Gewaltlosigkeit als Ziel der modernen Gesellschaft

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Deutsche Vereinigung für Jugendgerichte
und Jugendgerichtshilfen e.V.
Jugendliche und Gewalt
Erkenntnisse, Legenden, Projekte, Handlungsbedarf
Tagung vom 16. bis 18. Januar 2004 in der Ev. Akademie Bad Boll
in Kooperation mit der Ev. Akademie Bad Boll, Kriminologischem Forschungsinstitut Niedersachsen und Verein Recht und Gesellschaft e.V.
Die Texte unterliegen urheberrechtlichem Schutz
Quellen-Nachweis: Lienemann: Gewaltlosigkeit als Ziel für die moderne Gesellschaft, Hannover 2004,
www.dvjj.de„ Veranstaltungen„ Dokumentationen„ Tagung: Jugendliche, Drogen und Kriminalität
Wolfgang Lienemann
Universität Bern
Gewaltlosigkeit als Ziel für die moderne Gesellschaft?
Rechtsethische Perpektiven, besonders im Blick auf den Umgang mit
der Gewalt bei Jugendlichen
In einer Welt der Gewalt eine „Dekade zur Überwindung von Gewalt“ zu
proklamieren, wie dies der Ökumenische Rat der Kirchen getan hat, ist
mehr als kühn. Ist es gar vermessen? „Realisten” sagen: es hat immer Gewalt gegeben, es wird immer Gewalt geben. Christen mögen daran erinnern, dass wir in einer „unerlösten Welt”, in der Welt nach dem Sündenfall
und der Vertreibung aus dem Paradies, leben, und der biblische Mythos von
Kain und Abel sieht schon im Ursprung der Menschengeschichte den Mord,
den Brudermord. Kain wird freilich von Gott mit einem Zeichen gegen die
drohende Rache geschützt. Vor Gewalt soll das Recht schützen, und das
Recht des Staates – wir kennen es jedenfalls nicht anders – muss notfalls
selbst mit Gewalt durchgesetzt werden. Der Staat hat die Aufgabe, „in der
noch nicht erlösten Welt, in der auch die Kirche steht, nach dem Maß
menschlicher Einsicht und menschlichen Vermögens unter Androhung und
Ausübung von Gewalt für Recht und Frieden zu sorgen” (These V der Barmer Theologischen Erklärung von 1934). Was kann da „Überwindung der
Gewalt” bedeuten? Kann „Gewaltlosigkeit“ überhaupt ein sinnvolles gesellschaftliches Ziel sein? Einer Antwort kann man sich nähern, indem man
versucht, die Phänomene der Gewalt so scharf und nüchtern wie möglich
wahrzunehmen und begrifflich zu unterscheiden.
1
Gewalterfahrungen und Gewaltbegriffe
Es gibt Naturgewalten, die „elterliche Gewalt”, die Staatsgewalt, verfassungsmäßige Gewaltenteilung und strafrechtlich verbotene Gewaltverherr-
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lichung, die päpstliche „Schlüsselgewalt” wie die “besonderen Gewaltverhältnisse” in Kasernen und Gefängnissen. Und es gibt – vor allem – Gewaltkriminalität. Die Beobachtung des Sprachgebrauchs in der Gegenwart zeigt,
dass zumindest in der heute gesprochen deutschen Sprache ‚Gewalt‘ eindeutig mit negativen Bewertungen verbunden ist. Dies war nicht immer so;
in der Sprache der Reformationszeit bezeichnete ‚Gewalt‘ neben der Ausübung körperlichen Zwanges immer auch die segensreiche, Ordnung schaffende und gewährleistende Macht und Autorität legitimer „Obrigkeit”. Luthers Übersetzung von Röm 13,1 „Jedermann sei untertan der Obrigkeit, die
Gewalt über ihn hat”, verweist auf eine legitime und legale Herrschaft. Im
deutschen Wort ‚Gewalt‘ flossen lange Zeit die Bedeutungen der lateinischen Wörter potestas, dominium und violentia zusammen.
Die europäischen Sprachen unterscheiden im allgemeinen etwas genauer
zwischen Macht (potestas, power, pouvoir) und physischer Gewalt (vis, violentia, violence, violençia) beziehungsweise Zwang(sgewalt) (force). Allerdings
haben „power” und „pouvoir” durchaus auch eine negative Bedeutung, zumindest handelt es sich um ambivalente Erfahrungen. Die Sprache lässt
damit, fast ein wenig hinterrücks, einen Zusammenhang erkennen, den die
Herrschenden zu allen Zeiten gern verdrängen oder leugnen möchten,
nämlich die Nähe selbst noch der guten, rechtlich geordneten Herrschaft
zur physischen Zwangsgewalt. Wir sprechen vom „buon governo”, aber
auch von der Gewaltherrschaft, und welche Erfahrungen welchem Begriff
zugeordnet werden, ist nicht von vornherein ausgemacht. Es gibt keinen
Rechtsstaat ohne Sanktionsgewalt und ohne Gefängnisse. Wer, etwa als Jugendlicher, den (Rechts-)Staat zuerst bei Demonstrationen, in Gestalt von
Absperrungen und Wasserwerfern oder in Haft kennen gelernt hat, wird
von den Wohltaten rechtlich geordneter Herrschaft einen anderen Begriff
haben als jemand, der die Transformation eines Unrechtsregimes zu einem
Rechtsstaat erlebt hat.
