Wetter, Berge und Vereisung: Entscheidungsfindung in der Praxis

Werbung
Wetter, Berge und Vereisung: Entscheidungsfindung in der Praxis
Pilot training
Wetter, Berge und Vereisung:
Entscheidungsfindung in
der Praxis
Das Problem mit Prognosen ist, dass sie mit
der Zukunft zu tun haben.
Winston Churchill
E
s gehört zu den Grundlagen der
IFR-Fliegerei, die auch in diesem
Magazin fleißig diskutiert werden:
Welches Fluggerät ist für welches Wetter
geeignet? Was geht noch? Was geht nicht
mehr?
Meist wird diese Diskussion theoretisch geführt und orientiert sich an folgenden Kernsätzen: Verlässliches IFR
nach Zeitplan geht nur mit Turbolader, im
schlechten Wetter über die Alpen geht‘s
nur mit einer Twin (oder Turbine). Den entscheidenden Unterschied, den ein Turbo,
oder ein zweites Triebwerk ausmacht, bekommt man selten praktisch vor Augen
geführt. Ein Flug im August, mit zwei
Flugzeugen angetreten, zeigt beispielhaft die praktischen Gesichtspunkte dieser Diskussion.
90
Der europäische Sommer zeigt sich Mitte
August 2006 von seiner grässlichsten Seite.
Nachdem angesichts von kaum sechs
Wochen echtem Sommerwetter das Reflexgejammer eingesetzt hatte, zieht das Wetter
nun wunschgenmäß andere Seiten auf: 15
Grad Celsius, häufiger Regen, eine Nullgradgrenze unter 10.000 ft und hochreichende Bewölkung erinnern mehr an Spätherbst
denn an den Hochsommer.
Zwei Flugzeuge, eine Aufgabe
In diesem Wetter planen zwei Crews ein Flugvorhaben quer durch Europa. Es gilt am 12.
August von Egelsbach nach Venedig zu
fliegen. Die Kandidaten: Unser Redaktionsflugzeug, PA30 Turbo Twin Comanche, und
die Cessna 182Q eines guten Freundes. Wir
planen, mit fünf Leuten einige Tage Urlaub
in der Lagunenstadt zu verbringen.
Der Weg dahin führt nicht direkt nach LIPV
(San Nicolo), sondern über Graz (LOWG),
Pilot und Flugzeug 09/2006
Wetter, Berge und Vereisung: Entscheidungsfindung in der Praxis
Pilot training
denn die 182er möchte angesichts unklarer
Spritversorgung in Venedig vorher noch tanken und außerdem muss dort noch eine liebe Mitreisende eingesammelt werden.
Der morgendliche Blick auf das Wetter verheißt nichts Gutes. Genau dort, wo sich die
auf dem IR-Bild zu erkennende hochreichende Bewölkung mit starkem Niederschlag
paart, müssen wir hin. In ganz Europa haben
wir uns zuverlässig die Ecke ausgesucht, in
der das schlechteste Wetter herrscht.
Ausgerechnet über den Ostalpen und Graz ist
die Hölle los. Hochreichende Bewölkung mit
Nullgradgrenzen um FL90 lassen eine eisfreie
Querung der Alpen irgendwo auf der Höhe
von Linz/Graz unmöglich erscheinen. Dazu
kommt die ausgeprägte Gewitterneigung
und die Gefahr von embedded CBs. All dies
ist nicht unbedingt das Wetter, das man mit
einer nicht turboaufgeladenen Single ohne vernünftige Wettererkennung befliegen
möchte.
Schon jetzt ist klar: Auch unsere Twin Comanche wird über Graz fliegen. Denn es ist
mehr als fraglich, ob die 182er LOWG erreichen kann und in dieser Situation gilt es, die
Crew der Cessna wenigstens von der organisatorischen Bürde zu befreien, in Graz noch
jemanden abholen zu müssen.
