Tipps für fundierte Beratung

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HARNINKONTINENZ BEI FRAUEN
Tipps für fundierte Beratung
Durch geeignete Abklärung und Therapie kann der Mehrzahl der betroffenen Patientinnen
geholfen werden.
as Risiko einer Frau, bis zum 80. Lebensjahr
einen Beckenbodendefekt mit Harninkontinenz zu entwickeln, liegt bei circa 20 Prozent (1).
Besonders im Kontext der demografischen Entwicklung, wonach jede zweite Frau das 85. Lebensjahr erreicht (2), liegt der Erhalt von Lebensqualität und einer langen Phase sozialer Selbständigkeit im Interesse des Individuums und der Gemeinschaft.
D
Belastungsinkontinenz
Bei Belastungsinkontinenz kommt es zu unwillkürlichem Urinverlust aus der Urethra beim Husten, Niesen oder körperlicher Aktivität (3). Kernstücke der
Diagnostik sind:
● symptombezogene Anamnese,
● Urodynamik mit Urethradruckprofil,
● klinischer Husten-Stresstest und die
● introitus-sonographische Beurteilung der Urethramobilität (4).
Im Rahmen konservativer Therapiestrategien wie
lokaler Östrogenisierung (5, 6), angeleiteter Beckenbodengymnastik, Elektrostimulation (7, 8)
oder Pessartherapie (9, 10, 11) kann unter Beachtung der Nebenwirkungen auch mit dem SerotoninNoradrenalin-Wiederaufnahmehemmer Duloxetin
eine vorübergehende Besserung erreicht werden (12,
13). Patientinnen mit Übergewicht sollten hinsichtlich einer mindestens fünfprozentigen Gewichtsreduktion beraten werden, die bereits per se zur Besserung einer Inkontinenz führen kann (14, 15).
Heute erfolgt die operative Therapie zumeist mit
spannungsfreien suburethralen Bändern, wenngleich die offene oder laparoskopische Kolposuspension im Fünf-Jahres-Intervall ebenfalls effektiv ist
und den Frauen alternativ bei nicht indiziertem suburethralen Band angeboten werden kann (4). Verwendung finden synthetische, makroporöse Bänder (16),
die retropubisch oder transobturatorisch platziert werden. Die objektiven Heilungsraten beider Methoden
unterscheiden sich nicht (17), während die subjekti-
28
ven Heilungsraten bei retropubischen Bändern höher
liegen (OR 1,76; 18). Nach ersteren treten jedoch häufiger Blasenverletzungen, retropubische Hämatome
und Blasenentleerungsstörungen (19), nach letzteren
Schmerzen in den Oberschenkelinnenseiten sowie
Durchstiche im vaginalen Sulcus auf (20, 21).
Sogenannte Minischlingen („single incision“Schlingen) sind eine Weiterentwicklung der konventionellen Bänder, die durch eine kürzere Gewebspassage das Risiko für Komplikationen minimieren sollen. Ergebnisse zu Effektivität und Komplikationsarmut sind vielversprechend (22, 23). Eine aktuelle
Studie zeigt ähnliche Ergebnisse einer „single
incision“-Schlinge im Vergleich zum transobturatorischen Zugang im Langzeit-follow-up (24).
Adjustierbare suburethrale Bänder wurden mit
dem Ziel entwickelt, einer Über- oder Unterkorrektur
durch Adjustierung der Bandspannung Rechnung zu
tragen. Die Überlegenheit dieser Produkte im Vergleich zu den konventionellen suburethralen Bändern
konnte bislang nicht gezeigt werden (6).
Bei eingeschränkter Operabilität kann auf
Bulking Agents zurückgegriffen werden (25, 26) –
einer Methode, bei der urethroskopisch periurethrale
Injektionen gesetzt werden. Verschiedene gleichwertige Produkte sind auf dem Markt. Hier sollte über
das Fehlen von Langzeitdaten und den möglicherweise temporären Effekt mit der Notwendigkeit einer
Re-Injektion aufgeklärt werden (25).
Artifizielle Urethrasphinkteren führen zu subjektiven Heilungsraten bis zu 88 Prozent, gehen jedoch mit hohen Komplikations- und Revisionsraten
einher (27–31).
Postoperative Inkontinenz
Nach erfolgreicher Deszensuschirurgie mit Begradigung der zuvor durch Winkelveränderung verlegten
Urethra („kinking“) erleiden 15 Prozent der Frauen
eine Belastungsinkontinenz (32, 33, 34). Im präoperativen Aufklärungsgespräch können realistischere ErPerspektiven der Urologie 2015 | Deutsches Ärzteblatt
wartungen an das Operationsergebnis erzeugt werden,
wenn eine Blasenfunktionstestung mit und ohne Reposition durchgeführt wird, um eine larvierte Belastungsinkontinenz zu detektieren oder auszuschließen. Während die positiven Vorhersagewerte keine klaren Rückschlüsse auf die Patientinnengruppe erlauben, denen
unmittelbar eine zusätzliche Inkontinenzprozedur angeboten werden sollte, liegen die negativen Vorhersagewerte dieser Tests zwischen 91,1 Prozent (95-%-CI:
88,5–99,7; 35) und 92,5 Prozent (95-%-CI: 90,3–1,00;
36). Patientinnen mit präoperativ negativer Testung haben also ein niedriges Risiko, nach einer Deszensusoperation inkontinent und damit enttäuscht zu sein. Die
simultane Durchführung einer Inkontinenzprozedur im
Rahmen einer Deszensusoperation kann die Rate einer
postoperativen Belastungsinkontinenz verringern,
wenn bei präoperativ kontinenten Frauen eine larvierte
Belastungsinkontinenz diagnostiziert wird (37).
