"Schuld und Strafe" Vortrag des deutschen Richters Christian

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Schuld und Strafe
Dass der Staat straft, ist so selbstverständlich, dass im gerichtlichen Alltag gar nicht
mehr danach gefragt wird, warum das so sein muss. Strafe muss jedoch einen
Zweck erfüllen. Das folgt schon aus den Menschenrechten. Mit dem Strafrecht greift
der Staat erheblich in die Rechte seiner Bürger ein. Dies darf er nur, wenn er einen
legitimen Zweck verfolgt, der so viel Gewicht hat, dass die Verhältnismäßigkeit der
Strafe sichergestellt ist.
In der Geistesgeschichte haben sich verschiedene Theorien zum Sinn des staatlichen Strafens herausgebildet. Nach den absoluten Straftheorien dient die Strafe losgelöst von einem sozialen Zweck allein der Vergeltung des Unrechts. Nach den relativen Straftheorien dient das staatliche Strafen der Verhinderung künftiger Taten,
wobei die generelle Abschreckung (Generalprävention) und die Einwirkung auf den
konkreten Täter (Spezialprävention) zu unterscheiden sind. Die verschiedenen Philosophien haben in Deutschland an selbstständiger Bedeutung verloren. Nach der
ständigen Rechtsprechung wird der Sinn des Strafens in einer Vereinigung aller dieser Ansätze gesehen. Das Bundesverfassungsgericht hat dies in einer Entscheidung
kurz so zusammengefasst:
„Schuldausgleich, Prävention, Resozialisierung des Täters, Sühne und Vergeltung für
begangenes Unrecht werden als Aspekte einer angemessenen Strafsanktion bezeichnet“.
Dabei ist die Zumessung der Strafe an der Schuld des Täters zu orientieren. Dies
ergibt sich ausdrücklich aus dem deutschen Strafgesetzbuch. Das Schuldprinzip hat
nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts sogar Verfassungsrang:
"Auf dem Gebiet der Strafrechtspflege bestimmt Art. 1 Abs. 1 GG die Auffassung
vom Wesen der Strafe und das Verhältnis von Schuld und Sühne (vgl. BVerfGE 95,
96, 140). Der Grundsatz, dass jede Strafe Schuld voraussetzt, hat seine Grundlage
damit in der Menschenwürdegarantie des Art. 1 Abs. 1 GG"
Der Schuldgedanke beruht darauf, dass der Mensch ein selbstbestimmtes Wesen ist.
Vorwerfbarkeit des Verhaltens setzt damit voraus, dass der Täter sich anders hätte
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entscheiden können. Mit dieser Feststellung schlagen die juristischen und philosophischen Überlegungen zum Sinn der Strafe und zur Schuld in eine psychologische
und psychiatrische Fragestellungen um. Ob der Mensch sich frei entscheiden kann
oder aber aufgrund einer psychischen Störung daran gehindert ist, ist letztlich eine
medizinisch-psychiatrische Fragestellungen.
Das deutsche Recht folgt einem abgestuften Modell, wonach die Schuldfähigkeit
teilweise eingeschränkt und schließlich ausgeschlossen sein kann.
Dabei unterscheidet das deutsche Recht zwischen der Einsichtsfähigkeit, d.h. der
Fähigkeit des Täters das Unrecht seiner Tat zu erkennen, und der Steuerungsfähigkeit, d.h. der Möglichkeit des Täters entsprechend dieser Einsicht zu handeln. Der
Gesetzgeber hat die Regelungen zur Schuldfähigkeit in den letzten Jahrzehnten angepasst und dabei versucht für die medizinischen und psychologischen Diagnosen
rechtlich entsprechende gesetzliche Tatbestände zu finden.
In den meisten Staaten Europas hat sich eine ähnliche Rechtsentwicklung vollzogen.
Unter dem im deutschen Gesetz genannten juristischen Terminus „krankhafte seelische Störung" werden organische Psychosen und Psychosydrome sowie schizophrene und affektive Psychosen gefasst. Die "tiefgreifende Bewusstseinsstörung“
umschließt Psychogene Dämmerzustände sowie andere dissoziative Störungen. Mit
einer „schweren anderen seelischen Abartigkeit" werden psychogehende Reaktionen, Neurosen, Süchte, sexuelle Deviationen und Persönlichkeitsstörungen bezeichnet.
