23. Juni 2015 Die ersten Stunden nach der Geburt Die ersten Stunden nach der Geburt: Einflüsse des Kaiserschnitts und der Regionalanästhesie auf die erste Zeit nach der Geburt Dr. med. Gabriele Kußmann Frauenärztin, IBCLC Belegärztin Klinik St. Anna, Stuttgart 1. Bindungstheorie 2. Bindung beim Kaiserschnitt 3. Einflüsse / PDA / SPA 4. Vorgehen in unserer Klinik Bindungstheorie • Bindungstheorie als Grundlage der seelischen Struktur (J. Bowlby / Sir R. Bowlby 1973 ff ) löst die Theorie um die Aggressions- und Sexualtriebe ab (Sigmund Freud 1896) – • Bowlby definiert das Bedürfnis des Kindes nach Nähe zu seiner Mutter bzw. Bindungsperson als ureigenstes Bedürfnis (Bowlby 1973, 1998) „Dyade“ Bei Abbruch der Bindung wird ein spezifisches Bindungsverhalten des Kindes (z.B. Weinen, Ainsworth 1973; „separation distress call“, N. Bergmann 1996 KMC) ausgelöst - Bindungstypen Bindungstheorie • Bindungstypen („fremde Situation“) nach Mary Ainsworth 1973 – Sicher – Unsicher • • Vermeidend Ambivalent – desorganisiert Bindungstheorie Nach J.Bowlby Bindungstheorie Nach J.Bowlby Bindungstheorie • Schon in der Schwangerschaft wird ein Bindungsband zwischen Mutter und Kind geknüpft (= feinfühlige Reaktion, Zimmer 1998) • • Geburtsprozess und Begleitung (Partner, „Doula“) als wichtige Voraussetzung für liebevolle Annahme des Kindes „mothering the mother“ (Ph. Klaus, Kennell 2002) Erste Stunde nach Geburt stellt eine sehr sensible Phase für den Aufbau der Mutter-Kind-Bindung (Klaus 2003) • • Qualität der Mutter-Kind-Bindung anders als VaterKind-Bindung (Grossmann, Grossmann 2002) Mutter-Kind-Bindung ist wegen ihrer enormen Bedeutung für die menschliche Entwicklung von Natur aus gut abgesichert (Oxytozin) Überlebenswichtige Motivationssysteme Physiol. Bedürfnisse Luft, Wärme, Durst, Hunger, Schlaf Exploration Innen und außen Bindung Beziehung Vermeidung negativer Reize Sensor. Stimulation Wahrnehmungssinne Sexuelle Stimulation Schmerz Selbstwirksamkeit Selbsteffektivität Nach KH Brisch 2009 Überlebenswichtige Motivationssysteme • Bindung als Voraussetzung für Lernen – Ist das Bindungsverhalten aktiv (zB Bindungsperson weg oder nicht verfügbar) – Stress – kein Lernen! – Bei guter sozialer Bindung – Lernen möglich – Gehirn vernachlässigter Kinder ist verkümmert! (J. Bauer), keine Reize / Signalaustausch – keine Synapsen „use it or lose it“ • Kognitive Intelligenz zu 50% vererbt, zu 50% erworben – Lise Eliot, „Was geht da drinnen vor“ 2010 Bindung beim Kaiserschnitt • Ziel entsprechend vaginaler Geburt: – Sichere Bindung ermöglichen – Kommunikation und Interaktion („Intuitive Elternschaft“ nach Papousek) ermöglichen • • • Signale erkennen (Wahrnehmung) Verstehen (lernen) prompt Beantworten (feinfühlig, verlässlich) – Einflüsse reduzieren Wie? Bindung beim Kaiserschnitt • Einflüsse durch medizinische Betreuung, Technik, Medikamente, Lärm und grelles Licht: – • Dominanz des medizinischen Krankheitsmodells in Schwangerschaft und Geburt (Zandl 2003) bedrohen den natürlichen Ablauf und Aufbau einer sicheren Mutter-Kind-Bindung Routinekaiserschnitte / Wunschkaiserschnitte ohne medizinische Notwendigkeit .. – ordnen die hochsensiblen psychischen Vorgänge privaten und betriebswirtschaftlichen Interessen unter (F. Ruppert, 2007) Bindung beim Kaiserschnitt • Wo bleibt der Mensch inmitten der Technik? – CTG, Infusionen, US-gerät, hochtechnische OPausstattung • Wunschkaiserschnitt – Kindliche Risiken oft nicht aufgeklärt • • • – Atemstörungen (transit. Dyspnoe) Allerg. Erkrankungen, autoimmun? Atopien? Typ 1 