Ein 8-jähriges Mädchen mit ersten zerebralen

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Fortbildung
Ein 8-jähriges Mädchen mit ersten
zerebralen Anfällen und Ungeschicklichkeit beim Flötespielen
Friederike Dey, Bernd A. Neubauer, Andreas Hahn | Zentrum für Kinderheilkunde und Jugendmedizin, Abteilung Kinderneurologie, Sozialpädiatrie und Epileptologie Justus-Liebig-Universität Gießen und UKGM Gießen und Marburg, Standort Gießen
Anamnese und Befund
Ein 8-jähriges Mädchen wird nach 3
­afebrilen zerebralen Anfällen vorgestellt.
Mitte Dezember letzten Jahres war es zu
einem ersten generalisierten Anfall in
den frühen Morgenstunden gekommen,
bei dem das Mädchen etwa eine Minute
röchelte, die Augen nach oben verdrehte,
Schaum vor dem Mund hatte und mit Armen und Beinen zuckte. Der zweite und
dritte Anfall traten am Neujahrsmorgen
und -mittag auf. Dabei bemerkte das Kind
bei erhaltenem Bewusstsein selbst beide
Male ein Klappern der Zähne und ein Zu-
cken des linken Mundwinkels über mehrere Minuten.
Die Eltern berichteten, dass Schwangerschaft und Geburt unauffällig waren.
Im Unterschied zum 10-jährigen Bruder,
bei dem eine Legasthenie bestehe, sei die
bisherige Entwicklung des Kindes unauffällig verlaufen. Allerdings sei das Mädchen motorisch recht ungeschickt. Dies
äußere sich z. B. darin, dass sie beim Flöten mit der linken Hand die Löcher der
Querflöte oft nicht richtig treffe. Detailliertes Nachfragen ergibt dann, dass das
Mädchen häufiger klage, dass ihre linke
Schulter oder ihr linker Arm nach unten
fielen.
Bei Aufnahme ist der neuropädiatrische Untersuchungsbefund unauffällig.
Das EEG zeigt einen amplitudenhohen
Sharp-Slow-Wave-Fokus zentrotemporal
rechts mit Generalisation noch im Wachzustand und ausgeprägter Aktivierung im
Schlaf sowie einen unabhängigen Fokus
zentrotemporal links (Abb. 1). Eine Polygraphie, d. h. die simultane Registrierung
von EEG- und Muskelaktivität mittels
Oberflächenelektroden bei nach vorn ausgestreckten Armen, ergibt ein wiederhol-
Abb. 1: EEG der Patientin bei Dösigkeit
mit Darstellung eines amplitudenhohen,
unvollständig generalisierenden SharpSlow-Wave-Fokus zentrotemporal rechts
sowie eines unabhängigen Fokus zentro­
temporal links.
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Kinderärztliche Praxis 84, 220– 224 (2013) Nr. 4 www.kipra-online.de
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Abb. 2: Polygraphie mit mehrfacher Registrierung eines epileptischen negativen
Myoklonus. Beachte kurze myatone Pausen mit einer Dauer von 70 – 100 ms im M.
deltoideus links (Pfeile) in fester zeitlicher
Relation zu kontralateralen Sharp Slow
Waves zentrotemporal rechts.
tes leichtes Absacken des linken Arms mit
begleitender Pause im Elektromyogramm
in fester zeitlicher Relation zu den rechtsseitigen Sharp Slow Waves (Abb. 2). Das
MRT des Kopfes zeigt einen unauffälligen
Befund. Ein beim Bruder abgeleitetes EEG
stellt ebenfalls einen Sharp-Slow-Wave-Fokus zentrotemporal links dar.
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Um welchen Anfallstyp und um
welche Epilepsieform handelt es
sich?
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Epileptischer negativer Myoklonus
Die in der Polygraphie registrierten Anfälle mit Tonusverlust eines Arms sind im
Sinne eines sog. epileptischen negativen
Myoklonus (ENM) zu werten.
