v••·•P''' ZUR FORTBILDUNG Radiojodtherapie Indikation, Durchführung und Risiken Christoph Reiners or fünfzig Jahren haben Hertz et al. die erste Radiojodtherapie in den USA durchgeführt. Seitdem sind weltweit mehrere Millionen Schilddrüsen-Patienten erfolgreich mit dieser Methode behandelt worden. 1-131 (Halbwertzeit 8 d) emittiert Betastrahlung mit Energien von etwa 610 und 810 KeV, die in Gewebe eine mittlere Reichweite von nur 0,5 mm aufweist. 95 Prozent des Therapieeffektes der Radiojodtherapie beruhen auf der Wirkung dieser Betastrahlung, während die restlichen fünf Prozent der Gammastrahlung von I-131 zugeschrieben werden. Diese durchdringende Gammastrahlung hat eine Energie von 360 KeV und eine mittlere Reichweite in Gewebe von 6,3 cm; sie läßt sich im Gegensatz zur Betastrahlung gut von der Körperoberfläche aus nachweisen. V Indikationen Kontraindikationen Die Radiojodtherapie hat ihre Indikationen bei der Behandlung gut- und bösartiger Schilddrüsenerkrankungen (Tabelle 1). Unter den gutartigen Krankheiten ist zunächst die in der Regel chronisch rezidivierend verlaufende immunogene Hyperthyreose vom Typ des M. Basedow zu nennen. Während in den USA etwa 85 Prozent der Patienten mit dieser Form der Schilddrüsenüberfunktion frühzeitig mit Radiojod behandelt werden, beträgt der Anteil radiojodbehandelter Patienten in Buropa nur etwa 35 Prozent, wobei die Indikation meist erst nach längerdauernder (erfolgloser) thyreostatischer Vorbehandlung gestellt wird. Der großzügige Einsatz der Radiojodtherapie in den USA beruht in erster Linie auf den dort sehr liberalen Strahlenschutzbestimmungen A1-2996 Die Radiojodtherapie stellt bei der Behandlung der Basedow-Hyperthyreose und der funktionellen Autonomie der Schilddrüse eine nebenwirkungs- und risikoarme Alternative zur Operation dar. Sie sollte häufiger eingesetzt werden; dabei sind beim M. Basedow höhere Energiedosen im Zielvolumen anzusetzen als bisher allgemein üblich. Die Nebenwirkungen beschränken sich auf eine gelegentlich auftretende, harmlose Strahlenthyreoiditis. Die Radiojodtherapie des Schilddrüsenkarzinoms trägt nach der Thyreoidektomie dazu bei, daß rund 80 Prozent oller differenzierten popillären und follikulären Karzinome heilbar sind. (Aktivitäten bis zu ein GBq 1-131 können ambulant verabreicht werden). Demgegenüber behindern in der Bundesrepublik Deutschland die hier besonders strengen Auflagen des Strahlenschutzes und die beschränkte Verfügbarkeit von Therapiebetten eine der klinischen Bedeutung der Radiojodtherapie adäquate Indikationsstellung. Häufiger als die immunogene Form der Hyperthyreose ist im deutschen Jodmangelgebiet die funktionelle Autonomie. Besonders vorteilhaft kann die 1-131-Therapie bei den multifokalen und disseminierten Formen der funktionellen Autonomie sein. In Anbetracht der beschränkten Kapazität an Therapiebetten werden Klinik und Poliklinik für Nuklearmedizin (Direktor: Prof. Dr. med . Christoph Reiners} der Universität - Gesamthochschule Essen ( 44) Deutsches Ärzteblatt 90, Heft 45, 12. November 1993 in der Regel Patienten mit hyperthyreoter Stoffwechsellage bevorzugt behandelt; gelegentlich findet die Radiojodtherapie aber auch bei (noch) euthyreoter funktioneller Autonomie Anwendung. Als besonders "therapiewürdig" sind in diesem Zusammenhang