Diabetes mellitus (20% erhöht Cardwell 2008) Risiken veränderter Hormonwirkung ignoriert • • • Oxytozin bei SPA erniedrigt, bei ITN flach Stillen vermindert, Mütterl. Kompetenz vermindert Schmerztoleranz beim Kind vermindert Neu: Epigenetik • Kinder nach sectio haben häufiger Atemstörungen (2fach, Morrison et al 1995, Thavanagan et al 2008, Tollanes 2008) • Kinder nach sectio haben häufiger Allergien (Lebensmittel, Dt Ges Pneumol 2009, YingYing et al J Hum Lact 2011) • Kinder nach sectio haben häufiger TYP 1 DM (20%, Cardwell et al Diabetologica 2008) • Kinder nach sectio sind häufiger übergewichtig (Ngoc et al; J Allergy Clin Immunol 2011;127:1087-94.) • Kinder nach sectio haben häufiger Zöliakie (Decker et al, Pediatrics 2010) Geburtsstress (Adrenalin / Oxytocin / Vasopressin) schaltet - 1. Gene ab und an auf Zellen des peripheren Blutes - 2. Veränderungen der Darmkeimbesiedlung bei sectio vs vag. Geburt epigenet. Effekte über Methylierung der DNA= Genschalter Neu: Epigenetik Was tun? Hautkontakt während des Kaiserschnittes Bonding und Stillen haben epigenetische Effekte und beeinflussen die Genschalter (Methylierung) und vermindern die Risiken wie Atemstörung, Allergie, Typ 1 Diabetes, Übergewicht… Vorgehen bei uns Bindung – epigenetische Effekte - Hautkontakt so früh als möglich bei Kaiserschnitt!! - Früher Hautkontakt mit der Mutter reduziert die Besiedlung mit fremden Keimen, insbesondere beim Kaiserschnitt („Microbiom“) - Verbessert über Oxytozin das kindliche „outcome“ - Weniger Auskühlung Weniger Weinen Weniger O2-verbrauch Weniger Stress – Cortison ↓ - Immunabwehr ↑ - Das Kind stillt sich selbst - Self-attachment Stillen – epigenetische Effekte - Muttermilch beugt autoimmunen und allergischen Erkrankungen vor (Blech 2010, Spork 2010, Huber 2010) - Muttermilch beugt Übergewicht bei Mutter und Kind vor (Horsthemke 2010, Dyer et al 2011) - Stillen und Muttermilch kann Effekt bei Kaiserschnitt bez. Allergien, Risiko für Typ I DM + Atemstörungen mildern - Stillen kann Übergewicht reduzieren bei Mutter und Kind (Harder et al 2005) Stillen wirkt protektiv (25%ige Reduktion von ÜG), Dosis-Wirkungs-Beziehung (Harder 2005) Harder Am J Epidemiol 2005: Metaanalyse (17 Studien, > 100 000 Kinder) zum Zusammenhang zwischen Stilldauer und späterem ÜG des Kindes (OR: odds ratio) Weitere Einflüsse • Unwissenheit erzeugt Angst: – – Aufklärung vor der Geburt / sectio caesarea Aufklärung in Schwangerschaft • • Geburtsvorbereitung Infoabende – Aufklärung unter der Geburt • Begleitung durch Hebamme, Doula.. • Knape N et al: „Die Effektivität der 1:1-Betreuung“, Z Geburtsh Neonatol 2013 Angst – Stresshormone, Katecholamine („FFS“) – bremsen Wehen und Geburtsfortschritt FFS: fight and flight -Herzfrequenz ↑ -Herzminutenvol. ↑ -RR ↑ -Blutzirkulation in Muskulatur ↑ -Energie ↑ durch Glykolyse in Leber -Stresshormon ↑ Cortisol CCS: calm and connection -Herzfrequenz ↓ -Herzminutenvol. ↓ -RR ↓ -Blutzirkulation in Haut ↑ (rosig) -Stresshormon ↓ Cortisol -Verdauung aktiv Nahrungsaufnahme und Speicherung ↑ Bindung aktiv – Oxytozin erhöht Aus K.Uvnäs MobergThe Oxytocin Factor 2003 Einflüsse Medikamenteneinflüsse ( Oxytozin ↓) • – – – • Morphine iv (Pethidin-Dolantin®, Piritramid Dipidolor®…) Butylscopolamin, Diazepam… ITN, SPA, PDA Bevorzugung regionaler Anästhesieverfahren – Kombination Morphin und Lokalanästhetika • • PDA als sicherste und effektivste medikamentöse Intervention zur Linderung von Geburtsschmerzen (Ritsch 2009) Studienhinweise auf schläfrigere Kinder durch ITN, PDA, SPA, verändertes