6 Chemisches Gleichgewicht und Massenwirkungsgesetz 6.1 Gleichgewichtsreaktionen Bei chemischen Reaktionen wird im Allgemeinen zwischen Ausgangsstoffen (Edukten) und Reaktionsprodukten unterschieden. Damit verbindet sich die Vorstellung, dass die chemische Reaktion in einer bestimmten Richtung, nämlich von den Ausgangsstoffen zu den Reaktionsprodukten, abläuft. In Wirklichkeit können aber chemische Reaktionen in beiden Richtungen ablaufen. Chemische Reaktionen sind im Prinzip umkehrbar. 2 Hg + O2 → 2 HgO 2 HgO → 2 Hg + O2 Zu einer Gleichung zusammengefasst: 2 Hg + O2 2 HgO Die Umkehrbarkeit einer chemischen Reaktion wird mit einem Doppelpfeil gekennzeichnet. Die beiden einander entgegengesetzten Reaktionen werden Hinreaktion und Rückreaktion genannt: Hinreaktion −− → Ausgangsstoffe ← −− −− −− −− −− −− − − Reaktionsprodukte Rückreaktion Edukte Produkte Die Bezeichnungen Hinreaktion und Rückreaktion beziehen sich stets auf eine bestimmte Reaktionsgleichung. Dabei verläuft die Hinreaktion immer von links nach rechts, die Rückreaktion immer von rechts nach links. Magnesiumcarbonat, MgCO3 , zerfällt beim Erhitzen in Magnesiumoxid und Kohlenstoffdioxid. Umgekehrt vereinigt sich Magnesiumoxid, MgO, mit Kohlenstoffdioxid leicht zu Magnesiumcarbonat. Je nachdem, von welchem Stoff man ausgeht, ergeben sich dafür die Gleichungen: Hinreaktion MgCO3 − − → ← −− −− −− −− −− −− − − MgO + CO2 Rückreaktion Hinreaktion − → MgO + CO2 − ← −− −− −− −− −− −− − − MgCO3 Rückreaktion Da es sich um eine umkehrbare Reaktion handelt, drücken beide Gleichungen das gleiche aus. Die Richtung, in der eine chemische Reaktion abläuft, hängt von den Reaktionsbedingungen • Temperatur, • Druck und • Zusammensetzung des Reaktionsgemischs ab. Viele Reaktionen laufen praktisch nur in einer Richtung ab, da für den Ablauf in der entgegengesetzten Richtung extreme Reaktionsbedingungen nötig wären. Bei diesen Reaktionen kommt es zu einer vollständigen Umsetzung der Ausgangsstoffe zu den Endprodukten. 174 6 Chemisches Gleichgewicht und Massenwirkungsgesetz Wasserstoff, H2 , und Sauerstoff, O2 , setzen sich (bei der Knallgasreaktion) vollständig zu Wasser, H2 O, um: 2 H2 + O2 → 2 H2 O Ein freiwilliger Zerfall des Wassers – im Sinne einer Rückreaktion – findet nicht statt, er kann nur auf elektrochemischem Wege erzwungen werden. Bei chemischen Reaktionen, die in beiden Richtungen abzulaufen vermögen, kommt es dagegen in der Regel nicht zu einer restlosen Umsetzung. Das trifft vor allem für homogene Systeme (Gasreaktionen, Lösungen) zu. Ein Gasgemisch aus Stickstoff und Wasserstoff setzt sich unter geeigneten Bedingungen teilweise unter Bildung von Ammoniak um (Hinreaktion): Hinreaktion − → N2 + 3 H2 − ← −− −− −− −− −− −− − − 2 NH3 Rückreaktion Bei 20 MPa (200 bar) und 400 ◦ C können maximal 36 % Ammoniak im Gasgemisch vorliegen. Bei höherer Temperatur zerfällt das Ammoniak wieder in Stickstoff und Wasserstoff (Rückreaktion). Hinreaktion und Rückreaktion laufen gleichzeitig ab, sie wirken einander entgegen. Um diese Abhängigkeit zwischen Hinreaktion und Rückreaktion zu erläutern, muss die Reaktionsgeschwindigkeit herangezogen werden. Die Reaktionsgeschwindigkeit v ist der Quotient aus der Konzentrationsänderung und der Zeitänderung (Zeitdauer): Reaktionsgeschwindigkeit = Konzentrationsänderung Zeitänderung Mathematisch auszudrücken ist das durch den Differenzialquotienten: v=− dcA dt bzw. v= dcB dt in dem cA die Konzentration eines Ausgangsstoffes, cB die Konzentration eines Reaktionsproduktes und t die Zeit darstellen. Die Geschwindigkeit einer chemischen Reaktion ist unter anderem abhängig von der Anzahl der zur Verfügung stehenden reagierenden Teilchen. Zu Beginn einer umkehrbaren Reaktion sind nur Teilchen der Ausgangsstoffe vorhanden (im vorigen Beispiel: N2 und H2 ). Daher setzt zunächst nur die Hinreaktion ein, und zwar mit relativ hoher Geschwindigkeit. Sobald sich aber die ersten Teilchen der Reaktionsprodukte gebildet haben (im vorigen Beispiel: NH3 ), beginnt auch schon die Rückreaktion, allerdings zunächst mit sehr geringer Geschwindigkeit. Mit fortschreitender Hinreaktion entstehen immer mehr Teilchen der Reaktionsprodukte (NH3 ), die für die Rückreaktion zur Verfügung stehen. Damit wird die Geschwindigkeit der Rückreaktion immer größer. Gleichzeitig nimmt aber die Anzahl der für die Hinreaktion zur Verfügung stehenden Teilchen der Ausgangsstoffe (N2 und H2 ) ständig ab. Damit wird die Geschwindigkeit der Hinreaktion immer geringer. Schließlich wird ein Zustand erreicht, in dem die Geschwindigkeit der Rückreaktion gleich der Geschwindigkeit der Hinreaktion ist (siehe Bild 6-1). Damit ist die Reaktion, von außen betrachtet, zum Stillstand gekommen. Dieser Zustand wird Gleichgewichtszustand genannt. 6.1 Gleichgewichtsreaktionen 175 Da Hinreaktion und Rückreaktion weiterhin ablaufen, handelt es sich um ein dynamisches Gleichgewicht. Alle Reaktionen, bei denen sich ein solcher Gleichgewichtszustand einstellt, werden als Gleichgewichtsreaktionen bezeichnet. Bei allen Gleichgewichtsreaktionen nimmt • die Geschwindigkeit der Hinreaktion ab, • die Geschwindigkeit der Rückreaktion zu, bis beide Geschwindigkeiten gleich sind und damit ein Gleichgewichtszustand erreicht ist. v vH v H = vR vR t G 0 Bild 6-1: Veränderung der Geschwindigkeit der Hinreaktion und der Geschwindigkeit der Rückreaktion bis zum Erreichen des Gleichgewichtszustandes Die Zusammensetzung, in der die Reaktionsteilnehmer (Ausgangsstoffe und Reaktionsprodukte) im Gleichgewichtszustand vorliegen, wird Lage des Gleichgewichts genannt. Im Dissoziationsgleichgewicht des Wassers → H2 O ← − H+ + OH− ist der Anteil der Moleküle, die dissoziiert sind, außerordentlich gering. Man sagt daher: Das Gleichgewicht liegt weit auf der Seite der undissoziierten Moleküle. Das kann durch einen längeren Pfeil ausgedrückt werden. Wird der gleiche Vorgang als Autoprotolyse des Wassers (↑ S. 215) betrachtet, gilt das sinngemäß: → H2 O + H2 O ← − H3 O+ + OH− Jede chemische Reaktion hat eine andere Lage des Gleichgewichts. Für eine bestimmte Reaktion ist die Lage des Gleichgewichts von den Reaktionsbedingungen (Temperatur, Druck, Zusammensetzung des Reaktionsgemischs) abhängig. Bei 400 ◦ C und 20 MPa (200 bar) stehen 36 Vol.-% Ammoniak mit Stickstoff und Wasserstoff im Gleichgewicht. Die den jeweiligen Reaktionsbedingungen entsprechende Lage des Gleichgewichts stellt sich unabhängig davon ein, von welchen Reaktionspartnern ausgegangen wurde (siehe Bild 6-2). A N2 H2 G Bildung von NH3 N2, H2 , NH3 B Zerfall von NH3 NH3 Bild 6-2: Der Gleichgewichtszustand G des Ammoniakgleichgewichtes N2 + 3 H2 2 NH3 stellt sich sowohl vom Ausgangszustand A (Stickstoff-Wasserstoff-Gemisch) als auch vom Ausgangszustand B (Ammoniak) her ein. Für die ökonomische Nutzung der den Gleichgewichtsreaktionen zugrunde liegenden Naturgesetze interessiert vor allem, wie durch Änderung der Reaktionsbedingungen die Lage eines chemischen Gleichgewichts in der gewünschten Richtung verschoben werden kann. Die weitere Behandlung des chemischen Gleichgewichts erfolgt: • qualitativ (mittels des Prinzips des kleinsten Zwanges (↑ 6.2)) oder • quantitativ (mittels des Massenwirkungsgesetzes (↑ 6.4)). 176 6 Chemisches Gleichgewicht und Massenwirkungsgesetz 6.2 Prinzip des kleinsten Zwanges Die Lage eines chemischen Gleichgewichts hängt ab von • Temperatur • Druck und • Zusammensetzung des Reaktionsgemischs Der Einfluss, den diese Faktoren auf die Lage eines chemischen Gleichgewichts ausüben, unterliegt einer allgemeinen Gesetzmäßigkeit, die um 1885 von dem französischen Chemiker H ENRY L E C HATELIER und dem deutschen Physiker K ARL F ERDINAND B RAUN erkannt wurde und daher als Prinzip von L E C HATE LIER und B RAUN, aber auch als Prinzip des kleinsten Zwanges bekannt ist: Wird auf ein im Gleichgewichtszustand befindliches System durch Änderung der äußeren Bedingungen ein Zwang ausgeübt, so verschiebt sich die Lage des Gleichgewichts derart, dass der äußere Zwang vermindert wird. Kurz gesagt: Ein im Gleichgewicht befindliches System weicht einem äußeren Zwange aus. 6.2.1 Einfluss der Temperatur auf die Lage eines chemischen Gleichgewichts Alle chemischen Reaktionen sind mit Energieumsetzungen verbunden. Hier interessieren zunächst die mit Wärmeumsetzungen einhergehenden Reaktionen (↑ S. 269): • Reaktionen, bei denen Wärme an die Umgebung abgegeben wird, werden als exotherm 1) bezeichnet. • Reaktionen, bei denen Wärme aus der Umgebung aufgenommen wird, werden als endotherm 2) bezeichnet. Bei jeder Gleichgewichtsreaktion verläuft eine der Teilreaktionen (Hinreaktion, Rückreaktion) exotherm, die andere endotherm (↑ S. 270). Ammoniak-Gleichgewicht exotherm −− N2 + 3 H2 ← −− −− −− −− −→ − 2 NH3 endotherm Δ R H = −91,8 kJ · mol −1 Für den Einfluss, den eine Temperaturänderung auf die Lage eines chemischen Gleichgewichts ausübt, gelten folgende Beziehungen: • Eine Temperaturerhöhung begünstigt die endotherme Reaktion. Bei jeder endotherm verlaufenden Reaktion wird Wärme verbraucht. Das reagierende System weicht so dem äußeren Zwang der Temperaturerhöhung aus, bis wieder ein Gleichgewichtszustand erreicht ist. • Eine Temperaturerniedrigung begünstigt die exotherme Reaktion. Bei jeder exotherm verlaufenden Reaktion wird Wärme frei. Das reagierende System weicht dem äußeren Zwang der Temperaturerniedrigung aus, bis wieder ein Gleichgewichtszustand erreicht ist. 1) 2) exo (griech.) hinaus endo (griech.) hinein 6.2 Prinzip des kleinsten Zwanges 177 Im Ammoniak-Gleichgewicht begünstigt eine niedrige Temperatur die Bildung von Ammoniak, eine hohe Temperatur den Zerfall des Ammoniaks. Bei 20 MPa (200 bar) hängt der Ammoniakgehalt im Gleichgewicht mit Stickstoff und Wasserstoff wie folgt von der Temperatur ab: 300 ◦ C 63 Vol.-% NH3 400 ◦ C 36 Vol.-% NH3 500 ◦ C 18 Vol.-% NH3 600 ◦ C 8 Vol.-% NH3 700 ◦ C 4 Vol.-% NH3 Das Gleichgewicht liegt also bei niedrigen Temperaturen auf der Seite des Ammoniaks, bei hohen Temperaturen auf der Seite des Stickstoff-Wasserstoff-Gemischs. Die quantitative Behandlung des Einflusses der Temperatur auf die Lage des chemischen Gleichgewichts erfolgt mittels des Massenwirkungsgesetzes (↑ S. 185). 6.2.2 Einfluss des Drucks auf die Lage eines chemischen Gleichgewichts Bei allen Gasreaktionen, bei denen sich das Volumen ändert, weil die Summe der Stoffmengen (in mol) der Reaktionsprodukte von der Summe der Stoffmengen der Ausgangsstoffe verschieden ist, hat auch der Druck einen Einfluss auf die Lage des chemischen Gleichgewichts. • Durch Druckerhöhung wird das Gleichgewicht nach der Seite der Stoffe mit dem geringeren Volumen verschoben. • Durch Druckminderung wird das Gleichgewicht nach der Seite der Stoffe mit dem größeren Volumen verschoben. In beiden Fällen weicht das reagierende System dem äußeren Zwange aus, bis wieder ein Gleichgewichtszustand erreicht ist. Bei der Ammoniaksynthese entstehen aus 1 mol Stickstoff und 3 mol Wasserstoff 2 mol Ammoniak: N2 + 3 H2 2 NH3 Bei vollständiger Umsetzung würden aus vier Volumenteilen der Ausgangsstoffe zwei Volumenteile des Reaktionsproduktes entstehen. Das Gesamtvolumen würde sich auf die Hälfte vermindern: N2 + H2 + H2 + H2 4 Volumenteile NH3 + NH3 2 Volumenteile Je höher der Druck ist, um so mehr wird das Ammoniak-Gleichgewicht in Richtung dieser Volumenverminderung, also in Richtung der Ammoniakbildung, verschoben. Bei 400 ◦ C hängt der Ammoniakgehalt im Gleichgewicht mit Stickstoff und Wasserstoff wie folgt vom Druck ab: 0,1 MPa 10 MPa 20 MPa 30 MPa 60 MPa 100 MPa (1 bar) ≈ 0,4 Vol.-% NH3 (100 bar) ≈ 26 Vol.-% NH3 (200 bar) ≈ 36 Vol.-% NH3 (300 bar) ≈ 46 Vol.-% NH3 (600 bar) ≈ 66 Vol.-% NH3 (1000 bar) ≈ 80 Vol.-% NH3 178 6 Chemisches Gleichgewicht und Massenwirkungsgesetz Das Gleichgewicht liegt also bei hohen Drücken auf der Seite des Ammoniaks, bei niedrigen Drücken auf der Seite des Stickstoff-Wasserstoff-Gemischs. Die quantitative Behandlung des Einflusses des Drucks auf die Lage des chemischen Gleichgewichts erfolgt mittels des Massenwirkungsgesetzes (↑ S. 193). 6.2.3 Einfluss der Zusammensetzung des Reaktionsgemischs auf die Lage eines chemischen Gleichgewichts Auch durch Veränderung der Stoffmengenanteile (Molenbrüche) der Reaktionsteilnehmer kann die Lage eines chemischen Gleichgewichts verschoben werden. • Wird der Stoffmengenanteil eines Ausgangsstoffes erhöht, so wird das Gleichgewicht in Richtung zu den Reaktionsprodukten verschoben. Das hat zur Folge, dass der andere Ausgangsstoff (bzw. die anderen Ausgangsstoffe) weitgehend verbraucht wird (werden). Beim Schwefelsäure-Kontaktverfahren kommt es auf eine möglichst weitgehende Umsetzung des Schwefeldioxids zu Schwefeltrioxid an: 2 SO2 + O2 2 SO3 Einerseits erhöht das die Ausbeute an Schwefelsäure, andererseits belastet Schwefeldioxid, das mit den Abgasen entweicht, außerordentlich die Umwelt. Es wird daher mit einem Überschuss von sauerstoffangereicherter Luft gearbeitet, was für die vorstehende Gleichgewichtsreaktion auf eine Erhöhung des Stoffmengenanteils des Sauerstoffs hinausläuft. In der chemischen Produktion werden solche Einflüsse der Zusammensetzung des Reaktionsgemischs vielfältig genutzt. • Wird der Stoffmengenanteil eines Reaktionsproduktes erhöht, so wird das Gleichgewicht in Richtung zu den Ausgangsstoffen verschoben. In einer gesättigten Bariumsulfatlösung liegen infolge der elektrolytischen Dissoziation BaSO4 Ba2+ + SO4 2− geringe Anteile an Barium-Ionen und Sulfat-Ionen vor. Wird dieser Lösung Schwefelsäure zugesetzt, so erhöht sich der Stoffmengenanteil der Sulfat-Ionen und das Gleichgewicht wird in Richtung zum undissoziierten Bariumsulfat verschoben. Es entsteht ein Niederschlag von Bariumsulfat. Die quantitative Behandlung des Einflusses der Zusammensetzung des Reaktionsgemischs auf die Lage des chemischen Gleichgewichts erfolgt mittels des Massenwirkungsgesetzes (↑ S. 192), siehe dazu auch: • Dissoziationskonstante (↑ S. 211) • Löslichkeitskonstante (↑ S. 246) 6.3 Einflüsse auf die Geschwindigkeit von Gleichgewichtsreaktionen Bei den Gleichgewichtsreaktionen vergeht eine unterschiedlich lange Zeit, bis sich der Gleichgewichtszustand eingestellt hat. Bei Ionenreaktionen geschieht das praktisch momentan. Bei Gasreaktionen und allgemein bei Reaktionen der organischen Chemie vergehen beträchtliche Zeiten, bis der Gleichgewichtszustand erreicht ist. Es gibt aber auch Reaktionen, bei denen sich der Gleichgewichtszustand bei 20 ◦ C nie einstellt. 