Außerdem kann die Twin, wenn sie langsam
voraus fliegt, der Cessna nützliche Wetter-
Der Überblick: Schauerliches Wetter über den Ostalpen macht einen Flug von Egelsbach nach Graz
und weiter nach Venedig zu einem schwierigen Unterfangen. Herzlichen Dank an das Team des DWD
für die nachträgliche Bereitstellung der pc_met-Produkte dieses Tages.
Pilot und Flugzeug 09/2006
91
Wetter, Berge und Vereisung: Entscheidungsfindung in der Praxis
Pilot Training
Schon der morgendliche Blick auf das Niederschlagsradar zeigt: Mit unserem geplanten Flug von
Egelsbach nach Venedig über Graz haben wir uns mal wieder zuverlässig das mieseste Wetter in
Europa ausgesucht.
informationen durchgeben. Wie hilfreich ein
„Live-Report“ 20 oder 30 NM im Voraus sein
kann, dass wissen nicht zuletzt die Piloten
der Pilot und Flugzeug Leserreise, die sich
in schwierigen Situationen auf der Company­
frequenz austauschen.
Und genau dieses Verfahren wenden wir an:
Auf der 123,42 soll die Twin, die dank Moving
Terrain Radaruplink und WX500 über ausreichende Wettererkennung verfügt, die Cessna
vor unangenehmen Ümerraschungen warnen – nicht etwa, um der Crew der Single
die Entscheidung abzunehmen, sondern einfach, um sie mit aktuellen Informationen zu
versorgen.
92
Der Plan: Flug in Richtung Linz. Dort muss
entschieden werden, wie weit die Maschinen
nach Osten ausweichen müssen, um in sicheren Plusgeraden nach Graz vorzudringen. Im schlimmsten Fall muss der Flug in
oder unter FL80 bis nach Wien ausgedehnt
werden. Die Alpen würden also umflogen,
nicht überflogen werden. Die Hauptgefahr
auf dieser Strecke: Embedded CBs.
Unterschiedliche Taktiken
schon am Anfang
Gegen Mittag startet die 182er in den mit
TCUs und einzelnen CBs gespickten Himmel
Pilot und Flugzeug 09/2006
Wetter, Berge und Vereisung: Entscheidungsfindung in der Praxis
Pilot Training
Oben: Knapp in der Wolkensuppe fliegend fängt sich die
C182 schon auf dem Weg in Richtung Alpen etwas Eis
ein (Mitte).
Unten: Auch die Twin Comanche zeigt bei einem sehr kurzen Durchflug eines TCU Vereisung. Klar wird: Von diesem Wetter haben wir in Minustemperaturen sehr unterschiedlichen und potentiell sehr heftigen Eisansatz
zu erwarten.
über Frankfurt. Circa 20 Minuten
später folgt die Twin Comanche.
Schon zu Anfang werden die sehr
unterschiedlichen Flugtaktiken der
Besatzungen klar. Während die 182er
auf ein­setzende Vereisung in den
Quellwolken mit einem Sinkflug von
auf FL80 reagiert, entscheidet sich
die Besatzung der turboaufgeladenen PA30 angesichts der gleichen
leichten Vereisung zu steigen – erst
auf FL100, dann auf FL110.
Je höher, desto besser
Und dort angekommen, stelle ich fest:
Einmal aus dem gröbsten CumulusGeschehen heraus, lässt sich der Flug
in FL110 mit kleinen Kursänderungen,
um den hohen Quellungen auszuweichen, wesentlich entspannter
fortsetzen als in der durchgeschüttelten und niederschlagsträchtigen
Flugfläche 80.
Diese Information wird umgehend
an die noch knapp vorausfliegende
Cessna weitergegeben. Die Crew der
182er entscheidet sich nun ebenfalls,
zu steigen.
Um nun ATC nicht ins Schwitzen zu
bringen, geht die Twin auf FL130,
denn die PA30 schließt allmählich
zur 182er auf.
Beide Flugzeuge brummen in dieser
Konstellation auf die Alpen zu. Die
182er gelegentlich mit „dem Bauch
in der Suppe“, die PA30 2.000 ft höher etwas komfortabler und über dem
Geschehen.