Saugverhalten mit Verzögerung des Stillens, seltener und kürzeres Stillen (Ritsch 2009) – Bonding, Rebonding (steigern Oxytozin) Anästhesien zur sectio caesarea Stuttgart St. Anna-Klinik • Regionalanästhesien zur vaginalen Geburt PDA • • 2014 2013: 2012: 2010: 27,32% 26,81% 28,57% 36,83% Regionalanästhesien zur sectio caesarea 2014 2013 2012 2011 2010 2009 2008 SPA 70,1% 71% 72,5% 69,2% 70,3% 56,6% 66% PDA 22,3% 22% 17,1% 15,4% 17,6% 24,1% 12,8% Vollnarkosen zur sectio caesarea ITN 2014 2013 2012 2011 2010 2009 2008 13,2% 11,8% 10,4% 15,4% 12.1% 19,3% 19,8% Anästhesien zur sectio caesarea Stuttgart St. Anna-Klinik Regionalanästhesien • PDA unter der Geburt: effektiv und nebenwirkungsarm – – – – – – RR-abfälle durch niedrige Konzentration selten Flüssigkeitsprophylaxe unnötig (Kinsella et al 2000) und wehenhemmend! Durapunktion in 1-2 % sehr selten (Blutpatch) Infektionen sehr selten 1: 450000 Querschnittslähmung bisher für geburtshilfliche PDA nicht beschrieben (Ritsch,2009) Blutungskomplikationen 1 : 150 000 – 1: 200 000 (Mc Arthur et al 1997) Regionalanästhesien • PDA-Effekte: – – Eröffnungsphase mit /ohne PDA ist gleich Austreibungsphase verlängert • • – – – ca 15 Minuten: Leighton et al, Am J Obstetr Gynecol 2002 bis zu 2 Stunden: Cheng,Y et al, „Second Stage of Labor and Epidural Use: A Larger Effect Than Previously Suggested” Ob Gyn Febr.2014 Oxytozinbedarf erhöht Patholog. CTG unter Oxytozin vermehrt Erhöhte Rate an vaginal-operativen Entbindungen • – Einstellungsanomalien, Dystokien Sectiorate nicht erhöht ( Metaanalyse Cochrane-Institut , AnimSomuah et al. 2005) – Zeitpunkt der PDA-anlage ohne Einfluss auf den Geburtsverlauf (Wong CA et al, N Engl J Med 2005, Heller (Uni Dresden) in ÄP Gynäkologie 5/10 Regionalanästhesien • Circulus vitiosus aus Angst – Schmerz – Verspannung - Erschöpfung positiv beeinflussbar – – • RR-senkung durch PDA – • Angst fördert Katecholamine – bremst Wehen Ausruhen bei Erschöpfung Bei Hypertonie (SIH, Gestose, Präeklampsie) Schmerzbedingte Hyperventilation ↓ bei PDA – – Schmerz – Katecholamine- Wehenbremse O2-versorgung des Kindes und outcome verbessert Regionalanästhesien • Apgar- und Nabelschnur-pH-Werte gleich • Mehr antibiotische Behandlungen durch erhöhte Temperatur der Mutter unter PDA („Microbiom?“) • Verändertes Saugverhalten des Neugeborenen (Humenick W.J et al,J Perinat Educ 1995) – – Durch Morphine? - heute Suffentanyl ohne eingeschränkte Psychomotorik (Grant G et al, 2008) Keine langfristig neg. Effekte auf Stillerfolg (ACOG Bulletin # 36, 2002 in Ritsch 2009, Riordan et al J Hum Lact 99) • Flüssigkeitsgabe peripartal verstärkt scheinbaren neonatalen Gewichtsverlust? (Chantry et al :Maternal Fluids Linked to Excess Weight Loss in Breast-Fed Newborns,, Pediatrics 12/2010; Chapman: New Insights into weight loss among breastfed newborns. J Hum Lact 2011, 27) Regionalanästhesien • Einflüsse auf Mutter-Kind-Interaktion durch – – – – PDA-effekt auf mütterliche Hormonbalance (Oxytozin ↓, Endorphin ↓ , Prostaglandin, Katecholamine..) ? PDA-effekt auf Prolaktin und Hauttemperatur post partum (vermindert) iv-Flüssigkeitszufuhr (Oxytozin ↓) ? Instrumentelle Entbindung vermehrt ? Notsectio Vag. Geburt Regionalanästhesie Vag. Geburt Keine Medikamente Regionalanästhesien • Zufriedenheit – Nach PDA eher enttäuscht über Geburtsverlauf (Lütje, W in Die Hebamme 2007) (Di Matteo et al 1996, Metaanalyse s.u.) – – Kontrollverlust, Unbeweglichkeit abhängig von der Entscheidungsmöglichkeit nach Aufklärung und Anbieten von Alternativen • DiMatteo et al 