Im gerichtlichen Alltag spielt die Frage der Schuldfähigkeit je nach Delikt eine unterschiedliche Rolle. Während bei Diebstahls- und Betrugsdelikten nur in geringem Umfang die Schuldfähigkeit des Täters im Strafverfahren in den Blick zu nehmen ist,
muss bei Tötungsdelikten genauer hin gesehen werden. In über 40 % der Fälle ist
bei Tötungsdelikten die Schuldfähigkeit des Täters erheblich oder vollständig eingeschränkt. Aufgrund dieser kriminologischen Erkenntnis gehört nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs inzwischen eine psychiatrische Begutachtung bei Tötungsdelikten zur Aufklärungspflicht des Gerichts. Es bedarf im Strafverfahren regelmäßig genauerer Untersuchung, warum die natürliche Tötungshemmung bei der Tat
überwunden wurde.
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Die Einschränkung der Schuldfähigkeit tritt bei Männern und Frauen in Tötungsdelikten gleichermaßen auf, wie die bundesweite Kriminalstatistik zeigt.
Auch ein Blick über die Ländergrenzen bestätigt diesen Befund. In vielen Ländern
Europas -mit durchaus unterschiedlicher Rechtsordnungen- sind Mörder nach den
Feststellungen in den Strafverfahren in einem statistisch bemerkenswerten Umfang
schuldunfähig.
Der Schuldunfähige, der eine rechtswidrige Straftat begangen hat, kann nicht bestraft
werden. Es kann ihm kein strafrechtlicher Vorwurf gemacht werden, da ihm wegen
der geistigen Störung der Weg zu einem rechtmäßigen Verhalten versperrt war.
Straftäter, die durch eine geistige Störung zur Straftat hingerissen worden sind, können für die Allgemeinheit gefährlich sein. Deshalb sieht das Gesetz vor, diese Täter
in einem forensischen Krankenhaus unterzubringen. Dies ist nach deutschem Verständnis keine Strafe sondern eine Maßnahme zur Besserung des Täters und Sicherung der Allgemeinheit. Die Unterbringung in einer forensischen Klinik setzt eine erhebliche rechtswidrige Tat voraus, die im Zustand der Schuldunfähigkeit oder verminderten Schuldfähigkeit begangen worden ist. Dabei muss ein innerer Zusammenhang zwischen der geistigen Störung und der Tat bestehen. Der Täter muss darüber
hinaus infolge dieser geistigen Störung für die Allgemeinheit gefährlich sein.
Ähnliche Regelungen gibt es in vielen Staaten. In den unterschiedlichen Rechtsordnungen ist die Praxis durchaus unterschiedlich. Bei einem Vergleich mit den europäischen Nachbarn zeigt sich, dass sich die Unterbringungspraxis der nördlichen europäischen Länder von der der südlichen europäischen Länder unterscheidet.
Die Zahl der in Gefängnissen untergebrachten Straftäter ist in Deutschland im
internationalen Vergleich gering. In den USA sind z.B zehnmal mehr Menschen
pro 100.000 Einwohner im Gefängnis. Bei der Bekämpfung der Kriminalität
spielt die gezielte Einwirkung auf den Täter außerhalb der Gefängnisse bei uns
eine große Rolle.
Dies zeigt die Statistik über die Zahl der Untergebrachten. Sowohl die Zahl der
in psychiatrischen Krankenhäuser Untergebrachten als auch die in Erziehungsanstalten Behandelten hat in den letzten 20 Jahren zugenommen. In psychiatrischen Krankenhäuser werden Täter untergebracht, die eine Straftat im
Zustand der Schuldunfähigkeit oder eingeschränkten Schuldfähigkeit began3
gen haben und die wegen ihrer geistigen Störung für die Allgemeinheit gefährlich sind. Die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt erfolgt für Täter, die
wegen ihrer Alkohol- oder Drogensucht Straftaten begangen haben. Die Sicherungsverwahrung ist ein Instrument, das bei schweren Straftaten eingreift. Gewohnheitsverbrechern, die einen Hang zu Straftaten haben, können in speziellen Anstalten zum Schutz der Allgemeinheit festgehalten werden, auch wenn
sie ihre Strafe bereits verbüßt haben.