ältere Patienten mit tachykarden Herzrhythmusstörungen zu nennen. Ein anderer Ansatz zur Indikationsstellung geht von der Masse funktionell autonomen Gewebes aus: bei einem "Autonomie-Volumen" von mehr als etwa 10 ml wird die I-131-Therapie auch bei euthyreoter Stoffwechsellage empfohlen. Bei älteren Patienten mit nicht zu großer euthyreoter Struma kann die Radiojodtherapie auch ohne Vorliegen einer funktionellen Autonomie zur Strumaverkleinerung zum Beispiel dann indiziert sein, wenn Kontraindikationen gegen eine Strumaresektion vorliegen. Wie oben bereits erwähnt, werden aber bei der bestehenden Bettenknappheit meist zunächst hyperthyreote Patienten der Radiojodtherapie zugeführt. Bei den malignen Schilddrüsenerkrankungen folgt die Radiojodtherapie beim follikulären Karzinom unabhängig vom Tumorstadium obligat der Thyreoidektomie. Lediglich beim papillären Karzinom kann im Stadium pT1 auf eine I-131-Therapie verzichtet werden. Fakultative Indikationen für die Radiojodtherapie können sich unter Umständen bei den primär nicht radiojodspeichernden Karzinomtypen ergeben (onkozytäres, medulläres, anaplastisches Karzinom), wenn Hinweise auf papillär oder follikulär differenzierte und damit möglicherweise I-131 aufnehmende Tumoranteile vorliegen. ~ Eine absolute Kontraindikation für die Radiojodtherapie stellt die Gravidität dar. Vor der therapeutischen 1-131-Applikation muß eine ZUR FORTBILDUNG Schwangerschaft wegen der hohen Strahlenbelastung des Feten, die insbesondere nach Beginn der Schilddrüsenanlage in der zwölften Woche zum Tragen kommt, sicher ausgeschlossen werden. ..,_. Relative Kontraindikationen sind bei den gutartigen Schilddrüsenkrankheiten große Strumen (insbesondere mit ausgeprägter Trachealeinengung) und kalte Knoten (Malignomverdacht!). Kontraindikationen sind im Gegensatz zum früher praktizierten Vorgehen vom Lebensalter des Patienten nicht ableitbar. Beim Schilddrüsenkarzinom gibt es außer dem rasch progredient verlaufenden anaplastischen Karzinom, bei dem ohne Zeitverzögerung eine perkutane Bestrahlung durchgeführt werden sollte, keine speziellen Kontraindikationen. Medikamentöse Vorbehandlung Bei hyperthyreoter Stoffwechsellage ist in sehr leichten Fällen eine Vorbehandlung vor der Radiojodtherapie nicht erforderlich. Milde Verlaufsformen der Hyperthyreose können vor der I-131-Therapie mit Propranolol symptomatisch behandelt werden, während bei allen ausgeprägtereD Formen der Hyperthyreose eine thyreostatische Vorbehand- Tabelle 1: Radiojodtherapie der Schilddrüse: Indikationen benigne ..... ..... funktionelle Autonomie ..... ..... ..... maligne große Struma: - ohne mechanische Symptome - mit Trachealstenose ..... großer Rest ..... ..... Ar2998 Hyperthyreose: - leicht -mild - schwerer fokale Autonomie: - "kompensiert" (nach Zweiteingriff) Metastasen zerebral, spinal Jodkontamination hyper-/euthyreot (fokal!disseminiert) maligne ..... endemische Struma euthyreot ..... follikuläres Karzinom ..... papilläres Karzinom > pT2 ..... papilläres Karzinom pT1 ..... onkozytäres Karzinom Indikation obligat Indikation fakultativ C-Zell-Karzinom anaplastisches Karzinom Jung als Monotherapie mit Thiamazol eingeleitet werden sollte (Tabelle 2). Im Gegensatz zu früheren Empfehlungen braucht eine niedrig dosierte Thiamazol-Therapie (maximal 