6.3 Einflüsse auf die Geschwindigkeit von Gleichgewichtsreaktionen 179 Auch die Umsetzung von Wasserstoff und Sauerstoff zu Wasser: → 2 H2 O 2 H2 + O2 − ← kann als Gleichgewichtsreaktion aufgefasst werden. Dabei liegt das Gleichgewicht bei Zimmertemperatur ganz auf der Seite des Wassers, sodass es nicht zu einem Zerfall in Wasserstoff und Sauerstoff kommt. Andererseits setzt sich aber ein Gemisch aus Wasserstoff und Sauerstoff bei Zimmertemperatur selbst im Verlauf von Jahren nicht zu Wasser um, da die Reaktionsgeschwindigkeit hierfür extrem gering ist. Zu einer Explosion kommt es erst, wenn – zum Beispiel durch örtliches Erhitzen – freie Wasserstoffatome entstehen, die eine Kettenreaktion auslösen. Durch zwei Faktoren kann erreicht werden, dass sich ein chemisches Gleichgewicht beschleunigt einstellt: • durch Temperaturerhöhung und • durch Katalysatoren. 6.3.1 Einfluss der Temperatur Für den Einfluss der Temperatur auf chemische Reaktionen gilt allgemein: Chemische Reaktionen verlaufen bei höheren Temperaturen schneller als bei niedrigen Temperaturen. Für den Zusammenhang zwischen Temperatur und Reaktionsgeschwindigkeit gilt als grobe Regel: Eine Temperaturerhöhung um 10 Kelvin (z. B. von 20 ◦ C auf 30 ◦ C) beschleunigt die Geschwindigkeit einer Reaktion auf das Doppelte. Die Temperatur ist ein Maß für die kinetische Energie (Bewegungsenergie) der kleinsten Teilchen (Atome, Moleküle, Ionen) der Stoffe. Je rascher sich die Teilchen bewegen, um so häufiger stoßen sie mit anderen Teilchen zusammen, mit denen sie reagieren können. Diese Betrachtungsweise chemischer Reaktionen ist bekannt als Stoßtheorie. Diese gilt freilich nur für Gasreaktionen. Die Gasmoleküle haben ganz unterschiedliche kinetische Energie und diese ändert sich ständig. Zu einer Reaktion kommt es nur, wenn zwei Moleküle mit hinreichend hoher Energie zusammenstoßen. Diese Energie wird Aktivierungsenergie genannt (Bild 6-3). Nach einer anderen anschaulichen Vorstellung, die nicht nur für Gasreaktionen gilt, bilden Teilchen der Ausgangsstoffe als Zwischenzustand einen energiereichen aktivierten Komplex“, der dann in die Teilchen der ” Reaktionsprodukte zerfällt. Die Bewegungsenergie der Teilchen nimmt mit abnehmender Temperatur ab. Beim absoluten Nullpunkt (0 K = -273,15 ◦ C) würde die Bewegung der Teilchen ganz aufhören, sodass dann auch keinerlei chemische Reaktionen mehr abliefen. Der absolute Nullpunkt ist aber nicht erreichbar. Da sich eine absolute Wärmeisolierung nicht verwirklichen lässt, ist nur eine asymptotische (unendliche) Annäherung an den absoluten Nullpunkt möglich (Dritter Hauptsatz der Thermodynamik (↑ S. 311); WALTER N ERNST 1906). Für Gleichgewichtsreaktionen gilt: Je höher die Temperatur, um so schneller wird der Gleichgewichtszustand erreicht. Zu beachten ist, dass die Temperatur gleichzeitig auf die Lage des Gleichgewichts (↑ S. 176) einwirkt: Eine Temperaturerhöhung bewirkt nicht nur, dass sich das Gleichgewicht schneller einstellt, sie verschiebt gleichzeitig die Lage des Gleichgewichts in Richtung der endothermen Reaktion. Bei vielen technisch genutzten Gleichgewichtsreaktionen ist die Hinreaktion exotherm: N2 + 3 H2 2 NH3 2 SO2 + O2 2 SO3 Δ R H = −91,8 kJ · mol −1 Δ R H = −184 kJ · mol −1 180 6 Chemisches Gleichgewicht und Massenwirkungsgesetz Der erwünschte Einfluss der Temperaturerhöhung (Erhöhung der Reaktionsgeschwindigkeit) ist hier untrennbar mit einem unerwünschten Einfluss (Verschlechterung der Gleichgewichtslage; Verschiebung in Richtung der Ausgangsstoffe) verbunden. In solchen Fällen wird eine mittlere Temperatur gewählt, bei der die Reaktionsgeschwindigkeit hinreichend, die Gleichgewichtslage aber noch nicht allzu ungünstig ist. Vielfach gelingt es aber nur mittels Katalysatoren, solche Verfahren wirtschaftlich zu gestalten. 6.3.2 Einfluss von Katalysatoren Viele technisch-chemische Reaktionen lassen sich nur durch Einsatz von Katalysatoren wirtschaftlich durchführen. Katalysatoren sind Stoffe, die die Geschwindigkeit einer chemischen Reaktion erhöhen und dadurch bewirken, dass sich das chemische Gleichgewicht schneller einstellt. Die Katalysatoren werden dabei nicht verbraucht. Der von den Katalysatoren ausgelöste Vorgang wird Katalyse genannt. Durch die Katalysatoren wird erreicht, dass die Reaktion auf einem anderen Wege – über andere Zwischenzustände – verläuft, wofür geringere Aktivierungsenergien der Teilchen ausreichen (Bild 6-3). Die Katalysatoren beeinflussen – im Gegensatz zur Temperatur – die Lage des chemischen Gleichgewichts nicht. Auf ein bereits im Gleichgewichtszustand befindliches System übt ein Katalysator keinen Einfluss aus, da er Hinreaktion und Rückreaktion gleichermaßen beschleunigt. Durch einen geeigneten Katalysator wird die Temperatur herabgesetzt, bei der eine chemische Reaktion mit hinreichender Geschwindigkeit abläuft. Dadurch können auch exotherme Reaktionen bei einer verhältnismäßig günstigen Gleichgewichtslage durchgeführt werden. Der Einsatz von Katalysatoren kann auch dadurch notwendig werden, dass Reaktionsteilnehmer gegenüber höheren Temperaturen empfindlich sind. Energie der Teilchen Aktivierungsenergie ohne Katalysator Ausgangsstoff mit Katalysator Reaktionsprodukte Reaktionsfortschritt Bild 6-3: Aktivierungsenergie Beispiele für großtechnische Verfahren, die mittels Katalysatoren durchgeführt werden: • • • • • • • Ammoniaksynthese (↑ S. 473) Ammoniakoxidation (↑ S. 477) Schwefelsäure-Kontaktverfahren (↑ S. 502) Hochdruckhydrierung von Erdöl und Teer (↑ S. 624) Polyethylensynthese (↑ S. 772) Butadien-Gewinnung für Synthesekautschuk (↑ S. 626) Fetthärtung (↑ S. 733) Hinzukommt die katalytische Reinigung von Kraftfahrzeug-Abgasen (↑ S. 590). 