1996 (Metaanalyse) – verschiedene Erhebungsvarianten, Befragung, standardisierte Interviews… – Keine Kontrollgruppe, Befragung nach Jahren.. (Bias) -Zufriedenheit nach Kaiserschnitt vermindert -Stillrate vermindert (nur initial) -Interaktion mit Kind post partum und später vermindert (Bindung) …weitere Einflüsse beim Kaiserschnitt • Bezugsperson („mothering the mother“) • • • • Partner Hebamme Doula ? Reizüberflutung • • • Lärm Licht Kälte Licht? Rahmen? Einflüsse – Trennung von Mutter und Kind erzeugt • • • • • – Angst-Stress beim Kind Schreien Sauerstoff- und Energieverbrauch Auskühlung Bonding ermöglichen, Trennung vermeiden Bonding nachholen bei medizinisch indizierter Trennung • Re-Bonding Bondinggurt Gurt zur Regionalanästhesie hochgeschoben Bonding-Gurt zur Desinfektion hochgeschoben Desinfektion / Linksseitenlage Der Vater / Bezugsperson ist als Begleitung dabei Bild im OP / Umfeld 3. Einflüsse / Vorgehen bei uns • Schonende Kindsentwicklung • • Rahmen ? Fritsch-Haken ? Peritoneale Reize vermeiden • Uterus in situ belassen zur Naht zur Vermeidung von Schmerzen und Übelkeit Siddiqi M et al. „Complications of exteriorized compared with in situ uterine repair at cesarean delivery under spinal anesthesia“. Obstet Gynecol 2007, 110:57-5 Mobile Haken statt Rahmen 3. Einflüsse / Vorgehen bei uns • Wärme • • Warme OP-Tücher zum Abtrocknen und Stimulieren Abnabeln • Abnabeln nach Abtrocknen (medizinische Indikation beachten z.B. Hellp, Gestose, ..) Anderssen et al, BMJ 2011:”Effect of delayed versus early umbilical cord clamping on neonatal outcomes and iron status at 4 months: a randomised controlled trial“ Papa nabelt ab wenn er mag… Bonding – bei Kaiserschnitt erst recht! • Hautkontakt stimuliert Oxytozin über Rezeptoren auch Brust / Bauchhaut von Mutter (Vater) Kind – Vasodilatation – Gesicht rote Wangen, warme Haut – Temperaturregulation – Stressverminderung (Herz Mutter, Nähe, Geruch, Wärme) – 02-Verbrauch geringer – Kind kommt mit mütterl. Keimen in Kontakt – Darmbesiedlung, Bifidus, Ikterus vermindert – Oxytozin bewirkt beim Kind Verbesserung der Verdauung (19 Hormone!) – Mutter hat weniger Schmerzen (Oxy – Endorphin) Das Baby ist rosig und warm – dank Oxytozin Erstes Saugen noch während der OP Der Vater ist mit dabei… Umlagerung Nach dem Kaiserschnitt Das Kind liegt sicher im Bonding-Tuch Umlagerung ins Bett –das Kind… … bleibt bei der Mutter Zurück im Bett, noch im OP… Mutter und Kind bleiben zusammen … zurück in den Kreißsaal Sectio caesarea - Ziel • Bonding ermöglichen • • • • Keine Routinemaßnahmen vor erstem Stillen des Kindes ! (außer medizinisch indiziert) • • • Bondinggurt Umlagerung Mutter mit Kind von OP-Tisch ins Bett (Lagerungsrolltuch) Postoperative Überwachung im Kreißsaal Ca 2 Stunden ungestörtes Kennenlernen der neuen Familie im Kreißsaal Verlegung Wochenstation Rebonding bei ITN sobald Mutter wach • Kind bei Vater, Bezugsperson, Hebamme… … wenn Mama nicht gleich bonden kann • ITN • Notsectio • Komplikationen – Intensivpflicht der Mutter – Atonie – HELLP-Syndrom –… Vater Bonding Rebonding • Rebonding – sobald die Mutter dazu in der Lage ist Bonding bei sectio caesarea Die Gesundheit von Mutter und Kind stehen natürlich im Vordergrund. Bei allen Überlegungen ist zu bedenken, dass die Gesundheit von Mutter und Kind in hohem Masse dadurch gefördert wird, dass die Mutter eine starke Bindung entwickelt und sich sicher fühlt, für ihr Kind zu sorgen. Zitat aus VELB 2008 / Seminar IBCLC, Skript 2-005 S.6 Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit