FMH - Quiz Vol. 26 Nr. 3 2015 FMH Quiz 62 Kommentar: Cécile Choudja Ouabo, Lausanne Übersetzung: Rudolf Schlaepfer, La Chaux-de-Fonds Fallbeschreibung Sie sehen Malika, ein 6-jähriges, aus Kongo stammendes und von einer Schweizer Familie adoptiertes Mädchen zum ersten Mal. Vor einem Monat hat ihr ein Kollege, auf Grund einer Anämie von 85 g/l, Eisen per os verschrieben. Die Anamnese offenbart mehrere Krisen mit Bauchschmerzen, Fieber und Sklerenikterus. Vor einem Jahr musste Malika wegen akuten Thoraxschmerzen, schwerer sauerstoffabhängiger Atemnot und Fieber ins Spital aufgenommen werden. Sie stellen folgende klinische Zeichen fest: Länge <P3, Herzfrequenz 110/Min., musikalisches Systolikum über dem Mesokard, Leberrand 2 cm unter dem RB, Milz nicht palpabel, Sklerenikterus und bleiche Konjunktiven. Das Hämogramm ergibt ein Hb von 80 g/l, normozytär und normochrom, sowie eine Polychromasie. Frage 1 Welcher Mechanismus ist bei diesem Kind die wahrscheinlichste Ursache der Anämie? Frage 2 Nennen Sie 3 Pathologien der roten Blutkörperchen die, zumindest theoretisch, das klinische Bild von Malika erklären können. Frage 3 Die Hb-Elektrophorese erlaubt Ihnen, Ihre Ver­dachtsdiagnose zu bestätigen. Nennen Sie 5 (diagnostische oder therapeutische) Punkte im Zusammenhang mit der Betreuung dieser Krankheit. Frage 4 Welches Medikament kann den Verlauf dieser Krankheit bei den meisten Patienten mit einer schweren klinischen Erscheinungsform signifikant verbessern? Antwort 1 Hämolyse Antwort 2 •Sphärozytose •Hämoglobinopathien (SCD) •Enzymdefekt der Erythrozyten Antwort 3 •Pneumokokken-, Meningokokken-, Hib- und Hepatitis-A/B-Impfung •Prophylaktische Antibiotherapie (AutoSplen­ektomie!) ab dem Alter von 4 M. •Folsäuregabe p. o. •Ausführliche Information der Eltern •Stufenweise Schmerzlinderung, gut erklärt und in Reserve verschrieben •Ophthalmo-, kardio-, nephro- und endokrinologische Kontrollen •Jährliche transkranielle Dopplersonographie Antwort 4 Hydroxycarbamid p. o. Kommentar Cécile Choudja Ouabo, Lausanne Eisen, ein wenig, viel … zu oft verschrieben? Die beschriebene klinische Präsentation ist absolut typisch für Patienten mit Sichelzellanämie. Zudem hätten zwei Elemente die Aufmerksamkeit des Kollegen vor dem Verschreiben einer Eisensubstitution wecken sollen: Das Ursprungsland der Patientin und der Ikterus. Betreffend Herkunft der Patientin ist es wichtig und zunehmend aktuell, nicht ins Stereotyp «Sichelzellanämie = Afrika» zu verfallen, um jegliche Segregation und Diskriminierung zu vermeiden (die Grundsätze Gleichstellung und Gleichbehandlung sind für diese Patienten zentral). Obschon die Krankheit sich in den malariaverseuchten Gebieten verbreitet hat, trifft man sie auch in Südamerika, im Mittleren Orient und in Asien (insbesondere Indien) an. Gewollte oder erzwungene Migration erklärt zudem das Vorhandensein der Krankheit auch in anderen als den genannten Kontinenten, und immer häufiger auch in den westlichen Ländern, durch soziale Durchmischung, wie z. B. im hier beschriebenen Fall durch Adoption. Im Übrigen ist in diesem Alter, bevor Eisen verschrieben wird, ein Minimum an Anamnese betreffend Ernährung (mangelnde Zufuhr), Verdauung (Malabsorption), Blutungen (Eisenverlust) geboten. Zum Ikterus ist zu sagen, 31 dass er den hämolytischen Ursprung der Anämie kennzeichnet (Frage 1) und bei Eisenmangel nicht gefunden wird (es sei denn, es bestehe eine seltene Kombination mit einem anderen Mechanismus). Jedenfalls ist die Anamnese hier aussagekräftig genug, um sich nicht mit der (zu) einfachen Diagnose einer Eisenmangelanämie zufrieden zu geben. Zudem ist eine Eisenzufuhr, bei nicht bewiesenem Mangel, wegen der möglichen transfusionsbedingten Eisenüberlastung des an Drepanozytose leidenden Kindes, nicht ratsam. Zur Differentialdiagnose der Hämolyse Da die beschriebene Klinik einer Hämolyse entspricht, ist es in der Tat sinnvoll die entsprechenden Differentialdiagnosen in Betracht zu ziehen (Frage 2) und insbesondere systematisch weitere Hämoglobinopathien (Thalassämie ist häufig assoziiert) und Enzymdefekte zu suchen, z. B. den bei Sichelzel­l­ anämiepatienten ebenfalls häufigen G6PDMangel. In Anbetracht der zahlreichen Me­dikamente, welche die Patienten im Laufe der Zeit und je nach Verlauf der Krankheit benötigen, wird empfohlen, G6PD schon mit den initialen Abklärungen zu bestimmen. Die systematische Suche nach einer assoziierten Sphärozytose wird hingegen nicht empfohlen. Betreuung bei Sichelzellanämie, diagnostisch und therapeutisch Auf diese Fragen wird im Artikel «Sichelzellanämie im Kindesalter – ein Leitfaden für den Kinderarzt»1) eingegangen. Um eine einfache Antwort zu geben, soll daran erinnert werden, dass die Sichelzellanämie: 1.Unter drei Gesichtspunkten betrachtet werden muss, nämlich als eine Krankheit, die Schmerzen verursacht (vasookklusive Krisen), zu erhöhtem Infektionsrisiko führt und eine Anämie verursacht (Information bezüglich Symptome und Transfusion). 2.Die Sichelzellanämie ist zwar eine Krankheit der roten Blutkörperchen, betrifft aber alle Organe. Folglich sind auch beinahe alle pädiatrischen Spezialgebiete betroffen: Zusätzlich zu den in Antwort 3 erwähnten, auch Kinderpneumologen (akutes Thoraxsyndrom), Stoffwechselspezialisten (Auswirkungen auf das Skelet), Chirurgen und Neurochirurgen bei Adoleszenten und jungen Erwachsenen, sowie Kinderradiologen (Beschreibung von Skeletkomplikationen, verbesserte Differentialdiagnose dank Fortschritten der Bildgebung). 3.Schliesslich darf die Sichelzellanämie nicht mehr als Krankheit ausschliesslich der FMH - Quiz Erythrozyten betrachtet werden; sie ist viel komplexer und umfasst insbesondere entzündliche und vaskuläre Komplikationen. Entzündung und potentielle Thrombosen gehören vollumfänglich zum Krankheitsbild (z. B. erhöhtes Risiko eines zerebrovaskulären Schlaganfalles bei 3-11-jährigen Kindern). Im Kapitel Impfungen sollte die jährliche Grippeimpfung nicht vergessen werden (assoziierte vasookklusive Krisen und Spitalaufnahmen sieht man immer noch). Dasselbe gilt für die Antibiotikaprophylaxe; um dies besser zu verstehen, sei kurz auf den zunehmenden Verlust der Milzfunktion (die unter anderem ein Bakterienfilter darstellt) bei Sichelzellanämie eingegangen: Bei Geburt ist die Milzfunktion normal; im Alter von 1 Jahr beträgt die Funktionsstörung bereits 90 % (gemessen an den pitted cells – durch sog. pitting in der Milz entstandene Zellen – und an den HowellJolly-Körperchen, die physiologischerweise durch die Milz gefiltert und bei Sichelzellanämie wegen der gestörten Milzfunktion im peripheren Blut auftreten); mit 1–3 Jahren kommt es zu einer funktionellen Asplenie, ab dem Alter von 3 Jahren wird ein pitted-cell- olyse Hä m Vol. 26 Nr. 3 2015 Anteil bis zu 52 % gemessen, wie bei Patienten nach Splenektomie (höherer