6.3 Einflüsse auf die Geschwindigkeit von Gleichgewichtsreaktionen 181 Bei den Katalysatoren handelt es sich um Stoffe von sehr unterschiedlichem Charakter: Metalle, Metalloxide, Nichtmetalloxide, Basen, Säuren, aber auch organische Stoffe. Besonders gute katalytische Wirkungen zeigen bestimmte Stoffgemenge (so genannte Mischkatalysatoren). Viele Katalysatoren besitzen eine spezifische Wirkung, d. h., sie beschleunigen nur eine ganz bestimmte chemische Reaktion. Dadurch wird verhütet, dass unerwünschte Nebenreaktionen gleichfalls beschleunigt werden. Andererseits ist es möglich, mittels unterschiedlicher Katalysatoren aus den gleichen Ausgangsstoffen verschiedene Reaktionsprodukte zu gewinnen, indem von mehreren möglichen Reaktionen jeweils eine andere beschleunigt wird. So entstehen aus Wassergas mit Kobaltoxid Kohlenwasserstoffe, mit Zinkoxid und Chromoxid entsteht Methanol. Nach den Aggregatzuständen, in denen die reagierenden Stoffe und der Katalysator vorliegen, werden unterschieden: • Homogene Katalyse Der Katalysator bildet mit den reagierenden Stoffen ein homogenes Gemenge (Gasgemenge, Lösung). • Heterogene Katalyse Reaktionsgemenge und Katalysator bilden verschiedene Phasen. Die Katalyse findet an einer Phasengrenzfläche statt. Die wichtigste Art der heterogenen Katalyse ist die Kontaktkatalyse, bei der das (gasförmige oder flüssige) Reaktionsgemisch über einen fest angeordneten Katalysator strömt. Die Reaktionsbeschleunigung erfolgt hier bei der Berührung des Reaktionsgemischs mit der Oberfläche des Katalysators, der daher in diesem Falle auch als Kontakt bezeichnet wird. Die Wirkungsweise der Katalysatoren ist sehr unterschiedlich. Es gibt Katalysatoren, die mit den Stoffen, deren Reaktion sie beschleunigen, Zwischenprodukte bilden. Nach der Reaktion liegen diese Katalysatoren wieder in ihrer ursprünglichen Form vor. Mitunter übertragen die Katalysatoren einen anderen Stoff auf das reagierende System (z. B. Sauerstoff beim Schwefelsäure-Kontaktverfahren). Vielfach beruht aber die katalytische Wirkung eines Stoffes weniger auf dessen chemischen Eigenschaften als vielmehr auf dessen Oberflächenbeschaffenheit. Dabei können sowohl besondere Kristallstrukturen als auch an der Oberfläche auftretende freie Valenzen (Wertigkeiten) wirksam sein. Auch in den Stoffwechselvorgängen der lebenden Organismen spielen Katalysatoren, die in diesem Falle als Biokatalysatoren bezeichnet werden, eine wichtige Rolle. Dabei handelt es sich um die Enzyme 1) (auch Fermente genannt), Vitamine und Hormone. Neben der positiven Katalyse, durch die Reaktionen beschleunigt werden, gibt es auch die negative Katalyse oder Antikatalyse, durch die der Ablauf einer Reaktion gehemmt wird. Stoffe, die bestimmte Reaktionen hemmen, werden Inhibitoren 2) , Antikatalysatoren, Passivatoren oder Stabilisatoren genannt. Die Inhibitoren sind in ihrer Wirkungsweise ähnlich vielfältig wie die Katalysatoren. Korrosionsinhibitoren bilden auf der behandelten Metalloberfläche teils durch Adsorption, teils durch chemische Reaktion äußerst dünne Schutzschichten. Oxidationsinhibitoren hemmen die Oxidation von Fetten und Schmierölen. Stabilisatoren verhindern den vorzeitigen Zerfall wenig beständiger (metastabiler) Substanzen und gewährleisten für zahlreiche technisch-chemische Produkte (z. B. Anstrichstoffe) überhaupt erst die notwendige Lagerfähigkeit. 1) fermentum (lat.) Sauerteig; zyme (grch.) Sauerteig, en (grch.) in. Die Bezeichnungen Ferment und Enzym sind also gleichbedeutend. Die Wirkung von Sauerteig und Hefe beruht auf dem Vorhandensein solcher Biokatalysatoren. 2) inhibere (lat.) anhalten, hemmen 182 6 Chemisches Gleichgewicht und Massenwirkungsgesetz 6.4 Massenwirkungsgesetz Die quantitative Behandlung von Gleichgewichtsreaktionen wird durch eine Gesetzmäßigkeit ermöglicht, die 1867 von dem norwegischen Chemiker P ETER WAAGE und dem norwegischen Mathematiker C ATO M AXIMILIAN G ULDBERG erkannt und als Massenwirkungsgesetz bezeichnet wurde. Die chemische Wirkung eines Stoffes ist seiner aktiven Masse proportional. Unter aktiver Masse verstanden G ULDBERG und WAAGE die Massenkonzentration, also den Quotienten aus Masse und Volumen; man sagt auch, die Masse je Volumeneinheit. Sie haben das vorweggenommen, was wir heute unter Aktivität (↑ S. 243), d. h. wirksamer Konzentration, verstehen. Bei sehr geringen Konzentrationen ist die wirksame Konzentration praktisch gleich der tatsächlichen. Bei der Ableitung des Massenwirkungsgesetzes wird daher meist von den Konzentrationen ausgegangen, während für genaue Berechnungen die Aktivitäten eingesetzt werden müssen. 6.4.1 Gleichgewichtskonstante In moderner Formulierung lautet das Massenwirkungsgesetz (oft kurz als MWG bezeichnet): Eine chemische Reaktion befindet sich im Gleichgewichtszustand, wenn der Quotient aus • dem Produkt der Konzentrationen der Reaktionsprodukte und • dem Produkt der Konzentrationen der Ausgangsstoffe einen für diese Reaktion charakteristischen – bei gegebener Temperatur konstanten – Wert erreicht hat. Das Massenwirkungsgesetz kann sowohl aus • der chemischen Kinetik (↑ S. 186) als auch aus • der chemischen Thermodynamik (↑ S. 292) abgeleitet werden. In diesem Kapitel gehen wir von der kinetischen Ableitung aus, da sie anschaulicher ist. Die thermodynamische Ableitung erfolgt im Kapitel 8 Thermochemie. Für Reaktionen vom Typ A+BC+D (6-1) das heißt für Reaktionen, bei denen aus je einem Mol zweier Ausgangsstoffe je ein Mol zweier Reaktionsprodukte entstehen, gilt für das Massenwirkungsgesetz folgende mathematische Formulierung, die als Massenwirkungsgleichung bezeichnet werden kann: [C] · [D] =K [A] · [B] (6-2) K wird Gleichgewichtskonstante genannt. Die in eckige Klammern gesetzten Symbole der an der Reaktion beteiligten Stoffe geben Zusammensetzungsgrößen für diese Stoffe wieder. Als Zusammensetzungsgrößen können verwendet werden: • die Stoffmengenkonzentration c (früher Molarität; mol · L−1 ) (↑ S. 52); • der Stoffmengenanteil x (früher Molenbruch) (↑ S. 48); • der Partialdruck (↑ S. 193) 6.4 Massenwirkungsgesetz – Gleichgewichtskonstante 183 Je nachdem, welche Zusammensetzungsgrößen in die Massenwirkungsgleichung eingesetzt werden, erhält die Gleichgewichtskonstante einen Index. Wird die Stoffmengenkonzentration c verwendet, so gilt: c(C) · c(D) = Kc c(A) · c(B) (6-2a) Werden die Stoffmengenanteile x verwendet, so gilt: x(C) · x(D) = Kx x(A) · x(B) (6-2b) Die auf die Zusammensetzungsgrößen bezogenen Gleichgewichtskonstanten werden auch konventionelle Gleichgewichtskonstanten genannt und von den thermodynamischen Gleichgewichtskonstanten (↑ S. 302) unterschieden. Für das Gleichgewicht Δ R H = −41 kJ · mol−1 CO + H2 O CO2 + H2 das sich bei der Konvertierung von Wassergas (↑ S. 401) einstellt, gilt die Massenwirkungsgleichung: x(CO2 ) · x(H2 ) = Kx x(CO) · x(H2 O) Wenn sich das Gleichgewicht, ausgehend von einem Kohlenstoffdioxid-Wasserdampf-Gemisch mit dem Stoffmengenverhältnis (und Volumenverhältnis) 1:1, eingestellt hat, so liegen bei 800 K neben je 1 mol der Ausgangsstoffe je 2 mol der Reaktionsprodukte vor (siehe Bild 6-4): Ausgangszustand Gleichgewichtszustand 3 CO + 3 H2 O → CO + H2 O + 2 CO2 + 2 H2 Der Stoffmengenanteil des Wasserstoffs x(H2 ) beträgt im Gleichgewichtszustand: x(H2 ) = n(H2 ) ; ∑n x(H2 ) = 2 mol ; 6 mol x(H2 ) = 1 3 k ∑ n steht hier für die Summe der Stoffmengen aller Komponenten, wofür exakter zu schreiben ist ∑ ni i=1 A G 3 CO + 3 H2O 1 CO + 1 H2O + 2 CO2 + 2 H2 CO H2O CO2 H2 Bild 6-4: Gleichgewicht der Wassergaskonvertierung; Ausgangszustand A und Gleichgewichtszustand G bei 800 K (Gleichgewichtskonstante K = 4) 184 6 Chemisches Gleichgewicht und Massenwirkungsgesetz Werden die Stoffmengenanteile aller Komponenten des Wassergasgemischs im Gleichgewichtszustand in die Massenwirkungsgleichung eingesetzt, so ergibt sich (für 800 K) die Gleichgewichtskonstante Kx : Kx = 1 3 1 6 · 13 ; · 16 Kx = 4 Die vorstehenden Ausführungen gelten für Reaktionen vom Typ A + B C + D. Für beliebige Reaktionen ν A A + ν B