M E D I Z I N Marcel A. Verhoff 1 Kerstin Kreutz 2, 3 Frank Ramsthaler 4 Karl-Heinz Schiwy-Bochat 5 Forensische Anthropologie und Osteologie – Übersicht und Definitionen Zusammenfassung Die forensische Anthropologie weist vielfältige Schnittmengen mit anderen Fachgebieten auf. In Deutschland sind vor allem Anthropologen und Rechtsmediziner auf diesem Gebiet tätig. In dieser Übersicht wird überwiegend auf die forensische Osteologie eingegangen. Bei Skelett- oder Knochenfunden ergeben sich komplexe Fragestellungen nach Humanspezifität, Liegezeit, Verletzungsspuren und der Identität. Die definitive Identifizierung erfolgt häufig mithilfe der forensischen DNA-Analyse. Eine Gesichtsweichteilrekonstruktion kann eine wertvolle Hilfe bei der Identifikation von unbekannten Leichen oder Skeletten bieten. Unter dem Begriff Biometrie versteht man Messungen und Klassifizierungen personengebundener Merkmale. Auch die Fotoidentifikation, also die Identifikation von Verdächtigen auf Bilddokumenten, wird vorgestellt. Anwendungs- A nthropologie heißt wörtlich Menschenkunde (anthropos, Mensch; logos, Lehre). In dieser breiten Bedeutung ist die Definition einer Wissenschaft kaum möglich. Der Begriff wird verwendet für einen Teil der Philosophie, der Völkerkunde, aber auch der Humanbiologie. Gegenstände der biologischen Anthropologie sind die Deskription und Kausalanalyse der Variabilität innerhalb der Hominiden sowie der Vergleich des Menschen mit dem Tier, soweit sich diese Aufgaben auf nichtpathologische und mit naturwissenschaftlichen Mitteln fassbare Merkmale beziehen (1). Das Wort „forensisch“ ist abgeleitet vom lateinischen „in foro“, was „in der 1 Institut für Rechtsmedizin (Direktor: Prof. Dr. med. Günter Weiler), Universitätsklinikum Gießen 2 Institut für Forensische Anthropologie (Direktorin: Dr. rer. nat. Kerstin Kreutz), Wettenberg 3 Institut für Biologie und Chemie (Direktor: Prof. Dr. rer. nat. Horst Kierdorf), Universität Hildesheim 4 Institut für Rechtsmedizin (Direktor: Prof. Dr. med. HansJürgen Bratzke), Universität Frankfurt/Main 5 Institut für Rechtsmedizin (Direktor: Prof. Dr. med. Markus A. Rothschild), Universität Köln A 782 gebiete findet man bei Ordnungswidrigkeiten (wie Geschwindigkeitsüberschreitungen) oder Straftaten (beispielsweise Bank- oder Tankstellenüberfall oder Scheckkartenbetrug). Schlüsselwörter: forensische Anthropologie, Osteologie, Rechtsmedizin, Biometrie, forensische Molekularbiologie, Identifikation Summary Forensic anthropology and osteology – synopsis and definition Forensic anthropology overlaps in many areas with other fields of expertise. In Germany, it is primarily anthropologists and specialists in forensic medicine who work in this field. This synopsis mainly focuses on forensic osteology. The discovery of skeletons or bones leads to complex questions regarding their human specificity, the Gerichtsverhandlung“ bedeutet. Die forensische Anthropologie umfasst demnach alle Teilgebiete der Anthropologie, die für die Rechtspflege wichtig sind. Hierbei ergeben sich zahlreiche Subdisziplinen und Überschneidungen mit anderen Gebieten, wie der Rechtsmedizin oder der Kriminaltechnik, und somit auch Chancen für eine positive interdisziplinäre Zusammenarbeit. Das wohl populärste und historisch älteste Teilgebiet der forensischen Anthropologie stellt die forensische Osteologie dar. Der Begriff wird üblicherweise auf die Untersuchung und Beurteilung von aufgefundenen Knochen zu Identifikationszwecken begrenzt. Hierbei kann es sich um überwiegend bis nahezu völlig skelettierte Leichen, vollständige oder unvollständige Skelette bis hin zu einzelnen Knochen oder sogar nur Knochenfragmente handeln (e1, e2). Zur forensischen Osteologie sind auch die Untersuchung des Gebisses zur Identifizierung (Zahnschema) und die Lebensaltersbestimmung zu zählen. Überschneidungen und Kooperationen postmortem interval, traces of physical injuries, and identity. The ultimate identification is often carried out with the help of forensic DNA-analysis. The reconstruction of soft facial parts can, for example, be a valuable aid in the identification of an unknown corpse or skeleton. Biometrics, i.e. the measurement and characterization of distinctive personal features (anthropometry), are currently of topical interest. This overview concerns itself with the subject of facial image identification (forensic anthropometric photocomparison), i.e. the identification of suspects from images of documentary value, e.g. surveillance camera photos. This method is useful in cases of law infringement (e.g. speeding offences) or criminal offences (e.g. bank or gas station hold-ups or check card fraud). Key words: forensic anthropology, osteology, legal medicine, biometry, forensic molecular genetics, identification ergeben sich mit dem aus der Zahnmedizin herausgebildeten Spezialgebiet der forensischen Odontostomatologie (2) sowie bei der forensischen Altersbestimmung beim Lebenden (3, 4). Wenn eine Identifizierung durch die genannten Methoden – beispielsweise aufgrund fortgeschrittener Fäulnis – ergebnislos bleibt, kommt in Einzelfällen als weitere Möglichkeit die plastische Gesichtsrekonstruktion in Betracht (e3–e5). Eine weitere Domäne der forensischen Anthropologie sind die personengebundenen Merkmale, hierzu zählt die aktuell häufig diskutierte Biometrie. In der Arbeit wird ebenso auf die Fotoidentifikation und Gesichtsrekonstruktion eingegangen. Eng damit zusammenhängen Konstitution, Haut-, Augen- und Haarfarbe sowie ethnische Zugehörigkeit. Auch der Fingerabdruck und der „genetische Fingerabdruck“ (forensische DNA-Analyse) (5) werden erläutert, weiterhin Sprache und Stimme, Schrift sowie die Biokinematik, das heißt Mimik, Gestik, Körperhaltung, orientierung und -bewegung (6). ⏐ Jg. 103⏐ ⏐ Heft 12⏐ ⏐ 24. März 2006 Deutsches Ärzteblatt⏐ M E D I Z I N Forensische Osteologie Am häufigsten werden Knochen bei Bauarbeiten oder durch spielende Kinder aufgefunden. Ein Ermittlungsverfahren wird nur eingeleitet, wenn Knochenfunde an Polizei oder Staatsanwaltschaft gemeldet werden. Die erste Frage an den Sachverständigen ist, ob der oder die Knochen von einem Menschen stammen. Kann eine nichthumane Herkunft nachgewiesen werden, erübrigen sich meist aus Sicht der Ermittlungsbehörden weitere Fragen. Ausnahmen können sich ergeben, wenn beispielsweise ein Verstoß gegen das Tierschutzgesetz möglich ist. Wird die menschliche Herkunft eines Knochenfundes nachgewiesen, gilt es, die Fragen nach dem postmortalen Intervall (PMI), möglichen Verletzungsspuren und der Identität zu beantworten. Hinweise auf die Identität können Geschlecht, Körpergröße, Alter und geographische Populationszugehörigkeit, aber auch das PMI und die Art der Verletzungsspuren geben. Pa- thologische Veränderungen am Knochen liefern zusätzliche wertvolle Informationen zur Identität oder Todesursache, können aber gleichzeitig die Beurteilung anthropologischer Merkmale erschweren. Humanspezifität In den meisten Fällen – insbesondere dann, wenn ein guter Erhaltungszustand und vollständige Knochen oder große Fragmente vorliegen – ist ein Studium speziestypischer Skelettcharakteristika sowie typischer Formmerkmale des Zahnapparates für die Bestimmung der Art wegweisend (e6). Exemplarisch sei auf die morphologischen Unterschiede zwischen den drei Zahntypologien hingewiesen, die sich auf