Anteil als bei asymptomatischen Sichelzellträgern); mit 3–5 Jahren wird die Milz fibrös und erfüllt ihre «antimikrobielle» Funktion nicht mehr, und zwar lebenslang (mit Ausnahme des Spezialfalles nach Knochenmarktransplantation, in welchem eine Erholung der Milzfunktion beobachtet werden kann). Und das akute Thoraxsyndrom?2) Malika wurde im Alter von 5 Jahren offensichtlich mit einem akuten Thoraxsyndrom ins Spital aufgenommen. Ausser der beschriebenen Klinik und dem längerdauernden Spitalaufenthalt, wäre es wichtig zu wissen, ob ein Thoraxröntgenbild zur Bestätigung eines eventuellen Lungenherdes durchgeführt wurde. Im Weiteren gehören Tachypnoe, Husten, abnorme Lungenauskultation, Thorax- und Bauchschmerzen zum klinischen Bild. Das Blutbild kann eine Leukozytose zeigen. Das akute Thoraxsyndrom tritt häufig vor dem 10. Lebensjahr erstmals auf, kann aber in jedem Alter beobachtet werden und stellt beim Erwachsenen eine häufige und schwere Komplikation dar (liebe Kollegen, denkt deshalb an Vorbeugung: «Hast du eine Va s o r is ve K i s u l okk Sichelzellanämie, dann verzichte auf Tabak und Rauchen!», und vergesst die Pneumokokkenimpfung nicht). Drei wichtige Punkte seien hier hervorgehoben: 1.Vasookklusive Krisen sind häufig assoziiert, können aber auch fehlen. 2.Pathophysiologie: Das akute Thoraxsyndrom beruht auf mehreren Mechanismen. Hämolyse (das freie Hb inaktiviert NO, das seine vasodilatatorische Wirkung nicht mehr ausüben kann, und die freigesetzte Arginase hemmt das für die NO-Bildung notwendige Arginin, es kommt damit zu einer endothelialen pulmonalen Vasokonstriktion), vaskuläre Hyperadhäsion und Thrombosen (als Folge davon Gefässokklusion und Lungeninfarkte), Fettembolien (durch Knocheninfarkte als Folge vasooklusiver Krisen bedingt), Infektion und Hypoxämie und schliesslich Hypoventilation (z. B. bei Abdominalchirurgie). 3.Dem akuten Thoraxsyndrom muss bei Spitalaufenthalten unbedingt vorgebeugt werden, durch (aktive) physiotherapeutische Massnahmen, die der Patient erlernen und dann selbst durchführen kann und soll. e Ak u tes a xsy T h or Ne phrol ge C h irur dio Ra oge m Hä E at o k ndo m n d ro lo g e r in ol o g Me taboliker e ta Oph 32 Pneumologe loge Ka l mo lo g e o rdi lo g e FMH - Quiz Vol. 26 Nr. 3 2015 Die Behandlung leitet sich im Übrigen von der Pathophysiologie ab: Sauerstoff, Antibiotika (Cephalosporine der 3. Generation + Makrolide), Hydrierung, Physiotherapie, Bronchodilatatoren und oft Transfusionen. Nach dem zweiten akuten Thoraxsyndrom ist der Einsatz von Hydroxycarbamid indiziert. Hydroxycarbamid3) Mit Rückblick auf die nun beinahe 20-jährige Erfahrung, kann die Behandlung der Sichelzellanämie mit Hydroxycarbamid (oder Hydro-­ xyurea, HU) als ein wesentlicher Fortschritt betrachtet werden. HU stimuliert bei der Drepanozytose die Bildung von HbF, das im Erythrozyten die HbS-Polymerisation hemmt; es kommt zu einer Verminderung der Hämolyse und der damit zusammenhängenden Anämie und gleichzeitig zu einer Verminderung von Leukozyten- und Thrombozytenzahl, was sich günstig auf die Blutviskosität auswirkt. Eine in den USA durchgeführte randomisierte, placebokontrollierte Studie ergab eine 50 % -ige Abnahme von vasooklusiven Krisen, akutem Thoraxsyndrom und Transfusionsbedarf. Das progressive Einführen über 2–3 Monate bis zur üblichen Dosis von 20–25 (max.30) mg/kg/d erlaubt es, bei den meisten Patienten die Myelotoxizität