Der Anstieg der Zahl derjenigen, die in psychiatrischen Kliniken untergebracht
sind, beruht darauf, dass sich vor etwa 20 Jahren die Anforderungen für die
Hinzuziehung psychiatrischer Sachverständiger in Strafverfahren verschärft
haben. Es wird heute genauer hin gesehen, ob der Täter unter einer geistigen
Störung leidet. Nach internationalen Studien bedarf etwa ein Viertel der Gefangenen in Gefängnissen einer psychiatrische Behandlung. Für das Thema Todesstrafe ist diese Erkenntnis von großer Sprengkraft. Auch nach der Rechtsprechung des Obersten Amerikanischen Gerichtshofs ist die Verhängung der
Todesstrafe gegen Täter, die geistesgestört sind, nicht statthaft. Die Hinzuziehung von psychiatrischen Sachverständigen ist nach den dargestellten Zahlen
zur Vermeidung von Fehlurteilen besonders wichtig.
Ein Blick auf die Delikte, die zur Unterbringung in forensischen psychiatrischen Kliniken in Nordrhein-Westfalen geführt haben, zeigt dass neben den Tötungsdelikten vor
allem Körperverletzungen und Sexualdelikte im Vordergrund stehen. Diese Deliktsgruppen machen fast 3/4 der Einweisungstaten aus.
Die in forensischen Kliniken untergebrachten Täter blicken sehr oft auf eine beachtliche strafrechtliche Vergangenheit zurück. Meist besteht die geistige Störung, die zur
Unterbringung geführt hat, schon länger. Die Täter waren deshalb oft in der allgemeinen Psychiatrie oder im Justizvollzug. Die Unterbringung in einer forensischen
psychiatrischen Klinik ist nicht selten das Ende einer strafrechtlichen Karriere. Die
Gefährlichkeit für die Allgemeinheit, die bei uns Voraussetzung für die Unterbringung
ist, lässt sich oft auch nur mit einem Blick auf diese strafrechtliche Karriere feststellen.
Bei den medizinischen Diagnosen, die im Bundesland Nordrhein-Westfalen zu einer
Einweisung in eine forensische Psychiatrie führen, stehen Psychosen und Persön4
lichkeitsstörungen im Vordergrund. Zu den Persönlichkeitsstörungen zählen dabei
auch die sexuellen Deviationen.
Ein Blick auf die Praxis anderer europäischer Länder zeigt zum Teil ähnliche aber
zum Teil auch abweichende Zahlen. Unterschiedliche statistische Ansätze mögen ein
Grund für die Unterschiede bei den erfassten Einweisungsdelikten sein. Immerhin ist
erkennbar, dass überall die Psychosen eine wichtige Rolle spielen.
Die statistischen Angaben zu den unterschiedlichen Einweisungs-Diagnosen weisen
auf die zentrale Schwierigkeit hin, die sich für Juristen bei der Beurteilung der
Schuldfähigkeit stellt. Sie müssen medizinische Beurteilungen in ihre rechtlichen Erwägungen einbeziehen. Basale medizinische Erkenntnisse und ein Verständnis für
die psychiatrische Terminologie helfen bei der juristischen Entscheidungsfindung. Die
deutsche Richterakademie und auch die Ausbildungsstätte der Justiz des Landes
Nordrhein-Westfalen bieten deshalb regelmäßige Schulungen für Richter und
Staatsanwälte zu den Grundbegriffen der forensischen Psychiatrie an. Einige wenige
Erkenntnisse, die ich aus diesen Schulungen und meiner strafrichterlichen Praxis
gewonnen habe, will ich vorstellen und praktisch erläutern.
