Nantes – kein Club wie jeder andere. Oder doch? Albrecht Sonntag Dass in Nantes kein Spiel der Euro2016 stattfinden wird, schmerzt mehr als einen französischen Fußballfreund. Es ist zwar verständlich, dass die Stadt angesichts der Kosten auf einen neuerlichen Umbau des Stade de la Beaujoire verzichtet hat, und doch sind Nantes und sein FC für das Verständnis der französischen Fußballgeschichte unverzichtbar. Im Abseits Mit Nantes bleibt eine Stadt im Abseits, der man viele Sternstunden des französischen Fußballs verdankt. Die acht Meistertitel zwischen 1965 und 2001 – daher die acht Sterne unter dem Namen auf dem Vereinswappen – und drei Pokalsiege der „Kanarienvögel“ („canaris“), wie sie wegen ihrer Vereinsfarben oft genannt werden, sind schon an sich beachtlich. Aber de FC Nantes ist mehr als das. Für alle seine Fans steht er in erster Linie für eine besondere Idee vom Spiel: „Der Erfolg ist die Konsequenz unserer Spielweise, nicht das Ziel“, wie es Meistertrainer Raynald Denoueix einmal perfekt auf den Punkt brachte. Ein Reiseführer zur französischen Fußballkultur ohne Abstecher nach Nantes – geht das überhaupt? Fragen wir einfach mal nach bei Luc Arrondel, Professor für Volkswirtschaft an der Exzellenz-Uni Paris School of Economics, Forschungs-Direktor am staatlichen Forschungsinstitut CNRS, seit Jahrzehnten stolzer Inhaber einer Dauerkarte beim FC Nantes, und Mitglied des Aufsichtsrats der nationalen Fan-Vereinigung CNSF, die sich seit 2014 zum Ziel gesetzt hat, die Interessen der Fans bei der Liga und beim Verband besser zu Gehör zu bringen. Kein Club wie alle anderen Warum wäre dieses Buch ohne eine Passage über den FC Nantes nicht komplett? Was macht Ihren Herzensclub zu einem besonderen Verein. Ohne zu zögern: der konsequente Aufbau einer Philosophie des schönen Spiels, die das Bild vom FC Nantes über Jahrzehnte geprägt hat. Der Spielstil „à la nantaise“ ist zu einer oft benutzten Metapher im französischen Fußball geworden. Ein Buch über den französischen Fußball ohne Nantes ist wie eines über Deutschland, das Mönchengladbach außen vor lässt, weil es kein WM-Austragungsort war. Ist das mit dem unverkennbaren Stil nicht ein bisschen Wunschdenken? So etwas verbindet man doch eigentlich nur mit Vereinen wie Ajax Amsterdam oder dem FC Barcelona, wo über lange Zeit eine starke Kontinuität vorlag. Kontinuität ist das richtige Wort: zwischen 1960 und 2001 hatten wir nur fünf verschiedene Trainer. Die bedeutendsten waren José Arribas, der über sechzehn Jahre hinweg die Grundlagen für die Identität des Clubs schuf und die ersten drei Meistertitel einfuhr, dann Jean-Claude Suadeau und Raynald Denoueix, die beide vorher ihre ganze Karriere als Spieler beim FCN verbracht hatten und sich dem Erbe ihres Vorgängers fast moralisch verpflichtet fühlten. Kontinuität spiegelt sich auch darin wieder, dass alle Jugendmannschaften mit dem gleichen System spielten wie die Profis, ein Prinzip, das in Nantes schon gepflegt wurde, als man in Barcelona noch nicht im Traum daran dachte. www.essca.fr/EU-Asia @Essca_Eu_Asia 1 Dann ist der FC Nantes also ein typischer Ausbildungsverein, dem die reichen Clubs die Talente wegkaufen? Foto : Luc Arrondel So kann man das sagen. In den 60er und 70er Jahren waren Spielerwechsel ja noch relativ selten, so dass der Verein von seiner exzellenten Ausbildungsarbeit selbst profitieren konnte. Danach wurde es immer schwieriger: schauen Sie sich