Umgangssprachlich begegnet die heutige Rede von ‚Gewalt‘ mithin im ganzen Spektrum von Erfahrungen zwischen Mord und Totschlag einerseits,
vielfältigen Benachteiligungen andererseits. Dabei teilen wohl die meisten
Menschen eine grundlegende Unterscheidung, nämlich zwischen einer
Gewalt, die jenseits von und gegen Recht und Gesetz geübt wird, und einer
Gewalt, die, im Dienste des Rechts, Gewalt verhindern, abwehren, eindämmen – kurz: überwinden soll. Die Gewalt eines Zuhälters oder Verbrechers
stellen wir intuitiv nicht auf dieselbe Stufe wie die Gewalt, die ein Polizist in
ordnungsgemäßem Dienst anwendet. Wie steht es aber mit der Sanftmut
der Tierfreunde, die gewaltsam in Tierfarmen einbrechen, oder mit der Gewaltbereitschaft militanter jugendlicher „Globalisierungsgegner“? Was ist
mit den Steine werfenden Kindern in den abgesperrten palästinensischen
„homelands“? Und wie steht es mit militärischer Gewalt? “Soldaten sind
Mörder”, hat schon Tucholski notiert und wütende Proteste ausgelöst, doch
wer kann bestreiten, dass (auch) Soldaten zu Mördern werden können?
Kurzum: Intuitiv teilen die meisten Menschen die Einsicht in den Unterschied von illegaler und legaler Gewaltanwendung, aber bei näherer Betrachtung sieht man auch, dass die tatsächlichen Verhältnisse so einfach
nicht sind.
Ich plädiere für einen eng gefassten Gewaltbegriff und verstehe das deutsche Wort ‚Gewalt‘, analog dem griechischen βια und dem lateinischen
vis/violentia, als Bezeichnung einer absichtlichen, zwingenden physischen Ver-
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letzung des Willens, der Integrität und damit der Freiheit von Menschen durch
einen oder mehrere Menschen. In einer ersten Erweiterung dieses Gewaltbegriffs könnte man ihn auch auf Tiere und deren vorsätzliche, physische Verletzung und Tötung ausdehnen. Es geht im Kern dieses (engen) Gewaltverständnisses um physischen Zwang gegen den Willen einer ursprünglich freien
Person oder eines anderen (rechtlich) geschützten Lebewesens (violentia contra vitam, libertatem et voluntatem personae/animalis). Damit ist wenigstens dreierlei gesagt:
Gewalt ist darin problematisch, dass sie in sittliche und rechtliche Verhältnisse absichtlich eingreift.
Gewalt liegt vor, wenn Handlungen derart beschaffen sind, dass einem
handelnden Menschen die Wirkung physischen Zwanges gegen den
Willen und die Integrität anderer Menschen oder Lebewesen zugerechnet werden kann.
Solcherart ausgeübte physische Zwangsgewalt kann nur entweder
rechtmässig oder widerrechtlich sein. Es gibt (unter Menschen) keine
transrechtliche Gewalt.
Mit der Wahl dieses relativ engen Gewaltbegriffs soll nicht geleugnet werden, dass es eine ungeheure Vielfalt von Gewaltursachen und -anlässen gibt.
In Scheidungsprozessen war früher bisweilen von „seelischer Grausamkeit”
die Rede. Liebesentzug, soziale Geringschätzung oder Missachtung können
unter Umständen schwerer treffen als ein Faustschlag. Soziale und psychische Vernachlässigungen, wie sie vielfach in Lebensläufen von sogenannten
verwahrlosten Jugendlichen, bei Terroristen und anderen Gewalttätern begegnen, können ein Leben nachhaltiger verletzen als früher geübte Prügelstrafen etwa im Militär. Man kann wissen, dass Jugendliche, die von ihren
Eltern massiv geschlagen oder misshandelt worden sind, selbst häufiger
gewalttätig werden als Altersgenossen, denen dergleichen nicht angetan
wurde. Deshalb wird man gegen einen engen, die physische Verletzung betonenden Gewaltbegriff zu Recht einwenden, dass es auch so etwas wie indirekte, sozial und psychisch vermittelte Gewaltanwendung gibt.
Eine Präzisierung ist hier vielleicht nützlich: Es ist etwas anderes, ob ich
unabsichtlich und nicht zielgerichtet einem Menschen in Interaktionen
nicht gerecht werde und sie oder ihn vielleicht psychisch verletze, oder ob
ich durch Verhaltensweisen und Handlungen, ja auch durch Unterlassungen, die äußerlich keinen physischen Zwang beinhalten, gleichwohl indirekt
körperlich erkennbares Leid zufüge. Insofern wird psychische Beeinträchtigung oder Verletzung zur Gewalt, sobald sie absichtlich erfolgt und somatische Konsequenzen nach sich zieht. M.a.W.: Die Wirkung nicht-physischer
Einwirkungen kann durchaus physisch-somatischer Art sein und kann und
muss dann auch als Gewaltübung einer Täterin oder einem Täter zugerechnet
werden.
Ich schlage also einen relativ engen, willens- und handlungsbezogenen Gewaltbegriff vor. Das ist nicht selbstverständlich und kann durchaus kritisiert
werden. Dieses Gewaltverständnis soll freilich verhindern, dass schon jede
alltägliche Unannehmlichkeit oder Benachteiligung, ein Vorwurf oder ein
schiefer Blick, sogleich als “Gewalt” etikettiert wird, so dass auf der anderen
Seite dann jedes Aufbegehren dagegen von vornherein als gerechtfertigt gilt.