der Grundlage von Druckverhältnissen und durch die Art der Nahrungsaufnahme verschieden entwickelt haben und zum Beispiel zu dem für Pflanzenfresser charakteristischen lamellenförmigen Kauapparat Abbildung 1: Es wurde ein möglicherweise „teilskelettierter Arm eines Kindes“ untersucht. a) Auf einen menschlichen Ursprung schien insbesondere die Hand hinzuweisen. b) Nach Entfernen der Weichteile wurde ersichtlich, dass es sich jedoch um den Vorderlauf eines Schäferhundes handelte. a oder zu den typischen zugespitzten Zahnhöckern der Fleischfresser geführt haben. Problematischer ist die Situation, wenn nur kleine Fragmente zur Untersuchung verfügbar sind. Aufgrund der Ähnlichkeiten zwischen Mensch und anderen Säugetierarten ist die Diagnose von Fragmenten der distalen Gliedmaßenabschnitte besonders problembehaftet (Abbildung 1). In der Regel sind nichtmenschliche Säugetierknochen kompakter und im Vergleich zu Knochen gleicher Größenordnung schwerer. Knochen von Waldtieren weisen regelmäßig eine dunklere Färbung auf. Wegweisend ist häufig das Größenverhältnis zwischen Knochenrinde und Markraum. Wenn eine makro-morphognostische Diagnose unsicher bleibt, kann die Untersuchung durch morphologische oder metrische Histologie am unentkalkten Dünnschliffpräparat ergänzt werden (7, e7): Menschliche Knochenreste zeigen eine zufällige Verteilung rundlicher, angedeutet polygonaler, nahezu gleichgroßer Osteone und Haversscher Kanäle, wohingegen zahlreiche Haustierarten oft eine plexiforme, gelegentlich lineare Anordnung unterschiedlich großer Osteone aufweisen (Abbildung 2) (e8). Darüber hinaus können immunologische Trennverfahren verwendet werden (8). Auch eine DNA-Analyse kann zur Speziesdifferenzierung beitragen, wobei die mitochondriale DNA die besten Voraussetzungen bietet (9, e9). b ⏐ Jg. 103⏐ ⏐ Heft 12⏐ ⏐ 24. März 2006 Deutsches Ärzteblatt⏐ A 783 M E D I Z I N Liegezeit Als forensisch relevant kann ein postmortales Intervall (PMI) von bis zu 50 Jahren angesehen werden. Danach wird es kaum mehr gelingen, den Täter einer Strafvollstreckung zuzuführen. Bislang existiert keine Untersuchungsmethode, mit der das PMI in diesem Zeitraum hinreichend sicher gemessen werden kann. Außer den Radionuklidmethoden – wie die 14C-Bestimmung, die angesichts ihrer hat sich gezeigt, dass zwei Skelette mit identischem PMI auf demselben Friedhof quantitativ und qualitativ unterschiedliche Dekompositionserscheinungen aufweisen können (12, 13). Demnach sind grundsätzlich nur sehr vorsichtige Aussagen zur Abschätzung des PMI möglich. Es konnten allerdings Dekompositionsbefunde an Knochen herausgearbeitet werden, die bislang nicht bei Liegezeiten von unter 50 Jahren im Erdlager sammenhang gebracht werden könnte. In Betracht kommen auch an den Fundort verbrachte Erdaushübe von ehemaligen oder noch bestehenden Friedhöfen. Geschlecht Die morphologische Geschlechtsbestimmung am Skelett erfolgt durch die morphognostische oder morphometrische Beurteilung sexualdimorpher skeKasten Makroskopische Befunde am Knochen zum Ausschluss einer forensisch relevanten Erdliegezeit (14) > Äußerer Aspekt – Makroskopisch keine Fettwachsspuren mehr – Tiefe Usuren der äußeren Compactaschichten – Flächenhafte Defekte der Knochenoberfläche a b – Intensiv schwarz-brauner Rasen von Mikroorganismen – Auffasern der äußeren Lamellensysteme – Abhebung der Kortikalis – Torsionen des Gewebes – Aufsitzendes Brushit – Knochen mit der Hand zu zerbrechen > An der frischen Sägefläche c – Fehlen von Fettwachsspuren d – Brushit im Markraum Abbildung 2: Schliffpräparat der Kompakta eines langen Röhrenknochens jeweils unentkalkt. a) Schaf, b) Hund, c) Schwein, d) Mensch; gefärbt nach