Die Internationale Klassifikation der Krankheiten (ICD, International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems) ist das wichtigste, weltweit anerkannte Diagnoseklassifikationssystem der Medizin. Es wird von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) herausgegeben. Die aktuelle, international gültige Ausgabe
ist ICD-10, Version 2012. An dieser international anerkannten Klassifizierung orientieren sich die forensischen Sachverständigen und auch die Gerichte bei der Beurteilung, ob eine geistige Erkrankung vorliegt. Daneben wird häufig auch der DSMKatalog herangezogen. Das Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders
(DSM; für „Diagnostischer und statistischer Leitfaden psychischer Störungen“) ist ein
Klassifikationssystem der American Psychiatric Association (Amerikanische Psychiater-Vereinigung), die es erstmals 1952 in den USA herausgab. Seither erscheinen
auch Ausgaben in anderen Ländern: Beispielsweise gibt es seit 1996 eine deutsche
Ausgabe des DSM-IV. Aktuell liegt die fünfte Auflage DSM-5 im englischen Original
vor, die im Mai 2013 veröffentlicht wurde.
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Der häufigste Grund für die Unterbringung in psychiatrischen Kliniken sind Psychosen. Es handelt sich hierbei um eine geistige Störung, die sich durch bestimmte
Grundsymptome und produktive Erscheinungen äußert. Der an einer Psychose erkrankte Mensch leidet unter Denkstörungen, sein Affekt ist meist verflacht, er neigt
zum Rückzug und hat die Schwierigkeit, sich selbst von der Umwelt abzugrenzen.
Die Erkrankung führt oft auch zu kognitiven Defiziten. In produktiv psychotischen
Phasen kommt es zur Ausbildung von Wahnsymptomen und Halluzinationen. Die
Betroffenen hören dann Stimmen oder sehen Dinge, die nicht da sind. Es kann auch
zu so genannten katatonen Zuständen kommen, in denen die Betroffenen in einer
unnatürlichen Haltung mit starrer Blick verharren und nicht erreichbar sind.
Der Verlauf von Psychosen ist in der Regel durch produktiv psychotische Phasen
und eine anschließende Phase der Minussymptomatik gekennzeichnet. Während der
produktiven Phase treten die beschriebenen Wahnerscheinungen und Halluzinationen auf und in der Phase der Minussymptomatik tritt der Wegfall der früher vorhandenen Persönlichkeitsmerkmale in den Vordergrund. In der Praxis habe ich Fälle erlebt, in denen die Erkrankten von Dämonen und Geistern verfolgt wurden, die sie zu
schrecklichen Taten zwangen. Die imperative Stimmen oder stark beängstigende
Halluzinationen waren so übermächtig, dass die Betroffenen nahe Angehörige, ihre
Kinder oder Ihre Ehefrau ohne erkennbaren äußeren Grund schwer verletzten oder
umbrachten. Ganz besonders denke ich an einen Vater, der sein Kind krankheitsbedingt für den Teufel hielt und deshalb von einer Brücke warf. Die Krankheitssymptome sind so übermächtig, dass sie die Betroffenen hindern frei zu entscheiden. Juristisch ist bei Psychosen nicht selten von einer Schuldunfähigkeit auszugehen.
Der Ausbruch der Erkrankung oder ihre Verschlechterung wird häufig mit dem Vulnerabilitäts-Stressmodell erklärt, dass von dem amerikanischen Psychiater Libermann
entwickelt wurde. Danach sind für den Ausbruch der Erkrankung Dispositionen des
Betroffenen und Stressfaktoren maßgeblich. Die an einer Psychose erkrankten Menschen sind gegenüber jedweden Änderungen häufig sehr empfindlich und werden oft
schon durch die Vorstellung, dass etwas für sie Unbekanntes geschieht, erheblich
gestresst. Je geringer die Stabilität des Betroffenen ist umso geringer kann der
Stressfaktor sein, der zum Ausbruch der Erkrankung oder deren Verschlechterung
führt. Es ist deshalb im Umgang mit Erkrankten wichtig, derartige Stressfaktoren
frühzeitig zu erkennen und die Belastbarkeit richtig einzuschätzen.