B ... ν M M + ν N N ... gilt bei Verwendung der Beträge der Stöchiometriezahlen |ν | K= |ν | |ν | |ν | xA A |ν | xB B xMM · xN N · . . . · · ... (6-3) beziehungsweise |ν | K= ∏ xi,Ei |ν | ∏ xi,Ai (6-3a) i,E steht für alle Endprodukte, i,A für alle Ausgangsstoffe. Bei Verwendung vorzeichenbehafteter Stöchiometriezahlen ν vereinfacht sich die Gleichung (6-3a) zu: K = ∏ xiν i (6-4) Die Formeln (6-3a) und (6-4) werden im Folgenden nicht angewandt. Sie können aber den Einstieg in weiterführende Literatur erleichtern. Die Gleichgewichtskonstante K hat für jede chemische Reaktion einen anderen Wert. Die Werte der Gleichgewichtskonstanten lassen sich aufgrund experimentell gewonnener Daten berechnen. Sie sind für manche Reaktionen in Tabellenbüchern zusammengestellt 1) und lassen sich aus den molaren freien Standardreaktionsenthalpien Δ R G (↑ S. 302) und den Standardzellspannungen U (↑ S. 346) berechnen. Da die Zusammensetzungsgrößen (c, x, p) der Reaktionsprodukte in den Massenwirkungsgleichungen im Zähler stehen und die Zusammensetzungsgrößen der Ausgangsstoffe im Nenner, gilt folgendes 2) : • Je größer die Gleichgewichtskonstante K, um so mehr überwiegen im Gleichgewichtszustand die Reaktionsprodukte. • Je kleiner die Gleichgewichtskonstante K, um so mehr überwiegen im Gleichgewichtszustand die Ausgangsstoffe. 1) 2) Literatur: [15], [17] Zu beachten ist: Es gibt ältere Literatur, in der bei den Massenwirkungsgleichungen die Ausgangsstoffe im Zähler und die Reaktionsprodukte im Nenner erscheinen. In diesem Falle erhält die Gleichgewichtskonstante K den reziproken Wert. 6.4 Massenwirkungsgesetz – Gleichgewichtskonstante 185 Für Reaktionen vom Typ A+BC+D und alle anderen Reaktionen, bei denen die Summe der Stoffmengen der Reaktionsprodukte gleich der Summe der Stoffmengen der Ausgangsstoffe ist, sich also die Summe der Stöchiometriezahlen nicht ändert (Beispiel: Gleichgewicht der Wassergaskonvertierung (↑ S. 183)), gilt für den Gleichgewichtszustand: K > 1 Reaktionsprodukte überwiegen K = 1 gleiche Anteile von Reaktionsprodukten und Ausgangsstoffen K < 1 Ausgangsstoffe überwiegen Die Gleichgewichtskonstante K einer chemischen Reaktion hat bei jeder Temperatur einen anderen Zahlenwert. Darin kommt zum Ausdruck, dass bei jeder Temperatur eine andere Gleichgewichtslage besteht. Die Gleichgewichtskonstante K wird mit zunehmender Temperatur • bei exothermen Reaktionen kleiner (Beispiel 1), • bei endothermen Reaktionen größer (Beispiel 2). Das entspricht der Aussage des Prinzips des kleinsten Zwanges (↑ S. 176), wonach mit steigender Temperatur • bei exothermen Reaktionen der Anteil der Ausgangsstoffe, • bei endothermen Reaktionen der Anteil der Reaktionsprodukte größer wird. Beispiel 1: Bei der Konvertierung von Wassergas Δ R H = −41 kJ · mol−1 CO + H2 O CO2 + H2 verläuft die Hinreaktion exotherm. Die Gleichgewichtskonstante K x x(CO2 ) · x(H2 ) = Kx x(CO) · x(H2 O) wird mit zunehmender Temperatur kleiner: T 300 K t ◦ 400 K 27 C 127 C 327 C 527 C 727 C 1727 ◦ C Kx 8700 1670 24,2 4,05 1,39 0,20 ◦ 600 K ◦ 800 K ◦ 1000 K ◦ 2000 K Beispiel 2: Die Synthese von Stickstoffmonoxid aus den Elementsubstanzen N2 + O2 2 NO Δ R H = 180 kJ · mol−1 verläuft endotherm. Die Gleichgewichtskonstante K x x2 (NO) = Kx x(N2 ) · x(O2 ) wird in diesem Falle mit zunehmender Temperatur größer: T 1000 K 2000 K 3000 K 4000 K t 727 ◦ C 1727 ◦ C 2727 ◦ C 3727 ◦ C Kx 6,8 · 10−9 4,6 · 10−4 1,7 · 10−2 8,3 · 10−2 Infolge der sehr ungünstigen Gleichgewichtslage wäre eine technische Gewinnung von Stickstoffmonoxid aus der Luft (Luftverbrennung nach B IRKELAND -E YDE) erst bei sehr hohen Temperaturen und mit sehr hohem Energieaufwand möglich, was sich als unwirtschaftlich erwiesen hat. 186 6 Chemisches Gleichgewicht und Massenwirkungsgesetz 6.4.2 Kinetische Ableitung des Massenwirkungsgesetzes Von der kinetischen 1) Gastheorie ausgehend, lässt sich für das Massenwirkungsgesetz eine vereinfachte, anschauliche Ableitung geben. Die kinetische Gastheorie führt den Ablauf chemischer Reaktionen auf die Bewegungsenergie (kinetische Energie) der Moleküle zurück. Zwischen den in ständiger Bewegung befindlichen Gasmolekülen kommt es ständig zu Zusammenstößen. Zusammenstöße von hinreichender Heftigkeit – die Aktivierungsenergie (↑ S. 180) muss überschritten werden – führen zu einer Umsetzung zwischen den beteiligten Molekülen. Da gleichzeitige Zusammenstöße von drei oder mehr Molekülen sehr selten sind, gelten diese Überlegungen nur für Reaktionen vom Typ: Hinreaktion − → A+B− ← −− −− −− −− −− −− − −C+D (6-5) Rückreaktion und unter der Voraussetzung, dass sowohl die Hinreaktion als auch die Rückreaktion in einem Schritt erfolgen. Eine allgemein gültige, exakte Ableitung des Massenwirkungsgesetzes ist nur von der chemischen Thermodynamik her möglich ↑ S. 292 und 302. Für Reaktionen vom Typ A + B C + D gilt: Die Wahrscheinlichkeit eines Zusammenstoßes zwischen einem Molekül des Stoffes A und einem Molekül des Stoffes B steigt sowohl mit der Konzentration des Stoffes A als auch mit der Konzentration des Stoffes B. Befinden sich in einem bestimmten Volumen nur ein Molekül A und ein Molekül B, so ist die Wahrscheinlichkeit eines Zusammenstoßes äußerst gering. Sie steigt auf das Zehnfache, wenn die Zahl der Moleküle des Stoffes A auf das Zehnfache erhöht wird. Sie steigt auf das Hundertfache, wenn auch die Zahl der Moleküle des Stoffes B auf das Zehnfache erhöht wird (Bild 6-5). A:B 1:1 1 Zusammenstoß A-B Molekül A Molekül B A:B 10 : 1 10 Zusammenstöße A-B A:B 10 : 10 100 Zusammenstöße A-B in der gleichen Zeit Bild 6-5: Die Wahrscheinlichkeit des Zusammenstoßes zweier Teilchen hängt von der Konzentration beider Teilchen ab. Mit der Zahl der Zusammenstöße A + B erhöht sich die Reaktionsgeschwindigkeit. Die Reaktionsgeschwindigkeit v steigt mit zunehmender Konzentration 1) der Reaktionspartner. 1) 1) kinein (grch.) bewegen Der Begriff Konzentration wird hier in einem allgemeineren Sinne verwendet als im Abschnitt Zusammensetzungsgrößen. (↑ 2.14) Den Berechnungen nach dem MWG können außer den Konzentrationsgrößen auch andere Zusammensetzungsgrößen zugrunde gelegt werden, wie in den vorangegangenen Beispielen die Stoffmengenanteile. Nach DIN 1310 (↑ S. 46) wäre daher von Gehalt zu sprechen, was aber im Zusammenhang mit dem Massenwirkungsgesetz kaum gebräuchlich ist. 6.4 Massenwirkungsgesetz – Kinetische Ableitung 187 Für die Geschwindigkeit der Hinreaktion v H gilt demnach: vH = kH · [A] · [B] (6-6) für die Geschwindigkeit der Rückreaktion: vR = kR · [C] · [D] (6-7) Die Reaktionsgeschwindigkeit ist also dem Produkt aus den Konzentrationen der Reaktionspartner proportional. Die Proportionalitätsfaktoren kH und kR werden als Geschwindigkeitskonstanten bezeichnet. Sie besitzen für jede Reaktion einen anderen Wert. Für eine bestimmte Reaktion steigt der Wert der Geschwindigkeitskonstante k mit zunehmender Temperatur. In der steigenden Temperatur kommt die zunehmende Bewegungsenergie der Moleküle zum Ausdruck, die zu einer größeren Anzahl und zu größerer Heftigkeit der