tourniquet zu erneuter Blutung führen ABER • Bei korrekter und nicht zu langfristiger Anwendung keine Komplikationen (Beekley J et al., J Trauma 2008) Lee C et al. Emerg Med J 2007, Lokstein D J Trauma 2003, Kragh JF Ann Surg 2009, Hauschild SW Notfall Rettungsmed 2013 FRAGE 3 Besteht ein Protokoll zur Tourniquet-Anlage bzw. wird die Verwendung des Tourniquets regelmäßig geübt? 1= beides 2= Protokoll ja, Training nein 3= Protokoll nein, Training ja 4= nein Sichere Anwendung des Tourniquets • Wichtige Grundlagen zur korrekten Tourniquet-Anlage oft nicht bekannt • Ausbildung und Training unabdingbar zur korrekten Anlage (v.a. unter Stress) • Protokollbasierte Anwendung führt zur verbreiteten Nutzung Hauschild SW et al., Notfall Rettungsmed 2013, Lokal wirkende Hämostyptika Einleitung • Granulate, Pulver oder Kompressen, die direkt in die Wunde appliziert werden • In der Regel nicht biodegradierbares/resorbierbares Material, daher Entfernung bei chirurgischer Versorgung nötig • Druck auf die Blutung unabhängig vom Hämostyptikum unabdingbar • V.a. bei nicht komprimierbaren und mit herkömmlichen Maßnahmen nicht stillbaren Blutungen Fischer C et al. Notfall Rettungsmed 2010, Kulla M et al. Notfall Rettungsmed 2014 FRAGE 4 In meinem Rettungsdienstbereich/ meiner Notaufnahme werden lokale Hämostyptika vorgehalten und im Bedarfsfall regelmäßig eingesetzt 1= ja 2= nein Empfehlungen zum Einsatz lokaler Hämostyptika: ATLS® 9th Edition: • Tactile combat casualty care: Few medical interventions can be applied under fire. Stopping the bleeding is one of these interventions, with direct pressure, hemostatic gauze and tourniquets providing temporizing hemostasis • The use of hemostats can result in damage to nerves and veins ATLS Manual 9th edition Empfehlungen zum Einsatz lokaler Hämostyptika: Task Force for Advanced Bleeding Care in Trauma • „We recommend the use of topical haemostatic agents in combination with other surgical measures or with packing for venous or moderate arterial bleeding associated with parenchymal injuries“ (Grade 1B) Spahn DR et al. Crit Care 2013 Zeolith (Quickclot®) • Aluminiumsilikat • Konzentration fester Blutbestandteile/ Gerinnungsfaktoren (Flüssigkeitsabsorption) • Direkt an Blutungsquelle/ Wundgrund anzuwenden • Exotherme Reaktion Gewebeschädigung • Quickclot ACS+: Wärmeentwicklung , Blutstillungseffekt Fischer C, Notfall Rettungsmed 2010, Kulla M, Notfall Rettungsmed 2014 Smektit (WoundStat™) • Aluminium-Magnesium-Silikat • Konzentration fester Blutbestandteile/ Gerinnungsfaktoren (Flüssigkeitsabsorption) • Aktivierung der intrinsischen Gerinnungskaskade • Chirurgisch aus der Wunde zu entfernen • Hohes thromboembolisches Risiko durch Gefäßwandschäden Fischer C, Notfall Rettungsmed 2010, Kulla M, Notfall Rettungsmed 2014 Fibrin (Dry Fibrin Sealant Dressing) und Kerlix® • Fibrinkleber enthält Fibrinogen, Thrombin, Faktor XIII • Kerlix® (Baumwollgaze) mit hoher und schneller Resorptionskapazität • In Verbindung mit elastischer Binde leistungsfähiger Druckverband Chitosan (Celox®, HemCon®) • Polyaminosaccharid • Adhäsion negativ geladener Erythrozyten/ Thrombozyten an positiv geladene Wirkstoffteile • Auswaschung von NO Vasokonstriktion • Chirurgisch aus Wunde zu entfernen • Keine exotherme Reaktion oder thromboembolischen Risiken • Im Vergleich zu anderen Produkten geringere Effektivität Kaolin (CombatGauze®) • Aluminiumsilikat • Aktivierung des intrinsischen Gerinnungssystems • Keine wesentlichen Nebenwirkungen • Als primäres blutstillendes Dressing vom Tactical Combat Casualty Care (TCCC) empfohlen Systematischer Review • Einsatz lokaler Hämostyptika kombiniert mit direktem Druck für anatomischen Regionen, in denen Tourniquet nicht möglich (Empfehlungsgrad: schwach, Evidenz: niedrig) • Verwendung am besten in Form einer Gaze (Empfehlung: schwach, Evidenz: niedrig) • Nur Produkte verwenden, die in einem standardisierten Tiermodell getestet wurden (Empfehlung: schwach, Evidenz: niedrig) Bulger EM et al. Prehosp Emerg Care 2014 Bewertung • Keine größeren (zivilen) Fallstudien zur Anwendung beim Menschen • Mangel an klinischen Studien, die den Einsatz eines spezifischen lokalen Hämostyptikums empfehlen kann • Wirksamkeit in tierexperimentellen Studien teilweise mit uneinheitlichen Ergebnissen • TCCC Guidelines-Change 2014: ...proposes to keep Combat Gauze® as the hemostatic dressing of choice along with the new addition of Celox™ Gauze Smith AH et al. Emerg Med J 2013, Bennet BL et al. J Spec Oper Med 2014 Zusammenfassung • Moderate Infusionstherapie, um verstärkte Blutung durch Beeinträchtigung von Gerinnung und RR-Anstieg zu vermeiden • Die Mehrzahl der externen Hämorrhagien durch Kompression und Hochlagerung kontrollierbar • Bei mangelndem Erfolg Tourniquet-Anlage • Training und Protokoll-basierte Anwendung (pneumatischer) Tourniquets • Wirksamkeit lokaler Hämostyptika noch nicht in großen klinischen Fallstudien untersucht Vielen Dank!