zu vermeiden. Eine kurz- bzw. mittelfristig gute Toleranz scheint erwiesen, hingegen bestehen Zweifel in Hinsicht auf die langfristige Unbedenklichkeit im Kindesalter: Bei prä-leukämischen Krankheiten wie der Polyglobulie Vazquez und der essentiellen Thrombozythämie erhöht HU das Risiko einer Transformation und Auftreten einer 17p-Deletion; bei der Sichelzellanämie hingegen, bei welcher HU seit 1998 angewandt wird, wurde bisher über einen einzigen, möglicherweise durch HU bedingten Fall von Leukämie berichtet (2008). Diese möglichen Risiken einer Leukämie oder Wirkung auf die Gonaden schränken die Indikationen ein: Der Einsatz ist Patienten mit mehreren vasooklusiven Krisen (>3/Jahr während mindestens 2 Jahren) und/ oder akutes Thoraxsyndrom sowie Patienten mit sehr schwerer Anämie (< 7g/l) vorbehalten. Die Wirkung ist von Patient zu Patient sehr variabel, für die einen stellt die Be­ handlung mit HU eine eindeutige Verbesserung der Lebensqualität dar, mit einem HbFAnteil von meist >25 %, während für andere nur eine beschränkte, für glücklicherweise nur wenige Patienten gar keine Besserung eintritt. Diese Behandlung wird im Prinzip erst nach dem 4. Lebensjahr eingesetzt und ist bei Kin­dern unter 2 Jahren kontraindi- ziert (http://.drepanosite.free.fr). Ist die Indikation gut belegt, wird mit der Familie auch das Leu­kämierisiko besprochen, das im Vergleich zum erwarteten therapeutischen Gewinn jedoch relativiert werden muss. Anmerkung der Redaktion Im letzten Abschnitt geht die Autorin auf eine Unsitte im französischen, medizinischen aber auch allgemeinen Sprachgebrauch ein, nämlich das Anwenden gewisser Adjektive, die manchmal sogar als Substantiv verwendet werden: z. B. «Patient drépanocytaire» … oder noch schlimmer, wenn jemand als «cancéreux», «sidéen», «cardiopathe» bezeichnet wird. Apropos «cardiopathe»: Im deutschen Sprachgebrauch sind solche Formulierungen weniger üblich und weniger problematisch, aber sprechen wir nicht gelegentlich von Asthmatiker, Hypertoniker, oder bezeichnen ein frühgeborenes Kind als Frühgeburt? Auch unschöne Sprachgewohnheiten. Referenzen 1) C Jérôme Choudja, Sichelzellanämie im Kindesalter – ein Leitfaden für den Kinderarzt Paediatrica 23 (5); 2012: 16–19. 2) Vichinsky et al. Causes and outcomes of the acute chest syndrome in sickle cell disease N Engl J Med 2000; 342: 1855–65. 3) M de Montalembert, V Brousse, C Elie, F Bernaudin, J Shi, P Landais. Long-term hydroxyurea treatment in children with sickle cell disease: tolerance and clinical outcomes. Haematologica 2006; 91: 125–8. 4) Livre: La Drépanocytose Regards croisés sur une maladie orpheline Sous la direction d’Agnès Lainé aux Editions Karthala; 2004. Korrespondenz Dr Cécile Choudja Ouabo Unité d’hématologie oncologie pédiatrique CHUV, 1011 Lausanne Tel. +41 79 556 85 22 [email protected] www.haemoglobinopathie.ch 33 Wir haben uns zum Ziel gesetzt, in der Ausgabe Nr. 4 der Paediatrica über die wichtigsten Vorträge am dies­jährigen Kongress zu berichten und zwar aus Sicht der Teilnehmenden. Gesucht werden KongressBerichterstatter Kinderärztinnen und Kinderärzten, die im Auftrag von Paediatrica als Reporter am Kongress teilnehmen und uns einen entsprechenden Artikel einreichen, offerieren wir als Gegenleistung einen kostenlosen Tageseintritt. Interessierte melden sich bitte bis zum 8. Juni 2015 bei der Geschäftsstelle der SGP: [email protected] 026 350 33 44