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Psychosen sind oft auch für den Laien leicht als solche zu erkennen. Wenn die Betroffenen von ihren Erscheinungen berichten und grüne Männchen oder in jedem
Rauchmelder eine Abhöhreinrichtung des Staatsanwalts sehen, fällt die Einschätzung nicht schwer. Wesentlich schwieriger sind Persönlichkeitsstörungen zu erkennen. Nach den international anerkannten Diagnosekriterien müssen für die Annahme
einer Persönlichkeitsstörung sechs Symptome zwingend vorliegen. Die Betroffenen
müssen eine deutliche Unausgeglichenheit in den Einstellungen und im Verhalten in
mehreren Bereichen zeigen. Das abnorme Verhalten muss länger andauern und
schon in der Kindheit oder Jugend zu beobachten gewesen sein. Die Beeinträchtigung muss zu einem deutlichen Leiden und zu einer Einschränkung der beruflichen
und sozialen Leistungsfähigkeit führen. Juristisch werden in Deutschland Persönlichkeitsstörungen unter das gesetzliche Merkmal „schwere andere seelische Abartigkeit" gefasst. Dies bedeutet, dass nicht jede Verhaltensauffälligkeit oder Besonderheit der Persönlichkeit sondern nur schwere Erscheinungsformen für die Schuldfähigkeit relevant sind. Die Schwierigkeiten bei der Diagnose einer Persönlichkeitsstörung und die nicht einfache Beurteilung, ob auch eine schwere Störung vorliegt, sollte nur in die Hände besonders erfahrener Sachverständiger gelegt werden. Nach der
Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs müssen die Gerichte bei der Beurteilung,
ob eine Persönlichkeitsstörung tatbestimmend war, besonders gründlich vorgehen
und sorgfältig aufklären. Nicht jeder Serientäter leidet unter einer Persönlichkeitsstörung. Es gibt auch "nur" schlechte und böse Menschen. Liegen die dargestellten Kriterien bei einem Beschuldigten oder Angeklagten vor ist aber an eine derartige Störung zu denken. Schwere Persönlichkeitsstörungen mit Krankheitswert können so
stark handlungsleitend sein, dass sich der Betroffene nicht freiwillig der Störung entziehen kann. Dann steht die Frage der Schuldfähigkeit im Raum. Monströse und unverständliche Taten von Personen, die sozial nicht integriert sind und schon seit der
Jugend auffällig waren, zwingen deshalb bei uns den Strafrichter zur Abklärung der
Möglichkeit einer Persönlichkeitsstörung.
Was für die Persönlichkeitsstörungen gilt, muss im besonderen Maße bei den sexuellen Deviationen beachtet werden. Von einer sexuellen Abartigkeit mit Krankheitswert
spricht man nach den dargestellten international anerkannten Diagnosekriterien
dann, wenn der Betroffene unter intensiven sexuellen Fantasien, dranghafte Bedürfnissen oder Verhaltensweisen leidet, die pervers sind und über einen längeren Zeitpunkt Raum anhalten. Diese Störung muss zudem zu einem Leiden oder einer Be7
einträchtigung in sozialen, beruflichen oder anderen Funktionsbereichen führen, die
klinisch relevant ist. Auch derartige Störungen zählen bei uns juristisch zu den
"schweren anderen seelischen Abartigkeiten" im Sinne des Gesetzes und müssen
daher von "schwerem" Gewicht sein, um eine Einschränkung der Schuldfähigkeit zu
rechtfertigen. Das Spektrum derartiger Störungen ist bereit. Ich kann mich an einen
Täter erinnern, der über Monate die Frauen meiner Heimatstadt Bonn in Angst und
Schrecken versetzte. Der Täter fand sexuelle Erregung durch den Besitz von "High
Heels". Er überfiel deshalb Frauen, die nachts allein unterwegs waren, haute Sie um
und raubte Ihnen die Schuhe. Sonst tat er nichts Böses, aber bei den Opfern saß der
Schreck tief. Diese Störung war so suchtartig und handlungsbestimmend, dass sich
der Täter dem nicht entziehen konnte. Wir haben ihn inzwischen aus der forensischen Klinik nach einer gründlichen Therapie und einer Geschlechtsumwandlung als
geheilt und zufrieden entlassen können. Als Frau kann sie hochhackige Frauenschuhe inzwischen ganz natürlich tragen.