Nicht alles, worunter Menschen leiden, ist Ausdruck oder Folge einer ihnen
zugefügten Gewalt im engeren Sinne. Von dieser Gewalt unterscheiden
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muss man dann allerdings sehr genau die Voraussetzungen, Ursachen,
Grundlagen und Erscheinungsformen von Gewalt, ohne diese allesamt mit
Gewalt als physischer Verletzung von Leben, Freiheit und Willen gleichzusetzen.
2
Voraussetzungen, Grundlagen und Formwandel der Gewalt
Woher kommt die Gewalt?
Physisch basiert Gewalt, welche die Menschen gegen ihresgleichen, gegen
Tiere und Pflanzen, Berge und Gewässer, kurz: gegen alle Mitkreatur zu
richten vermögen, auf einem ursprünglichen Vermögen der Kraft, die allem, was lebt, innewohnt. Das ist, anders gesagt, der Selbsterhaltungstrieb.
Auf dieser elementaren Stufe unterscheidet sich das menschliche Gewaltvermögen von dem der Tiere vielleicht nur dadurch, dass Menschen über
diesen Sachverhalt wissen können – was sie freilich keineswegs weniger gewalttätig oder gewaltbereit macht. Gewalt gehört als eine ursprüngliche
Möglichkeit zu den natürlichen Grundlagen der conditio humana.
Sodann wurzelt die Gewalt in der ungeselligen Geselligkeit der Menschen
(Kant) – diese können nur in der Gesellschaft anderer leben, aber es ist unvermeidlich, dass sie auf diese Weise stets auch in Widerständen gegen andere existieren. Gesellschaft schließt immer Kooperation und Konflikt
zugleich ein. Konkurrenz um Geschlechtspartner, Güter und soziale Ränge
gibt es bei Tieren und Menschen. Ehrsucht, Herrschsucht und Habsucht
führen zu Entzweiungen, die “in Gesellschaft” gehemmt oder verborgen
bleiben mögen, sich aber in manifester Gewalt entladen können. Dabei ist
„Gesellschaft“ vielfach gegliedert, und ihre vielfachen Gestalten – Systeme,
Strukturen, Prozesse – bestimmen maßgeblich mit, ob und wie individuelle
Gewalt geübt, wahrgenommen, beurteilt und sanktioniert wird. Zwar gehört
Gewalt insofern als ein ganz ursprüngliches Vermögen zur conditio humana,
aber ihre Erscheinungsformen sind durch und durch gesellschaftlich vermittelt.
Formwandel der Gewalt
Über die soziale Einbindung, Disziplinierung, Domestizierung - kurz: den
geschichtlichen Formwandel eines ursprünglichen menschlichen Gewaltvermögens ist viel geschrieben worden. Als Norbert Elias‘ großes Werk „Über den Prozess der Zivilisation” erstmals 1939 in Basel erschien, konnte er
wohl schon ahnen, dass die folgenden Jahre seine Langzeitdiagnose der
menschlichen Geschichte hinsichtlich einer zunehmenden Zivilisierung
durch erfolgreiche Affektkontrolle und Selbstdisziplinierung widerlegen
würden. Gleichwohl ist unbestreitbar, dass in jeder Gesellschaft der Umgang mit dem menschlichen (und auch dem tierlichen) Gewaltvermögen
kulturell geformt, ritualisiert und begrenzt wird. Ebenso unbestreitbar ist
freilich auch, dass das, was wir „Zivilisation” nennen, oft nicht mehr als ein
dürftiger Überwurf ist, den die nur schwach gefesselten Gewalten immer
wieder zu durchbrechen vermögen. Immer wieder stehen uns Täter vor Augen, wo man sich verzweifelt fragt: Wie konnte der oder die das tun? Wie
konnten fürsorgliche Familienväter zu brutalen KZ-Wächtern werden? Ob
die Theologie in der Lage ist, das Rätsel der Ursprünge der Gewalt und des
Bösen im Menschen aufzulösen, ist für mich eine unbeantwortete Frage.
Hinsichtlich des Formwandels der Gewalt muss man sehen, dass individuelle Gewalt stets im Zusammenhang sozialer Systeme geübt wird, von Gesell-
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schaften, Organisationen und Gruppen. In diesem weiteren sozialen Zusammenhang wird Gewalt von Individuen und Kollektiven geübt, durch Regeln (Gruppennormen) geformt, durch Instrumente (Waffen) verstärkt und
(symbolisch) legitimiert. Einzelne Personen haben häufig gar keine starken
persönlichen Gewaltmotive und können, unter anderen sozialen Konstellationen, relativ aggressionsarm agieren. Besonders in ethnischen und religiösen Konflikten kann man beobachten, wie „an sich“ friedfertige Menschen
zu wüsten Gräueltaten fähig sind. Unter Laborbedingungen hat man zeigen
können, dass und wie eine externe Beeinflussung individueller Gewaltfähigkeit möglich ist. Insbesondere bei der Gewaltanwendung Jugendlicher
spielen Gruppenzugehörigkeit und entsprechender Druck eine starke Rolle.
Dies ändert indes nichts an der Tatsache, dass aktuelle Gewaltausübung individuellen Tätern in geeigneter Weise zugerechnet werden kann und muss.
Gewalt im Dienst des Rechts
Wichtig ist offenkundig in allen Gesellschaften, das unbestreitbare, gesellschaftlich vermittelte, menschliche Gewaltvermögen institutionell zu begrenzen und zu integrieren. Gewaltlosigkeit als gesellschaftliches Ziel heißt
nicht: Eliminierung der Gewalt. Dies geht über das, was Menschen können,
hinaus. Die biblischen Überlieferungen erwarten ein wirkliches Ende aller
Gewalt erst in jenem Reich am Ende der historischen Zeiten, das Gott allein
heraufführt. Darum kann es in dieser Welt „nur“ um Gewaltüberwindung
durch rechtlich geordnete Institutionen und Verfahren gehen sowie um die
Sicherung derjenigen sozialen und kulturellen Handlungsweisen, Strukturen und Prozesse, die eine Gewalthemmung und –eindämmung fördern.