Zusammenstöße und damit zu einer Erhöhung der Reaktionsgeschwindigkeit führt. Die Gleichungen (6-6) und (6-7) geben die Abhängigkeit der Reaktionsgeschwindigkeit v von den Konzentrationen der Reaktionspartner an. Genauer ausgedrückt: Sie geben die Reaktionsgeschwindigkeit als Funktion der Konzentrationen wieder. Solche Ausdrücke werden als Geschwindigkeitsgesetze (oder auch Zeitgesetze) bezeichnet. Zu beachten ist: Die Konzentration welcher Reaktionsteilnehmer in das Geschwindigkeitsgesetz einzusetzen ist, kann nicht aus den stöchiometrischen Gleichungen abgeleitet, sondern muss experimentell ermittelt werden. Unmittelbar nach Beginn einer chemischen Reaktion ist die Geschwindigkeit der Hinreaktion v H sehr viel größer (von anderer Größenordnung) als die Geschwindigkeit der Rückreaktion v R : vH vR Da durch die Hinreaktion die Konzentration der Stoffe A und B ständig abnimmt, verringert sich nach Gleichung (6-6) auch die Geschwindigkeit der Hinreaktion ständig. Gleichzeitig nimmt aber die Konzentration der Stoffe C und D ständig zu, sodass sich nach Gleichung (6-7) die Geschwindigkeit der Rückreaktion ständig erhöht. Die Geschwindigkeit der Gesamtreaktion v G , das heißt, die nach außen in Erscheinung tretende Reaktionsgeschwindigkeit, ergibt sich als Differenz aus der Geschwindigkeit der Hinreaktion und der Geschwindigkeit der Rückreaktion: vG = vH − vR (6-8) Sobald durch ständige Verringerung der Geschwindigkeit der Hinreaktion v H und ständige Erhöhung der Geschwindigkeit der Rückreaktion v R beide gleich geworden sind: vH = vR (6-9) nimmt die Geschwindigkeit der Gesamtreaktion nach Gleichung (6-8) den Wert null an: vG = 0 (6-10) 188 6 Chemisches Gleichgewicht und Massenwirkungsgesetz Die Umsetzung ist damit nach außen zum Stillstand gekommen, da Hinreaktion und Rückreaktion einander kompensieren. Damit ist der Gleichgewichtszustand erreicht. Die Konzentrationen der beteiligten Stoffe ändern sich nicht mehr. Durch Einsetzen der Gleichungen vH = kH · [A] · [B] und (6-6) vR = kR · [C] · [D] (6-7) vH = vR (6-9) in die Gleichung ergibt sich eine Beziehung zwischen den Konzentrationen der Ausgangsstoffe und den Konzentrationen der Reaktionsprodukte: kH · [A] · [B] = kR · [C] · [D] [C] · [D] kH = [A] · [B] kR (6-11) (6-11a) Der Quotient aus den Konstanten kH und kR ergibt die bereits aus Gleichung (6-2) (↑ S. 182) bekannte Gleichgewichtskonstante K: [C] · [D] =K [A] · [B] Durch diese kinetische Ableitung gelangt man zur Massenwirkungsgleichung der Reaktionen vom Typ A + B C + D. Auf Reaktionen anderen Typs lässt sich die kinetische Ableitung des Massenwirkungsgesetzes nur formal übertragen. Das Ammoniakgleichgewicht N2 + 3 H2 2 NH3 gehört zum Typ A + 3 B 2 C. Es wäre falsch, daraus zu schließen, für die Hinreaktion sei ein gleichzeitiger Zusammenstoß von vier Molekülen erforderlich. Derartige Reaktionen setzen sich aus Teilreaktionen zusammen. Um das Zustandekommen der Massenwirkungsgleichungen auch für solche Reaktionen verständlich zu machen, bei denen – wie im Ammoniakgleichgewicht – manche Reaktionsteilnehmer mit mehr als einem Molekül an dem Formelumsatz laut Reaktionsgleichung beteiligt sind, kann formal von folgender Vorstellung ausgegangen werden. Für eine Reaktion vom Typ A+B+CM+N+O würde die Massenwirkungsgleichung lauten [M] · [N] · [O] = K. [A] · [B] · [C] 6.4 Massenwirkungsgesetz – Grundbegriffe der chemischen Kinetik 189 Dabei soll angenommen werden, dass die Buchstaben A, B, C, M, N, O jeweils ein Molekül verschiedener Stoffe symbolisieren. Tritt nun an die Stelle des Moleküls des Stoffes C ein weiteres Molekül des Stoffes B und an die Stelle der Moleküle der Stoffe N und O je ein weiteres Molekül des Stoffes M, so ergibt sich eine Reaktion vom Typ A+B+BM+M+M bzw. A+2B3M Die Massenwirkungsgleichung für eine Reaktion von diesem Typ würde lauten: [M] · [M] · [M] =K [A] · [B] · [B] bzw. [M]3 = K. [A] · [B]2 Damit ist aber lediglich anschaulich erklärt, weshalb die Koeffizienten (Reaktionsstöchiometriezahlen) der Reaktionsgleichungen in den Massenwirkungsgleichungen als Exponenten der Zusammensetzungsgrößen auftreten. Es darf aus diesen Überlegungen nicht gefolgert werden, für die Hinreaktion und für die Rückreaktion sei jeweils der Zusammenstoß von drei Teilchen notwendig. Um das zu erklären, müssen zwei Grundbegriffe der chemischen Kinetik herangezogen werden, • die Molekularität und • die Reaktionsordnung. 6.4.3 Grundbegriffe der chemischen Kinetik Reaktionsgleichungen geben nur die Ausgangsstoffe und die Reaktionsprodukte einer chemischen Reaktion an. In der Regel verlaufen chemische Reaktionen über zahlreiche Zwischenstufen, die experimentell nur schwer zu erfassen sind. Die einzelnen Schritte werden Elementarreaktionen genannt, ihre Gesamtheit Reaktionsmechanismus. An der Erforschung von Reaktionsmechanismen wird ständig gearbeitet; für die meisten Reaktionen sind sie keineswegs völlig aufgeklärt. Die zu einem Reaktionsmechanismus gehörenden Elementarreaktionen verlaufen mit unterschiedlicher Reaktionsgeschwindigkeit. Dabei bestimmen die langsam verlaufenden Elementarreaktionen die Reaktionsgeschwindigkeit der Gesamtreaktion. Das alles ist Gegenstand der chemischen Kinetik 1) . Während die chemische Thermodynamik Aussagen darüber trifft, ob eine chemische Reaktion überhaupt freiwillig verlaufen kann, führt die chemische Kinetik zu Aussagen über die Reaktionsgeschwindigkeit dieser Reaktion, das heißt, letztlich darüber, ob die Reaktionsgeschwindigkeit für die praktische Durchführung der Reaktion hinreichend hoch ist (↑ S. 178). Die Molekularität gibt an, wie viele Teilchen miteinander reagieren, sie bezieht sich auf die Elementarreaktionen. Die weitaus meisten Elementarreaktionen sind bimolekular, das heißt, sie resultieren aus dem Zusammenstoß zweier Moleküle. Trimolekulare Reaktionen setzen den Zusammenstoß dreier Moleküle voraus. Sie sind selten und lassen sich zum Teil auf die rasche Aufeinanderfolge zweier bimolekularer Reaktionen zurückführen. 