20 mg/d) vor der Radiojodtherapie wegen der allenfalls geringen Beeinflussung der I-131-Kinetik nicht abgesetzt zu werden. Bei der funktionellen Autonomie in Form des sogenannten "kompensierten autonomen Adenoms" muß das nicht supprimierte perinoduläre Schildrüsengewebe vor der Radiojodtherapie durch Gabe von Schilddrüsenhormonen blockiert werden. Hierzu eignen sich die Verordnung von 80 bis 100 f.tg/d Liothyronin über eine Woche oder 150 f.tg/d Tabelle 2: Radiojodtherapie der Schilddrüse: Medikamentöse Vorbehandlung benigne hyperthyreot Morbus Basedow keine Vorbehandlung Propranolol (60-120 mg/d) Thiamazol (10-20 mg/d) 1 Woche 4-6 Wochen T3 (100 f.tg/d) T4 (150 !J.g/d) Nifluminsäure (1000 mg/d) Dexamethason (2-8 mg/d) Nifluminsäure (1000 mg/d) Dexamethason (2-8 mg/d) eventuell bovines TSH (2 X 2,5 E i. m.) (46) Deutsches Ärzteblatt 90, Heft 45, 12. November 1993 Lovethyroxin über vier bis sechs Wochen. Große Strumen können nach therapeutischer Applikation von I -131 mechanische Komplikationen infolge einer nicht selten auch schmerzhaften Strahlen-Thyreoiditis verursachen. Zur Vorbeugung bietet sich hier die Verordnung von zum Beispiel Nifluminsäure in einer Dosierung von 1000 mg/d an. Bei bereits bestehender Trachealstenose sollte auf die wirksamere Stereid-Medikation zurückgegriffen werden (zum Beispiel Dexamethason zwei bis acht mg/d). Zur Linderung der Beschwerden infolge der radiogenen Thyreoiditis sollte auch bei der Karzinomtherapie ein nichtsteroidales Antiphlogistikum eingesetzt werden, wenn große Schilddrüsenreste bei der vorangegangenen Operation in situ verblieben sind. Kortikoide sind indiziert, wenn zerebrale oder spinale Metastasen vorliegen, die - ohne Vorbehandlung- unter der I-131-Therapie zu Kompressions-Symptomen führen können. Zur Vermeidung einer radiogenen Gastritis bei der oralen Verabreichung höherer I -131-Aktivitäten (mehr als etwa 3 GBq) sollten begleitend Schleimhautschutzmittel und eventuell auch H2-Blocker eingesetzt werden. Für eine rasche renale und intestinale Ausscheidung des nicht im Schilddrüsen- oder Tumorgewebe gespeicherten I-131 muß gesorgt werden. Hier sind häufig Laxanzien indiziert; zur Anregung der Diurese genügt in der Regel eine ausreichende Flüssigkeitszufuhr. ..,_. v••·•a••t ZUR FORTBILDUNG In Fällen einer möglichen Blockierung des I-131-Uptakes in Restschilddrüsen- oder Karzinom-Gewebe durch eine vorangegangene Jodkontamination (zum Beispiel durch Röntgen-Kontrastmittel) kann ein Versuch der Stimulation der Jodaufnahme durch Verabreichung von bovinem TSH (2 x 2,5 E i.m.) unternommen werden. Tabelle 3: Radiojodtherapie der Schilddrüse: Dosisermiltlung benigne I Ar3000 Volumen 24h-Uptake 1-131-Test: I HWZeff empirisch: (ggf. u. Vorbehandlung, ca. 1 Woche vor Therapie) · (Morbus Basedow (fokale Autonomie (euthyreote Struma L Aktivitätsbemessung Bei den gutartigen Schilddrüsenkrankheiten wird in Europa die individuelle Aktivitätsbemessung unter Berücksichtigung patientenspezifischer Parameter wie Schilddrüsenbeziehungsweise Autonomie-Volumen, maximale Speicherung und effektive Halbwertzeit des I-131 bevorzugt. Zur Ermittlung dieser Kenngrößen sind eine Sonographie und ein Radiojodtest möglichst unmittelbar vor der Radiojodtherapie durchzuführen (Tabelle 3). Die Medikation niedrig dosierter