die Weltmeister Deschamps, Desailly, und Karembeu an – in Nantes ausgebildet, aber woanders berühmt geworden. Die Talente der Meister-Mannschaften von 1995 und 2001 waren einfach nicht mehr zu halten. Hommage an die Trainer-Dynastie von Nantes Seit 2001 kann der Verein nicht mehr an seine früheren Erfolge anknüpfen. Leiden Sie darunter, dass er nur noch Mittelmaß ist und froh sein muss, sich in der Ersten Liga zu halten? Mittelfeld in der Ersten Liga zu sein, ist nicht das Problem. Worunter ich wirklich leide, ist, dass der FC Nantes ein Club wie jeder andere geworden ist. Die Kontinuität ist weg. Der Bruch mit der Identität des Clubs kam 2001. Die Leute, die sich seither in der Vereinsführung die Klinke in die Hand geben, zeigen vor allem, dass sie keinen Respekt dafür haben, was den FCN wirklich ausmacht. Und das sieht man auch auf dem Platz. Stellen Sie sich vor: in dieser Saison habe ich zum ersten Mal in meinem Leben das Stadion vor Spielende verlassen! Können Sie sich vorstellen, dass sich die Dinge noch einmal zum Guten ändern? Unmöglich ist das nicht. Es bräuchte vor allem Mut von Seiten der Vereinsführung. Vor sechs Jahren haben wir eine Fan-Genossenschaft namens „A la nantaise“ gegründet, die heute 2300 Mitglieder zählt, darunter einige ehemalige Spieler und Trainer. Ziel der Vereinigung ist, massiv Anteile am Verein zu erwerben, wenn der aktuelle Besitzer einmal an Verkauf denkt. Im Moment zeichnet sich das noch nicht ab, aber wir haben Geduld, und wenn der Moment kommt, stehen wir bereit. Und bis dahin bleibt ihnen nur die Nostalgie nach der guten alten Zeit? Sinnbild des FCN: Die Meistermannschaft von 1994/95 Und ein paar Rekorde für die Ewigkeit. Die 92 Heimspiele in Serie ohne Niederlage im alten Stadion Marcel Saupin zwischen 1976 und 1981. Oder die Bestleistung der fantastischen Meistermannschaft von 1995, die wirklich alles verkörperte, wofür der FC Nantes steht, und die in der ganzen Saison nur ein einziges Spiel verlor. An diesen Rekorden hat sich sogar der PSG bisher die Zähne ausgebissen! Trostpflaster Ein Trostpflaster bleibt Luc Arrondel: die Stadt Nantes hat das alte, 1984 verlassene Stadion Marcel Saupin im Stadtzentrum neben der Loire-Insel, in dem der gute FC Nantes immerhin sechs seiner acht Meistertitel eingefahren hat, nicht abgerissen, sondern eine der Tribünen rehabilitiert, und die andere durch bunte neue Universitätsgebäude ersetzt. Wenn er sich jetzt einmal in der www.essca.fr/EU-Asia @Essca_Eu_Asia 2 Und ganz im Abseits ist Westfrankreich bei der Euro2016 dann doch nicht: wie schon bei der FIFA für die WM 2010 in Südafrika hat sich die Firma Marty Sports aus dem beschaulichen, zwischen Nantes und Angers gelegenen Saint-Clément-dela-Place diesmal bei der UEFA den Vertrag als Ausrüster aller EM-Stadien geangelt. Das Respekt für die Vergangenheit des FC Nantes: Das alte Stadion und die neuen Universitätsgebäude. bedeutet Tore, Netze, Eckpfosten, Reservebänke, sowie Trainingsausrüstungen wie Freistoßmauern, Massagebänke, Eisbäder, usw. in insgesamt 44 Stadien (10 Austragungsorte, 10 Ausweichstadien, und 24 über ganz Frankreich verteilte Trainings-Camps. Auch schon was. Foto : Université de Nantes Woche, meist montags, in sein Büro im „Maison des Sciences de l’Homme“ (Haus der Humanwissenschaften) begibt, kann er auf den Traditionsrasen seiner Erinnerungen hinabschauen. Foto : Marty Sports 3 www.essca.fr/EU-Asia @Essca_Eu_Asia