Aber weil Juden und Christen die Zukunft des verheißenen Gottesreiches
jenseits jeder Gewalt glauben, wissen sie sich schon in dieser Welt dafür
verantwortlich, mit menschlichen Mitteln alle Gewalt, die von Menschen
ausgeht und ausgehen kann, zu minimieren, soweit sie es vermögen.
Die wichtigste Form bilden die Versuche, das Recht zum Gewaltgebrauch
gegen außer- oder widerrechtliche Gewalt auf einigermaßen klar bestimmte
Personen, Zeiten, Orte und Anlässe zu beschränken, insoweit aber auch anzuerkennen, zu legitimieren. Die Gewalt wird dem Recht unterworfen und
zugleich “monopolisiert”, das heißt, das Recht, Gewalt anzuwenden, wird an
bestimmte, rechtlich vereinbarte Bedingungen geknüpft. So wird als ursprünglichste Bestimmung bei jeder Verfassungsgebung die elementare
Unterscheidung von rechtmäßiger und widerrechtlicher Gewalt eingeführt.
Dabei erinnere ich daran, dass der Sinn der Rede vom Gewaltmonopol des
Staates nicht bedeutet, dass der Staat – als einzige Institution – jederzeit
Gewalt üben darf. Im Gegenteil! Im Rechtsstaat bedeutet das Gewaltmonopol vielmehr: Nur der Staat hat das rechtlich begründete, geordnete und
damit streng begrenzte Recht, zur Sicherung von Recht und Gesetz Gewalt
anzuwenden. Das Gewaltmonopol soll insofern nicht zur Gewalt ermächtigen und die Gewalt entschränken, sondern alle Gewalt, die nicht rechtmässig ist, eindämmen, abwehren, unterbinden und sanktionieren.
Gewaltmonopol und symbolische Repräsentation
Zur dauerhaften Sicherung und Ausübung des staatlichen Gewaltmonopols
gehört, dass der Rückgriff auf gewaltsame Mittel die Ausnahme bleibt. Der
unbewaffnete englische “Bobby” hat dieses Ideal verkörpert. Die Gewalt des
Staates ist auch heute noch, jedenfalls in Staaten mit einer zivilen Kultur,
nur in relativ geringem Masse im Alltag präsent – als Polizei, in der Form
von Kasernen und Gefängnissen, vor allem in Gewaltandrohungen, die
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nicht ausgeführt werden, weil sie nicht ausgeführt werden müssen, aber
ausgeführt werden könnten. Prügelnde Polizisten repräsentieren gerade
nicht den „starken“, sondern den schwachen Staat, der (sich) nicht anders
zu helfen weiß. Die Gewalt des Rechtsstaates ist zu grossen Teilen latent
und vor allem in symbolischen Manifestationen sichtbar. Sie ist, wenn es
gut geht, analog der Golddeckung einer Währung oder einer Nationalbank,
ein “lender of last resort”. Es geht einem Gemeinwesen meist um so besser,
je weniger die dazu Befugten auf diese Ressource zurückgreifen müssen.
Eine wichtige Form der Manifestation dieser latent gehaltenen staatlichen
Gewalt waren früher öffentliche Hinrichtungen. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts hat Hegel gemeint, dass diese Funktion neuerdings von der journalistischen Gerichtsberichterstattung übernommen worden sei. Indem die
Gewalt im Dienst des Rechts einen Verbrecher trifft – und auch die gesetzliche Freiheitsstrafe ist und bleibt Gewalt! -, soll die Publizität der Bestrafung
weiterer rechtswidriger Gewalt vorbeugen.
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Legitimation und Begrenzung von Gewalt durch Recht
(Legalität und Legitimität)
Alle Gewalt soll dem Recht unterworfen sein und (allenfalls) nur diesem
dienen. Dies ist eine zivilisatorische Utopie, eine buchstäblich not-wendige.
Wenn es einfach und unproblematisch wäre, zwischen rechtmäßiger und
rechtswidriger Gewalt klar und eindeutig zu unterscheiden, dann wäre es
auch einfach, die Überwindung der Gewalt durch eine Rechtsordnung zu
proklamieren. Ein entscheidender Einwand gegenüber dieser Annahme
lautet, dass alles herrschende Recht immer nur das Recht der Herrschenden
ist. Recht ist danach eine Machttechnik. In der Geschichte ist immer wieder
das wahre, das gerechte oder das göttliche Recht aller erst im Kampf gegen
das bestehende Recht errungen und durchgesetzt worden. In allen großen
Freiheitskämpfen stand Recht gegen Recht. Die Durchsetzung der Anerkennung unveräußerlicher Menschenrechte begann historisch mit dem illegitimen Abfall der Neuengland-Staaten von der britischen Krone, dem Sturz
des Ancien Régime und dem Verbrechen des Königsmordes in Frankreich.
Der erste Staatspräsident des freien Südafrika hatte vorher Jahrzehnte als
Terrorist in Haft gesessen. Vor allem aber ist unbestreitbar, dass ein Rechtsstaat zu einem Unrechtsstaat werden muss, sobald die Bestimmung von
Recht und Gesetz pervertiert wird und in die Hände von Verbrechern gerät.