Thyreostatika kann während des Tests fortgesetzt werden; bei der "kompensierten" funktionellen Autonomie sind Test und Therapie unter Levothyroxin-Suppression durchzuführen. Für die fokale Autonomie strebt man bei der Aktivitätsbemessung Dosen im Zielvolumen, also in den funktionell autonomen Herden, im Bereich von 300 bis 400 Gy an. Für die disseminierte Autonomie wird eine Energiedosis von etwa 150 Gy, hier bezogen auf die gesamte Schilddrüse, angesetzt. Bei dieser Verfahrensweise kann davon ausgegangen werden, daß die funktionelle Autonomie in etwa 80 Prozent der Fälle dauerhaft beseitigt wird. Bei etwa 15 Prozent der Patienten wird eine Wiederholung der Behandlung, mit der mindestens acht Wochen abgewartet werden soll, erforderlich. Nur etwa fünf Prozent der Patienten mit funktioneller Autonomie geraten nach der I-131-Therapie in die Hypothyreose. Bei der Basedow-Hyperthyreose setzt man heute deutlich höhere Schilddrüsen-Dosen an als noch vor wenigen Jahren. Es hat sich gezeigt, daß bei Dosen kleiner als 100 Gy in fast der Hälfte der Fälle Wiederho- Sonographie: individuelle Aktivitätsbemessung: - fokale Autonomie - disseminierte Autonomie - Morbus Basedow - euthyreote Struma maligne 1-131-Test: I 24h-Uptake ~Reopemtion? c: - Restelimination - Metastasentherapie (48) Deutsches Ärzteblatt 90, Heft 45 , 12. November 1993 Gy Gy Gy Gy (3-4 Wochen postoperativ) Standardaktivitäten: -Ablation lungen der I-131-Behandlung erforderlich werden. Deshalb strebt man besser gleich 150 bis 200 Gy als Zieldosis an. Hierbei ist in etwa 80 Prozent der Fälle mit einer dauerhaften Beseitigung der Hyperthyreose zu rechnen; die Hypothyreose wird dabei heute nicht mehr als Ausdruck der "Übertherapie" bewertet. 15 Prozent bis 20 Prozent der Patienten bedürfen einer erneuten I-131-Behandlung. Für die euthyreote Struma werden in der Regel 150 Gy als Zieldosis angesetzt. Hiermit sind Volumenreduktionen der Schilddrüse um etwa 30 Prozent zu erreichen. In der gleichen Größenordnung liegen die Volumenabnahmen bei funktionell autonomen und Basedow-Strumen. Beim Schilddrüsen-Karzinom ist eine individuelle, dosisorientierte Aktivitätsbemessung wegen der großen Variabilität der Einflußgrößen nicht möglich. Insbesondere bei der Ablationstherapie unmittelbar nach der Operation finden sich in Abhängigkeit von der Radikalität des Eingriffes stark unterschiedliche Volu- 300-400 150 150-200 150 4d) 5d) 6d) Uptake: >10% Aktivität: 5-10% <5 % 1 GBq 3 GBq 3-6 GBq 6-10 GBq mina der Schildrüsen- beziehungsweise Tumor-Reste. Deshalb ist statt des Anstrebens von Zieldosen, die für die Ablation in der Größenordnung von 300 Gy liegen, ein pragmatisches Vorgehen vorzuziehen. Wir führen etwa drei Wochen nach der (fast) vollständigen Thyreoidektomie einen Radiojodtest . durch und bestimmen den 24h-Uptake-Wert. Liegt dieser unterhalb von fünf Prozent, so können 3 GBq I-131 auf einmal verabreicht werden, die in der Regel zur Ablation ausreichen. Bei Speicherwerten zwischen fünf Prozent und zehn Prozent geben wir zur Vermeidung einer massiven Strahlen-Thyreoiditis sowie von langen Verweildauern unter stationären Strahlenschutz-Kautelen nur 1 GBq, wobei in der Regel erst die nach etwa drei Monaten angeschlossene zweite Radiojodtherapie zur vollständigen Ablation führt. Liegt der 24h-Speicherwert