Kossa, Objektivvergrößerung vierfach langen Halbwertszeit (5 730 Jahre) für forensische Fälle nur eingeschränkt anwendbar ist – basieren die Methoden auf Veränderungen an den Knochen, die im Laufe der Liegezeit durch das Liegemilieu (10) hervorgerufen werden. Diesen Vorgang nennt man auch Dekomposition, die Untersuchung der Dekompositionsvorgänge wird als Taphonomie bezeichnet (11). Das Liegemilieu ist im Einzelfall jedoch nur schwer abzuschätzen. Liegt ein Leichnam im Freien, kann er in Mitteleuropa im Sommer innerhalb von wenigen Wochen vollständig skelettieren. Bildet sich in einem heißen trockenen Sommer eine ausgedehnte natürliche Mumifizierung aus, können selbst nach Jahrzehnten noch Weichteilreste vorhanden sein. Besser abzuschätzen sind die Dekompositionsvorgänge im Erdlager.Dennoch A 784 beobachtet wurden (Kasten). Weist ein Knochen einen oder mehrere dieser Befunde auf, kann demnach – bei fehlenden Hinweisen von Lagerung im Freien – eine Liegezeit von unter 50 Jahren ausgeschlossen werden (14). Neben den Untersuchungen am Gewebe dürfen die Fundsituation und Beifunde nicht vernachlässigt werden (15): Kleidungsreste, Münzen, Zeitungspapier, Werkzeuge, Waffen oder ähnliches können den zeitlichen Horizont eingrenzen. Ein so genannter Sargschatten oder Gegenstände, die als Grabbeigaben infrage kommen, können helfen, eine reguläre Bestattung von einer illegalen Leichenbeseitigung zu unterscheiden. Weiterhin sind alte Grundbücher dahingehend durchzusehen, ob die Auffindestelle eventuell mit einem Friedhof oder einer medizinischen Einrichtung in Zu- – Reduzierte oder aufgehobene UV-Fluoreszenz lettaler Merkmale (16). Insbesondere das Becken sowie der Schädel sind Träger dieser Sexualdimorphismen. So gelten am Becken, wie bei allen anderen Skelettteilen auch, die allgemeine Größe und die Rauhigkeit der Muskelansatzregionen als geschlechtsdimorphe Merkmale, wobei männliche Merkmalsträger im Allgemeinen als größer, schwerer und unregelmäßiger beschrieben werden. Einzelmerkmale sind am Becken unter anderem die Größe des subpubischen Winkels (weiblich: stumpf; männlich: spitz), die Form des Beckeneingangskontur (w: elliptisch; m: herzförmig) und des Foramen obturatum (w: dreieckig; m: ovoid). Am Schädel sind beispielhaft die Glabella (w: fehlend; m: sehr prominent), der Processus mastoideus (w: klein; m: sehr voluminös) oder ⏐ Jg. 103⏐ ⏐ Heft 12⏐ ⏐ 24. März 2006 Deutsches Ärzteblatt⏐ M E D I Z I N das Relief des Planum nuchale (w: flachglatt; m: sehr rau, mit hohen Muskelansatzleisten) zu beurteilen. Die Merkmale werden für die morphognostische Beurteilung hinsichtlich ihres Ausprägungsgrades in eine Skala eingeordnet, die von einem hyperfemininen über einen femininen, indifferenten, maskulinen bis zu einem hypermaskulinen Ausprägungsgrad reicht. Die Gesamtschau aller beurteilter Merkmale führt zur Diagnose weiblich, männlich oder indifferent (e10). Um dem Vorwurf der Subjektivität und Nichtwissenschaftlichkeit morphologischer Methoden zu begegnen, wurden die morphometrischen Methoden entwickelt (17). Für die Geschlechtsdiagnose hat sich vor allem die Diskriminanzanalyse durchgesetzt (18, e11–e13). Dazu werden in Stichproben vermeintlich geschlechtsdimorphe Längen- und Distanzmaße erhoben und mit deren Hilfe Diskriminanzfunktionen entwickelt, die es erlauben, für die gesuchte Person die Geschlechtszugehörigkeit festzustellen. Ein weiterer Weg, die Merkmalsbeurteilung zu objektivieren, ist die Quantifizierung bewährter morphognostischer Merkmale. Mit unterschiedlichen Methoden wurde bislang an morphologischen Geschlechtsmerkmalen des Schädels (Abbildung 3) versucht, Beschreibungen, wie eine eher runde oder eckige Orbita (e14), einen tendenziell scharfen oder runden Orbitarand (e15), einen eher voluminösen oder kleinen Processus mastoideus (19, e16) zu quantifizieren oder zumindest mittels standardisierter Techniken zu erfassen. Sowohl bei morphognostisch als auch morphometrisch erfassten Merkmalen können unterschiedlich große Überlappungsbereiche der Ausprägungsgrade beobachtet werden, in denen eine für forensische Belange ausreichende Sicherheit der Geschlechtsbestimmung nicht gewährleistet ist. Dies gilt insbesondere für Skelette von Kindern, weil viele Geschlechtsmerkmale erst nach der Pubertät voll entwickelt sind. Insgesamt wird bei Verwendung der etablierten morphologischen Methoden – nicht zuletzt aufgrund säkularer Trends, Bedeutung der Populationszugehörigkeit sowie Unvollständigkeit des Skeletts – eine korrekte Geschlechtszuordnung in circa 85 bis 90 Prozent der Fälle erreicht. Körpergröße a b Abbildung 3: Geschlechtsdimorphismus: a) Weiblicher Schädel mit kleinem Mastoid, flacher Glabella und fehlenden Augenbrauenwülsten sowie steiler pädomorpher Stirn. b) Männlicher Schädel mit entsprechender maskuliner Ausprägung der Merkmale. A 786 Zur Schätzung der Körpergröße wird der Umstand ausgenutzt, dass die langen Extremitätenknochen in einem linearen Verhältnis zur Gesamtkörperlänge stehen. Basierend auf dem mathematischen Modell der linearen Regression existieren zahlreiche Formeln, die durch Bestimmung überwiegend von Längenmaßen vollständiger oder fragmentierter Röhrenknochen eine Rekonstruktion der Körperhöhe ermöglichen. Verschiedene Autoren betonen, dass bei der Wahl der Regressionsgleichung nicht nur die säkulare Akzeleration zu beachten ist, sondern auch die Tatsache, dass derartige Formeln einen starken Populations- und Geschlechtsbezug aufweisen, sodass sich grundsätzlich ihre Anwendungen auf Bevölkerungen und Skelettkollektive beschränkt, an denen die Regressionsformeln entwickelt wurden (20, e17). Da es sich bei diesen Berechnungen um Schätzungen handelt, wird empfohlen, die Fehlerspanne beziehungsweise ein statistisches Konfidenzintervall (bei Kombinationsmethoden bis zu wenige cm) anzugeben. Lebensalter Für die Altersbestimmung einer unbekannten Person sind zahlreiche empirische Untersuchungen in der Anthropologie und Rechtsmedizin verfügbar. Auf deren Grundlage wird das Phänomen der menschlichen Alterung und die konsekutive Spurensetzung am Skelett entschlüsselt. Individuelle Alterung, Lebensform und Lebensumstände am jeweiligen Lebensort müssen dabei beachtet werden. Mit nichtinvasiven (Makroskopie, Zahnstatus, Gesamterscheinungsbild, Röntgen) und invasiven (chemische und histologische [21]) Analyse am Zahn oder Kompakta der Langknochen) Maßnahmen wird das Alter des Heranwachsenden und Erwachsenen bestimmt. Anhaltspunkte für das individuelle Alter am Skelett (e18) liefern der Zustand der Epiphysenfugen (bei Heranwachsenden), der Zahnstatus (Durchbruch oder Abrasion und intravitaler Zahnverlust), Oberflächenrelief der Symphyse, Nahtobliteration des Schädels (endo- und ektokranial) und degenerative Prozesse am Bewegungsapparat. Die verfügbaren Methoden führen zu einer Schätzung des biologischen, jedoch nicht einer genauen Bestimmung des chronologischen Alters. Mit der Bestimmung des Razemisierungsgrades der Asparaginsäure und der Zählung der Zahnzementzuwachsringe sind Ansätze gefunden worden, das chronologische Alter eines Individuums zu bestimmen (e19). Zurzeit gilt, dass alle bekannten Methoden in ihrer Kombination wichtige Hinweise auf das Lebensalter geben, wobei Schätzungen mit einer Genauigkeit von ± 5 Jahren, im jüngeren Lebensalter noch etwas genauer, erreichbar sind. Bei der Synopse sind mögliche pathologische Prozesse besonders kritisch zu beurteilen. ⏐ Jg. 103⏐ ⏐ Heft 12⏐ ⏐ 24. März 2006 Deutsches Ärzteblatt⏐ M E D I Z I N Verletzungsspuren Todesursächliche Bedeutung erlangen in der Regel solche Verletzungen, die in zeitlichem Zusammenhang mit dem Todeseintritt (perimortal) entstanden sind. Davon abzugrenzen sind zu Lebzeiten erlittene Verletzungen, die aber überlebt wurden (prämortal). Die größte Gruppe bilden Veränderungen, die nach dem Tod (postmortal) entstanden sind (22).Erfahrungen aus der Paläopathologie und der Rechtsmedizin lassen sich sinnvoll ergänzen (e20). Postmortale Veränderungen entstehen infolge intentioneller und nichtintentioneller Verlagerung durch Tiere oder Menschen, beim Bergen von Knochen, beispielsweise so genannte Grabungsartefakte und durch verschiedene Boden- und Oberflächenlagerungsbedingungen (23). Das wichtigste differenzialdiagnostische Kriterium ist, dass bei postmortalen Veränderungen die Färbung der Schnitt- oder Bruchflächen meist deutlich heller ist als die der übrigen Knochenoberfläche. Weiterhin sprechen fehlende Zeichen von Dekomposition an Schnitt- oder Bruchflächen, bei vorhandenen Dekompositionszeichen am ´ Tabelle Abbildung 4: Rechtes Femur männlich nach verheilter Fraktur durch Schussverletzung aus dem Zweiten Weltkrieg mit erheblichen Wundheilungsstörungen durch Infektionen übrigen Knochengewebe, für eine postmortale Entstehung. Um eine prämortale Verletzung am Knochen nachweisen zu können, müssen bereits Verheilungs- und Umbauspuren („bone remodelling“) vorhanden sein, wie die Kallusbildung nach Frakturen langer Röhrenknochen (Abbildung 4). Aber es kann auch zu indirekten Knochenveränderungen nach Weichteilverletzungen kommen: Eine Hämatom-Abräumung kann durch die Gefäßneubildung Impressionen an der Knochenoberfläche verursachen. Infolge von Entzündung und Zerstörung von Weichteilgewebe können reaktive Knochenneubildungen entstehen. Grundsätzlich müssen alle Verletzungsspuren, die nicht als prä- oder postmortal identifiziert werden können, als perimortal eingeordnet werden. Bei perimortalen Verletzungen ist aus forensisch-osteologischer Sicht nicht auszuschließen, dass diese in zeitlichem Zusammenhang mit dem Todeseintritt entstanden sind. Eine mögliche Todesursächlichkeit oder ein sonstiger Zusammenhang mit dem Todeseintritt muss aufgrund von Lokalisation und Schwere der Verletzungen diskutiert werden.Perimortal entstandene Schnitt- und Bruchflächen zeigen meist dieselbe Färbung wie die übrige Knochenoberfläche, die Dekompositionszeichen sind vergleichbar. Ist die perimortale Entstehung einer knöchernen Verletzung nicht auszu- 1 Verletzungszeichen an Knochen (22) Gewalt Mechanismus Waffe/Objekt Effekte am Knochen scharfe Schnitt Klingen: Schwert, Messer; Pfeil, Bajonett, Schere Glassplitter Schnittspuren Stich wie bei Schnittverletzung Stichkanal, Impression Hieb Axt, Beil, Sichel, Sense, Hacke, Speer, Schraubenzieher Schnittspuren, Scharten, Abschläge, Brüche Sägen Bandsägen, Kreissägen, Handsägen Sägespuren Biss Hunde, Raubkatzen Bissspuren Stoß, Schlag, Sturz, Quetschung Flächen, Stein, Keule, Werkzeug und Ähnliches Brüche, Impressionen (geformt, nicht geformt), Schädel: Bruchsysteme, Lochbruch, Terrassenbruch, hämatominduzierte Formierung halbscharfe stumpfe punktuelle Spießung oder Schuss Lanze, Pfeil, Kugel, Vogelschnabel Trichterspuren, alle Formen der stumpfen Gewalt aus:Verhoff et al.: Arch Kriminal 2004; 213: 1–14, mit freundlicher Genehmigung: Schmidt Römhild, Lübeck ⏐ Jg. 103⏐ ⏐ Heft 12⏐ ⏐ 24. März 2006 Deutsches Ärzteblatt⏐ a b Abbildung 5: a) Übersicht und b) Ausschnitt eines so genannten Terrassenbruchs am rechten Hinterhaupt, verursacht