Ist siegreiches Recht tatsächlich immer nur das Recht des Stärkeren? Oder
gibt es ein Recht, von dem sich erweisen ließe, dass es übergeordnete Gerechtigkeitskriterien erfüllt und gleichsam interesselos über den Parteien zu
stehen vermag?
Gewalteinsatz kann der Form nach legal sein, aber doch als unmenschlich
und extrem ungerecht empfunden werden. Auch die Nationalsozialisten haben versucht, ihrer Gewaltherrschaft den Schein der Legalität zu verleihen.
Doch allein die formale Rechtfertigung der Gewalt durch geltendes Recht
und korrekte Verfahren kann legale Gewaltanwendung noch nicht legitimieren.
Dieser Legitimätsmangel besteht nicht nur dann, wenn ein Gewalteinsatz
unverhältnismäßig ist (was zu bestimmen in der Regel wiederum Bestandteil des positiven Rechts ist), sondern vor allem, wenn die Rechtszwecke,
welche die Gewalt einschränken und zulassen, ja gebieten, also legalisieren,
ihrerseits einer anerkannten sittlichen und/oder rechtlichen Rechtfertigung
entbehren. Spätestens an dieser Stelle tauchen die Frage nach einem Recht
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oder gar einer Pflicht zum Widerstand auf und das Problem, ob ein (notfalls) gewaltförmiger Aufstand erlaubt oder sogar geboten sein kann. Diese
Fragen verbinden die Probleme des Strafrechts, des Krieges und des Widerstandes: Welche Abwehr welcher als rechtswidrig bestimmten Gewalt erfordert notfalls selbst den Einsatz von rechtmäßiger Gewalt?
Es gibt an dieser Stelle auf den ersten Blick nur zwei Alternativen: Entweder
die Antwort eines strikten und uneingeschränkten Gewaltverzichts (die
Antwort pazifistischer Anarchisten), oder die Orientierung an sittlichen und
moralischen Prinzipien einer möglichen Legalisierung von Gewalt im
Dienst des Rechts (die Antwort des Rechtsstaates).
Immanuel Kant hat den Grund des Rechts und der Gerechtigkeit einerseits
im Vernunftbegriff des Rechts gesehen, andererseits in der Würde eines jeden menschlichen Wesens verankert, unabhängig davon, ob die Erkenntnis
dieser Würde sich einem Gott oder philosophischer Einsicht verdankt.
“Würde” ist, allen juristischen Klagen über ihre schwer zu fassende rechtliche Bedeutung zum Trotz, Grund und innerer Kern aller Menschenrechte.
Es verstößt schlechthin gegen die Würde jedes Menschen, wenn sie oder er
versklavt, gefoltert oder vorsätzlich getötet wird. Es verstößt ebenso gegen
die Würde, wenn Menschen nicht das „Recht auf Recht“, also die Anerkennung als „Rechtsperson“ zuerkannt wird. Setzt man die Kritik der Gewalt
hier an, dann wird offenkundig, dass Gewährleistung und Durchsetzung
grundlegender Menschenrechte in der Neuzeit den Inbegriff der Legitimität
einer Rechtsordnung darstellen. Von allen historischen Gründen zur Gewaltlegitimation ist in der Neuzeit als gleichsam letzter „Grund“ nur der
Schutz unveräußerlicher Menschenrechte übriggeblieben. Gewalt wird überwunden, wenn die grundlegenden Menschenrechte anerkannt und geschützt sind; auch die straffällig gewordenen Mitbürger haben darauf uneingeschränkt Anspruch, soweit dies mit den rechtlichen Erfordernissen
beispielsweise des Strafvollzuges vereinbar ist. Rechtmäßige Gewalt muss
sich jederzeit an diesem Prüfstein ausweisen.
Daraus folgt: Jede Gewaltanwendung ist dann und nur dann legitim und legal, wenn sie, unter Voraussetzung weiterer strengster rechtlicher Maßstäbe, nachweislich dem Schutz menschlicher Würde und der Wahrung einer
Rechtsordnung dient, die ihrerseits menschenrechtlichen Standards verpflichtet ist, auch und besonders bei der Wahl der Mittel zu ihrer eigenen
Verteidigung. Diese Einsicht gehört zu den unverzichtbaren Grundsätzen
der neueren evangelischen Rechtsethik.
4
Konsequenzen: Gewaltüberwindung durch Ursachenbekämpfung (Freiheitsschutz und Armutsbekämpfung)
Mindestens ein Einwand liegt hier nahe: Es trägt zum Schutz der Würde eines Menschen (übrigens auch eines Tieres) nichts bei, wenn man bloß vor
außerrechtlicher, physischer Gewalt sicher sein kann. Heinrich Böll hat
sinngemäß gesagt: Man kann einen Menschen mit einer Waffe, aber auch
mit drohender Obdachlosigkeit und sozialer Deklassierung umbringen. Wer
keine Chance hat und durch materielle Not oder Verweigerung von (bürgerlichen) Freiheitsrechten bedroht ist, aber womöglich persönlich keine manifeste Gewalt erfährt, ist dennoch in seiner personalen Identität und Würde
bedroht oder verletzt. Mehr noch: Im Kampf gegen unmenschliche Not und
Unfreiheit gibt es äußerstenfalls ein legitimes Recht auf befreiende, gewaltüberwindende Gewalt. Das mutet paradox an. Doch die Urform gewalt-
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überwindender Gewalt ist die Gewalt des Volkes, welches über sich eine
verbindliche Rechtordnung beschließt und damit den Teufelskreis von Gewalt und Gegengewalt zu durchbrechen versucht. Manche unterscheiden
daher etwas arg holzschnittartig zwischen befreiender und unterdrückender
Gewalt. Damit kann es aber nicht sein Bewenden haben.