höher als zehn Prozent, so sollte unbedingt die Frage der erneuten Operation zur Verkleinerung des Schilddrüsen- beziehungsweise Tumor-Restes ernsthaft diskutiert werden. ~ ZUR FORTBILDUNG Zur Metastasen-Behandlung werden Aktivitäten von sechs bis zehn GBq I-131 fraktioniert eingesetzt. Auch hier gilt die Regel, daß falls irgend möglich - eine operative Verringerung der Tumormasse der Radiojodtherapie vorgeschaltet werden sollte. Was die Erfolge der Therapie des differenzierten Schilddrüsenkarzinoms betrifft, so kann festgehalten werden, daß rund 80 Prozent dieser Tumoren bei Anwendung des üblichen multimodalen Therapiekonzepts- bestehend aus Operation, Radiojodtherapie und TSH-suppressiver Levothyroxin-Medikation - heilbar sind. Risiken Bei den Nebenwirkungen und Risiken der I-131-Therapie ist zwischen Früh- und Späteffekten zu unterscheiden (Tabelle 4). .... Die frühen Nebenwirkungen beruhen in der Regel auf einer durch I-131 induzierten Entzündung. Die Strahlen-Thyreoiditis tritt relativ selten (in weniger als zehn Prozent) bei der Behandlung gutartiger Schilddrüsenkrankheiten und häufiger bei der Karzinomtherapie auf (etwa 20 Prozent). Der Schweregrad dieser schmerzhaften Reaktion hängt von der applizierten Aktivitätsmenge und der Größe der Schilddrüse beziehungsweise des Schilddrüsenrestes ab; zur Vorbeugung sind gegebenenfalls Antiphlogistika einzusetzen. Als Frühkomplikation der Hyperthyreose-Therapie wird in der Literatur auch die thyreotoxische Krise aufgeführt. Hierbei handelt es sich um eine sehr seltene Nebenwirkung der 1-131-Therapie, die auf einer entzündlich bedingten Ausschüttung von Schildrüsenhormonen beruhen soll. Nach aktuellen Umfragen liegt die Häufigkeit einer derartigen Komplikation im Promillebereich. Bei der Karzinomtherapie kann es auch zu entzündlichen Reaktionen in Metastasen kommen, die bei Lokalisation im Gehirn oder Rückenmark ohne prophylaktische Gabe von Steraiden möglicherweise zu ernsthaften Kompressionserscheinungen führen. Auf die radiogene Gastritis, die bei der Karzinomtherapie nach A1-3002 Tabelle 4: Radiojodtherapie der Schilddrüse: Nebenwirkungen und Risiken benigne früh spät - lokale Entzündung - Kompression - T3ff4-Anstieg - Therapieversager (- Hypothyreose) (Häufigkeit abhängig von der Indikation, der Strumagröße und der therapeutischen Strategie) maligne früh spät - lokale Entzündung (20%) - Gastritis (30%) - Hirnödem, Rückenmarkkompression (selten bei Metastasen) - Sialadenitis (30%) - passagere Thrombound Leukopenie (25 %) - oraler Applikation höherer I-131-Aktivitäten ohne entsprechende Prophylaxe bei etwa 30 Prozent der Patienten auftreten kann, wurde bereits hingewiesen. Aufgrund der relativ starken Anreicherung von I -131 in den großen Kopfspeicheldrüsen kann es bei der Therapie des Schilddrüsenkarzinoms auch zu einer Strahlen-Sialadenitis kommen. Zur Vorbeugung dieser Komplikation, die ansonsten bei etwa 30 Prozent der Karzinom-Patienten auftritt, ist durch reichliche Flüssigkeitszufuhr und gustatorische Stimulation (zum Beispiel Zitrone) für einen ständigen Speichelfluß zu sorgen. Bei der hochdosierten Karzinomtherapie beobachtet man bei etwa 25 Prozent der Patienten auch vorübergehende Thrombo- und Leukopenien, die in der Regel keine besonderen Interventionen erfordern. ..,.. Von