Unter einem Myoklonus wird eigentlich ein kurzes, plötzliches, unwillkürliches Muskelzucken mit einer Dauer von
weniger als 200 ms verstanden. Physiologische Formen sind z. B. der Schluckauf
und die benignen Schlafmyoklonien des
Neugeborenen [5]. Treten Myoklonien in
fester zeitlicher Relation zu epilepsietypischen Potenzialen im EEG auf, spricht man
von einem epileptischen Myoklonus. Beim
epileptischen negativen Myoklonus bewirken die epileptiformen Entladungen aber
keine Muskelkontraktion, sondern eine
kurze Unterbrechung der Muskelaktivität. Bleibt die epileptische Aktivität örtlich begrenzt, resultiert hieraus eine fokale
Myatonie, z. B. mit plötzlichem Absinken
nur des kontralateralen Arms. Kommt es
zur Generalisation der epilepsietypischen
Potentiale, führt dies hingegen zu einem
aton-astatischen Anfall mit Einknicken in
den Beinen oder Sturz aufgrund eines Tonusverlustes der Rumpf- oder Haltemuskulatur [6]. Der epileptische negative Myoklonus wird häufig nicht erkannt und gilt
als unterdiagnostiziert, da er wie in unserem Fall oft nur durch gezielte Anamnese zu erfragen oder mittels detaillierter
Prüfung (EEG-Ableitung bei ausstreckten
Armen) nachzuweisen ist. Retrospektiv bestanden bei unserer Patientin solche Anfälle bereits seit etwa 3 Jahren!
Rolandische Epilepsie und atypische benigne Partialepilepsie
(Pseudo-Lennox-Syndrom) (Tab. 1)
Ein epileptischer negativer Myoklonus tritt
sowohl bei der Rolandischen Epilepsie als
auch bei der atypischen benignen Partialepilepsie auf [3, 7]. Für die letztgenannte Epilepsie ist in Deutschland auch der
Ausdruck Pseudo-Lennox-Syndrom gebräuchlich.
Anfallssymptomatik, Alter, unauffälliger neurologischer Status und EEGVeränderungen bei unserer Patientin waren prinzipiell vereinbar mit einer Ro-
Tab. 1: Synopsis Rolandische Epilepsie und atypische benigne Partialepilepsie (PseudoLennox-Syndrom)
Manifestation
Rolandische Epilepsie
Atypische Benigne Partialepilepsie
Meist normal entwickelte Kinder
Überwiegend normal entwickelte
Kinder, zerebrale Vorschädigung aber
möglich
Beginn im 2. – 12. Lebensjahr
Beginn im 2. – 7. Lebensjahr
Klinik
Rolando-, unilaterale, gen. ton.-klon.
Anfälle,
epileptischer negativer Myoklonus
möglich
Wie bei Rolandischer Epilepsie, kleine
gen. Anfälle (atypische Absencen,
aton-astatische Anfälle, myoklonische
Anfälle), auch epileptischer negativer
Myoklonus
EEG
Sharp Slow Waves zentrotemporal,
(aber auch parietal, temporal, okzipital), Schlafaktivierung
Multifokale, häufig frontale Foci mit
Generalisation, immer Schlafaktivierung, bioelektrische Staten im NonREM-Schlaf
Neuro­
logie
Meist normal, Koordinationsstörungen
oder Teilleistungsstörungen möglich
Häufig Koordinationsstörungen, orale
Dyspraxie möglich, Sprachentwicklungsprobleme, Teilleistungsstörungen
Prognose
Vollständige Remission vor oder während der Pubertät
Große Rezidivneigung, Remission vor
oder während der Pubertät, mentale,
sprachliche und andere Defizite möglich
Patho­
genese
genetisch bedingt
genetisch bedingt
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landischen Epilepsie (benigne Epilepsie
des Kindesalters mit zentrotemporalen
Spikes), d. h. der häufigsten Epilepsieform
des Kindesalters mit günstiger Prognose
hinsichtlich Anfallsfreiheit und kognitiver
Entwicklung. Charakteristisch für diese
Epilepsieform sind sensomotorische Herd­
anfälle im Kopfbereich mit unterschiedlich ausgeprägter Generalisation. Die Anfälle nehmen ihren Ausgang von den primären motorischen und sensiblen Rindenfeldern nahe der Fissura ­sylvii (Area Rolandi) unter Einbeziehung der motorischen
Sprachregion. Sie beginnen meist mit
Missempfindungen im Bereich der Mundhöhle, der Zunge und des Gesichtes. Es folgen tonische und auch klonische Krämpfe
im Bereich der Kaumuskulatur und einer
Gesichtshälfte. Die Kinder vermögen nicht
zu sprechen oder höchstens lallend einige
Worte auszustoßen. Das EEG zeigt typischerweise bei altersgemäßer Grundaktivität einen 5-phasigen Sharp-Slow-WaveFokus, der im Schlaf aktiviert wird [4].
Die Generalisation epilepsietypischer
Potenziale bereits im Wachzustand bei unserer Patientin war aber nicht typisch für
eine Rolandische Epilepsie. Dies sprach
vielmehr für das Vorliegen einer atypischen benignen Partialepilepsie (ABPE).