Ich möchte hier eine andere Unterscheidung vorschlagen, die auf den ersten Blick etwas sophistisch erscheinen mag, die ich aber für notwendig halte. In der Friedensforschung wurde schon in den frühen 1970er Jahre gesagt, dass als ‚Frieden‘ nur Entwicklungen und Strukturen gelten können,
die sich dadurch auszeichnen, dass gleichzeitig Gewalt, Not und Unfreiheit
überwunden, abgewehrt oder minimiert werden. Nur die Einheit dieser drei
Parameter begründet einen rechtsethisch anspruchsvollen Friedensbegriff.
Not und Unfreiheit sind, neben Gewalt, zweifellos zwei Phänomene im
menschlichen (und tierlichen) Leben, die die Würde jeder Kreatur bedrohen. Sie sind aber sinnvoll selbst nicht automatisch schon als “Gewalt” anzusprechen, sondern von dieser, jedenfalls in dem hier vertretenen engen
Sinne, zu unterscheiden. Denn trifft man diese Unterscheidung nicht, dann
ist der Hinweis auf Not und Unfreiheit nur zu leicht dazu geeignet, die sittliche Fragwürdigkeit aller Gewalt zu verharmlosen oder gar zu bestreiten.
Wenn Recht und Gesetz „herrschen“, kann es kein Recht auf Selbsthilfe
mehr geben. Not und Unfreiheit sind aber auch Inbegriff derjenigen Dimensionen im gesellschaftlichen Leben, welche zu Ursachen und Gründen
von Gewalt werden können, aber – und das ist wichtig – nicht jede Not stellt
als solche eine Gewalt dar, welche Gegengewalt rechtfertigen könnte, ebenso
wie nicht jede Einschränkung meiner Willkürfreiheit sinnvoller weise als
‚Gewalt‘ qualifiziert werden sollte. Erst wenn Not und Unfreiheit, die und
soweit sie gesellschaftlich vermittelt und vermeidbar sind, ein bestimmtes
Maß übersteigen und nicht unterbunden werden, und zwar absichtlich (eventuell sogar planmäßig und zielgerichtet), muss man von entsprechenden, zurechenbaren Handlungen und Unterlassungen sagen, dass sie, in
der Form vorsätzlich zugefügter und durchaus überwindbarer Not, ‚Gewalt‘
manifestieren. Dann stellen auch sie eine sittlich verwerfliche und möglicherweise rechtlich verbotene physische Verletzung eines fremden Willens
dar. Absichtsvoll aufrechterhaltene Not und unnötig und widerrechtlich vorenthaltene Freiheit können und müssen jederzeit den verantwortlich Handelnden oder Nicht-Handelnden als von ihnen geübte oder wenigstens zugelassene Gewalt zugerechnet werden. Gewaltüberwindung bedeutet dann:
sich kontinuierlich darum zu bemühen, all diejenigen Ursachen und Erscheinungen von Not und Unfreiheit zu überwinden, welche sich immer
wieder in manifester Gewalt „von unten” Bahn brechen. Nur wer den
Rechtsstaat bejaht und ihn durch sozialstaatliche Partizipations- und Leistungsrechte stärkt, wird im Rahmen dessen, was Menschen bewirken können, auf Gewaltminimierung hinarbeiten können. Die Erkundung der
Chancen zur Gewaltminimierung hier und jetzt in allen sozialen Beziehungen und Strukturen ist der entscheidende Schritt auf dem nie abgeschlossenen Weg zur Überwindung der Gewalt.
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Jugendgewalt: Prävention, Sanktion, Restitution
Aus den bisherigen Überlegungen ergeben sich einige naheliegende Folgerungen im Blick auf Gewaltdelinquenz bei Jugendlichen. Das Phänomen ist
so gründlich erforscht, dass ich hier nur längst Bekanntes wiederholen
kann:
1. Der Prävention gegen Gewalt, die Jugendliche ausüben, dient zuerst und
zuletzt am besten eine Sozialisation, die berufsbefähigende Kompetenzen
vermittelt, das Selbstwertgefühl stärkt und die Fähigkeit, für sich und andere selbständig und verlässlich Verantwortung zu übernehmen, fördert.
Otto Schily soll einmal sinngemäß gesagt haben: Wer Musikschulen
schließt, fördert den Terrorismus. Jugendliche ohne berufliche und kreative
Perspektiven, mit einem früh beschädigten Familienleben und mit schwacher sozialer Integration haben in allen Gesellschaften eine schlechte Sozialprognose. Wenn dann die sozialen Bindungen allgemein unter Erosionserscheinungen leiden, gesellschaftlicher Egoismus sich öffentlicher Anerkennung erfreut und im öffentlichen Leben nur wenige einladende Vorbilder auszumachen sind, haben Jugendliche es nicht gerade leicht, ihren Weg
zu finden. Über die mutmaßlichen oder nachweisbaren Funktionen der
modernen Kommunikationsmedien hinsichtlich der Gewaltbereitschaft Jugendlicher will ich hier nicht spekulieren, sondern nur sagen, dass ich mich
auf’s Höchste wundern würde, wenn dies alles ausgerechnet Jugendliche
völlig unberührt lassen würde.