den Spät-Nebenwirkungen ist zunächst die Hypothyreose nach I -131-Therapie insbesondere der immunogenen Hyperthyreose zu erwähnen. Heute ist man allerdings der Auffassung, daß eine derartige (50) Deutsches Ärzteblatt 90, Heft 45, 12. November 1993 Sieca-Syndrom (20%) Lungenfibrose ( < 1%) Leukämie (ca. 1%) Zweitmalignome (?) hypothetisch: Infertilität mutagene Effekte Hypothyreose nicht als Nebenwirkung, sondern vielmehr als Beweis des sicheren Erfolgs der Therapie im Sinne der dauerhaften Beseitigung der Hyperthyreose zu werten ist. Analog bewertet man ja heute auch die Hypothyreose nach Operation einer Basedow-Struma. Eine für den Patienten unangenehme, manchmal jedoch nicht vermeidbare Spät-Komplikation der Karzinomtherapie mit hohen kumulativen I-131-Aktivitäten ist das Sieca-Syndrom infolge der radiogenen Sialadenitis. In der Literatur werden vereinzelt Fälle von Lungenfibrosen nach Radiojodtherapie wegen eines Schildrüsenkarzinoms berichtet. Derartige Strahlenfibrosen können aber nur bei der Therapie 1-131 speichernder Lungenmetastasen auftreten; ihre Inzidenz dürfte unterhalb von einem Prozent liegen. Eine gefürchtete Spät-Komplikation der Karzinomtherapie ist die bei hohen Knochenmarkdosen auftretende strahleninduzierte Leukämie. Sie tritt bei etwa einem Prozent der Karzinom-Patienten durchschnittlich fünf Jahre nach der I-131- DIZIN ZUR FORTBILDUNG Therapie auf; ihre Inzidenz ist damit gegenüber der Spontaninzidenz um etwa den Faktor 15 erhöht. Demgegenüber ist das Leukämie-Risiko bei der Radiojodtherapie gutartiger Schilddrüsenkrankheiten nicht gesteigert. In der Literatur findet sich auch eine Studie, die über eine gering erhöhte Inzidenz von Harnblasen-Karzinomen als Spät-Komplikation der I-131-Therapie des Schilddrüsenkarzinoms berichtet. Diese Beobachtung wird von anderen Autoren nicht bestätigt. Hervorzuheben ist auch, daß die Inzidenz des Mammakarzinoms nach Radiojodtherapie wegen eines Schilddrüsenkarzinoms nicht erhöht ist. Für die I-131-Therapie gutartiger Schilddrüsenkrankheiten läßt sich aus umfangreichen Follow-up-Studien ableiten, daß ein erhöhtes Karzinomrisiko nicht besteht. Abschließend soll kurz auf mögliche Einflüsse der Radiojodtherapie auf die Reproduktionsfähigkeit und auf theoretisch denkbare mutagene Effekte eingegangen werden. Diese sollen anhand der bei der Karzinomtherapie zu berücksichtigenden — im Verlauf zur Hyperthyreose-Therapie hohen — Gonadendosen diskutiert werden. An dieser Stelle sei erwähnt, daß die Gonadendosis bei der Hyperthyreose-Therapie mit 20 mGy in der gleichen Größenordnung liegt wie bei einer Urographie! Was die Frage der Infertilität nach der Radiojodtherapie des Schilddrüsenkarzinoms betrifft, so ist festzustellen, daß die Gonadendosis selbst bei Applikation höchster kumulativer I-131-Aktivitäten in der Größenordnung von 30 GBq, wie sie manchmal bei metastasierten Karzinomen verabreicht werden müssen, unterhalb der Sterilisations-Schwellendosis liegen (etwa 1,5 Gy für den Mann und 3 Gy für die Frau). Es verwundert somit nicht, daß es in der Literatur keine Berichte über Fälle von Infertilität nach Radiojodtherapie gibt. Mutagene Effekte ionisierender Strahlen sind bisher beim Menschen nicht bewiesen worden. Im Sinne des „konservativen" Strahlenschutzes überträgt man jedoch