Dranginkontinenz
Als Dranginkontinenz bezeichnet man den unfreiwilligen Urinverlust nach imperativem Harndrang (3).
Anticholinergika/Antimuskarinika wie Darifenacin,
Fesoterodin, Oxybutynin, Propiverin, Solifenacin,
Tolterodin, Trospiumchlorid sind nach wie vor die
erste Wahl in der medikamentösen Therapie der
überaktiven Blase. Alternativ kann der selektive Beta-3-Rezeptor-Agonist Mirabegron eingesetzt werden, dessen Wirksamkeit und Nebenwirkungsprofil
in Studien untersucht wurden (38, 39). Das Präparat
ist jedoch in Deutschland seit Juni 2015 nicht mehr
erstattungsfähig.
Seit Anfang 2013 ist das Botulinum Toxin A in
Deutschland für die therapierefraktäre idiopathische
überaktive Blase zugelassen. Es kommen 100 bis 200
IU Botulinum Toxin A zur Anwendung (40), wobei
das Trigonum bei den 20 bis 30 Injektionen nicht mehr
ausgespart werden muss (41). Die Wirksamkeit wurde
an einer Reihe von Studien (42) – unter anderem einer
placebo-kontrollierten Studien (43) – gezeigt. Langzeitergebnisse liegen für sieben Jahre vor (44).
Glycosaminoglykane (GAG) sind Polysaccharide,
die das Urothel im Sinne einer Schutzschicht vor
chemischen und bakteriellen Noxen bedecken. Ist die
Intaktheit gestört, kommt es zu einer erhöhten urothelialen Permeabilität und klinischer Drangsymptomatik. Therapeutisch kommen Hyaluronsäure und/
oder Chondroitinsulfat-Präparate im Rahmen einer Instillationstherapie über sechs bis acht Wochen wöchentlich zur Anwendung. Diese Therapie
ist zugelassen, jedoch nicht erstattungsfähig; ihre
Wirksamkeit wurde in Studien gezeigt (45, 46).
Eine Elektrostimulationstherapie kann entweder
extern oder invasiv mittels sakraler Neuromodulation
durchgeführt werden. Hierzu werden Elektroden in
die Sakralforamina S2–4 eingeführt, wobei mittels
Teststimulationen der mögliche Therapieeffekt geprüft, bevor ein permanenter Neuromodulator eingesetzt wird.
Ein aktuell vielfach diskutierter operativer TheraPerspektiven der Urologie 2015 | Deutsches Ärzteblatt
pieansatz bei Harndrang und Dranginkontinenz im
Rahmen eines Genitaldeszensus geht auf die „Integral-Theorie“ nach Petros (47) zurück, wonach Defekte im Bereich der sakrouterinen Ligamente in Kausalzusammenhang zum Harndrang stehen. Jäger et al.
beobachteten bei 77 Prozent ihrer Patientinnen eine
Heilung nach operativem Einsatz von Implantaten
zur Stabilisierung der sakrouterinen Ligamente (48).
Geriatrische Patientinnen
Unter Beachtung der oft von Multimorbidität, Chronifizierung und Autonomieverlust geprägten Situation geriatrischer Patientinnen, ergibt sich bei Vorliegen einer Harninkontinenz oft die Notwendigkeit einer relativierenden Abwägung zwischen therapeutischen und pflegerischen Maßnahmen.
Schon bei der Diagnostik (Beispiel: Indikation zur
Urodynamik) ist zu bedenken, dass die Ursachen für
eine Inkontinenz bei hochaltrigen Frauen immer im
Zusammenhang mit Begleiterkrankungen, Medikamenten, der körperlichen Mobilität, der Menge der
Urinausscheidung und nicht zuletzt kognitiver Faktoren (Demenz, Motivation) zu sehen sind. Eine in
Leitlinien (49) empfohlene Erfassung der Kontinenzsituation erfolgt mit den Methoden des mehrdimensionalen geriatrischen Basisassessments (50).
Psychosomatische und -soziale Aspekte sollten eine besondere Beachtung bei geriatrischen Patientinnen finden. So konnte gezeigt werden, dass sich bei
neu zugewiesenen Heimbewohnern die Prävalenz
der Harninkontinenz gekoppelt an das Nachlassen
physischer und mentaler Fähigkeiten innerhalb von
sechs Monaten von 79,5 auf 83 Prozent erhöhte (51).
Zu Verhaltensinterventionen gehören:
● das Toilettentraining mit zum Beispiel festgelegten Entleerungszeiten,
● Flüssigkeitsmanagement,
● Diuretikaeinsatz in Retardform und zu an das
Miktionsmuster angepassten Zeiten (49, 52).
Wissenschaftlicher Ausblick
Im experimentellen Stadium befinden sich wissenschaftliche Ansätze zur Nutzung von Stammzellen
bei urologischen Indikationen, besonders der Blasendysfunktion und -rekonstruktion (53). Das „tissue
engineering“ fokussiert bislang auf eine zellbasierte
Regeneration mit zum Beispiel induzierter Differenzierung von Muskelzellen zur Regeneration des urethralen Sphinkters (54, 55). Im Experimentalstadium
ist die ultraschallgestütze autologe Myoblasteninjektion in den urethralen Sphinkter nach Gewebsent▄
nahme, zum Beispiel am Oberarm (56).
DOI: 10.3238/PersUro.2015.0911.05
Dr. med. Anke Mothes
Klinik für Frauenheilkunde und Geburtshilfe, Universität Jena
Interessenkonflikt: Die Autorin erklärt, dass kein Interessenkonflikt vorliegt.
@
Literatur im Internet:
www.aerzteblatt.de/lit3715
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HARNINKONTINENZ BEI FRAUEN
Tipps für fundierte Beratung
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