Dass individuelle Gewaltbereitschaft besonders häufig bei Jugendlichen begegnet, die selbst in Familien und Heimen Opfer von Gewalt waren, ist bekannt. Die eigene Gefühlsentwicklung wird so vielfach blockiert, die Einfühlung mit Opfern von Bedrohung und Gewalt ist schwach oder wird, besonders in der „starken“ Gruppe, unterdrückt, die möglichen relativ gewaltärmeren Konfliktlösungsstrategien sind kaum bekannt. Was demgegenüber in
Familien, Schulen, Beratungsstellen und Freizeiteinrichtungen an Hilfe,
Therapie und Erziehung sinnvoll und zweckmäßig ist, kann man wissen.
Aber die finanziellen Mittel sind (auch) für Strukturen und Handlungsmöglichkeiten sozialer Gewaltprävention begrenzt.
Man muss allerdings auch sehen, dass selbst eine nach landläufigen Maßstäben „gelungene“ Sozialisation niemals eine sichere Garantie gegen Gewaltdelinquenz ist. Andererseits ist es nicht sinnvoll, angesichts gesellschaftlicher Mitursachen für die Entstehung jugendlicher Gewaltkriminalität die individuelle Verantwortlichkeit klein zu schreiben. Die sorgfältigste
Erziehung kann niemals völlig unverhoffte und unverständliche Eruptionen
der Gewalt zuverlässig verhindern, aber auch ein Mensch, dem in seinem
Leben übel mitgespielt worden ist, bleibt immer noch – in gegebenenfalls
rechtlich zu würdigenden - Grenzen für das eigene Tun und Lassen verantwortlich. Darum ist Gewaltprävention im Rahmen des heutigen pädagogischen und kriminologischen Wissens sinnvoll und notwendig, aber niemals
eine sichere Garantie gegen Gewalt.
Ich habe oben schon notiert, dass individuelle Gewalt „gesellschaftlich vermittelt“ sei. Diese Formulierung ist im Grunde viel zu harmlos. Die modernen Industriegesellschaften haben in den letzten Jahrzehnten nach Meinung vieler kritischer Beobachter sehr viel an sozialem Zusammenhang ver-
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loren. Die kompetitiven Marktgesellschaften sind in allen Funktionsbereichen darauf angelegt, dass über Chancenvorteile, Einflussnahmen, Leistungen, Durchsetzungsfähigkeit und Machtgewinne Gewinner belohnt und
Verlierer bestraft werden. Sehr viele Sozialindikatoren deuten in den meisten Industriegesellschaften auf wachsende Ungleichheiten und Ausgrenzungen hin. Ich halte es für sehr verständlich, wenn Gewaltübung unter
derartigen Bedingungen als Kompensation eigener Ohnmachtsgefühle erfahren wird. Wer – als Jugendlicher zumal – beobachtet, dass und wie sozialer Ungerechtigkeit in Gestalt von unnötiger Not und Freiheitsbeschränkung keine Grenzen gesetzt werden, die soziale Schichtung vielmehr neue
Ungerechtigkeiten hervorbringt, muss schon sehr hartherzig sein, wenn sie
oder er sich nicht dagegen auflehnt. Insofern komme ich zu dem Schluss:
Auch die funktionsgerechte Sicherung des Sozialstaates dient der Gewaltprävention.
2. Es ist ebenfalls bekannt, dass für einen gelingenden Sozialisationsprozess
überwiegend permissive Erziehungsprozesse nicht gut sind. Nicht nur, aber
auch Jugendlichen müssen, besonders wenn es um die Rechte anderer geht,
klare Grenzen gesetzt werden. Mehr noch: Ich denke, dass es möglich ist,
gerade bei Jugendlichen an so etwas wie ein elementares Rechtsempfinden
anzuknüpfen. Regelbewusstsein, Respekt und Ehrgefühl gibt es auch in
Banden. Aus der Perspektive delinquenzgefährdeter Jugendlicher verliert
ein Staat, der darauf verzichtet, Recht durchzusetzen und vielleicht gar
rechtsfreie Räume zulässt, vermutlich schnell seine Autorität. Nicht Härte –
womöglich um ihrer selbst willen - , wohl aber Konsequenz ist für individuelle Bildungsprozesse nicht weniger als für die öffentliche Präsenz und
Wirksamkeit rechtsstaatlicher Institutionen unverzichtbar.
Fehlende Reaktion des Rechtsstaates auf illegale Gewalt beeinflusst die
durchschnittlich verbreiteten Erwartungen hinsichtlich möglicher Gewalt.
Wir wissen, dass es nicht schwer ist, Gefühle von Angst und Unsicherheit
zu verbreiten und zu fördern, und dass die Menschen durchweg dazu neigen, die Bedrohungspotentiale zu überschätzen. Darum ist die öffentliche
Sicherheit ein hohes gesellschaftliches Gut. Tolerierte „no-go-areas“ und nur
noch für vermögende Bürger erschwingliche private Sicherheitsbereiche
sind in gleicher Weise für den freiheitlichen Rechtsstaat ruinös und tendenziell seine Bankrotterklärung. Insofern ist Konsequenz in der gesellschaftlichen Gewalteindämmung und -minimierung unerlässlich.