Bei der Beurteilung der Frage, ob der Täter schuldfähig ist, ob er unter einer
geistigen Störung leidet und deshalb gefährlich ist, ob eine Suchterkrankung
vorliegt oder ob er einen Hang zu Straftaten hat, ist der Richter auf sachverständige Hilfe angewiesen. Es handelt sich dabei jeweils um Fragestellungen,
die nicht der Jurist sondern nur ein psychiatrischer Sachverständiger beantworten kann. Psychiater und Psychologen sind die Fachleute für die Beurteilung geistiger Erkrankungen und von Abhängigkeitserkrankungen. Sie können
auch fachlich einschätzen, wie stark eine geistige Störung oder besondere
Charaktermerkmale einen Täter künftig beeinflussen und gefährlich machen.
Als Laie fühlt man sich vielfach Sachverständigen ausgeliefert. Dies hat unser
ehemaliger Außenminister Hans-Dietrich Genscher in diesem Zitat zum Ausdruck gebracht. Als er dies sagte, kam er gerade aus einer Expertenanhörung
des Bundestages zur Sicherheit von Atomreaktoren. Es ist die Aufgabe des
Richters ein gerechtes Urteil zu fällen. Dies darf er nicht den Sachverständigen
überlassen. Der Sachverständige ist nur der Gehilfe des Richters. Dieses Verhältnis darf sich im Strafprozess nicht faktisch auf den Kopf stellen.
Um die Qualität von Gutachten im Strafprozess zu verbessern ist vor etwa 15
Jahren eine Arbeitsgruppe eingerichtet worden, die sich aus Richtern des
Bundesgerichtshofs, Praktikern und gerichtlich erfahrenen Psychiatern zu8
sammen setzt. Diese Arbeitsgruppe hat Standards entwickelt, die für die Erstellung von Gutachten zur Schuldfähigkeit und zur Prognose über die Gefährlichkeit des Täters zu beachten sind. Durch diese Standardisierung von Sachverständigengutachten wird einerseits den gerichtlichen Sachverständigen eine
Orientierung und andererseits den Richtern ein Kriterienkatalog an die Hand
gegeben, der Ihnen die Überprüfung der Sachverständigengutachten ermöglicht.
Die Vorschläge dieser Arbeitsgruppe zur Qualitätssicherung von psychiatrischen Sachverständigengutachten will ich Ihnen im Einzelnen vorstellen. Die
Vorschläge sind in erster Linie ausgerichtet auf die Abfassung eines schriftlichen Gutachtens. Dafür empfiehlt sich die Einhaltung einer relativ schematischen Struktur, nicht nur um wesentliche Punkte nicht zu übersehen, sondern
auch, weil es dem Leser leichter fällt, das Gutachten zu erfassen, wenn er genau weiß, wo welche Information zu finden ist. Deshalb enthalten die Vorschläge sowohl formale Anforderungen an Aufbau, Gliederung und Umfang des
Gutachtens als auch inhaltliche Aspekte wie die Verwendung kriterienorientierter Diagnosen entsprechend dem ICD und DSM Katalog. Besonders hohe Anforderungen an die Qualität des Gutachtens müssen an die in der Praxis wichtige Begutachtung von Beschuldigten mit Verdacht auf Persönlichkeitsstörung
oder Paraphilie im Zusammenhang mit der Schuldfähigkeitsbeurteilung bei
Gewalt-und Sexualstraftaten gestellt werden.
Die Beachtung der Mindestanforderungen durch den Sachverständigen macht
das Studium von Lehrbüchern und die Auseinandersetzung mit der aktuellen
wissenschaftlichen Literatur nicht entbehrlich. Dieser Auseinandersetzung ist
zwangsläufig auch Bestandteil eines wissenschaftlich begründeten Gutachtens.
Im Einzelnen sind folgende formale Mindestanforderungen zu beachten:
Das Gutachten muss den Auftraggeber und die Fragestellung nennen, damit
der Leser erkennen kann, ob der Gutachter seinen Auftrag richtig verstanden
hat.