Die ABPE ist eine sehr viel seltenere Epilepsieform, die sich meist im Alter zwischen 2 und 6 Jahren manifestiert. Neben
Anfällen wie sie für die rolandische Epilepsie typisch sind, können kleine generalisierte Anfälle (atypische Absencen, myoklonische und astatische Anfälle) auftreten. Im EEG zeigen sich typischerweise fokale oder multifokale Auffälligkeiten mit
starker Generalisationstendenz insbesondere im Schlaf. Diese Aktivierung kann bis
hin zu einem bioelektrischen Status epilepticus im Schlaf (ESES) führen. Die ABPE geht häufig mit Entwicklungsstörungen insbesondere der Sprache einher. Es
können auch andere kognitive oder motorische Einschränkungen auftreten. Um
schwerwiegende Entwicklungsstörungen
zu vermeiden, ist eine frühzeitige und konsequente Therapie der Epilepsie unerlässlich. Bezüglich der Epilepsie ist die Prognose günstig. In fast allen Fällen tritt bis
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Wesentliches für die Praxis . . .
◾◾ Ein fokaler, kurzzeitiger Tonusverlust eines Armes oder seltener eines Beines
kann epileptogen bedingt sein.
◾◾ Ein epileptischer negativer Myoklonus ist eine unterdiagnostizierte Anfallsform, die zumeist gezielt erfragt werden muss.
◾◾ Im Unterschied zur rolandischen Epilepsie kommt es bei der atypischen
­benignen Partialepilepsie meist zu einer Generalisation epilepsietypischer Potentiale schon im Wachzustand sowie zu einer ausgeprägten Aktivierung im
Schlaf bis hin zum bioelektrischen Status.
◾◾ Bei der atypischen benignen Partialepilepsie ist die Prognose hinsichtlich der
kognitiven und sprachlichen Entwicklung deutlich ungünstiger als bei der Rolandischen Epilepsie, weshalb eine konsequente antiepileptische Therapie
und engmaschige EEG-Kontrollen erforderlich sind.
zum Ende der Pubertät Anfallsfreiheit ein.
Die Prognose hinsichtlich der psychomotorischen Entwicklung ist hingegen weniger gut. Bis zu 50 % der Patienten können
dauerhafte kognitive Einschränkungen
zurückbehalten [2].
Wie bei dem Bruder unserer Patientin
finden sich umschriebene Entwicklungsstörungen und vor allem EEG-Auffälligkeiten bei Geschwistern von Patienten mit
ABPE wesentlich häufiger als bei Kindern
mit Rolandischer Epilepsie [1].
Bei unserer Patientin erfolgte zunächst
eine Einstellung auf Sultiam, was zu einem
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prompten Sistieren der Anfälle und zu einer deutlichen Besserung des aber weiterhin auffälligen EEGs führte.
5. Tassinari CA, Rubboli G, Parmeggiani L, Valzania F, Plasmati
R et al. (1995) Epileptic negative myoclonus. Adv Neurol
67: 181 – 97
6. Tassinari CA, Rubboli G, Shibasaki H (1998) Neurophysiology of positive and negative myoclonus. Electroencephalography and clinical Neurophysiology 107: 181 – 195
7. Watemberg N, Leitner Y, Fattal-Valevski A, Kramer U (2009)
Negative Myoclonus in Rolandic Epilepsy. Pediatr Neurol
41: 59 – 64
Korrespondenzadresse
Friederike Dey
Zentrum für Kinderheilkunde und Jugendmedizin, Abteilung Kinderneurologie, Sozialpädiatrie und Epileptologie
Justus-Liebig-Universität Gießen und UKGM
Gießen und Marburg, Standort Gießen
Feulgenstraße 12
35385 Gießen
E-Mail: [email protected]
Tel.: 06 41/98 54 34 81
Fax: 06 41/98 54 34 89
Literatur
1. Doose H, Hahn A, Neubauer BA, Pistohl J, Stephani U (2001)
Atypical „Benign“ Partial Epilepsy of Childhood or PseudoLennox Syndrome. Part II: Family Study. Neuropediatrics
32: 9 – 13
2. Hahn A, Pistohl J, Neubauer BA, Stephani U (2001) Atypical
„Benign“ Partial Epilepsy or Pseudo-Lennox Syndrome. Part
I: Symptomatology and Long-Term Prognosis. Neuropediatrics 32: 1 – 8
3. Hirano Y, Oguni H, Osawa M (2009) Epileptic negative drop
attacks in atypical benign partial epilepsy: a neurophysiological study. Epileptic Disord 11: 1
4. Neubauer BA, Hahn A (2012) Dooses Epilepsien im Kindes- und Jugendalter. 12. Auflage, Springer-Verlag, Berlin,
Heidelberg
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