1) Weiterführende Literatur zur chemischen Kinetik: Atkins, P. W.: Kurzlehrbuch Physikalische Chemie. Weinheim: Wiley-VCH, 2001, Kapitel 10 Brdička, R.: Grundlagen der physikalischen Chemie. Berlin: Deutscher Verlag der Wissenschaften, 1985, Kapitel 9 Christen, H. R.; Meyer, G.: Grundlagen der Allgemeinen und Anorganischen Chemie. Frankfurt a. M.: Aarau, 1997, Kap. 14 Mortimer, Ch.: Das Basiswissen der Chemie. Stuttgart: Thieme, 2001, Kapitel 14 Schwabe, K.: Physikalische Chemie. Band 1. Berlin: Akademie-Verlag, 1973, Kapitel 22 bis 25 Schwetlick, K. u. a.: Chemische Kinetik. Lehrwerk Chemie. Lehrbuch 6. Leipzig: Deutscher Verlag für Grunstoffindustrie, 1985 190 6 Chemisches Gleichgewicht und Massenwirkungsgesetz Unimolekulare (monomolekulare) Reaktionen gibt es dagegen in beträchtlicher Anzahl. Es handelt sich dabei um Zerfallsreaktionen, für die kein Zusammenstoß von Molekülen vorauszusetzen ist. Das schließt nicht aus, dass Zusammenstöße von Molekülen auf solche Reaktionen aktivierend einwirken. Unimolekular ist der Zerfall von Ozonmolekülen: O3 → O2 + O Bimolekular ist die Bildung von Ozonmolekülen: O2 + O → 2 O2 Es gibt aber auch eine bimolekulare Reaktion, die zum Zerfall von Ozonmolekülen führt: O3 + O → 2 O2 Als trimolekular gilt die Vereinigung von Sauerstoffatomen zu Sauerstoffmolekülen, an der ein drittes Teilchen (z. B. ein Sauerstoffmolekül) beteiligt sein muss: O + O + O2 → 2 O2 Die Reaktionsordnung gibt an, mit welcher Potenz Konzentrationen von Reaktionspartnern nach dem Geschwindigkeitsgesetz auf die Reaktionsgeschwindigkeit Einfluss haben. Für jede Reaktionsordnung gilt ein anderes Geschwindigkeitsgesetz: • Reaktion erster Ordnung v = k · [A] • Reaktionen zweiter Ordnung v = k · [A] · [B] oder v = k · [A] • Reaktionen dritter Ordnung 2 v = k · [A] · [B] · [C] oder v = k · [A]2 · [B] oder v = k · [A]3 Für die Elementarreaktionen ergibt sich eine einfache Zuordnung: • Unimolekulare Reaktionen sind Reaktionen erster Ordnung. • Bimolekulare Reaktionen sind Reaktionen zweiter Ordnung. • Trimolekulare Reaktionen sind Reaktionen dritter Ordnung. Die Reaktionsordnung einer Gesamtreaktion, der ein Mechanismus von Elementarreaktionen zugrunde liegt, lässt sich nur experimentell ermitteln. • Reaktionen 1. Ordnung: Zerfall von Distickstoffpentaoxid 2 N2 O5 → 4 NO2 + O2 v = k · [N2 O5 ] Zerfall von Ethanal (Acetaldehyd) CH3 CHO → CH4 + CO v = k · [CH3 CHO] 6.5 Anwendung des Massenwirkungsgesetzes 191 • Reaktionen 2. Ordnung: Zerfall von Iodwasserstoff 2 HI → H2 + I2 v = k · [HI]2 Zerfall von Monoiodmethan mit Iodwasserstoff CH3 I + HI → CH4 + I2 v = k · [CH3 I] · [HI] • Reaktionen 3. Ordnung: Oxidation von Stickstoffmonoxid 2 NO + O2 → 2 NO2 v = k · [NO]2 · [O2 ] (Aus diesem Beispiel darf nicht gefolgert werden, es müssten jeweils drei Moleküle zusammenstoßen. Die Geschwindigkeitsgleichung drückt lediglich die experimentell ermittelte Abhängigkeit der Reaktionsgeschwindigkeit von den Konzentrationen aus.) Schließlich gibt es auch Reaktionen nullter Ordnung. Bei ihnen hat die Konzentration keinen Einfluss auf die Reaktionsgeschwindigkeit. Der katalytische Zerfall von Ammoniak an einem heißen Platinblech verläuft mit gleichbleibender Geschwindigkeit, solange Ammoniak vorhanden ist. Bei den vorstehenden Beispielen wurde von der vereinfachenden Annahme ausgegangen, die Reaktionen verliefen vollständig. Ist das nicht der Fall, können in den Geschwindigkeitsgleichungen auch gebrochene Exponenten auftreten. 6.5 Anwendung des Massenwirkungsgesetzes Das Massenwirkungsgesetz wird hier zunächst auf Molekülreaktionen angewandt. Die Anwendung auf Ionenreaktionen folgt im Kapitel 7 (↑ S. 219, 246, 255). Wie das Prinzip vom kleinsten Zwang (↑ S. 176) qualitative Aussagen zur Lage eines chemischen Gleichgewichts gestattet, so ermöglicht das Massenwirkungsgesetz quantitative Aussagen zur Lage eines chemischen Gleichgewichts. Dem liegen folgende Sachverhalte zugrunde: Die Gleichgewichtskonstante K bleibt konstant, wenn sich • die Zusammensetzung des Reaktionsgemischs und • bei Gasreaktionen der Druck (↑ S. 193) ändern. Dabei wird jeweils konstante Temperatur vorausgesetzt. Mittels der Gleichgewichtskonstanten kann darauf geschlossen werden, ob und unter welchen Bedingungen bestimmte chemische Reaktionen wirtschaftlich durchführbar sind. 192 6 Chemisches Gleichgewicht und Massenwirkungsgesetz 6.5.1 Änderung der Zusammensetzung des Reaktionsgemischs Wird in einem Reaktionsgemisch, das sich im Gleichgewichtszustand befindet, der Anteil eines Reaktionsteilnehmers verändert, so wird der Gleichgewichtszustand gestört. Der Quotient aus den Konzentrationen der Reaktionsprodukte und den Konzentrationen der Ausgangsstoffe (Gleichung (6-2) (↑ S. 182)) hat dann nicht mehr den Wert der Gleichgewichtskonstante: [C] · [D] = K. [A] · [B] Die Geschwindigkeiten der Hinreaktion und der Rückreaktion sind dann nicht mehr gleich. Die Gesamtreaktion kommt also wieder in Gang und läuft so lange, bis die Geschwindigkeiten der Hinreaktion und der Rückreaktion wieder gleich sind: vH = vR. Es hat sich dann ein neuer Gleichgewichtszustand eingestellt, der sich in seiner Lage von dem ursprünglichen Gleichgewichtszustand unterscheidet. Vom Standpunkt des Massenwirkungsgesetzes betrachtet, gilt dafür folgende Aussage: Wird der Stoffmengenanteil (Molenbruch) eines Reaktionsteilnehmers verändert, so wird das Gleichgewicht derart verschoben, dass der Quotient aus • dem Produkt der Stoffmengenanteile der Endprodukte und • dem Produkt der Stoffmengenanteile der Ausgangsstoffe wieder den Wert der Gleichgewichtskonstante K annimmt. Wird bei der Konvertierung von Wassergas der Anteil des Wasserdampfs erhöht, so wird der Gleichgewichtszustand gestört. In der Massenwirkungsgleichung x(CO2 ) · x(H2 ) = Kx x(CO) · x(H2 O) erhält der Nenner durch die Erhöhung des Anteils des Wasserdampfs vorübergehend einen höheren Wert. Dadurch wird der Wert des Quotienten kleiner als K x . Der Wert der Gleichgewichtskonstante K x kann nur dadurch wieder erreicht werden, dass sich Ausgangsstoffe (im Beispiel: CO und H2 O) weiter zu Reaktionsprodukten (im Beispiel: CO2 und H2 ) umsetzen (siehe Bild 6-4 (↑ S. 183)). Dadurch wird der Nenner kleiner und der Zähler größer, sodass der Wert des Quotienten steigt. Sobald er den Wert der Gleichgewichtskonstante K x erreicht hat, kommt die Gesamtreaktion wieder zum Stillstand. Es ist ein neuer Gleichgewichtszustand erreicht, der weiter in Richtung der Reaktionsprodukte liegt als der ursprüngliche. Da es bei dem als Beispiel gewählten technischen Verfahren um eine hohe Ausbeute an Wasserstoff geht, wird mit einem Überschuss an Wasserdampf gearbeitet. Es ist aber zu beachten: Der prozentuale Anteil der Reaktionsprodukte an dem im Gleichgewichtszustand vorliegenden Reaktionsgemisch ist stets dann am größten, wenn die Ausgangsstoffe im stöchiometrischen Verhältnis eingesetzt werden. Wird ein Ausgangsstoff – gegenüber dem stöchiometrischen Verhältnis – im Überschuss eingesetzt, so wird das Gesamtvolumen des Reaktionsgemischs größer. Das stöchiometrische Gemisch (im Beispiel: 1 mol H2 O pro 1 mol CO) wird also durch den Überschuss des einen Ausgangsstoffes gewissermaßen verdünnt. 