durch geformte stumpfe Gewalt mittels eines Hammers. Die hierbei entstandene intrakranielle Blutung war todesursächlich. A 787 M E D I Z I N schließen, ist der zugrunde liegende Verletzungsmechanismus zu analysieren. Zunächst muss die Art der Gewalt, die auf den Knochen eingewirkt hat, bestimmt werden (Tabelle, Abbildung 5). Dabei können Übergänge der Gewaltarten sowie Mehrfachverletzungen vorkommen. DNA-Analyse Die forensische DNA-Analyse ist ein modernes und sehr aussagekräftiges Werkzeug zur Identifizierung von Knochen- oder Skelettfunden. Das am besten geeignete Untersuchungsmaterial stellen Zähne oder Compacta der langen Röhrenknochen dar. Spezielle Extraktions- und Aufreinigungsverfahren wurden entwickelt (24). Die Erfolgsaussichten sind jedoch im Einzelfall schwer abzuschätzen. Probleme sind vorwiegend durch liegemilieu- und zeitabhängige Dekomposition sowie thermische Zerstörung von DNA und durch die starke Bindung von DNA an anorganisches Hydroxylapatit bedingt. Wird die Amplifikation von STR-Systemen (STR,„short tandem repeat“) (5) erreicht, kann der Abgleich unbekannten Skelettmaterials mit der DNA-AnalyseDatei erfolgen. Eher gelingt die Sequenzierung des so genannten D-Loops der mitochondrialen DNA (e21, e22). Dies lässt nur den direkten Vergleich mit DNA-Vergleichsmaterial einer vermissten Person zu und führt zu einer geringeren Identitätswahrscheinlichkeit als die STR-Analyse. scheinlichkeit der richtigen Person zugewiesen werden sollen. Jeder Mensch hinterlässt mit seinem Gesicht auf einem zweidimensionalen Bild ein individuelles Muster an Merkmalen in spezifischer Kombination. Für den direkten Bildvergleich zweier Personen sind Bilder mit vergleichbarer Kopfhaltung und Blickrichtung sowie fototechnischer Bedingungen notwendig. Abhängig von der Qualität des Bildes, sind mehr als 100 Merkmale abzugrenzen und nach Form, Gestaltung und Ausprägungsgrad zu bewerten. Probleme können sich aus den Altersunterschieden ergeben, die aus unterschiedlichen Entstehungszeitpunkten der zu vergleichenden Bilder resultieren. Beispielsweise sind die Personalausweisbilder der zu untersuchenden Personen zu einem unbekannten Zeitpunkt, möglicherweise weit vor Ausstellung des Dokumentes, entstanden. Für die Fotoidentifikation ist eine konsequente Anwendung der erarbeiteten Methoden und deren gewissenhafte Dokumentation zu fordern (www.foto identifikation.de) (e23). Unter dieser Voraussetzung ist der direkte Bildvergleich ein Hilfsmittel zur Identifikation beispielsweise bei Ordnungswidrigkeiten im Straßenverkehr, Banküberfällen, Computerbetrug, Dokumentenfälschung oder anderen Straftaten. Manuskript eingereicht: 3. 5. 2005, revidierte Fassung angenommen: 4. 7. 2005 Die Autoren erklären, dass kein Interessenkonflikt im Sinne der Richtlinien des International Committee of Medical Journal Editors besteht. ❚ Zitierweise dieses Beitrags: Fotoidentifikation Die Fotoidentifikation basiert auf einer langen Tradition akribischer Dokumentation von Gesichtsmerkmalen in standardisierter Form (25). Seitdem hat sich mit den modernen Verfahren der Fototechnik ein Bereich etabliert, der für den Gerichtsalltag von erheblichem Interesse ist. Überwachungskameras sind in vielen Bereichen des öffentlichen Lebens zu finden. Hierbei entstehen Aufnahmen unterschiedlicher Qualität und Aufnahmebedingungen, die im Fall einer notwendigen Personenidentifizierung mit der höchstmöglichen Identitätswahr- A 788 Dtsch Arztebl 2006; 103(12): A 782–8. Literatur 1. Knussmann R: Vergleichende Biologie des Menschen Lehrbuch der Anthropologie und Humangenetik. Stuttgart, New York: Gustav Fischer Verlag, 2. 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