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Ort, Zeit und Umfang der Untersuchung des Probanden müssen dokumentiert
sein, um das Gericht in die Lage zu versetzen, die Sorgfalt des Gutachters bei
der Ermittlung seiner Erkenntnisquellen beurteilen zu können.
Damit das Gutachten strafprozessual verwertet werden kann, muss insbesondere der Grundsatz beachtet werden, dass sich kein Beschuldigter selbst belasten
muss.
Dies
gilt
auch
im
Rahmen
von
Sachverständigen-
Begutachtungen. Die entsprechende Aufklärung über Aussageverweigerungsrechte muss im Gutachten enthalten sein.
Das Gutachten muss Angaben über die Verwendung besonderer Untersuchung- und Dokumentationsmethoden enthalten, um für den Richter nachvollziehbar zu sein. Dies gilt auch für die exakte Angabe und getrennte Wiedergabe
der Erkenntnisquellen. Insbesondere muss der Sachverständige angeben, welche Erkenntnisse er aus Akten, der Befragung des Untersuchten, eigenen Beobachtungen und Untersuchungen oder aus zusätzlich durchgeführten Untersuchungen - etwa psychologischen Zusatzuntersuchungen oder Röntgenuntersuchungen - gewonnen hat.
Der Sachverständige muss klar zu erkennen geben, wann seine Einschätzung
auf gesicherten medizinischen Erkenntnissen, seiner persönlichen Meinung
oder Vermutungen beruht. Unklarheiten und Schwierigkeiten bei der Diagnose
muss er offen legen.
Sofern er Mitarbeiter oder etwa psychologische Zusatzgutachter einschaltet,
muss er deren Aufgaben-und Verantwortungsbereich im Gutachten genau abgrenzen.
Neben diesen Kriterien müssen die allgemeinen wissenschaftlichen Anforderungen beachtet werden, die sich in der Zitierpraxis und einer übersichtlichen
Gliederung widerspiegeln.
Der selbstverständliche Hinweis, dass das schriftliche Gutachten auf den Erkenntnissen beruht, die bis zu seiner Erstellung vorlagen, sollte das Gutachten
abschließen. Durch diesen Zusatz bringt der Sachverständige zum Ausdruck,
dass er gegenüber weiteren Erkenntnissen, die er etwa während des gerichtlichen Verfahrens gewinnt, offen ist.
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Wichtiger als die Beachtung dieser formalen Kriterien ist natürlich der Inhalt
des Gutachtens.
Aus dem Gutachten muss hervorgehen, dass die Exploration des Untersuchten
in allen delikt- und diagnosespezifischen Bereichen vollständig erfolgt ist.
Hierzu gehört auch eine ausführliche Anamnese. Die Untersuchungsmethoden
sind zu benennen.
Von entscheidender Bedeutung ist die nachvollziehbare Einordnung einer
festgestellten geistigen Störung in die allgemein anerkannten Diagnosesysteme. Die Klassifizierungen des ICD oder DSM Katalog sind exakt zu benennen.
Differenzialdiagnostische Überlegungen müssen nachvollziehbar dargestellt
werden.
Für die strafrechtliche Beurteilung durch den Richter ist von zentraler Bedeutung, welche Auswirkungen die Erkrankung für die Tat hatte. Der Umstand allein, dass jemand unter einer geistigen Störung leidet, besagt noch nichts darüber, er bei der Tat schuldfähig oder in der Schuldfähigkeit eingeschränkt war.
Zwischen der Tat und der geistigen Erkrankung muss vielmehr ein innerer Zusammenhang bestehen. Dies darzustellen ist Aufgabe des Gutachtens. Der
Sachverständige muss deshalb die gesetzlichen Merkmale für die rechtliche
Beurteilung in seiner psychiatrischen Betrachtung berücksichtigen. Dabei
musste insbesondere auch auf den Schweregrad der Störung eingehen. Es bedarf der Darlegung dazu, ob die geistige Störung zur Schuldunfähigkeit oder
nur zur eingeschränkten Schuldfähigkeit geführt hat. Bei der Beurteilung der
Schuldfähigkeit ist zu unterscheiden zwischen der Einsichtsfähigkeit -nämlich
der Fähigkeit das Unrecht der Tat einzusehen- und der Steuerungsfähigkeit nämlich der Fähigkeit nach dieser Einsicht zu handeln-.
Im Rahmen eines unabhängigen und abgewogenen Gutachtens kann es sich
auch anbieten, alternative Beurteilungsmöglichkeiten anzudeuten.
Während sich Schuldfähigkeitsgutachten auf einen bestehenden geistigen Zustand des Täters und ein zurückliegendes Geschehen beziehen, blicken Prognosegutachten in die Zukunft. Der Sachverständige muss den Versuch unternehmen, einzuschätzen, wie hoch die künftige Gefährlichkeit des Täters einzuschätzen ist. Dieser Blick in die Zukunft ist naturgemäß schwierig. Die empiri11
sche psychiatrische Wissenschaft hat jedoch eine Vielzahl von Prognosekriterien entwickelt. Die Wahrscheinlichkeit eines Rückfalls war Gegenstand vieler
empirischer Untersuchungen. Es ist zu unterscheiden zwischen der Behandlungsprognose, d.h. der Wahrscheinlichkeit einer Heilung der geistigen Störung, der Sozialprognose, d.h. der Einschätzung des sozialen Empfangsraum,
und der Kriminalprognose, d.h. der Wahrscheinlichkeit künftiger Straftaten. Die
Behandlung- und Sozialprognose wirken sich dabei naturgemäß auf die Kriminalprognose aus.
Aufgabe des Prognosegutachtens ist es darüber hinaus einzuschätzen, welche
Straftaten, von welcher Häufigkeit und Schwere vom Täter künftig zu erwarten
sind.
Schließlich muss sich das Prognosegutachten auch dazu äußern, mit welchen
Mitteln künftige Straftaten verhindert werden können. Dies können etwa Auflagen an den Täter im Falle der Entlassung sein, wie eine Arbeit anzunehmen,
eine bestimmte Wohnung zu nehmen, Kontakt zu einer psychiatrischen Ambulanz zu halten, sich der Aufsicht eines Bewährungshelfers zu unterstellen und
keine Drogen zu nehmen. Dementsprechend sind auch Risiken zu nennen. Insbesondere Alkohol- oder Drogenrückfälle und das Absetzen der medizinisch
notwendigen Medikation spielen in diesem Zusammenhang in der Praxis eine
große Rolle für ein künftiges Leben ohne Straftaten.
Bei der Würdigung von Sachverständigengutachten durch den Richter gilt, das
Glauben nur einfacher ist als Zweifeln. Es ist Aufgabe des Richters das Sachverständigengutachten kritisch nachzuvollziehen, auf innere Unstimmigkeiten
zu prüfen und die medizinischen Erkenntnisse sorgfältig unter die gesetzlichen
Merkmale zu subsumieren. Die Anforderungen an diesen juristischen Prozess
des Umsetzens eines Sachverständigengutachtens in die Begründung eines
Urteils sind von der Rechtsprechung in Deutschland immer weiter verschärft
worden. Der Richter darf sich nicht darauf beschränken, mit Floskeln das
Sachverständigengutachten zu wiederholen. Er muss vielmehr genau analysieren welche gesetzlichen Merkmale die Begutachtung des Sachverständigen
ausfüllt und warum das Gutachten überzeugt.
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Dem Richter hilft es, wenn er über bestimmte Grundkenntnisse der forensischen Psychologie und Psychiatrie verfügt. Sowohl die Richterakademie als
auch die Ausbildungsstätten des Landes Nordrhein-Westfalen bieten zu diesen
Themen regelmäßige Fortbildungen für Richter an. Ich selbst habe derartige
Fortbildungen schon häufig besucht und war verschiedentlich Tagungsleiter
bei derartigen Veranstaltungen.
Lassen Sie mich abschließend zurückkommen auf das Zitat unseres ehemaligen Bundesaußenministers Genscher. Werden die Standards psychiatrischer
Gutachten in Strafprozessen beachtet und würdigt der Richter kritisch und
kompetent, stimmen die Verhältnisse: Der Sachverständige bleibt der Gehilfe
des Richters und der Richter ist dem Sachverständigen nicht hilflos ausgeliefert.
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