üblicherweise die Erkenntnisse aus Tierexperimenten auf den Menschen, um auch ge- ringe, hypothetische Risiken abschätzen zu können. Die bei der Radiojodtherapie des Schilddrüsenkarzinoms für mittlere kumulative Aktivitäten von 10 GBq auftretenden Gonadendosen von etwa 0,5 Gy führen rein rechnerisch zu einer Zunahme aller insgesamt möglichen vererbbaren Störungen um 15 Prozent, das heißt, daß sich die Spontaninzidenz von rund sechs Prozent hypothetisch auf sieben Prozent erhöht. Alle Studien, bei denen die Nachkommen von radiojodbehandelten Patienten untersucht wurden, haben jedoch keinen Hinweis auf eine erhöhte Inzidenz genetischer Störungen ergeben. Schlußfolgerungen Die Radiojodtherapie wird in Deutschland aufgrund der strengen Strahlenschutzauflagen bei Patienten mit gutartigen Schilddrüsenkrankheiten zu selten eingesetzt. Sie stellt bei der Basedow-Hyperthyreose und der funktionellen Autonomie eine nebenwirkungs- und risikoarme Alternative zur Operation dar. Die Energiedosis im Zielvolumen ist nach heutigen Erkenntnissen beim M. Basedow höher anzusetzen (150 bis 200 Gy) als bisher üblich. Eine niedrig dosierte thyreostatische Vorbehandlung beeinflußt das Ergebnis der Radiojodtherapie nicht. Als einzige relevante Nebenwirkung kann es bei der I-131-Therapie gutartiger Schilddrüsenkrankheiten zu einer medikamentös leicht beherrschbaren Strahlenthyreoiditis kommen Die Therapie des Schilddrüsenkarzinoms mit sehr viel höheren I-131-Aktivitäten ist naturgemäß mit einer höheren Nebenwirkungsrate verbunden. Neben akut entzündlichen Reaktionen im Schilddrüsenrest oder in Metastasen sind hier eine Gastritis oder Sialadenitis in Betracht zu ziehen, gegen die Vorbeugungsmaßnahmen ergriffen werden sollten. Als gravierende Spätkomplikation der hochdosierten Radiojodtherapie kann eine strahleninduzierte Leukämie bei etwa einem Prozent der Schilddrüsenkarzinom-Patienten nach einer Latenzzeit von etwa fünf Jahren auftreten. Nach Radiojodtherapie wegen gutartiger Schilddrüsen- krankheiten ist nicht mit einer erhöhten Leukämie-Inzidenz zu rechnen. Während einer Schwangerschaft ist eine Radiojodbehandlung wegen des hohen teratogenen Risikos absolut kontraindiziert. Mit einer Infertilität nach I-131-Therapie ist wegen der vergleichsweise geringen Gonadendosen nicht zu rechnen. Die Untersuchungen an den Nachkommen radiojodbehandelter Patienten ergeben keinen Hinweis für mutagene Effekte. Deutsdies Arzteblatt 90 (1993) A 1 -2996-3003 [Heft 45] Literatur 1. Becker, W.; Hohenberger, W.; Wolf, F.: Nebenwirkungen und Risiken bei der Radiojodtherapie gutartiger Schilddrüsenerkrankungen. Nuklearmediziner 13 (1990) 273-280 2. Eilles, Chr.: Radiojodtherapie des differenzierten Schilddrüsenkarzinoms. Nuklearmediziner 14 (1991) 19-25 3. Glinoer, D.; Hesch, D.; Lagasse, R.; Laurberg, P.: The Management of Hyperthyroidism due to Graves' Disease in Europe in 1986. Acta endocr. (Kbh.) 127 (1987) 969-980 4. Leisner, B.; Grotefendt, M.: Radiojodtherapie der Struma mit Euthyreose. Nuklearmediziner 13 (1990) 257-261 5. 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Christoph Reiners Direktor der Klinik und Poliklinik für Nuklearmedizin der Universität — Gesamthochschule — Essen Hufelandstraße 55 45147 Essen Deutsches Ärzteblatt 90, Heft 45, 12. November 1993 (51) A1-3003