6.5 Anwendung des Massenwirkungsgesetzes 193 Im Gleichgewicht der Wassergaskonvertierung liegen die Reaktionspartner im Gleichgewichtszustand (bei 800 K) in Abhängigkeit von der Zusammensetzung des Ausgangsgemischs in folgenden unterschiedlichen Stoffmengenanteilen x vor: Ausgangsstoffe CO und H2 O im Stoffmengenverhältnis 1:1 (stöchiometrisches Verhältnis) x(CO) = 0,167 x(H2 O) = 0,167 x(CO2 ) = 0,333 x(H2 ) = 0,333 Ausgangsstoffe CO und H2 O im Stoffmengenverhältnis 1:2 (Wasserdampf im Überschuss) x(CO) =0,1053 x(H2 O) = 0,2481 x(CO2 ) = 0,3233 x(H2 ) = 0,3233 ∑x ∑x = 1,000 = 1,000 Der Überschuss an Wasserdampf hat also zur Folge, dass im Gleichgewichtszustand der Anteil des nicht umgesetzten Kohlenstoffmonoxids wesentlich geringer ist als beim stöchiometrischen Verhältnis der Ausgangsstoffe, und auf dessen weitgehende Umsetzung unter Bildung von Wasserstoff kommt es hier an. Vergleichen wir nicht die Stoffmengenanteile, sondern die Volumina, so ergibt sich folgendes: Bei Einsatz der gleichen Menge von 100 m3 des wertvollen Zwischenprodukts Kohlenstoffmonoxid liegen im Gleichgewichtszustand, der allerdings technisch nicht erreicht wird, vor: beim stöchiometrischen Verhältnis (1:1) beim Überschuss von Wasserdampf (1:2) in 300 m3 Reaktionsgemisch in 200 m3 Reaktionsgemisch 66,67 m3 Wasserstoff 97,0 m3 Wasserstoff Die Ausbeute an Wasserstoff wird also erhöht, wobei allerdings zugleich größere Gasmengen technisch zu bewältigen sind. 6.5.2 Änderung der Partialdrücke Zwischen Druck und Stoffmengenanteil besteht ein Zusammenhang, der sich für Gasreaktionen sehr leicht erfassen lässt. Dabei ist vom D ALTON’schen Gesetz (1801) (↑ S. 63) auszugehen: Der Gesamtdruck eines Gasgemischs ist die Summe der Partialdrücke (Teildrücke) der einzelnen Gase. Der Partialdruck eines Gases ist der Druck, der herrschen würde, wenn sich dieses Gas allein in dem betrachteten Gefäß befände. In einem Gasgemisch sind die Partialdrücke der einzelnen Gase der Anzahl der Moleküle proportional, mit der diese Gase in einem bestimmten Volumen enthalten sind. Damit entspricht der Partialdruck eines Gases dem Teilchenzahlanteil X (↑ S. 48) und ist zugleich ein Maß für dessen Stoffmengenanteil x (↑ S. 48). Die Partialdrücke können daher anstelle der Stoffmengenanteile in die Massenwirkungsgleichung (6-2b) (↑ S. 183) eingesetzt werden. Der Quotient aus dem Produkt der Partialdrücke der Reaktionsprodukte und dem Produkt der Partialdrücke der Ausgangsstoffe ergibt die Gleichgewichtskonstante, die in diesem Falle mit K p bezeichnet wird: p(C) · p(D) = Kp p(A) · p(B) (6-2c) 194 6 Chemisches Gleichgewicht und Massenwirkungsgesetz Für die Konvertierung des Wassergases gilt dann: p(CO2 ) · p(H2 ) = Kp p(CO) · p(H2 O) Wird der Druck auf das Doppelte erhöht, so steigen auch die Partialdrücke auf das Doppelte: 2p(CO2 ) · 2p(H2 ) = Kp 2p(CO) · 2p(H2 O) Der Wert des Quotienten ändert sich dabei nicht. Die Druckerhöhung hat also in diesem Falle keinen Einfluss auf die Lage des Gleichgewichts. Was an diesem Beispiel gezeigt wurde, gilt allgemein: Bei Gleichgewichtsreaktionen, die ohne Änderung des Gesamtvolumens ablaufen, hat der Druck keinen Einfluss auf die Lage des Gleichgewichts. Das ist bei allen Gasreaktionen der Fall, bei denen die Summe der Stöchiometriezahlen der Reaktionsgleichung gleich null ist: ∑ ν i = 0. Bei dieser Summenbildung haben die Stöchiometriezahlen der Reaktionsprodukte positives, die der Ausgangsstoffe negatives Vorzeichen. Für die Konvertierung von Wassergas CO + H2 O CO2 + H2 ist die Summe der Stöchiometriezahlen ∑ ν = ν (CO) + ν (H2O) + ν (CO2) + ν (H2) ∑ ν = (−1) + (−1) + (+1) + (+1) ∑ν = 0 Bei so einfachen Gleichgewichtsreaktionen ist schon anhand der Reaktionsgleichung überschaubar, dass keine Volumenänderung eintritt. Andere Gleichgewichtsreaktionen verlaufen unter Änderung des Gesamtvolumens: Bei Gleichgewichtsreaktionen, die mit einer Änderung des Gesamtvolumens einher gehen, wird mit jeder Änderung des Drucks die Lage des Gleichgewichts verschoben. Bei der Ammoniaksynthese entstehen aus 4 mol Ausgangsstoffen jeweils 2 mol Reaktionsprodukte: N2 + 3 H2 2 NH3 Da 1 mol jedes Gases unter gleichen Bedingungen (näherungsweise) das gleiche Volumen einnimmt, würde sich also das Volumen bei vollständiger Umsetzung zu Ammoniak auf die Hälfte verringern. Die Summe der Stöchiometriezahlen ist: ∑ ν = ν (N2) + ν (H2) + ν (NH3) ∑ ν = (−1) + (−3) + (+2) ∑ ν = −2 Ist die Summe der Stöchiometriezahlen einer Gasreaktion positiv, kommt es zu einer Volumenzunahme. Ist diese Summe negativ, kommt es zu einer Volumenabnahme. 6.5 Anwendung des Massenwirkungsgesetzes 195 Qualitativ lässt sich die Richtung, in der ein solches Gleichgewicht bei Druckveränderung verschoben wird, aus dem Prinzip des kleinsten Zwanges (↑ S. 177) ableiten. Quantitativ geschieht das über die Massenwirkungsgleichung. Für das Ammoniakgleichgewicht gilt: p2 (NH3 ) = Kp p(N2 ) · p3 (H2 ) Wird der Gesamtdruck auf das Doppelte erhöht, erhöhen sich auch alle Partialdrücke auf das Doppelte: [2 p(NH3 )]2 1 = Kp [2 p(N2 ) · [2 p(H2 )]3 4 Der Quotient hat damit nur noch ein Viertel des Wertes der Gleichgewichtskonstante. Was hier an einem Beispiel gezeigt wurde, gilt allgemein: Bei Gleichgewichtsreaktionen, die unter Änderung des Gesamtvolumens verlaufen, ändert sich mit jeder Druckänderung der Wert des Quotienten aus dem Produkt der Partialdrücke der Reaktionsprodukte und dem Produkt der Partialdrücke der Ausgangsstoffe. Das System befindet sich dadurch nicht mehr im Gleichgewicht. Es stellt sich dann ein neuer Gleichgewichtszustand ein, wobei sich die Partialdrücke der Reaktionsteilnehmer so verändern, dass der Quotient wieder den Wert der Gleichgewichtskonstante K p annimmt. Diese Veränderung der Partialdrücke spiegelt eine Veränderung der Stoffmengenanteile der Reaktionsteilnehmer am Reaktionsgemisch wider, das heißt eine Verschiebung der Lage des Gleichgewichts: Wird der Wert des Quotienten durch die Druckänderung • kleiner als K p , so wird das Gleichgewicht in Richtung der Reaktionsprodukte verschoben, deren Partialdrücke im Zähler stehen, • größer als K p , so wird das Gleichgewicht in Richtung der Ausgangsstoffe verschoben, deren Partialdrücke im Nenner stehen. Im Ammoniakgleichgewicht wird nach einer Druckerhöhung (voriges Beispiel) der Wert für K p wieder erreicht, indem sich der (im Zähler stehende) Partialdruck des Ammoniaks erhöht. Druckerhöhung verschiebt also die Lage des Gleichgewichts in Richtung des Reaktionsproduktes Ammoniak. Umgekehrt würde bei Gleichgewichtsreaktionen, die unter Zunahme des Gesamtvolumens verlaufen, die Druckerhöhung den Quotienten größer als K p werden lassen. Es würde sich ein neuer Gleichgewichtszustand einstellen, indem sich die (im Nenner stehenden) Partialdrücke der Ausgangsstoffe erhöhen. Deshalb kommt bei der technischen Durchführung solcher Gleichgewichtsreaktionen eine Druckerhöhung nicht in Betracht. Die auf die Partialdrücke bezogene Gleichgewichtskonstante K p hat für Gasreaktionen mit Volumenänderung einen anderen Zahlenwert als die auf die Stoffmengenanteile bezogene Gleichgewichtskonstante K x . Zwischen den beiden Konstanten bestehen folgende Beziehungen: ∑ ν (6-12) und Kp = Kx · pp t Kx = Kp · − ∑ ν p pt Der Quotient p/pt ist als Druckfaktor (↑ S. 299) bekannt, pt ist der Druck, für den K x tabelliert ist. (6-12a) 196 6 Chemisches Gleichgewicht und Massenwirkungsgesetz Beim Ammoniakgleichgewicht (↑ S. 194) ist ∑ν = −2. In Gleichung (6-12a) eingesetzt, ergibt das: 2 p Kx = Kp · pt Danach erhöht sich K x auf das Vierfache, wenn der Druck p verdoppelt wird. Das bestätigt die Aussage, dass Druckerhöhungen zu einer Verschiebung des Gleichgewichts in Richtung der Ammoniakbildung (↑ S. 177) führen. Die Anwendung des Massenwirkungsgesetzes auf Ionenreaktionen erfolgt im Kapitel 7 für • die Säure-Base-Reaktionen (↑ S. 219), • die Lösungs- und Fällungsreaktionen (↑ S. 246) und • die Komplexreaktionen (↑ S. 255).