Zur Konsequenz gehört es dann auch, Strafen zu verhängen und sorgfältig
zu begründen. Ich möchte hier und jetzt nicht über die unterschiedlichen
Straftheorien im Blick auf Jugendgewalt und deren Sanktionierung sprechen, aber die Vermutung äußern, dass es bei nicht wenigen straffällig gewordenen Jugendlichen durchaus auch ein Bewusstsein dafür gibt, dass eine Strafe auch um der öffentlichen, symbolischen Anerkennung einer
Rechtsordnung willen sinnvoll ist. Nur – eine verhängte Strafe muss ihrem
Grund, ihrem Zweck und ihrem Vollzug nach wenigstens soweit einsehbar
und verständlich sein, wie dies von gewalttätigen Jugendlichen mit Fug und
Recht erwartet werden darf. Dabei spielt m.E. nicht zuletzt die Frage eine
entscheidende Rolle, ob Jugendliche die Erfahrung jemals machen können,
welche Wohltat ein wirklich funktionierender Rechtsstaat für alle Menschen
ist. Wenn hingegen unübersehbar ist, dass man die Kleinen hängt und die
Grossen laufen lässt, dann darf man sich nicht wundern, dass die Kleinen
auch dahin rennen, wo sie nicht sein sollen.
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3. Wer als Jugendlicher wegen eines Gewaltdelikts straffällig geworden ist,
sollte die Chance haben, sich mit dieser Tatsache intensiv auseinander zu
setzen. Ich zweifle, dass heutige Justizvollzugsanstalten dieser Aufgabe einigermaßen nachkommen können. Aber im Anschluss an Hegels Straftheorie denke ich, dass „der Verbrecher als ein Vernünftiges geehrt“ zu werden
verdient, so dass versucht wird, ihm Zweck und Gestalt der Strafe einsichtig
zu machen.
Die Kirchen haben vielfach sich für eine Reform des Strafvollzugs eingesetzt, der es erlaubt, die „Strafe als Tür zur Versöhnung“ zu verstehen. Angesichts der Realität von Gefängnissen klingt mir das naiv und weltfremd.
Trotzdem ist die damit signalisierte Aufgabe richtig: Wer straffällig geworden ist, sollte die Chance zur Wiedergutmachung und die möglichen Hilfen
für ein strafloses Leben erhalten. Dazu ist indes nach aller Erfahrung auch
etwas erforderlich, was alles andere als selbstverständlich, aber wohl lebenswichtig ist: Dass ein Delinquent selbst erfährt, dass er als Mensch anerkannt ist, vielleicht sogar, dass ihm so etwas wie Vergebung wiederfährt.
Ich begnüge mich an dieser Stelle mit dem Hinweis auf die gar nicht zu überschätzende Bedeutung von Vereinen der Straffälligenhilfe.
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Ausblick
Zu praktischen Konsequenzen am Schluss noch zwei Hinweise:
Widerstand und Revolutionen sind der Form nach zweifellos die dramatischsten gewaltsamen Handlungen, für welche aber, im Unterschied zur
„normalen“ Gewaltdelinquenz, mindestens historisch-moralische und rechtliche Rechtfertigungsgründe angeführt werden konnten. Diese lagen in der
Vergangenheit meistens auf der Ebene einer Güterabwägung im jeweiligen
Konfliktfall. Mir ist hier und jetzt nur zweierlei wichtig:
• In dem Masse, wie es die Chance legaler und legitimer gesellschaftlicher Reform- und Transformationsprozesse gibt, verliert auch und besonders emanzipatorische Gewaltanwendung jeden Anschein einer
möglichen Rechtfertigungsfähigkeit. Nur eine „verbesserliche“ und reformbereite Gesellschaft dient der sozialen Integration und damit der
Gewaltminimierung.
• Um Gewalt – im engen, von mir erläuterten Verständnis – überflüssig
zu machen oder einzudämmen, müssen Gesellschaften in der Lage sein,
nicht-gewaltsame Formen der Konfliktaustragung erfolgreich zu institutionalisieren. Soweit es möglich ist, friedlichen Systemwandel durch
„Reformen nach Rechtsprinzipien” zu ermöglichen, gilt es, von derartigen Chancen Gebrauch zu machen. Die dafür vermutlich wichtigste
Testfrage heute stellt das Problem dar, wie unter Bedingungen der Globalisierung internationales und nationales Recht aussehen muss, das
geeignet ist, den individuellen und kollektiven Rückgriff auf Gewalt überflüssig und damit gänzlich illegitim zu machen.
Damit ist auch schon das Wichtigste zur Frage militärische Gewalt gesagt:
Der internationale Schutz gegen widerrechtliche Gewalt ist auf Dauer nur
möglich, notwendig und legitim im Rahmen der von der Charta der UN
vorgezeichneten Friedensordnung. Nur der Friede kann heute noch als der
Ernstfall sittlicher und rechtlicher Bewährung anerkannt werden. Im Winter
2002/03 waren in meinem Seminar über “Friedensethik und Völkerrecht“
zwei Mitarbeiter von Friedensdiensten eingeladen. Sie waren auf dem Bal-
Lienemann: Gewaltlosigkeit als Ziel für die moderne Gesellschaft, Hannover 2004
www.dvjj.de„ Veranstaltungen„ Dokumentationen„ Tagung: Jugendliche und Gewalt
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kan und in Lateinamerika engagiert. Man braucht gar nicht viel Worte, um
einzusehen, dass die gewaltfreie Friedensarbeit eine entscheidende Bedingung der Möglichkeit von Gewaltüberwindung ist. Freilich: Wenn Frieden
dauerhaft sein und nicht ständig bedroht sein soll, dann benötigt jede Gesellschaft und heute vor allem die Weltgesellschaft eine Rechtsordnung,
denn allein wenn das Recht wirksam institutionalisiert ist, können Menschen auf Gewalt verzichten, weil dann niemand mehr die Gewalt nötig hat.
In diesem Sinne ist eine tragfähige Rechtsordnung eine gnädige Anordnung
des Schöpfers (ordinatio Dei) für alle Menschen.
Prof. Dr. Wolfgang Lienemann
E-Mail: [email protected]
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