In der Gegend von Eggenfelden
wird die Problematik für die weite-
Pilot und Flugzeug 09/2006
93
Wetter, Berge und Vereisung: Entscheidungsfindung in der Praxis
Pilot Training
re Flugdurchführung klar: Sowohl der Blick
aus dem Cockpit wie auch das via Moving
Terrain eingeholte Niederschlagsbild des
DWD zeigen eindeutig, dass auf dem Weg
nach Südosten ziemlich genau beginnend an
der deutsch-österreichischen Grenze der
versprochene große dicke, fette und vor allem sehr nasse Nimbostratus liegt. Mit viel
Wasser und einem niedrigen Freezing-Level
alles andere als eine einladende Option.
Dagegen ist aus FL130 klar zu erkennen,
dass auf der Strecke direkt nach Süden blauer Himmel über den Alpen herrscht. Sogar
Der entscheidende Moment aus dem Cockpit
der PA30 (Position: etwa am „Grünen Punkt“
auf dem Bild auf der rechten Seite).
Blick nach Südosten (unten). Alles Frei! Einem
Flug steht hier wettertechnisch nichts mehr
im Wege: Die Frage ist nur – welche Optionen
bleiben hier in einer Single?
Bilder rechts: Die Bewölkung über den Bergen
ist praktisch geschlossen. Nur selten sind einige der bedrohlichen Gipfel der österreichischen
Kalkalpen zu sehen. Diese erscheinen selbst
aus FL150 noch recht nahe.
Die Frage ist: Was tun Sie jetzt, wenn das
Triebwerk in der Single die Lust verliert?
94
Pilot und Flugzeug 09/2006
Wetter, Berge und Vereisung: Entscheidungsfindung in der Praxis
Pilot Training
Das Wettergeschehen von oben (0900Z) mit dem gemeinsamen Flugweg von PA30 und C182: Die Twin
kann sich in FL150 bequem in einem weiten Bogen über dem Wettergeschehen nach Graz vorarbeiten. Dabei wird lange über dem Hauptkamm der Alpen geflogen, dank zweier Turbomotoren eine nachgeordnete Überlegung. Die C182 muss querab Salzburg (grüner Punkt) umkehren und fliegt zurück
nach EDFE.
einige Gipfel sind zu erkennen. Diese Be­
obachtung wird der 182er mitgeteilt. Sie entscheidet sich, nach Süden zu fliegen auf
das gute Wetter zu, aber in wesentlich höheres Gelände.
Ich steige weiter auf FL150, um der Cessna
(wir sind nach wie vor nach IFR unterwegs)
Raum für einen eventuellen weiteren Steigflug
zu geben.
Freie Hand über den Alpen
Dank einer sehr flexiblen österreichischen
ATC und sehr wenig Verkehr in unseren
Levels haben wir für die Wahl unseres Kurses
in Richtung Graz nahezu freie Hand. Nun
sieht sich die Cessna aber mit einem weite-
ren Problem konfrontiert: In FL120 fliegend
hat sie es mit einem nahezu geschlossenen
Undercast zu tun. Da ist die mit Saugermotor
ausgerüstete Single so gerade eben drüber.
Sauerstoff ist auch nicht an Bord. Wenn weiter gestiegen werden muss, dann mit minimaler Performance. Aus den vorangegangenen 40 Minuten Flug wissen wir aber, dass
jeder der fetten, nassen CU-Türme reichlich
Feuchtigkeit und Eis beinhaltet.
Dazu führt der Flug unter diesen Bedingungen
in absolut unlandbares Gelände – die Zentral­
alpen nämlich!
Im Falle eines Triebwerksproblems oder auch
nur eines wachsenden Eisansatzes würde
der Flug unweigerlich mit dem Kalkstein der
Alpen zusammentreffen.
Pilot und Flugzeug 09/2006
95
Wetter, Berge und Vereisung: Entscheidungsfindung in der Praxis
Pilot Training
Der Anflug nach Graz (LOWG) hält dann, was
die Wetterkarte verspricht: Schauerliches
Wetter mit Breakout bei 700 ft!
Über dem Geschehen (rechts) fliegt sich‘s
dagegen entspannt – jedenfalls mit zwei
Motoren ...
Nur 2.000 ft höher stellt sich in der Twin die
Situation ganz anders da. Mit mindestens
tausend Fuß Ab­stand zu den Wolken geben die beiden turbo­normalisierten Motoren
reichlich Leistung ab.
Vor mir ist blauer Himmel, jedenfalls nach
Süden hin. Selbst wenn ein weiterer Flug
nach Osten wegen des ausgedehnten Nim­
bostratus nicht mehr möglich ist, kann ich
nach Klagenfurt oder direkt nach Italien fliegen.
Der sich nördlich des Hauptkammes erstreckende Stratus-Layer (siehe Bild Seite 94)
mit der Obergrenze um FL120 endet viel96
leicht 10 bis 15 NM südlich meiner Position.
Danach schauen sogar einzelne Berggipfel
aus der aufgelockerten Bewölkung.
Aber selbst wenn die Alpen komplett abgedeckt sind. Wo ist das Problem? Bei einem
Triebwerksausfall hält auch ein Motor die
leicht beladene PA30 noch auf der angegebenen (und von mir erprobten!) Single-EngineService Ceiling von 16.000 ft. Im Umkreis von
50 NM gibt es ausreichend Flugplätze. Also
auf das Wetter konzentrieren: Was unter den
Wolken ist, ist Nebensache. Wie gesagt: Einund dieselbe Wettersituation aus der nahezu gleichen Perspektive führen zu zwei vollkommen unterschiedlichen Entscheidungen.
Pilot und Flugzeug 09/2006
Wetter, Berge und Vereisung: Entscheidungsfindung in der Praxis
Pilot Training
Die Cessna macht kurz hinter Salzburg kehrt
und fliegt zurück, die Twin setzt den Flug in
respektvollem Abstand
zum Nimbostratus in einem weiten Bogen nach
Süden und schließlich
nach Osten in Richtung
Graz fort.
Es kümmert mich auf
diesem Flug nur noch
am Rande, ob ich nun
über dem Hauptkamm
der Alpen oder schon
über dem Flachland bin.
Wichtig ist nur: Aus der
Bewölkung draußen bleiben!
Kurz vor Graz, mit einer MEA unter der
Nullgradgrenze, beginnt ein recht steiler Sinkflug, tatsächlich gibt es etwas Eis
auf dem Weg nach unten, das aber schnell
wieder verschwindet. Der Anflug ist solid
IMC mit Sichtkontakt zur Bahn erst in 700
ft GND. Das Wetter ist schauderhaft, meine Mitreisende aber sehr froh, dass ihr die
drohende Zugfahrt nach Venedig erspart
bleibt ...
Der Fall zeigt beispielhaft, die zwei Faktoren
– Turbo und zweiter Motor nämlich –, die hier
Ein- und dieselbe Wettersituation aus
der nahezu gleichen Perspektive führen
zu zwei vollkommen unterschiedlichen
Entscheidungen: Die Cessna macht kurz
hinter Salzburg kehrt und fliegt zurück,
die Twin setzt den Flug in respektvollem
Abstand zum Nimbostratus fort.
Auch die Cessna kommt sicher wieder in
Egelsbach an. Die Crew hat eine viel zu selten
praktizierte Entscheidung getroffen: NoGo –
und das in der Luft.
Dass die Crew damit richtig lag, zeigte der
weitere Weg nach LOWG. Der Eindruck einer aufgelockerten Bewölkung hinter dem
Stratus-Layer bei Salzburg trog: Tatsächlich
waren die Berge nahezu komplett in Wolken
eingehüllt (siehe Bilder Seite 94).
Mit einer Single wäre der Flug in FL150 oder
höher zwar legal gewesen, aber angesichts
fehlender Optionen bei Leistungsverlust oder
Eisansatz ganz sicher nicht ratsam.
den Unterschied zwischen einem relativ ereignislosen Routineflug und einer knallharten
NoGo-Entscheidung in der Luft machten.
Und das Happy-End: Nur 24 Stunden später
ließ sich die Strecke problemlos unter guten
Sichtbedingungen abfliegen. Die Crew der
182er flog am Folgetag ganz entspannt und
safe nach Venedig!
Natürlich haben wir während einiger Tage
dort die Entscheidungen rund um diesen
Flug ausgiebig diskutiert. Drei zentrale Fragen
drängen sich dabei auf:
1. Wäre der Flug auf dem ursprünglichen
Plan – also tief durch das schlechte
Wetter mit Umweg über Wien – möglich gewesen?
Wahrscheinlich ja, der Nimbostratus
sah aber ausgesprochen wenig einladend aus und schon eine um nur
2.000 ft (4° C) falsch vorhergesagte
Nullgradgrenze hätte hier das Aus bedeutet.
Pilot und Flugzeug 09/2006
97
Wetter, Berge und Vereisung: Entscheidungsfindung in der Praxis
Pilot Training
Der Flug aus Sicht der Cessna-Besatzung:
Gelati italiani —
oder warum ich
Eis nur als
Dessert mag
A
m 12. August stand ein Flug von
Egelsbach (EDFE) nach Venedig
San Nicolo (LIPV) über Graz (LOWG)
an. Die Wetterprognose für die Strecke
war nicht allzu viel versprechend. Diese
lag zum einen unter dem Einfluss eines
Tiefs namens „Bärbel“, das sich nördlich
des Vorhersagebereiches befand, und
zum anderen im Wirkungskreis des berüchtigten Genuatiefs – unter Fachleuten
auch als 5b-Wetterlage bekannt.
Unter einer 5b-Lage versteht man eine Luft­
masse, die südlich der Alpen bei vergleichsweise hohen Lufttemperaturen große Mengen
Wasserdampf aufnimmt, dann die Alpen im
Osten umwandert, um dort unter Hebung
und Abkühlung diese Feuchtigkeit wieder
abzugeben. Diverse Starkregenereignisse
der jüngeren Vergangenheit in Süd- und
Ostdeutschland waren das Ergebnis dieses meteorologischen Phänomens. Inwieweit
diese Luftmasse den Flugverlauf beeinflussen würde, war im Vorfeld mit letzter
Sicherheit nicht abzuklären – die Dynamik
des Prozesses darf getrost als schwer prognostizierbar beschrieben werden.
Wir entschlossen uns, am Samstagnachmittag
mit unser Cessna F182Q, befüllt mit 284 Litern
Avgas, drei Personen und Gepäck für drei
Tage, zu starten. Aus der Erfahrung durchgeführter Reisen können wir von einer „Block-
98
Speed” von 125 Knoten (TAS zwischen 135
kt und 140 kt) und einer „Endurance” von gut
6:30 h ausgehen. Dies stellt einen gewissen
Arbeitsspielraum dar.
Der „climb out“ aus EDFE gestaltet sich
zunächst unproblematisch! Mit einem „IFR
– Pick-Up” Richtung KNG werden wir zunächst auf A050 und anschließend auf F070
freigegeben. Die Wolkenuntergrenzen liegen bei circa 3000 ft, die Obergrenze der
Cumuli schwankt zwischen 6000 ft und mehr
wie 10 000 ft. Hierbei zeigt sich, dass die
Feuchtigkeit innerhalb der Wolken erheblich sein muss.
Die Windschutzscheibe der Cessna wird
beim Flug durch die Wolken in erheblichem
Umfang von Wasser überströmt. Wir erhalten
die Freigabe auf F100. Oberhalb Flugfläche
85 nehmen wir das erste Mal Eis auf. In
Flugfläche 100 operieren wir zu sehr in IMC,
um das Eis loswerden zu können. Ich entschließe mich, wieder auf F080 zu sinken.
Dort sind die Temperaturen im schwach positiven Bereich. Langsam aber sicher schmilzt
der Eisbesatz wieder ab. Klar ist, dass wir die
Strecke nicht komplett in F080 fliegen können. Der Streckenteil auf der „L604“ gibt uns
eine Mindesthöhe von 10 000 ft vor.
Nach circa 110 NM ergibt sich die Möglichkeit,
ohne Wolkenberührung auf F110 zu steigen.
Dies sorgt dafür, dass wir vorläufig „on top“
in ausreichender Reiseflughöhe „eisfrei“ operieren können. Das Vergnügen währt nur gute 25 Minuten. Dann werden zunehmend „requests to avoid“ und irgendwann der Level
F120 nötig, um die Berührung von Wolken
zu vermeiden. Die „non turbo charged“
Cessna kommt so langsam aber sicher an
einer Leistungsgrenze an, die einen höheren
Reisefluglevel verbieten. Mittlerweile erzwingt
das Wetter eine Kurskorrektur nach Süden,
um mit F120 wolken- und damit eisfrei zu
bleiben. Im Raum östlich von Eggenfelden
angekommen, zeichnet sich hinter Salzburg
eine Stratus– bzw. Nimbosstratusschicht ab,
Pilot und Flugzeug 09/2006
Wetter, Berge und Vereisung: Entscheidungsfindung in der Praxis
Pilot Training
die in unserer Höhe zum Einflug in IMC führen
wird. Dies hätte mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit Eisansatz zur Folge.
Darüber hinaus werden wir in wenigen Minuten
alpines Gelände überfliegen mit MEAs über
10.000 ft bei sich abzeichnender geschlossener Wolkendecke, und über F120 zu steigen
ist angesichts der Flugzeugperformance und
mangels Sauerstoff für die Insassen ebenfalls keine Option.
Ich bitte den Lotsen von Austro Control um
zwei Vollkreise vor dem Stratusgebilde, um
uns die Karten zu legen. In diesen vier Minuten
schätze ich nochmals kurz die vorliegende Situation ab. Weiterflug bedeutet: Einflug
mit einer „single engine aircraft in solid IMC“
mit wahrscheinlich erheblicher Vereisung,
im Bereich der oberen Leistungsgrenze des
Flugzeuges, ohne die Möglichkeit, im Sinkflug
auf einen eisfreien Level zu kommen, mit alpinem Gelände unter einer geschlossenen
Wolkendecke.
Die Entscheidung kann nur lauten: „Bis hierhin und nicht weiter!“ Wie sehen die weiteren Optionen aus? Anhand der vor dem
Flug abgefragten Wetterinformationen im
Zusammenhang mit den Beobachtungen
während des Fluges darf angenommen werden, dass das Wetter hinter uns weiterhin beherrschbar ist. In den Tanks befinden sich
nach circa 2 h Flugzeit noch mindestens für
4½ h Kraftstoff. Somit entscheide(n) ich/wir
uns zum Umdrehen. Wir werden kontinuierlich das Wetter und seine Entwicklung auf
dem Rückflug prüfen (VOLMET, ATIS, ATC
etc.) und beim geringsten Zweifel auf einem
der Flugplätze (z.B. LOWS, EDME, EDDM
etc.) im Bereich der Strecke landen.
Die Abarbeitung des Rückfluges nach EDFE
zusammen mit ATC war dann Standard. Nach
einer Gesamtflugzeit von 3:48 h landen wir
wieder in EDFE. Am Folgetag gelingt der Flug
ohne nennenswerte Vorkommnisse.
15.08.06, Dr.-Ing A. Bubenik
2. Was, wenn die Single Höhenleistung
gehabt hätte? Also beispielsweise eine Turbo-Arrow oder eine C182T?
Dann wird‘s spannend: Auch mit einer Turbo-Single wäre der Flug
über längere Zeit über den wolken­
verhangenen Bergen verlaufen. Eine
wenigstens überlegte Alternative zum
NoGo wäre mit der Turbosingle: Ganz
rauf, maximale Höhe (= Sicherheit),
mit Sauerstoff fliegen und auf dem
kürzesten Weg über das unlandbare
Gelände direkt nach Süden. Am besten den Umweg über Graz streichen.
3. Was, wenn die Twin zwar eine Twin,
aber nicht turboaufgeladen wäre? Dann hätte der zweite Motor die
Maschine im Notfall nicht über dem
Gelände halten können.
Keine Dead-Stick-Situation
entstehen lassen
Sicher – alles dreht sich hier um 20 bis 25
Mi­nuten Flugzeit. Mit einer Single oder einer Non-Turbo-Twin in IMC über die Alpen
zu fliegen ist natürlich legal!
Jede Crew muss aber selbst entscheiden,
welches Maß an Risiko im Rahmen der geltenden Regeln akzeptabel ist. Eine gute
Richtlinie ist dabei der Dead-Stick-Test: Es
gilt jede Situation zu vermeiden, in der ein
einzelnes weiteres Problem zu einer unkontrollierbaren Situation führt. Im vorliegenden Fall also:
- Mit einem Saugermotor on top Single
Engine über die Alpen knapp an der
maximalen Flughöhe? Jetzt reicht ein
Problem am Triebwerk (muss ja kein
Pilot und Flugzeug 09/2006
99
Wetter, Berge und Vereisung: Entscheidungsfindung in der Praxis
Pilot Training
Totalausfall sein), um unweigerlich ohne Sicht und ohne Kontrolle in das
steile Gelände zu sinken. Soviel Glück
hat niemand!
- Mit einer nicht turboaufgeladenen
Twin in IMC über die Berge, wenn eine sichere Flughöhe (13.000 ft oder
mehr) nicht gehalten werden kann?
Hier besteht kaum ein Unterschied zur
Single.
Meine persönliche Meinung: Eine
Twin mit Saugermotoren und SingleEngine-Service-Ceilings unterhalb 10.000 ft bringt in puncto
Einsetzbarkeit wenig.
- Und die Turbo-Single? Her kann man
argumentieren, dass aus 25.000 ft bei
sorgfältig geplanter Strecke immer
noch ein Flugplatz erreicht werden
kann. Mittels Terrain-Awareness können im Notfall auch VFR Plätze zumindest angesteuert werden. Theoretisch
stimmt das. Ob es praktisch aber gelingt mit kotzendem Triebwerk, rasendem Herzen und im miesesten Wetter
einen Approach auf eine Graspiste irgendwo im Tal zu basteln, darf bezweifelt werden.
Für mich muss der Plan B ein wenn auch
nicht unbedingt legales, denn doch wenigstens erprobtes Verfahren sein.
Ein typisches Happy-End: Am nächsten Tag
fliegt die Skylane, die am Vortag noch umdrehen musste, bei schönstem Wetter ganz
entspannt über die Alpen.
100
Pilot und Flugzeug 09/2006
Wetter, Berge und Vereisung: Entscheidungsfindung in der Praxis
Pilot Training
Mit einem Triebwerk noch nach Salzburg
oder Klagenfurt zu fliegen ist eine solche
verlässliche Option.
IFR mit kleinen Maschinen
Das soll kein Plädoyer gegen IFR in kleinen Flugzeugen sein. Im Gegenteil: Mit einer
172er, einer Robin oder eine braven Archer
kann an den allermeisten Tagen des Jahres
sicher nach IFR geflogen werden, auch wenn
VFR nicht oder nicht mehr sicher geht.
Der Dead-Stick-Test: Es gilt
jede Situation zu vermeiden,
in der ein einzelnes weiteres
Problem zu einer unkontrollierbaren Situation führt.
Frei von Eis und CBs und unter zumindest
halbwegs erträglichen Notlande- oder Not­
wasserungsoptionen sind diese Flug­zeuge
sichere, zuverlässige und ökonomische
Reisemaschinen.
Und wie dieses Praxisbeispiel auch zeigt,
reicht oft schon eine Verschiebung um 24
Stunden, um wieder im fliegbaren Wetter
unterwegs zu sein.
Wer aber häufig in Bedingungen fliegt, wie
die am 12. August über den Alpen, oder wer
nach Zeitplan IFR unterwegs ist und nicht
acht oder 24 Stunden auf besseres Wetter
warten kann, der sollte sich bitte für einen
Turbolader entscheiden – oder besser noch
für zwei Turbolader: einen für den linken und
einen für den rechten Motor!
^ [email protected]
Pilot und Flugzeug 09/2006
101
Herunterladen